Traum (oder Realität). Texte von Jugendlichen

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TRAUM (ODER REALITÄT)

TEXTE VON JUGENDLICHEN

CHRISTOPH MERIAN VERLAG

Trägerschaft

Verein Schreibwettbewerb ‹Die Basler Eule› Sennheimerstrasse 20, 4054 Basel baslereule.ch

Gegründet wurde der Schreibwettbewerb 1993 von der Basler Jugendschriftenkommission und dem Basler Buchhändler- und Verlegerverein.

Wettbewerbsjury 2023

Kat. I: Lena Käsermann, Jonas Balmer, Achoaq Cherif

Kat. II: Lea Schneider, Fabio Kilcher, Josia Jourdan

Kat. III: Lou Meili, Srdjan Paravac, Noëmi Blättler

Juryklassen 2023

Kat. I: Jahrgänge 2003–2007

Klasse F2a, Gymnasium Muttenz

Kat. II: Jahrgänge 2008–2010

Klasse 2 Eb, Sekundarschule Oberwil

Kat. III: Jahrgänge 2011–2013

Klasse 5e, Gotthelfschulhaus Basel

Herausgeberin

Caterina John

Um die Ausdrucksform der jungen Autor:innen unverfälscht zu erhalten, wurde darauf verzichtet, die Texte mehr als erforderlich zu redigieren. Korrigiert wurden jedoch die Zeitenfolge und die Rechtschreibung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2024 Christoph Merian Verlag

Alle Rechte vorbehalten; kein Teil dieses Werkes darf in irgendeiner Form ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Lektorat: Jörg Bertsch, Basel

Gestaltung: weishaupt design, Sybil Weishaupt, Basel

Illustration: Manuel Guldimann

Druck: Steudler Press AG, Basel

Bindung: Buchbinderei Grollimund AG, Reinach

Papier Inhalt: Munken Lynx 100 g/m2

ISBN 978-3-03969-032-9 merianverlag.ch

KATEGORIE I

Jahrgänge 2003–2007

AUF DER FLUCHT

Bettina Nitschke, 2003

ZENTRALE FÜR TRAUMERLAUBNIS

Jonas Schönborn, 2006

REMIND THE FUTURE

Runa Schüpbach, 2007

INHALT VORWORT / DANK 9
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KATEGORIE II Jahrgänge 2008–2010 TOMMYS TRAUM 38 Michael Cassidy, 2010 TRANSGENDER REPORTAGE 44 Jojo Eckenstein, 2008 SO WIE ES SCHEINT 50 Ella Fassbind, 2010 STERNENSCHIFF 58 Catarina Désirée Fürstenberger, 2009 NOCTURNE 64 Mascha Ichtchenko, 2008 STELL DIR VOR 70 Eva Mata, 2010 MANCHMAL SIND TRAUMATA NICHT REAL, ABER SIE SIND DA 72 Moriana Medero, 2008 DER TRAUMDIEB 76 Jakob Thern, 2010 FIELDS OF GOLD 84 Sara Uhlmann, 2009 IM SCHATTEN DER VERZWEIFLUNG 92 Mila Wülser, 2010

KATEGORIE III

Jahrgänge 2011–2013

Arwen Althaus,

Anna Lynn Bothe, 2011

Laila Fischer, 2011

Nayla Schneeberger,

Alyssa Weir, 2011

GLITZERREH 102
2012 FLIEGEN LERNEN 110
AMINA 116
SO EINEN TRAUM GAB ES NOCH NIE 120 Amélien
DER (UN)ENDLICHE SPAZIERGANG 124
WAS UNTER DEM BETT LAUERT 130
2012 DIE LEGENDE DER MEERIANER 138 Giulia Lenardic, 2012 EIN LICHT AM ENDE DES TUNNELS 146
2011 DER GRAUE TRAUM 152
Jaccottet-Bally, 2012
Alan Koyuncu, 2011
Belina von Laer,

VORWORT

Der Schreibwettbewerb ‹Die Basler Eule› darf nun zum 29. Mal ausgewählte Texte von Kindern und Jugendlichen in Buchform veröffentlichen. Der Wettbewerb will Kindern und Jugendlichen eine Plattform für ihr Schreiben und ihre Geschichten bieten und sie ihren eigenen Zugang zu Sprache und Literatur finden lassen.

Das vorliegende Buch enthält 22 Geschichten aus über 350 eingereichten Texten zum Wettbewerbsthema 2023 ‹Traum (oder Realität)›.

