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Freiräume für Kreativität
Man hat immer nur einen Versuch, ein Haus zu bauen. Darum muss alles im Vorfeld geplant und berechnet werden. Angehende Architekt*innen brauchen Möglichkeiten, in der Realität im Maßstab 1:1 zu üben und der Kreativität freien Lauf zu lassen. Auf diese Weise entstehen oft Win-win-Situationen.
Studierende der Hochschule Coburg gestalteten in einem leerstehenden Bürogebäude in Coburg ein Pop Up Hostel. Die Bedingungen: Fünf Räume für 16 Leute, innerhalb einer Woche mit einem Budget von 100 Euro pro Raum. Anlass war der Besuch von Studierenden der renommierten Manchester School of Architecture. Weil es in Coburg wenige Möglichkeiten gibt, größere Gruppen von jungen Leuten unterzubringen, sind die Coburger Studierenden selbst aktiv geworden. Im Leerstand des ehemaligen Verwaltungsgebäudes der Stadtentwicklungsgesellschaft Wohnbau GmbH haben sie die Räume eingerichtet. Die Herausforderung, in kurzer Zeit und mit knappem Budget zu einem konkreten Ergebnis zu kommen, verlangte den Studierenden viel Kreativität aber auch Improvisation und Organisation ab. "Entstanden sind atmosphärische Räume, die eine tolle Aussicht über Coburg ermöglichen und den Aufenthalt in der Stadt zu einem besonderen Erlebnis machen", freuten sich Prof. der Hochschule, eine Handwerks-Ausstellung des Anja Ohliger und Prof. Mario Tvrtković, die die Regionalmanagements und der Verein TransiGruppen betreut hatten. Die Gäste aus England tion e.V. im Steinweg zu finden. Im ehemaligen haben sich jedenfalls sehr wohl gefühlt. Aber das ist lange nicht alles. Anja Ohliger lehrt Grundla„Die Räume waren gen des Entwerfens in den ersten drei Semestern. Sie sagt: „Die Schwierigkeit ist, dass man kaum wiederzuzu Beginn des Studiums oft mit Zeichnungen und Modellen, also nicht im realen Maßstab arbeiten erkennen.“ kann.“ Daher kam dieses Projekt, das eigentlich Bürogebäude in der Heiligkreuzstraße sollen in aus der Not heraus entstand, gerade recht zu den nächsten Jahren nachhaltige und günstige Beginn des Sommersemesters 2019. Die StudieWohnungen für junge Menschen entstehen. Das renden mussten schnell und eigenverantwortlich Pop Up Hostel diente als Probelauf für das Vorsowie kostenbewusst planen und konnten in haben „Junges Wohnen“, das Christian Meyer, realen Räumen praktisch gestalten. „Wir haben Geschäftsführer der Wohnbau, initiiert hatte. Er die Möglichkeit, ein 1:1-Experimentierfeld zu bezeigt sich beeindru ckt von der Leistung der Stukommen und gleichzeitig bekommt die Wohnbau dierenden: „Das Projekt hat gezeigt, dass aus einIdeen. Solche Projekte können den Horizont für fachsten Mitteln mit viel Kreativität etwas Tolles unsere externen Projektpartner erweitern, auch entstehen kann, wenn man Raum dafür schafft. in der Auseinandersetzung mit der ZwischennutDie Räume waren kaum wiederzuerkennen und zung von Leerstand“, erläutert Ohliger. haben uns darin bestärkt, dass junge Menschen DIE STADT PROFITIERT auch der Wohnraum in Zukunft sein.“ Das Pop Up Hostel war Inspiration und Auftakt für flexibel u nd i ndividuell s ind, d eshalb m uss d as die Stadtentwicklungsgesellschaft, den Coburger ARCHITEKT*INNEN ARBEITEN ANDERS Steinweg zu beleben. Im Rahmen des Projektes Damit Studierende über die fachlichen Kenntnis„Zwischenzeit Steinweg“ wurden leerstehende se hinausgehend den Stellenwert der Arbeit von Geschäftslokale kostenlos oder günstig angeboArchitekt*innen und Stadtplaner*innen erfahren ten. Mittlerweile sind unter anderem eine Galerie und begreifen, brauchen sie viel Praxiserfahrung.
