WahlFamilie. Zusammen weniger allein

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Ein persönliches Vorwort 08

Nadine Wietlisbach

Familie im Wandel der Zeit 16

Andrea Maihofer im Gespräch mit Nadine Wietlisbach

Familienfotos im Archiv – Chancen und Risiken 22

Stefan Länzlinger


Dinge im eigenen Zuhause Lucy Gallun

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Digitale Vertrautheiten: Die Ver­­­brei­­tung von Fotografien als Mittel familiärer Kommunikation Patricia Prieto-Blanco

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Eine Familie von Freaks 42

Meredith Talusan

Familie verschieden Benjamin von Wyl

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Fünfzehn fotografische Erzählungen

Pixy Liao Seiichi Furuya Anne Morgenstern Dayanita Singh Annelies Štrba Alba Zari Diana Markosian Charlie Engman Leonard Suryajaya Aarati Akkapeddi Lindokuhle Sobekwa Nan Goldin Larry Clark Mark Morrisroe Richard Billingham 53

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Kurzbiografien Künstler_innen Kurzbiografien Autor_innen 194 Impressum 196

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Nadine Wietlisbach

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Ein persönliches Vorwort


Anlässlich jeder Ausstellung wird der kuratierenden Person früher oder später die Frage gestellt, wie es zu genau dieser inhaltlichen Auswahl oder – wenn es eine monografische Ausstellung ist – zur Entschei­ dung zugunsten dieser Fotograf_in oder jener Kunst­ schaffenden kam … Im Fall dieser Ausstellung und der vorliegenden Publikation lässt sich der Ursprung der Idee nicht zeitlich einordnen. Die persönlich ins­ pirierte Motivation hingegen oder das Bedürfnis, mich kuratorisch mit den Themen Familie und Gemein­ schaft auseinanderzusetzen, besteht bei mir schon länger und resultierte 2017 erstmals in der Doppelprä­ sentation Familienbande: Glück und grosse Unwetter, in der Arbeiten des britischen Künstlers Jonny Briggs und des italienischen Fotografen Salvatore Vitale im Photoforum Pasquart in Biel zu sehen waren. Ihre zwei unterschiedlichen Biografien und dazu ihre zwei radikal divergierenden visuellen Sprachen – Briggs ist ein Meister der Inszenierung und der Täuschung, dabei in den Hauptrollen seine beiden Eltern, Vitale ein Lichtmaler, der über dunkle Bilder die Beziehung zu seinem Vater spiegelte – eröffneten Zugänge zu einer Idee von Familie, die mich bis heute faszinieren. Jede Geschichte hat ihr eigenes Schweigen.

Wie sich familiale Konstellationen festigen, gemein­ sam entwickeln oder auseinanderdriften und wie Men­ schen Vertrauensverhältnisse bilden, aus denen starke Gemeinschaften entstehen, ist keine ausschliesslich persönliche Frage. Sie betrifft vielmehr uns alle, die wir in gesellschaftlichen Konstellationen mit ihren Normen und Regelwerken leben. Eine besondere Her­ ausforderung für die Idee von Familie und Gemein­ 09 schaft stellte ab Februar 2020 die Covid-19-Pandemie dar: Durch die Doppelbelastung, die die Arbeit von zu Hause bei gleichzeitiger Betreuung von Kindern oder anderen schutzbedürftigen Menschen im selben Haus­ halt mit sich brachte, wurden teils eingefahrene Rol­ lenmuster wiederbelebt, während zugleich die Krise traditioneller Vorstellungen von Zusammenleben umso deutlicher zutage trat. Andererseits berichteten zahl­ reiche Menschen wiederum, dass ihre persönlichen Be­ziehungen zu den eigenen Familienmitgliedern durch die räumliche Enge gestärkt wurden. Das er­ weiterte Umfeld gewann an Bedeutung, insbesondere dann, wenn die eigene Familie aufgrund von räum­ licher Distanz oder wegen der pandemiebedingten Beschränkungen und Verordnungen nicht besucht werden konnte oder man, was sicherlich auch auf manche zutraf, froh war, auf Distanz bleiben zu kön­ nen. Das Umfeld der Freund_innen wurde zum Drehund Angelpunkt in einer Zeit, in der sich plötzlich ­alles unsicher anfühlte. Die Rückseite der Medaille gestaltete sich weniger leuchtend: Die Gewaltdelikte im häuslichen Umfeld nahmen zu, Jugendpsychiatrien werden bis heute von Anfragen überhäuft. Aktuell be­ schäftigt viele Menschen, ob und wann sie ihre Fami­ lien­mitglieder überhaupt wiedersehen: Der Kriegszug Russlands in der Ukraine, der sich zunächst komplett irreal anfühlte, lässt uns sprach- und fassungslos zu­ rück. Die ukrainische Fotografin und Autorin Yevgenia Belorusets postete am 8. April 2022 den folgenden Kom­mentar auf Instagram: «When I started this diary, I was convinced that I would keep it up for only a day or two. My faith in the impossibility of such a sense­ less war was strong. Now I travel onward, moving ­kilometers farther from the ongoing violence, while looking out the window of the train at another coun­ try’s sprawling landscape – and suddenly find myself