Die Texte lieferten inhaltlich eine bunte Palette: Ganz unterschiedlich wurde das Thema umgesetzt, von Fiebertraumgeschichten über wilde Gruselstories und Fantasyplots bis hin zu kleinen Alltagsträumen, die Wirklichkeit werden, Geschichten über Games, Lebensträume und Krieg. Was Kinder und Jugendliche beschäftigt, wie sie die Welt um sich herum wahrnehmen und wie Schreiben ein Ventil sein kann – all dem will ‹Die Basler Eule› Platz, ein lesendes Auge und aufmerksames Ohr geben.

‹Die Basler Eule› beginnt jeweils mit der Wettbewerbsausschreibung und endet mit der Preisverleihung. Die eingereichten Texte werden in drei Alterskategorien eingeteilt und durchlaufen eine zweistufige Jurierung: Zuerst trifft die Jury eine Auswahl von Texten, die dann einer Schulklasse der jeweiligen Alterskategorie zur Bestimmung des Hauptpreises vorgelegt wird. Das Wettbewerbsthema ‹Traum (oder Realität)› folgte dem Vorschlag der Klasse 1p der Sekundarschule Frenke in Liestal.

Auf den folgenden Seiten finden Sie die von der Jury ausgewählten Texte. Die jungen Schreibenden haben sich jeweils

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ganz unterschiedlich mit dem vorgegebenen Thema auseinandergesetzt und erzählen uns hier die Geschichten, die sie geformt und gestaltet haben. Manche dieser Geschichten regen uns zum Denken an, andere lösen ein Schmunzeln oder Lachen aus. Zusammen bilden sie ein Werk mit dem Gedankengut einer jungen Generation. Lassen wir uns auf sie ein!

Wir danken den jungen Schreibenden herzlich für den Mut, ihre Geschichten mit uns zu teilen. Ihnen, liebe Leser:innen, wünschen wir viel Vergnügen bei der Lektüre!

Caterina John

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DANK

Der Schreibwettbewerb kann nur dank finanzieller und ideeller Unterstützung realisiert werden. Den folgenden Institutionen, Körperschaften und Unternehmen gebührt – oft zum wiederholten Male – grosser Dank für das Vertrauen und die Grosszügigkeit.

Basler Kantonalbank

Claire Sturzenegger-Jeanfavre Stiftung

Erziehungsdepartement Basel-Stadt

Forlen Stiftung Basel

Gemeinde Allschwil

Gemeinde Binningen

Gemeinde Reinach

Gemeinde Riehen

Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige (GGG)

Migros Basel

Orell Füssli Basel

Region Leimental Plus

Scheidegger-Thommen Stiftung

Schweizer Bücherbon

Stiftung propep

Sulger-Stiftung

Swisslos-Fonds Basel-Landschaft

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FÖRDERER, UNTERSTÜTZER UND SPONSOREN

KATEGORIE I

Jahrgänge 2003–2007

AUF DER FLUCHT

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BETTINA NITSCHKE, 2003

Ich renne, renne immer weiter, auch wenn mein Körper sich mit aller Macht dagegen sträubt und mir signalisiert, dass er dringend eine Pause bräuchte. Doch stehen bleiben ist keine Option. Der Schweiss rinnt mir über das Gesicht, meine Muskeln brennen und meine Kehle fühlt sich trocken wie Staub an. Doch in meinem Rücken fühle ich schon die Hitze des herannahenden Feuers. Also zwinge ich meinen Körper zum Weiterrennen. Immer wieder muss ich den Bäumen um mich herum ausweichen und mehrmals wäre ich fast über Wurzeln oder herumliegende Äste gestolpert. Erschwerend kommt noch hinzu, dass der dichte Qualm meine Augen zum Tränen bringt und ich fast ununterbrochen huste. Und dann passiert es doch. Mein Fuss bleibt in einem Loch im Waldboden hängen und ich falle vorwärts auf meine Knie. Panisch drehe ich mich um und sehe hilflos zu, wie sich die Feuerwand immer weiter auf mich zubewegt. Die Flammen spiegeln sich in meinen weit aufgerissenen Augen. Das war’s, denke ich. Oder ist das alles nur ein böser Traum?