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Prof. Mario Tvrtković will das mit seinen Projekten erreichen. Er erklärt: „Wir als Architektinnen und Architekten üben unseren Beruf im komplexen Geflecht verschiedener Akteure. Architektur und Städtebau sind keine Dienstleistungsberufe. Wir haben in erster Linie eine öffentliche Verantwortung, die dem Gemeinwohl verpflichtet ist.“ Es gehe also nie darum, nur die Einzelinteressen mit einer Lösung zu befriedigen, sondern um das ganze Konzept. Um alle Zusammenhänge zu verstehen, müsse man sich wirklich auf ein Projekt einlassen. Dazu sucht Tvrtković im zweiten Studienabschnitt gerne große Aufgaben: „Die Fragestellungen für diese Projekte sollen einen Praxisbezug und eine Relevanz für die Gesellschaft haben.“ So machte er sich mit einer Gruppe von Studierenden auf den Weg und sie verbrachten eine sogenannte „AufsLandwoche“ im Oberen Rodachtal. „In den Gemeinden Steinwiesen und Wallenfels bestand das Interesse, die Entwicklung gemeinsam voranzubringen. Die Bürgermeister hatten dazu einige Fragen an die Studierenden, die sich anschauen sollten, welche Themen für diese kleinen Gemeinden wichtig sind“, erklärt Tvrtković das Vorhaben. Es ging unter anderem um die Belebung des Tourismus, eine bessere Infrastruktur zur Stärkung der lokalen Unternehmen und die Nutzung leerstehender Gebäude.
BEDÜRFNISSE UND GEGEBENHEITEN KENNEN LERNEN
Um die richtigen und ganzheitlichen Konzepte für diese Themen zu entwickeln, muss man zuerst die Lebenswirklichkeit und Bedürfnisse der Menschen verstehen. Dazu führten die Studierenden viele Gespräche und Interviews mit Akteuren der Region aus der Politik, den Bürgerinnen und Bürgern, Vereinen und Unternehmen. Gleichzeitig wurden Bausubstanz, Infrastruktur, Verkehrsanbindungen und Schulen unter die Lupe genommen. Die wissenschaftlich erarbeiteten Erkenntnisse folgten der Fragestellung: Wo stecken Potentiale und welchen Mehrwert bieten Kooperationen für die Region? Diese Ideen und Zukunftsvorstellungen wurden schließlich den Gemeinden übergeben und diskutiert. In diesem Zusammenhang macht Tvrtković deutlich: „Es gibt keine Musterlösung. Es ist immer eine Suche nach der bestmöglichen Antwort auf die Fragestellung und die muss aus meiner Sicht der Allgemeinheit und dem Gemeinwohl verpflichtet sein. Und wir gehen davon aus, dass alle so handeln und dadurch die Ergebnisse für alle besser werden.“
IDEEN DIENEN ALS BASIS
Wo zieht man die Grenze zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und planerischen Aufgaben? Klar ist: Die Ideen und Ergebnisse der studentischen Projekte sind keine konkreten Planungsleistungen. Schließlich dienen die Lehrveranstaltungen der Ausbildung und sind keine Auftragsarbeiten für Gemeinden oder Institutionen. Die Urheberrechte verbleiben bei der Hochschule beziehungsweise den Studierenden. Einen weiter reichenden Effekt haben sie trotzdem: Sie sind oft Initialzündung für neue Projekte. Gerade im Fall von Wallenfels und Steinwiesen wurde überhaupt erst ein Planungsprozess angeregt. Professor Tvrtković ergänzt: „Im Anschluss an das Projekt fand ein öffentlicher Wettbewerb für Architektur- und Stadtplanungsbüros statt.“ Die Fragestellung dafür wurde präzisiert und lautete: Wie kann die Ortsmitte belebt werden? Hier dienten die Erkenntnisse und Ideen der Studierenden als Basis. Und nun schließt sich der Kreis, denn Professor Tvrtković war als Sachverständiger in der Jury mit dabei und hat die Vorschläge begutachtet: „Die studentischen Projekte haben zu echten Projekten mit hoher Qualität geführt und Projekte für freie Architekturbüros generiert.“ So entstehen Aufträge, die allesamt durch professionell agierende Büros aus der freien Wirtschaft bearbeitet werden und die es ohne die studentischen Projekte oft gar nicht geben würde. Eine echte Win-win-Situation. Text: Pia Dahlem