fearing for this place as well.» Wenn ein Land, das als Heimat und Ankerplatz für Familien und Freund_­ innen verstanden wurde, plötzlich zum Schauplatz von Zer­störung und Verwüstung wird, gerät die Welt aus den Fugen – nicht nur die Ukraine und die Men­ schen, die dort bisher lebten, sondern auch das Ideal eines solidarischen Miteinanders der Menschen un­ ter­ein­an­der wird international auf den Prüfstand ge­ stellt. Wer ist bereit, Menschen aufzunehmen, und unter welchen Bedingungen? Die Bilder, die uns nun aus Städ­ten wie Kiew oder Mariupol erreichen, unter­ scheiden sich nicht von denen anderer Konflikte, was ihr Grauen keineswegs mindert. Bei mir haben sie Erinnerungen an jene Zeit ausgelöst, als geflüchtete Menschen aus Ex-Jugoslawien in der Schweiz anka­ men und gezwungen waren, sich mit ihren (durch den Krieg nicht selten zerbrochenen) Familien hier ein neues Leben aufzubauen. Wer mich missversteht, versteht mich richtig.

Die im Jahr 2021 verstorbene Literaturwissenschaft­ lerin und Autorin bell hooks referiert in ihrem weg­ weisenden Werk Alles über Liebe – Neue Sichtweisen aus dem Jahr 2000 auf John Bradshaws Buch Bradshaw on The Family: A Revolutionary Way of Self-Discovery (1988). Bradshaw, Theologe, Psychologe und erfolgrei­ cher Host mehrerer Sendungen im US-amerika­nischen Fernsehen, prägte in öffentlichen Debatten zwei Be­ griffe massgeblich mit: Das Konzept des «inneren Kin­ des» (inner child) sowie jenes der «dysfunktionalen Fa­ mi­­lie» (dysfunctional family). bell hooks fügt Bradshaws Definition in den Kontext ihrer Überlegungen zur funk­ ­tionalen Familie ein, durch die das Glück Teil unseres kollektiven Bewusstseins wird: «In einer funktionalen 10 gesunden Familie sind alle Mitglieder voll funktions­ fähig. Als menschliche Wesen haben alle Familienmit­ glieder ihre Kräfte zur vollen Verfügung. Sie nutzen diese Kräfte, um zu kooperieren, sich als Individuum zu entwickeln und ihre kollektiven und individuellen Bedürfnisse zu stillen. Eine funktionale Familie ist der gesunde Nährboden, auf dem sich Individuen zu reifen Menschen entwickeln können.» Weiter führt sie aus, dass man in einer funktionalen Familie Selbstachtung lernt und dass sich darin Autonomie und Abhängigkeit die Waage halten. Dieses komplexe Verhältnis zwischen Auto­ nomie und Abhängigkeit manifestiert sich auch in der Geschichte der Fotografie: auf jenen Aufnahmen, die der (Selbst-)Darstellung von Familien dienen – gleich­ zeitig lassen sich derartige Familienbilder über die tech­nische Entwicklung des Mediums zeitlich veror­ ten. Die frühesten Familienporträts entstanden in den 1840er-Jahren als Daguerreotypien, fotografische Uni­ kate, die wie gemalte Bilder aufbewahrt wurden. Ra­ sant beschleunigte sich die Entwicklung dann Anfang des 20. Jahrhunderts mit den Schnellbildkameras, mit denen nun jede Person imstande war, wichtige Lebens­ereignisse fotografisch festzuhalten. Heute lagern wir Tausende von Schnappschüssen und Videos in Clouds oder auf Festplatten. In Fotografie und Kunst sind Familie, das Elternsein und / oder -werden, das Kindsein oder das Erwachsenwerden in unzähligen Facetten vertreten – man kann sich die Recherche zu einer Ausstellung wie dieser demnach primär als Stra­ tegie der Auslassung vorstellen. Die gesellschaftliche und politische Dimension familialer Konstellationen war bei der Auswahl aller Arbeiten für die Ausstellung sowie der in dieser Publikation vertretenen Autor_ innen ein tragendes Kriterium.


