Die letzten Stunden

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DIE LETZTEN STUNDEN …

TEXTE VON JUGENDLICHEN

DIE LETZTEN STUNDEN …

TEXTE VON JUGENDLICHEN

CHRISTOPH MERIAN VERLAG

Trägerschaft

Verein Schreibwettbewerb ‹Die Basler Eule›, Sennheimerstrasse 20, 4054 Basel baslereule.ch

Gegründet wurde der Schreibwettbewerb 1993 von der Basler Jugendschriftenkommission und dem Basler Buchhändler- und Verlegerverein.

Wettbewerbsjury 2024

Kat. I: Marina Silenzi, Sofía Dunetz, Lisa Sanglard

Kat. II: Caroline Baier, Julia Knapp, Kerstin Busch

Kat. III: Julie Klapdor, Fabrice Imhof, Rafael Pulfer

Juryklassen 2024

Kat. I: Jahrgänge 2004–2008, Wirtschaftsgymnasium und Wirtschaftsmittelschule, Basel

Kat. II: Jahrgänge 2009–2011, Klasse 2f, Atelier F der Sekundarschule

Theobald Baerwart, Basel

Kat. III: Jahrgänge 2012–2014, Klasse 6a, Primarschule Brunnmatt, Basel

Herausgeberin

Charlotte Butty

Um die Ausdrucksform der jungen Autor:innen unverfälscht zu erhalten, wurde darauf verzichtet, die Texte mehr als erforderlich zu redigieren.

Korrigiert wurden jedoch die Zeitenfolge und die Rechtschreibung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.

© 2025 Christoph Merian Verlag

Alle Rechte vorbehalten; kein Teil dieses Werkes darf in irgendeiner Form ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Lektorat: Jörg Bertsch, Basel / Lisa Sanglard, Basel (Text Niki Käslin)

Gestaltung: weishaupt design, Sybil Weishaupt, Basel

Illustration: Manuel Guldimann, Basel

Druck: Steudler Press AG, Basel

Bindung: Buchbinderei Grollimund AG, Reinach

Papier Inhalt: Munken Lynx 100 g/m2

ISBN 978-3-03969-046-6 1. Auflage 2025

Christoph Merian Verlag

St. Alban-Vorstadt 12 4052 Basel, Schweiz info@merianverlag.ch

Verantwortliche Person gemäss EU-Verordnung 2023/988 (GPSR): GVA Gemeinsame Verlagsauslieferung Göttingen GmbH & Co. KG

Postfach 2021

37010 Göttingen, Deutschland info@gva-verlage.de

Marie Gütersloh,

Niki Käslin,

Jahrgänge 2012–2014

Nela Donghi,

William Foulk,

Stankowski,

Nik Wartenweiler,

Lars Weisskopf, 2012

VORWORT

«Solange man schreibt, was man zu schreiben wünscht, ist nur das allein wichtig; und ob es nun für lange Zeit wichtig ist oder nur für Stunden, kann niemand sagen.»

Virgina Woolf, ‹Ein Zimmer für sich allein›

Zum 30. Mal freut sich die ‹Basler Eule›, ausgewählte Texte von Kindern und Jugendlichen aus dem Grossraum Basel in einem Buch zu veröffentlichen. Dieser Schreibwettbewerb ermutigt die junge Generation, in die Welt der Worte und des Schreibens einzutauchen.

Die 25 veröffentlichten Beiträge gelten als die Glanzstücke dieses Wettbewerbs. Doch hinter ihnen stehen Hunderte von Einsendungen, die mit Herz und Leidenschaft geschrieben wurden – sei es in Form von Fiktion, (Auto-)Biografien, Gedichten oder Reportagen. Für viele junge Menschen wird das Schreiben zu einem Mittel, ihre innersten Gefühle zu ordnen, schwierige Erlebnisse zu verarbeiten oder ihre Fantasie und Träume zum Leben zu erwecken. Es ist ein Weg, sich selbst besser zu verstehen und auszudrücken.

Die ‹Basler Eule› feiert diesen Schreibprozess sowie den Mut der jungen Generation, ihre Texte mit der Öffentlichkeit zu teilen. Dafür bietet sie eine Plattform, die ihr literarisches Schaffen ans Licht bringt. Alle Einsendungen werden in drei Alterskategorien eingeteilt. In jeder Kategorie liest eine dreiköpfige Jury alle Texte und trifft eine Auswahl von Texten, die in der Publikation Platz finden. In einem zweiten Schritt werden die ausgewählten Beiträge an eine Schulklasse der jeweiligen Alterskategorie gesendet, um den Hauptpreis zu bestimmen.