Die Schulglocke läutet und ich stürme aus dem Klassenzimmer. Endlich Wochenende. Bei den Veloständern erwartet mich jedoch eine böse Überraschung. Meine Reifen sind platt und auf dem Gepäckträger liegt ein Zettel mit wüsten Beschimpfungen. Genervt zerknülle ich das Blatt und mache mich nun halt zu Fuss auf den Heimweg. Während ich das Velo vor mir herschiebe, frage ich mich, warum man so etwas tut. Warum stören sich die Leute an mir? Ich bin doch genauso ein Mensch wie alle anderen, auch wenn ich in gewissen Punkten vielleicht nicht der Norm entspreche. Erst als mir eine Gruppe älterer Jugendlicher entgegenkommt, werde ich aus meinen Gedanken gerissen. Ein mulmiges Gefühl macht sich in mir breit. Den Blick auf den Boden geheftet, wechsle ich die Strassenseite und beschleunige meine Schritte. Ein paar Häuserblocks weiter fällt mir auf, dass sie umgedreht haben und mir gefolgt sind. Ich lasse das Velo fallen und sprinte los. Doch auch die Jugendlichen sind losgerannt und eindeutig schneller als ich. Als der

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Schnellste von ihnen auf gleicher Höhe mit mir angelangt ist, packt er mich grob am Arm. Ich versuche, mich loszureissen, aber mittlerweile ist auch der Rest der Gruppe bei mir angelangt und hat mich umstellt. «Na, wen haben wir denn da?», fragt der, der mich gepackt hat mit einem fiesen Grinsen. «Ein dreckiges ...» Den Rest bekomme ich nicht mehr mit, denn ein Hieb in meinen Magen raubt mir alle Luft und zwingt mich in die Knie. Ein weiterer Stoss und ich liege mit dem Gesicht auf dem Beton. Verzweifelt schliesse ich meine Augen. Oder ist das alles nur ein böser Traum?

«Nun komm endlich», höre ich meinen Vater hinter mir rufen. Doch meine Beine sind wie festgewurzelt. Ich starre auf die Ruine, die vor dem Luftangriff noch unser Zuhause war, unfähig, meinen Blick davon abzuwenden. Dabei wollen mir die Bilder der letzten Stunden nicht aus dem Kopf gehen. Das Geheule der Sirenen, die panisch zu den Schutzräumen eilenden Menschen, das Entsetzen in den Augen meiner Eltern, wahrend wir auf Entwarnung warteten. Doch das Schlimmste ist das Bild meiner Katze, wie sie leblos unter den Trümmern unseres Hauses liegt. Dann spüre ich eine Hand auf meiner Schulter. Es ist meine Mutter. «Komm, wir müssen los», sagt sie und schiebt mich behutsam zum Auto. Ich lasse mich von ihr führen, doch innerlich sträubt sich alles in mir dagegen. Ich will nicht weg. Ich will unsere Katze, meine Freunde, mein glückliches Leben nicht zurücklassen. Warum musste das passieren? Oder ist das alles nur ein böser Traum?

Unauffällig blicke ich über meine Schultern. Ich habe langsam aber sicher das Gefühl, dass ich verfolgt werde. Doch ich möchte auf keinen Fall Aufmerksamkeit erregen. Die Flugblätter in meinem Rucksack würden mich für Jahre hinter Gitter bringen. Und das auch nur, wenn ich Glück habe. Die Menschen um mich herum bieten mir für den Moment eine gute Deckung. Auf mehr Unterstützung ihrerseits kann ich aber kaum hoffen. Käme es hier und jetzt zu einer Konfrontation

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mit der Polizei, die dabei garantiert nicht zimperlich vorgehen würde, gingen die Menschen unbeteiligt weiter oder würden sich sogar noch beim Zuschauen amüsieren. Die wenigsten von ihnen wissen um das Unrecht, das in unserem Land herrscht und davon, dass die Regierung mit allen Mitteln versucht, jegliche Kritik zu unterdrücken. Oder sie wollen nichts davon wissen. Kaum sind mir diese Gedanken durch den Kopf gegangen, höre ich, wie sich hinter mir Schritte nähern. Ein Blick über meine Schultern lässt meine schlimmsten Befürchtungen wahr werden und ich verfalle ins Rennen. Doch meine Verfolger schliessen immer weiter auf. An der nächsten Kreuzung biege ich ab, merke aber sofort, dass das ein Fehler gewesen ist. Diese Strasse ist nämlich viel weniger bevölkert und ich bin nun völlig ungeschützt und gut sichtbar. Dennoch laufe ich weiter. Plötzlich höre ich einen lauten Knall und spüre einen Luftzug an meiner rechten Wange. Erneut biege ich ab, um aus der Schusslinie zu kommen. Wieder ein Fehler. Ich bin in einer Sackgasse gelandet. Gehetzt blicke ich mich um, doch es scheint kein Entkommen zu geben. Oder ist das alles nur ein böser Traum?