Einige der familialen Konstellationen und Gemein­ schaften, die in dieser Publikation Erwähnung finden, essayistisch ausgelotet oder wissenschaftlich bespro­ chen werden, zeichnen sich dadurch aus, dass sie das Konzept Wahlfamilie nicht ausschliesslich affirmativ spiegeln, sondern auch kritisch deren problematische Aspekte reflektieren. Dasselbe gilt für die Auswahl der in der Ausstellung gezeigten Werke. Die Vielfalt möglicher Beziehungen zu anderen Menschen mit all ihren liebevollen Schattierungen, Abhängigkeiten und teilweise dunklen Geheimnissen ist vermutlich das, was uns als Individuen und als Teil von gesellschaft­ lichen Gefügen emotional berührt. Woher wir kom­ men und wie wir Zusammengehörigkeit definieren, betrifft uns alle – ob wir wollen oder nicht. Auch die Fantasie ist autobiographisch.

Die Schweizer Literatin Aglaja Veteranyi, in Bukarest geboren, als Kind mit dem Zirkus reisend, später als Schauspielerin und Autorin wirkend, 2002 durch Frei­ tod aus dem Leben geschieden, hat sich oft mit Bezie­ hungen und Familie(n) auseinandergesetzt. Mit ihrem Denken zum Thema wirkte sie als meine imaginäre Gesprächspartnerin an der Entstehung der Ausstel­ lung sowie dieser Publikation mit – auf doppelte Weise: Zum einen soll es für Veteranyi als Autorin wichtig ge­ wesen sein, dass ein Text «intravenös» auf Lesende wirke. Damit meinte sie, dass sich als Reaktion zuerst ein bildhafter Eindruck, ein Gefühl einstellen sollte, bevor man dazu komme, über den Text nachzuden­ ken. Eine gefühlte Wirkung sollte so spontan provo­ ziert werden, dass sie schneller den Körper erfasse als das Denken. Die Mikrogedichte in diesem Text 11 folgen dieser Intention (sie entstammen allesamt Veteranyis Band Wörter statt Möbel, 2018, edition spoken script, Verlag Der gesunde Menschenver­ sand), und auch meine Motivation ist es, mit den ­Wer­ken der Ausstellung und der vorliegenden Pub­ likation eine solche Wirkung zu erzielen. Zum ande­ ren sind Veteranyis kluge Beobachtungen zwischen­ menschlicher Beziehungen oft nur eine Zeile lang und wirken trotzdem nicht einfach verknappt, sondern ein­ schneidend und präzise. Sie triefen vor Sarkasmus, sind tieftraurig und immer wieder wunderschön. Dennoch kann natürlich kaum eine nach­ hallende Wirkung ohne konzeptuelle Herangehens­ weise entstehen: Die Ausstellung vereint verschiede­ ne Erzählstränge, anhand derer die Fotograf_innen und Kunstschaffenden ausgewählt wurden: die An­ näherung an die eigene Biografie, das kollaborative Erforschen von Gemeinschaftlichkeit zusammen mit Mitgliedern der Wahlfamilie sowie der Akt des Foto­ grafierens selbst, der begleitet, dokumentiert und es schafft, Intimität als tragendes und gleichzeitig flüch­ tiges Element mit einzufangen. Einige der ausgewähl­ ten Kunstschaffenden verbinden alle diese Aspekte in ihrer Arbeit, bei anderen ist besonders eine methodi­ sche Arbeits- oder Erzählweise gut erkennbar. Die in Shanghai, CN, geborene Fotografin Pixy Liao dokumentiert in ihrer Serie Experimental Rela­tionship seit über zehn Jahren auf spielerische Art und Weise ihre Beziehung mit ihrem Partner Moro. Dieser ist einige Jahre jünger als sie und kommt aus Japan, zwei Tatsachen, die von ihrer Familie zuerst nicht besonders wohlwollend aufgenommen wurden. Der aus Japan stammende Fotograf Seiichi Furuya wiederum fotografierte zwischen 1978 und 1985 im­ mer wieder seine Frau Christine Gössler und hielt eine Vielzahl ihrer Facetten fest. Bilder, die heute