Das Wettbewerbsthema ‹Die letzten Stunden … › wurde von der 6. Klasse der Primarschule Giebenach gewählt. Dieses Thema hat die Teilnehmenden auf verschiedene Weise inspiriert. Der Tod – sei es als Folge einer unheilbaren Krankheit,

eines Unfalls oder als Selbstmord – war sehr präsent. Die Menschheit erlebte ihre letzten Stunden in zahlreichen Beiträgen. Trennungen, sei es durch Liebeskummer, durch den Abschied von einem Grosselternteil oder sogar von der eigenen Kindheit, wurden ebenfalls mehrfach thematisiert. Einige Teilnehmende liessen sich von historischen Ereignissen inspirieren, während andere eine ganz eigene Welt erschufen. Mehrere Kinder und Jugendliche beschäftigten sich mit der ökologischen Krise, wie zum Beispiel der Rodung des Regenwaldes, während andere ihre Geschichten aus der Perspektive von Tieren verfassten. Obwohl vorwiegend kurze Geschichten eingereicht wurden, erhielten wir auch Gedichte und Reportagen.

Eher düster spiegeln diese Beiträge unsere Zeit wider. Die zahlreichen Krisen in unserer Welt beschäftigen die Jugendlichen, die in diesem Kontext erwachsen werden. Dennoch enthalten viele Beiträge auch eine gute Dosis erfrischenden Humors und Leichtigkeit. In diesem Buch werden Sie die Gedankenwelt einer Generation entdecken, die sich mit zahlreichen Fragen auseinandersetzt und viel Empathie zeigt.

Wir danken und gratulieren nochmals allen Teilnehmenden für ihre Beiträge und wünschen Ihnen viel Spass beim Lesen und Entdecken dieser Werke.

DANK

Der Schreibwettbewerb kann nur dank finanzieller und ideeller Unterstützung realisiert werden. Den folgenden Institutionen, Körperschaften und Unternehmen gebührt – oft zum wiederholten Male – grosser Dank für das Vertrauen und die Grosszügigkeit.

Christoph Merian Stiftung

Forlen Stiftung Basel

Gemeinde Reinach

Gemeinde Riehen

Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige (GGG)

Migros Basel

Scheidegger-Thommen Stiftung

Schweizer Bücherbon

Sulger-Stiftung

Swisslos-Fonds Basel-Landschaft

FÖRDERER, UNTERSTÜTZER UND SPONSOREN

KATEGORIE I

Jahrgänge 2004–2008

MARIE GÜTERSLOH, 2007

SONNENBLUMEN IM NOVEMBER

Das Telefon klingelt. Die alte Stimme am Apparat ist mir bekannt.

«Muss ich heute sterben?», fragt sie.

Ich lächle und gebe dieselbe Antwort wie immer.

«Nein, Lotte, das musst du nicht.»

Im Hörer rauscht es einen Moment, bis meine Antwort ankommt. Dann antwortet auch Lotte wie gewohnt zurück.

«Hach, das ist aber schön, dass du mir das sagst, in dieser beschissenen Welt.»

Damit legt sie auf.

Ich stehe noch eine Weile reglos da und betrachtete nachdenklich das Telefon, bevor ich es zurück auf seine Ladestation stelle. Nach ebendieser Routine verläuft es jeden Morgen. Lotte ruft an und fragt, ob sie heute sterben müsse. Ich verneine das jeweils, sie bedankt sich und legt auf.

Obwohl der eigene Tod Lotte unmittelbar erscheint, lebt sie seit einem Jahr weiter. Das morgendliche Gespräch ist zu unserem Ritual geworden. Anfangs war ich noch starr vor Schreck, sagte ihr, dass sie doch bitte nicht sterben müsse, fragte voller Sorge, ob ihr etwas fehle. Doch auf all meine Fragen gab Lotte nie Antwort. Auch geht das Gespräch nie länger als ebendiese drei Sätze. Lotte fragt, als wäre es jeden Morgen das erste Mal und als könne mein Wort darüber bestimmen, ob sie den nächsten Tag noch erleben werde.

Mittlerweile überquert das «Nein, Lotte, das musst du nicht» fast sorglos meine Lippen. Als wäre es gegeben, dass Lotte nicht stirbt. Als wäre es unmöglich. Ich streife diese lästigen Gedanken ab, trinke meinen Kaffee fertig und verlasse die Wohnung.

Es ist ein regnerischer Morgen. Über dem grauen Teer erheben sich graue Fassaden in den grauen Himmel. Auf der Strasse fahren graue Autos durch graue Pfützen und spritzen das dreckige Wasser auf unaufmerksame Passanten. Sogar die Menschen scheinen sich dem Wetter anzupassen und hasten in dunklen Mänteln und mit finsteren Mienen über den Bür-

gersteig. Ich haste ebenfalls und strecke den Regenschirm über mich wie einen verirrten Pilz. Das Wetter ist mir unangenehm. Die Stimmung ist November, abweisend und kalt.

