FIELDNOTES No.4
«INNOVATION IST NICHT PLANBAR.»
«Innovation ist nicht planbar. Sehr wohl aber das Umfeld für Kreativität und Erfindung.» Geht es um Innovation, ist der Epidemiologe Marcel Tanner kein unbeschriebenes Blatt. Seit 40 Jahren fördert er die Entwicklung neuer Medikamente und Impfstoffe gegen tödliche Infektionskrankheiten. «Es geht darum, ein Ökosystem zu schaffen, das den Leuten erlaubt, kreativ zu sein», sagt er. «Innovation» ist eine klassische Worthülse. Was bedeutet Innovation für Sie? «Eine Innovation ist mehr als eine Erfindung oder Entdeckung. Innovation ist, wenn es gelingt, eine Erfindung oder Entdeckung umzuformen und in die Gesellschaft einzuführen. Ich rede von einem neuen Produkt, einem neuen Ansatz oder einer Idee, welche die Gesellschaft verändern. Eine Erfindung / Entdeckung ist immer etwas Rohes, einem Rohdiamanten vergleichbar, also etwas Ungeschliffenes, bei der man sich nie sicher sein kann, ob sie in einen neuen innovativen Ansatz münden wird.» Das bedeutet, dass eine Erfindung erst viel später in eine Innovation münden kann. Braucht Innovation die Bereitschaft der Menschen, sich verändern zu lassen? «Mein Punkt ist: Innovation ist nicht leicht planbar. Es gibt meiner Meinung nach zu viele ‹innovation coaches/scouts›, ‹innovation workshops› und ‹incubators›. Die Leute versuchen auf Biegen und Brechen Innovation herzubekommen. Und kaum jemand merkt, dass zwar unzählige Innovations-Workshops stattfinden, aber verhältnismässig kaum Innovation.» Was bräuchte es denn, damit Innovation stattfindet? «Man muss ein Ökosystem schaffen, in dem die Leute kreativ sein und erfinden können. Ein Klima, in dem Ideen geteilt werden und man voneinander lernen kann. Auch darf man nicht vergessen, dass eine der Grundlagen der Kreativität die Grosszügigkeit ist. Wenn man heute auf diesen grundlegenden Austausch verzichtet, weil man Angst vor der Konkurrenz hat, dann passiert rein gar nichts.»
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Blickt man auf den ‹Global Innovation Index›, so erzielt die Schweiz seit Jahren Spitzenwerte. Sind gewisse Gesellschaften innovativer als andere? «Das Problem ist, dass wir ‹Innovation› implizit mit ‹Technik› gleichsetzen. Wir leben eine verkümmerte Vorstellung von Innovation. Gerade afrikanische Gesellschaften sind innovativ, wenn es beispielsweise darum geht, ihr Wissen in der Ethnobotanik für die Menschen fruchtbar zu machen. Doch werden solche Ansätze kaum als innovativ deklariert. Und auch früher gab es Innovation, aber die Menschen waren nicht so ‹innovationsscharf›. Heute sind die Menschen durch den wirtschaftlichen Druck auf Gedeih und Verderb auf Innovation getrimmt. Ein grosser Teil, was wir heute als Innovation bezeichnen, ist sehr gewöhnlich, aufpoliert durch einen immensen Kommunikations- und Marketingaufwand.» Was sind Ihre Innovations-Vorbilder? «Komplexe Ökosysteme wie die Regenwälder. Auf Monokulturen kann kaum Innovation entstehen. Die einzige Möglichkeit zur Innovation besteht dort darin, einen zusätzlichen Mähdrescher aufs Feld zu stellen. Dagegen sind Regenwälder die wahren Innovationsmaschinen. Sie sind Orte der konstruktiven Destruktion, der konstanten Zersetzung und gleichzeitig der ebenfalls kreativen Erneuerung. Triebfeder dabei ist nicht die Fülle, sondern ihr Gegenteil: der Mangel. Der Mangel an Licht, der Mangel an Wasser. Sie haben die Lebewesen gezwungen, sich an die Verhältnisse anzupassen, und somit den ökologischen Reichtum, den Erfindungsgeist und die Vielfalt der natürlichen Erscheinungen vorangetrieben.»
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