auch schmerzlich an den Verlust erinnern und an die Lücke, die Gössler hinterliess, als sie 1985 ihr Leben beendete. Die Porträts, starke Aufnahmen in Schwarz-­ Weiss, zeigen mit ganz wenigen Ausnahmen Christine Gössler allein, oft nur ihr Gesicht mit all seinen Ge­ fühls­ausdrücken. Den Blick ebenfalls auf die eigene Familie richtet seit Jahrzehnten die Schweizer Fo­to­ gra­fin Annelies Štrba: Die aquarellierende Leucht­ kraft ihrer intimen Aufnahmen verstärkt den Eindruck von Zeit- und Schwerelosigkeit. Oft wirken ihre Bilder, als seien sie einem Traum entsprungen. Nan Goldins Serie mit Aufnahmen ihrer engen Freundin, der Schau­spielerin und Schriftstellerin Cookie Mueller, zeigt unter anderem ihre Hochzeit und ihren Sohn, ebenso den Sarg, in dem Mueller, die Ende der 1980erJahre an den Folgen von AIDS verstarb, beerdigt wur­ de. Es sind einzelne Bilder, die ohne grosse Planung ent­standen und durch ihre Unmittelbarkeit an In­ tensi­tät gewinnen. Mit 19 Jahren begann Richard Billingham über rund sieben Jahre hinweg seine von Alkoholsucht, Gewalt und Perspektivlosigkeit geprägte Familie in Birmingham, UK, zu fotografieren – eine Ar­ ­beit, aus der 1996 das Fotobuch Ray’s a laugh hervor­ ging, das im Zürcher Scalo Verlag erschien. 22 Jahre später überführte der Künstler seine Erfahrung – und seine eigenartig intensive Bildsprache – in sein filmi­ sches Regiedebüt Ray & Liz. In beiden visuellen Me­ dien schafft er es, die gleichermassen tragische wie stellenweise komische Alltagstristesse feinfühlig dar­ zustellen. Die fotografische Serie Tulsa von Larry Clark wiederum entstand in den 1960er- und 1970erJahren. In Tulsa wurde der Fotograf und Filmemacher geboren; in seiner gleichnamigen Arbeit ist zu sehen, wie er Zeit mit seinem Freundeskreis verbringt, es 12 ist eine Vorstadtjugend, die zusammen um die Häuser zieht, sich liebt, Drogen konsumiert, eine Gemein­ schaft, deren destruktive Seiten sichtbar werden. Vielen Fotograf_innen gilt Tulsa bis heute als wichti­ ges Beispiel, wenn es um die Frage geht, wie authen­ tisch Fotografie sein kann beziehungsweise wie und ob es die Fotografie als Medium schaffen kann, «Rea­ lität» abzubilden. Nicht weniger energiegeladen sind Mark Morrisroes Porträts seiner Freund _ innen und Geliebten – stellenweise ist er auch selbst im Bild zu sehen –, die er sein ganzes Leben hindurch aufgenom­ men hat. Nicht nur inhaltlich, sondern auch technisch zeugen die Bilder aus dem Nachlass, der sich seit 2006 im Fotomuseum Winterthur befindet, von der Lust am Experiment und dem Ausloten fotografischer Techniken. Häufig versah er die weissen Ränder der Polaroids – kleine Geschenke an seine Vertrauten – mit Beschriftungen. Dayanita Singh wiederum macht in fast rahmensprengender Dynamik ihre Freund­ schaft zu ihrer Vertrauten Mona Ahmed fotografisch erfahrbar. Die Bilder der Serie The Third Sex Portfolio entstanden zwischen 1989 und 1999 auf den ausgelas­ senen mehrtägigen Feiern, die Mona Ahmed anläss­ lich des Geburtstags ihrer Adoptivtochter Ayesha ver­ anstaltete. Die in Leipzig, DE, geborene Fotografin Anne Morgenstern fotografierte 2018 bis 2020 Men­ schen in unterschiedlichen Beziehungsmodellen und jenseits traditioneller Geschlechterrollen, in denen zum Aus­druck kommt, dass Liebe und Intimität viele Formen, Texturen und Farben kennen. Mit klassischen in­dischen Familienfotografien hat Aarati Akkapeddis Pro­jekt Ancestral Apparitions (2020) nur auf den ­allerersten Blick etwas zu tun: Der_ die Künstler_ in und Pro­­grammierer_ in hat mittels einer Software aus Tau­senden von eingescannten analogen Archivbil­