Ich nehme mehrere Stufen gleichzeitig, während ich die Treppe herunterhetze. Ich kann mich nicht erinnern, wie viele Stockwerke ich schon hinuntergestiegen bin, aber irgendwie scheint das Treppenhaus kein Ende zu nehmen. Aber so wie es aussieht, habe ich meinen Verfolger mittlerweile abgehängt. Mich schaudert es schon nur, wenn ich an ihn denke. Seine zwei Meter hohe Käfergestalt, seine vier Arme, die sich nach mir ausstrecken, seine übergrossen Insektenaugen ... Ich versuche, das Bild aus meinem Gedächtnis zu verbannen und konzentriere mich darauf, wieder zu Atem zu kommen. Rechts von mir bemerke ich einen Gang. Als ich ihm folge, gelange ich in ein weiteres Treppenhaus. Langsam drängt sich mir der Gedanke auf, dass ich mich in einem Irrgarten aus Treppen befinde. Und das zusammen mit diesem Monsterkäfer. Der gerade im Gang hinter mir auftaucht. Oh nein, denke ich und beginne zu

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rennen. Wie soll ich hier nur rausfinden? Oder ist das alles nur ein böser Traum?

Zum Glück, ich bin aufgewacht. Zwar ist mein Puls noch genauso hoch wie im Treppenlabyrinth, doch ich befinde mich in der Sicherheit meines Betts. Licht an, ein Blick auf den Wecker, Licht aus. Kurze Zeit später drifte ich in einen traumlosen Schlaf.

Ein realer Traum, also ein Traum, den ich in der Realität tatsächlich mal so geträumt habe. Und doch ist die Situation im Traum total irreal, denn ganz ehrlich, wer hat in seinem Leben schon mal einen zwei Meter grossen Käfer gesehen, der Leute durch Treppenhäuser jagt?

Wie schön wäre es, wenn auch die anderen Träume in die Kategorie gehörten, aus denen man einfach aufwachen kann. Doch es sind reale Träume, Albträume, die für einige Menschen zur Realität wurden. Irreal, weil ich mir kaum vorstellen kann, wie sie sich fühlen müssen, selbst wenn ich in meinen eigenen Träumen häufiger mal auf der Flucht bin. Und doch real, weil es laut UNO etwa 108,4 Millionen Menschen gibt (Ende 2022), die auf der Flucht sind und nicht so einfach aus diesem Albtraum aufwachen können. Und es gibt garantiert noch mehr Menschen, die in dieser Zahl nicht erfasst sind, aber für die Flucht dennoch in der einen oder anderen Weise zur Lebensrealität gehört.

Die Menschen haben es zwar schon geschafft, aus vielen Albträumen der Geschichte aufzuwachen. Aber die Geschichte hat, genau wie Albträume auch, die lästige Angewohnheit, sich in vielen Fällen zu wiederholen. Deshalb müssen wir immer wieder aufwachen. Die Augen nicht vor den Problemen dieser Welt verschliessen. Nicht wegschauen, wenn Leute aufgrund ihrer Religion, ihrer Herkunft, ihres Aussehens oder sonst was erniedrigt werden. Nicht aus Betretenheit umschalten, wenn

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im Fernseher mal wieder über ein gesunkenes Flüchtlingsboot berichtet wird. Nicht tatenlos dabei zusehen, wie immer mehr unberührte Natur von diesem Planeten verschwindet. Nicht blind einfach allem glauben, ohne zu hinterfragen.

Aufwachen. Das ist der erste Schritt, um Albträume zu überwinden. Ein zweiter Schritt besteht laut Experten darin, sich ein Happy End für den Albtraum auszumalen. Also den Ausgang der Geschichte so zu gestalten, dass man selbst den entscheidenden Beitrag dazu leistet, damit alles gut wird. Doch wie soll das gehen? Man kann ja schliesslich nicht die ganze Welt auf einmal retten. Aber man kann im Kleinen beginnen. Die Menschen in seinem Umfeld so respektieren, wie sie sind, ganz egal, ob sie eine andere Hautfarbe haben, an etwas anderes glauben oder aus einem anderen Land stammen. Sich für Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit, eine intakte Umwelt oder sonstige Werte einsetzen mit den Mitteln, die einem zur Verfügung stehen. Und so dem Traum von einer Welt, in der es kein Leid mehr gibt, ein kleines Stück näherkommen.