Ich erreiche den Rewe und trete durch die Ladentüren in das warme Innere. Dort laufe ich an den Regalen entlang und betrachte die bunt verpackten Lebensmittel. Aus dem Tiefkühlfach nehme ich eine Packung Fischstäbchen und halte sie abwägend in der Hand. Ob Lotte Fischstäbchen mag? Wir haben das noch nie zusammen gegessen. Oder vielleicht haben wir das mal getan, früher, als ich nicht viermal die Woche vorbeikam. Früher, als ich mir noch keine Gedanken über einzelne Mahlzeiten mit ihr machte. Eigentlich weiss ich gar nichts über das Essverhalten von Lotte. Nur Hummus – den mag sie nicht, weil sie findet, dass er ihr zu trocken schmeckt. Ich halte inne, lege die Packung schliesslich in den Korb und hole anschliessend noch gefrorenen Spinat und Kartoffelpüree. Ich hoffe, dass sie es mögen wird. Ich will nicht, dass sie sterben muss, während sie noch den Geschmack einer mittelmässigen Mahlzeit auf der Zunge … Lotte stirbt nicht, schelte ich mich selbst und schmeisse noch eine Fertigbratensosse in den Korb. Dann mache ich, dass ich aus dem Laden komme.

Wieder draussen. Es regnet noch immer und der Wind hat zugelegt. Frustriert klappe ich den geöffneten Schirm wieder ein und ziehe die Kapuze über meinen Kopf.

Ich laufe an den Geschäften vorbei und werfe einen Blick auf die Uhr. Viertel vor zwölf.

Ich passiere ein Blumengeschäft. Trotz des Regens sind die Blumen draussen ausgestellt. Mit hängenden Köpfen, von denen das Regenwasser tropft, sehen sie fast so aus, als würden auch sie das ungemütliche Wetter bedauern.

Ich will schon vorbeigehen, als ich innehalte und mich über einen der Töpfe beuge. Darin stehen Sonnenblumen. Weder besonders ansehnlich mit ihren blassgelben Blütenblät-

tern und den kleinen, triefnassen Köpfen, noch scheinen sie in dieser Jahreszeit eine Daseinsberechtigung zu haben. Woher zum Teufel jetzt noch Sonnenblumen kommen, frage ich mich, während ich die verkümmerten Köpfchen streichle. Die Blumen rühren mich, trotz ihrer Unansehnlichkeit. Ob Lotte sich über Sonnenblumen freuen wurde? Unwillkürlich stelle ich mir vor, wie ich einen Strauss Sonnenblumen auf ein frisches Grab lege und verfluche mich für den Gedanken. Lotte stirbt nicht, wiederhole ich in Endlosschleife in meinem Kopf, als wäre es ein Gebet. Ich nehme das Telefon aus der Tasche, wähle Lottes Nummer und warte.

«Du, magst du gerne Blumen?»

Ich stehe mit der durchweichten Papiertüte vom Rewe und einem Strauss Sonnenblumen vor Lottes Wohnungstür. Die Klingel funktioniert nicht mehr, deshalb klopfe ich dreimal. Dann warte ich und lausche.

Hinter der Tür erklingt ein Schlurfen, das langsam lauter wird und kurz vor dem Eingang stoppt. Die Tür öffnet sich einen Spalt und wird mit einem Knirschen von der Türkette gebremst. Ein Paar misstrauischer Augen funkeln durch die Öffnung. Lotte braucht einen Moment, bis sie mich erkennt. «Ach, du bist’s», sagt sie, löst die Kette und lässt mich hinein.

Drinnen beuge ich mich zur Begrüssung tief hinunter zum Körper der alten Dame und bekomme einen feuchten Kuss auf die Wange.

«Wie geht es dir?», frage ich.

«Kann mich nicht beklagen.»

Ich gehe an Lotte vorbei durch den Flur und in die Küche und breite meinen Einkauf auf dem Tisch aus.

«Ich habe dir Blumen mitgebracht», sage ich.

Mit hochgezogenen Augenbrauen betrachtet sie den Strauss. «Sonnenblumen im November», fragt sie zweifelnd.

«Das habe ich mich auch gefragt.» Ich zucke mit den Schultern.

«Soll ich sie in eine Vase stellen?»

Die ‹Basler Eule› feiert ihr 30. Jubiläum und präsentiert erneut ausgewählte Texte junger

Autor:innen aus dem Grossraum Basel. Über 300 Einsendungen gingen zum diesjährigen Thema ‹Die letzten Stunden › ein. Die 25 ausgewählten Texte beschäftigen sich mit Abschieden und Verlusten, greifen aber auch humorvolle und fantasievolle Perspektiven auf.

Tauchen Sie ein in die Gedankenwelt einer Generation im Alter zwischen zehn und zwanzig Jahren, die sich schreibend mit den Fragen unserer Zeit auseinandersetzt.

merianverlag.ch

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