dern – die aus dem eigenen Archiv sowie aus den Tamil Studio Archives stammen – neue Bilder generiert. Im Anschluss wurden diese Bilder wieder auf altes Foto­ papier belichtet und somit wieder einem analogen Medium zugeführt. Für Akkapeddi sind die Bilder auch Ausdruck des Lebens in der Diaspora, des Ge­ fühls zwischen Vertrautheit und Distanz, und die foto­ grafischen Techniken stehen bei ihm _ ihr als Metapher für den intergenerationellen Zeitrahmen der Serie. Aus­gehend von allgemein bekannten, traditionellen Fami­­lienbildern entwickelt der in Indonesien aufge­ wachsene Künstler Leonard Suryajaya mit seinen Eltern, seiner Schwester, Tanten und Onkeln, seinem Partner Peter und seinen Freund _ innen farben- und mustergewaltige Inszenierungen von theatraler Quali­ tät. Be­ziehungen formen uns, sie wirken identitäts­ stiftend – und werden in Suryajayas Tableaus und In­ stallationen zu komplexen Bildwelten, die sich aus Personen und gesellschaftlich sowie kulturell konno­ tierten Gegen­ständen zusammensetzen. Als ebenso kollaborativ agie­rend versteht sich die Praxis des USamerika­­ni­schen Fotografen Charlie Engman im Zu­ sam­men­spiel mit seiner Mutter Kathleen McCain, mit der er über elf Jahre hinweg einen gemeinsamen Bild­ kosmos schuf, der 2020 im Künstlerbuch MOM in der Edition Patrick Frey erschien. Mit diesem durchdrin­ genden Projekt gelingt es den beiden, die gesellschaft­ liche Vorstellung infrage zu stellen, die eine Frau auf die eindimensionale Figur der fürsorglichen Mutter reduziert. Ihre eigene Familiengeschichte ergründet Alba Zari in ihrer fortlaufenden Arbeit Occult (2019–): Es ist eine Untersuchung der christlich-fundamenta­ listischen Sekte «The Children of God», in die Zari 1987 13 hineingeboren wurde, und deren Propaganda in einem Dialog mit dem eigenen Familienarchivmaterial. Die so zu einer Installation verdichteten Elemente erzäh­ len die komplexe Geschichte von Abhängigkeiten und Zusammengehörigkeit innerhalb einer kontroversen Bewegung. Der aus Südafrika stammende Lindokuhle Sobekwa versucht über das Medium des Fotobuches der Biografie seiner Schwester Ziyanda – und, damit verbunden, seiner eigenen – auf den Grund zu gehen. In I Carry Her Photo with Me treffen Archivbilder auf persönliche Notizen, ein Versuch, sich das Verschwin­ den und Wiederauftauchen seiner Schwester zu er­ klären. An den Schnittstellen von Fotografie, Film, Text und Installation verhandelt Diana Markosian mit ihrem vielschichtigen Projekt Santa Barbara die Ge­ schichte ihrer aus der ehemaligen Sowjetunion in die USA ausgewanderten Familie. In Zusammenarbeit mit der Drehbuchautorin der bekannten und viel­ge­ liebten Fernsehserie Santa Barbara rekonstruiert die russisch-amerikanische Künstlerin armenischer Ab­ stam­mung die damaligen familiären Herausfor­der­un­gen in Form eines Kurzfilmes, mit Schauspieler_ innen in den Rollen ihrer Familienmitglieder. Viele der in der Ausstellung gezeigten Ar­ bei­ten wurden an die räumlichen Bedingungen im Fotomuseum Winterthur angepasst, dabei sind die Wer­ke der genannten Fotograf_ innen im Wechsel mit Arbeiten aus der Sammlung zu sehen – ein Abenteuer, dem man sich als Ausstellungsmachende immer wie­ der gerne stellt. Insbesondere wenn die Fotograf _­ innen mit ihren Ideen engagiert und voller Ausdauer bereit sind, sich auf einen Dialog einzulassen. Die Texte für die Publikation entstanden ebenso auf Einladung hin, auch hier stiessen wir auf offene Ohren und damit wache Geister.