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JONAS SCHÖNBORN, 2006

ZENTRALE FÜR TRAUMERLAUBNIS

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Ein leises Klopfen begrüsste mich. Dazu kam noch der Geruch von Papier und Desinfektion, welcher mir angenehm unter der Nase schwebte. Mein schlanker, bescheidener Körper betrat den Flur und ich sah lächerlich aus, als ich mich an den monumentalen Kolonnen vorbeischlich, welche sich hier im Inneren des Gebäudes auftürmten. Die zwei soliden Stahltüren schlossen sich automatisch hinter mir und hinterliessen ein lautes Knallen. Das Geräusch prallte von jeder möglichen Wand ab und endete im nächstbesten Ohr eines schnauzbärtigen alten Besserwissers, welcher auf einer Bank am Eingang sass. «Schhh», rief mir dieser laut zu. Ich wollte keine Aufmerksamkeit erregen. Nicht an diesem Ort. Trotzdem musste ich jedes Jahr genau an diesen Ort, genau am selben Tag, zur selben Uhrzeit, kein Kompromiss. Trotz alledem musste ich mich zusammenreissen, denn es ging hier nicht um irgendein Gebäude oder irgendeinen Ort. Hierher kam man nicht zum Kaffee trinken und auch nicht zum Arbeiten. Man kam zum Träumen. Besser gesagt, kam man hier hin, um einen Traum abzuholen, zu erneuern oder gar eine Erlaubnis zu bekommen zum Träumen. ‹Zentrale für Traumerlaubnis›. Schon der Name liess mich an strenge, missbilligende Blicke alter Bürokraten denken. Doch ich musste es nun mal tun. Es war ja unmöglich, einfach nicht zu träumen. Nun ging ich also durch diesen nimmer endenden Flur. An den Wänden hing die Angst und von der Decke drückte ein Grauen. Der Gedanke, wie es wäre, wenn ich nicht mehr träumen dürfte. Doch das kann mir nicht passieren, ich komme hier jedes Jahr hin, und nie ist’s passiert, dachte ich mir. Immer weiter durch den Flur ging es. Den Blick ja nicht vom Boden heben. Immer weiter geradeaus durch den Flur. Ich bewegte mich weiter an grossen Fenstern und marmornen Statuen vorbei, welche arrogant auf mich herabschauten, bis ich endlich das Wartezimmer erreichte. Eine Türsteherin stand kerzengerade vor der Tür zum Wartezimmer. Als sie mich sah, verzerrte sich ihr Gesicht in ein unangenehmes Lächeln.

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«Guten Tag, Herr Lieber, wir haben sie erwartet», sagte sie mit robotischer Stimme. «Hier ist ihre Zahl für heute. Sie werden nach Zahl aufgerufen. Bitte nehmen Sie währenddessen Platz und geniessen Sie unsere ...»

Lass mich doch endlich rein, du Roboter, dachte ich mir leise. Die Tür öffnete sich endlich und ich trat ein.

Rote Tapete und alte Frauen. So sah es in diesem Raum jedes Jahr aus. Ich setzte mich leise auf einen Stuhl und packte die Zeitung aus, die ich nicht lesen würde. Anstatt zu lesen, fing ich an zu grübeln, denn es musste eine Entscheidung getroffen werden. Welchen Traum würde ich dieses Jahr wählen? Eine wichtige Entscheidung. Die Wahl, die man traf, entschied darüber, was man ein ganzes Jahr lang träumen würde, bei Tag und bei Nacht. Man hatte die freie Wahl, doch es war nicht einfach, etwas zu wählen. Letztes Jahr hatte ich mich nicht so angestrengt bei der Entscheidung, und hatte gewählt, mir das Leben eines Piloten erträumen zu dürfen. Es war eine Fehlentscheidung gewesen. Denn ein Pilotenleben, musste ich erfahren, bedeutete nicht ein entspanntes Leben in der Luft. Es war oben im Himmel wie im wilden Westen, ohne Regeln und unvorhersehbar. Ein Leben auf dem Land war mir doch noch lieber. Dieses Jahr musste es darum ein besserer Traum sein. Ein grandioses Finale. Mein Finale. Denn es würde das letzte Mal sein, dass ich hier an diesem Ort aufkreuzen würde, denn es war auch das letzte Jahr meines Lebens. Trotz den vielen Träumen, die einem das ganze Leben begleiteten, hörte das Träumen eines Tages auf, denn dem Tod war es egal, ob man träumte oder nicht.