Man müsste mit den Augen schreiben können.

Die Publikation greift Teilaspekte der Ausstellung vertiefend auf. Lucy Gallun, Kuratorin am MoMA in New York, schreibt anhand einer dezidierten Auswahl von Fotografien, auf denen fotografische Aufnahmen selbst zum Sujet werden, über Erinnerung und Leer­ stellen, die Menschen fotografisch zu befüllen wissen. Gallun beginnt mit einer aus dem Jahr 1850 stammen­ den Daguerreotypie, die einen Mann und eine Frau mit einer Daguerreotypie zeigt, geht über zu einem Bild von August Sander, auf dem ein Foto von dessen Sohn Erich zu sehen ist, und weiter zu Jirō Takamatsus Serie Shashin no shashin (Fotos von Fotos), aufgenom­ men in den frühen 1970er-Jahren. Schliesslich geht sie auf eine Fotografie von Dayanita Singh aus dem Jahr 2014 ein, auf der, wie in der Ausstellung auch, Mona Ahmed zu sehen ist. Galluns Überlegungen finden mit ihren Gedanken zu einem Bild von LaToya Ruby Frazier einen Abschluss. Diese erzählt in ihrer gross­ artigen Serie The Notion of Family (2001–2014) die Geschichte ihrer eigenen Mehrgenerationen-Familie aus Braddock, Pennsylvania, einer Arbeiter_ innenKleinstadt in der Nähe von Pittsburgh. Mit der Aufbewahrung historischer Fami­ lien­bilder, deren sogenanntem «Mitschwimmen» so­ wie ihrer unbestrittenen Bedeutung für uns als Ge­ sell­schaft setzt sich Stefan Länzlinger, Leiter des Sozial­archivs in Zürich, auseinander und blickt für uns in eine hypothetische Zukunft. Patricia PrietoBlanco, Dozentin für digitale Medien im Fachbereich Sozio­logie an der Universität Lancaster, erläutert an­ hand verschiedener konkreter Fallbeispiele, wie die digi­talen Medien unsere fotografische Handhabung von Fami­lienbildern verändert haben und worin heu­ 14 tige Chancen liegen. Gemäss Prieto-Blanco werden wir Teil eines Systems zirkulierender Bilder: «Die WhatsApp-Chats, E-Mails und Online-Alben, in denen Fami­lienfotos geteilt werden, werden zu Orten fami­ liärer Interaktion. Das muss nicht bedeuten, dass alle Fami­lienmitglieder in gleichem Masse an ihr teilha­ ben, aber sie alle können sich die Fotos ansehen, was bedeutet, dass ihre Zugehörigkeit zur Gruppe er­ wünscht ist.» In einem Gespräch mit Andrea Maihofer, eme­ritierter Professorin für Geschlechterforschung der Universität Basel, unterhalte ich mich über den Wan­del der Familie als soziales Gefüge. Wir setzen uns ge­meinsam mit der begrüssenswerten Tendenz auseinander, dass viele Menschen heute die Mög­ lichkeit – und das Privileg – haben, selbst entscheiden zu können, wie sie Familie definieren und leben wol­ len. Benjamin von Wyl, Journalist und Autor, der für seinen Roman Hyäne 2021 mit dem Schweizer Litera­ tur­­preis aus­gezeichnet wurde, beginnt seinen Text, der mich persönlich an einen Song mit Ohrwurmpo­ ten­­zial erinnert, mit dem Satz «Familien, das sind die­ se Men­schen, deren Wochenende in zwei Lastenfahr­ rädern Platz hat». Und irgendwo in der Mitte seines Textes folgt die Fest­stellung «Familie ist, woran man sich reiben kann. Egal, wo sie ist». Meredith Talusan, Autor_ in, Journalist_ in und Künstler_ in, lässt uns mit einem zu­­tiefst persönli­chen Text an der eigenen Ge­ schichte teil­haben: Was eine Wahlfamilie für sie als trans Mensch mit Albinis­mus bedeutet und welche Rolle darin die Fo­to­grafien von Diane Arbus spielen. Ihr kluger Fin­ger­zeig in Bezug auf Susan Sontags Kritik an Diane Arbus aus dem Jahr 1973 ist beson­ ders gelungen, weil er betont – was eigentlich selbst­ verständlich sein sollte –, dass grundsätzlich alle Men­ schen – und Ge­mein­schaften – das Recht haben, sich