Zurück zur Entscheidung. Was soll ich nur nehmen ... Ich murmelte, in Gedanken versunken, vor mich hin. Die Tür zum Wartezimmer öffnete sich. Eine Figur bewegte sich ins Innere des Raumes. Ich bemerkte sie erst, als ihr Schatten mich streifte.

«Oh!», sagte ich überrascht. Etwas zu laut. Ich war aber nicht der Einzige, der überrascht war von dieser Erscheinung,

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und alle Anwesenden im Raum hatten ihre Blicke von ihren Zeitungen aufgerichtet. Die Person, die ich mit diesem «Oh» begrüsst hatte, reagierte indifferent und schlenderte weiter auf einen freien Platz zu. Doch meine überraschte Reaktion war nicht unbegründet. Denn es war immerhin ein Glasmann, der den Raum betreten hatte, oder so nannte man solche wie ihn.

Was ich von anderen wusste, war, dass diese Glasmenschen gar nicht träumen konnten, es liege ihnen einfach nicht, sagten sie. Schon damals überraschte es mich. Jemand der nicht träumen konnte, wie war das möglich? Jedoch wusste ich nie, was ich davon halten sollte, und es hatte mich auch ehrlich gesagt nie interessiert.

Doch jetzt sah ich diesen gläsernen Menschen, direkt vor meiner Nase, und war erstaunt. Er setzte sich auf den Stuhl direkt mir gegenüber. Jeder schien ihn zu bemerken, dabei bestand er ja eigentlich aus Glas. Transparent. Man konnte die bösen Blicke der anderen im Raum von seinem Körper reflektieren sehen.

«Abartig», fauchte eine alte Frau am anderen Ende des Raumes, laut genug, dass dieser gläserne Mensch es verstand. Jetzt gibt es Streit, dachte ich mir. Der Glasmensch würde aufstehen und diese alte Frau beschimpfen. Doch als ich meinen Blick wieder dem Glasmenschen zuwandte, war dieser immer noch so ruhig wie vorhin. Er senkte den Kopf nicht, er verzog keine Miene. Bewundernswert war das. Sein eingefrorenes Bild wurde erst wieder zum Leben erweckt, als eine mechanische Stimme durch den Raum hallte.

«Nummer achthunderttausend zweihundertelf, zum Raum C8 kommen. Sofort zum Raum C8 kommen.»

Noch zweihundert Plätze, bis ich dran kam, das könnte noch eine Weile dauern. Als ich meinen Blick wieder auf den Glasmann richtete, hatte der sich vollkommen verändert. Etwas hatte die Ruhe aus seinem Körper vertrieben. Sein gläsernes Gesicht war am Schmelzen vor Stress und seine Augen hatten ihre Farbe verloren. Sie waren nun nur noch mit Angst gefüllt.

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Die Blicke der anderen Menschen im Raum hatten sich immer noch nicht von ihm gelöst, doch dies schien ihn jetzt noch weniger zu kümmern. Vorsichtig stand er auf und vorsichtig streifte er die feingebügelte, dunkelschwarze Jacke über, mit der er in den Raum gekommen war. Seine Tasche packend richtete er seinen Blick auf die Tür, welche sich langsam öffnete. Dann verschwand der Glasmann durch die Tür. In die Welt des Ungewissen.

Sobald der Glasmann aus dem Raum verschwunden war, sprangen die verärgerten Blicke der Anwesenden wieder auf die Zeitschriften zurück, die sie allesamt in ihren Händen hielten und nicht lasen. Ich jedoch war aufgestanden. Die Neugier hatte mich beim Kragen gepackt und schrie in mein Ohr: Öffne die Tür, folge dem Glasmann! So was hast du noch nie gesehen! Blind folgte ich dem Rat meiner Neugier und schlich mich zur Tür, durch die auch der Glasmann gegangen war. Sie öffnete sich schnell.