in Bildern wiederzufinden, sich gesehen und reprä­ sentiert zu fühlen. Es war uns von Anfang an ein Anliegen, die Menschen in unserer Nähe – damit meine ich die Stadt, in der das Herz unseres Museums schlägt, und die ganze Schweiz, die doch klein genug ist, um als nah zu gelten – mit in die Überlegungen zu Familien­ bildern einzubeziehen. Über einen Open Call haben wir Menschen gesucht, die ein einzelnes Familienbild oder vielleicht auch ein oder mehrere Alben mit uns teilen wollen – und ihre Geschichte(n) dazu. Auch die auf diesem Weg zu uns gelangten Bilder zeugen von Glücksmomenten, Verlusten, vom vollen Leben mit all seinen Leerstellen – die Fotografie spielt auch hierbei ihre eigene Rolle. Die Ausstellung und die Publikation sollen ein Zeichen für die Vielfalt fotografischer und kritischer Herangehensweisen an Wahlfamilien und ihre Eigenarten, Leidenschaften, Unzulänglichkei­ten setzen. Sie sind ein Angebot, gemeinsam darüber nach­zudenken, wie wir zusammen als Gemeinschaft leben wollen und uns dabei gegenseitig stärken kön­ nen, unabhängig davon, ob wir in Paar- und /oder Fa­ mi­lienkonstellationen leben, mit oder ohne Kinder, «blutsverwandt» sind oder uns gegenseitig füreinan­ der entschieden haben. Denn ja, so bereichernd das Für-sich-Sein ab und zu auch sein mag – im Angesicht aller Lebensherausforderungen ist man in Gemein­ schaft schlicht weniger allein.

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Pixy Liao, Find a Woman You Can Rely On, 2018, aus der Serie Experimental Relationship, 2007–, Digitaldruck, 150 × 115 cm © Pixy Liao Pixy Liao, Some Words Are Just Between Us, 2010, aus der Serie Experimental Relationship, 2007–, Digitaldruck, 75 × 100 cm © Pixy Liao Pixy Liao, Things We Talk About, 2013, aus der Serie Experimental Relationship, 2007–, Digitaldruck, 75 × 100 cm © Pixy Liao Pixy Liao, It’s Never Been Easy to Carry You, 2013, aus der Serie Experimental Relationship, 2007–, Digitaldruck, 37.5 × 50 cm © Pixy Liao

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Pixy Liao (*1979 in Shanghai, China, lebt und arbeitet in New York, USA)