Ein leerer Flur erstreckte sich vor mir. Ich trat hinein. Sofort schloss sich die Tür hinter meinem Rücken. Jede Wand hier sah gleich aus und nur die Reihe von Türen erleichterte die Orientierung. Auch das Licht war fast zu schwach, um für die Augen nützlich zu sein. Es schien so, als wolle man die Träume hier gefangen halten, geschützt vor der Aussenwelt. Vielleicht wollten sie auch nur nicht, dass Menschen wie dieser Glasmann an einen Traum gelangten. Aber Träume waren doch für jeden, wurde mir immer gesagt. Nein, dieser Glasmann konnte einfach nicht träumen, weil er es halt nicht konnte. Langsam bewegte ich mich vorwärts, leise, sodass mich niemand hörte. Vorsichtig spähte ich durch jede Türe. Keinesfalls durfte ich auffallen. Ich wollte keine Bestrafung für unangemessenes Verhalten riskieren. Im schlimmsten Fall konnten sie mir die Erlaubnis zum Träumen entziehen. Ein schrecklicher Gedanke. Immer weiter durch den langen grauen Flur hindurch, hier und da mal eine Abzweigung, immer vorsichtig sein, dass keiner mich erwischt. Plötzlich hielt ich an. ‹Sektor C›,

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stand in grosser schwarzer Schrift auf der Wand und war gerade so lesbar. Der Ort der Traumlosen. Hier wurde darüber entschieden, ob jemand träumen durfte oder nicht. Das wusste ich von Kollegen. Ein heftiges Urteil. Hier befand sich auch der Glasmann. C1, C3, C5, C7. C8. C8. Ich erinnerte mich an die Durchsage von vorhin. Der Raum, in dem sich der Glasmann befand. Mein Atem hielt an. Nicht das leiseste Geräusch wollte ich jetzt von mir geben. Von innen hörte ich dezent eine Stimme reden. Ich war zu nervös und mein Herz pochte immer schneller. So laut, dass das Geräusch durch meinen ganzen Körper hindurch hallte. Ich legte ein Ohr an die Tür. Eine kalte Stimme klang aus dem Zimmer.

«Wir können ihnen keine … poch … geben. Dafür ... poch ... qualifizieren Sie sich nicht … poch ... Ja, ich habe Ihre … poch … lagen gesehen, trotzdem kann … poch … nicht die Erlaub … poch … zum Träumen geben … poch … Sie müssen … poch … wohl in … poch … Realität bleiben.»

Die Stimme wurde immer lauter und strenger.

«Nein … poch … können wir nicht … poch … So sind … poch … mal die Regeln … poch … Wir können Ihn … poch … keinen Traum anbiet … poch. Der Traum … poch … halt nicht für jeden gedacht … poch …»

Die Stimme wurde noch lauter und noch strenger.

«Gehen Sie … poch … sonst … poch … hole ich … poch … noch den … poch … Sicherheitsdienst.»

Ich hob meinen Kopf von der Tür. Gerade als ich gehen wollte, ergriff etwas meine Schulter. Mein Körper zuckte zusammen und als ich mich umdrehte, stand ein Koloss vor mir. Dieser Mann hatte etwa die Höhe und Breite der Kolonnen, welche sich im Flur vor dem Wartezimmer befunden hatten, und ich konnte mir denken, dass es einer vom Sicherheitsdienst sein musste.

«Wollen Sie mir erklären, was Sie hier tun?», brüllte das Biest. Es gab keinen Fluchtweg, kein Aus, und mein langer, schlaksiger Körper hatte nichts auszurichten gegen den Bau

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dieses Sicherheitsmannes. Ich wollte mir gerade irgendeine Ausrede durch den Mund gehen lassen, doch dann sprang die Tür des Zimmers C8 auf. Heraus sprintete der Glasmann. Sein Gesicht hatte sich vollkommen verändert. Er sah wütend und hilflos aus. Er sprintete fort, zurück in Richtung Wartezimmer. Der Sicherheitsdienst wurde von diesem plötzlichen Geschehen abgelenkt. Dies nutzte ich zu meinen Gunsten und sprintete weg. Ohne einen Grund dem Glasmenschen hinterher. «Halt. Das werden Sie bereuen!», hörte ich hinter meinem Rücken den Sicherheitsdienst schreien, doch es war mir egal. Der Glasmann war flink unterwegs und man konnte ihn kaum einholen. Warum er am Weglaufen war, wusste ich nicht. Ich folgte ihm einfach. Wahrscheinlich wurde ihm das Träumen verweigert. Wahrscheinlich war er von der Traumwelt ausgeschlossen worden. Etwas in mir fand eine Ungerechtigkeit bei dieser ganzen Sache und ich fühlte mich schuldig. Ein Gefühl, das mir nicht oft begegnete. Ich fühlte mich schuldig dafür, was der Glasmensch durchstehen musste. Schuldig dafür, dass ich hatte Träumen dürfen und der Glasmensch nicht. Wir sprinteten immer weiter durch die grauen Flure, der Glasmann dicht gefolgt von mir. Wir sprinteten den grauen Flur entlang, immer weiter, doch es schien, als würden wir weder Anfang noch Ende des Flures einholen. Doch dann war da die Tür. Zum Wartezimmer. Wir sprinteten durch sie hindurch, ins Wartezimmer hinein, an verdutzten Wartenden und der Türsteherin, die uns netterweise die Tür öffnete, vorbei. Das Wartezimmer, die Statuen, wir liessen alles hinter uns und sprinteten weiter zum Ausgang.

Der Glasmann flüchtete und ich folgte ihm. Es war nicht mehr die Neugierde, die mich dazu brachte, ihm zu folgen, sondern die Schuld. Ein paar Meter vom Ausgang des Gebäudes entfernt verlangsamten sich unsere Schritte und wir hielten direkt vor einer schäbigen alten Holztür. Der Glasmann hatte noch nicht bemerkt, dass ich ihm gefolgt war, und ich versteckte mich ein paar Meter weiter hinter einer Kolonne. Aus

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seiner schwarzen Jackentasche brachte er einen alten verrosteten Schlüssel zum Vorschein. Der musste wohl für die Tür sein. Die Tür sah schmutzig und ungepflegt aus. Ein grosser Unterschied zu den automatischen Türen, welche ich kannte, die sich mir öffneten, sobald ich mich vor sie stellte. Mein Magen knurrte mitleidig. Die Situation dieses Glasmanns schien grausam zu sein. Wer weiss, vielleicht war seine Realität gar nicht mal so schlimm, dachte ich mir. Nun hielt er den Schlüssel in der Rechten und steckte ihn vorsichtig ins Türschloss. Mit einem Ruck an der Klinke öffnete er sie, die Tür, und trat in ein grelles Licht hinein. Ich kniff meine Augen zusammen, um in das Licht hineinzugucken, und sah eine schreckliche Welt. Dies war also die Realität, aus der diese Glasmenschen kamen. Ihre Heimat. Eine Heimat, die sie vertrieb. Es war ein karges Bild. Sogar das Leben schien von dieser Welt vertrieben worden zu sein. Ich sah trauernde Schatten, verbrannte Bäume und gebrochene Seelen.

Das ist also deine Heimat, dachte ich mir, der Grund, wieso du träumen wolltest. Ich schaute wieder auf den Glasmann, ich wollte ihm helfen, doch ich wusste nicht, wie. Der Schlüssel, welcher in der Tür steckte, hatte sich in Staub aufgelöst. War es sein einziger Schlüssel gewesen? Der Glasmann drehte seinen Kopf noch ein letztes Mal um. Ich war mir sicher, dass er mich gesehen hatte, denn seine Mundwinkel hatten sich zu einem kleinen, freundlichen Lächeln verformt. In der Ferne hörte man Stimmen.

«Geh nicht!», schrie ich dem Glasmann zu. «Ich kann dir helfen!»

Doch der Glasmann schüttelte leise den Kopf. Ich hatte auch gelogen. Denn ich konnte ihm nicht helfen. Ich wusste nicht, wie. Er musste zurückkehren in seine düstere Realität. Ich wusste nicht mal genau, wieso ich ihm so sehr helfen wollte. Er war einfach anders. Es fühlte sich gut an, jemand anderen, jemanden aus fernem Ort, zu treffen. Ich war so lange im Traum gefangen, hatte vergessen, dass eine Realität wie

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diese existierte. Durch mein Vergessen musste er jetzt zurückkehren, in die Realität, und die Schuld hatte mich in die Knie gezwungen.

Eine Hand packte mich wieder beim Arm und zerrte mich zurück. Der Glasmensch war schon verschwunden und die hölzerne Tür stand da, als wäre nichts passiert. Als wäre niemand durch sie gegangen. Es war der Sicherheitsbeamte von vorhin, der mich am Arm hielt. Er sprach irgendetwas in sein Sprechfunkgerät und stellte mir alle möglichen Fragen. Doch ich hörte nicht zu. Ich werde diese Tür öffnen, ich werde diese Tür öffnen, hallte es durch meinen Kopf. Mein letztes Jahr würde ich dafür benutzen diesem Glasmann zu helfen. Diese Tür würde ich öffnen. Egal wie. Ich war wach.

Nachwort: In dieser Kurzgeschichte wollte ich an die Flüchtlingskrise erinnern, mit Millionen Flüchtlingen jedes Jahr, welche aus ihrem Land fliehen, mit der Hoffnung, dass sie hier aufgenommen werden. Dass sie auch träumen dürfen.

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