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Wie sieht eine moderne Liebesbeziehung aus? Von welchen individuellen Erwartungen und gesellschaft­ lichen Vorstellungen wird diese geprägt? Diesen Fragen widmet sich Pixy Liao in ihrem fotografischen Langzeitprojekt Experimental Relationship, an dem sie seit 2007 arbeitet. Darin inszeniert sich die in Shanghai geborene und in New York wohnhafte Künstlerin mit ihrem japanischen Partner Moro in den unter­ schiedlichsten Situationen. Sie zeigen sich mal ernst­ haft, mal humorvoll, mal verletzlich, mal selbstbe­ wusst – stets aber scheinen sie starre Ideale heterosexueller Beziehungen zu unterwandern, die sich auch über das fotografische Bild sowie in der Kunst verfestigt haben. Als die 25-jährige Liao im Jahre 2005 Moro während ihres Fotografiestudiums in Memphis ken­ nenlernte, stellte sie schnell fest, dass er der konser­ vativen Vorstellung nicht entsprach, mit der sie sozia­ lisiert wurde. In diesem Verständnis ist der Mann der entscheidungsstarke, dominante, verantwortungsbe­ wusste, oft ältere und besser ausgebildete Versorger, während die Frau eine passive, dem Mann stets un­ kritisch zugewandte Rolle einnimmt. Was passiert also, wenn angeblich festgeschriebene Geschlechterrollen plötzlich ins Wanken geraten? Diese Frage weckte Liaos Neugierde und motivierte sie dazu, die Entwicklung ihrer Beziehung – und damit die ihr kulturell und gesellschaftlich eingeschriebenen Dynamiken – zu untersuchen. So ist es in Experimental Relationship Liao, die Moro auf den Schultern trägt oder ihn bis auf die Unterhosen ausgezogen und – notabene selbst voll­ bekleidet – in seine Brustwarze kneift. Es ist Liao, die den nackten Männerkörper wie eine Servierplatte über den Tisch legt, um auf ihm eine Papaya zu ver­ zehren. Geschlechtstypische Stereotype und Klischees werden bei Liao aber nicht nur umgedreht, sondern ihre Machtverhältnisse im performativen Akt vor der Kamera gemeinsam befragt und miteinander ausge­ lotet. So hat sich das facettenreiche Bild der eigenen Beziehung, das mittlerweile rund hundert analoge Fotografien umfasst, über das spielerische Aushandeln genauso weiterentwickelt, ausdifferenziert und ausba­ lanciert wie die Beziehung selbst. In mehreren Bildern schlüpfen Liao und Moro in dasselbe Kleidungsstück und verschmelzen zu einem symbiotischen Wesen. Alle Fotografien wurden in einem intimen Setting zu Hause oder auf Reisen mit einem Drahtauslöser auf­ genommen: Ob Liao oder Moro den Auslöser in der Hand hält, wird je nach Situation entschieden. Die Bildtitel formen dabei eine weitere nar­ rative Ebene, die mal beschreibend, mal poetisch oder pointiert witzig ist. Diese humorvolle Auseinandersetzung mit Geschlechterhierarchien – übersetzt in eine farblich durchdachte und oft geometrisch ange­ legte Komposition, die auf Liaos Erstausbildung als Grafikerin zurückgeht – führt sie auch in installativen und skulpturalen Arbeiten fort. Giulia Bernardi










Seiichi Furuya, Wien, 1983, aus Portrait of Christine Furuya, Graz / Wien, 1978–1984, Silbergelatine-Abzug, 37.3 × 25.2 cm, Sammlung Fotomuseum Winterthur, Schenkung Seiichi Furuya © Seiichi Furuya / Courtesy Galerie Thomas Fischer Seiichi Furuya, Graz, 1980, aus Portrait of Christine Furuya, Graz / Wien, 1978–1984, Silbergelatine-Abzug, 37.3 × 25.1 cm, Sammlung Fotomuseum Winterthur, Schenkung Seiichi Furuya © Seiichi Furuya / Courtesy Galerie Thomas Fischer Seiichi Furuya, Wien, 1983, aus Portrait of Christine Furuya, Graz / Wien, 1978–1984, Silbergelatine-Abzug, 37.3 × 25 cm, Sammlung Fotomuseum Winterthur, Schenkung Seiichi Furuya © Seiichi Furuya / Courtesy Galerie Thomas Fischer Seiichi Furuya, Graz, 1980, aus Portrait of Christine Furuya, Graz / Wien, 1978–1984, Silbergelatine-Abzug, 37.3 × 25 cm, Sammlung Fotomuseum Winterthur, Schenkung Seiichi Furuya © Seiichi Furuya / Courtesy Galerie Thomas Fischer Seiichi Furuya, Graz, 1979, aus Portrait of Christine Furuya, Graz / Wien, 1978–1984, Silbergelatine-Abzug (Abzug 1995), 37.3 × 25.1 cm, Sammlung Fotomuseum Winterthur, Schenkung Seiichi Furuya © Seiichi Furuya / Courtesy Galerie Thomas Fischer

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Seiichi Furuya (*1950 in Izu, Japan, lebt und arbeitet in Graz, Österreich)

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Die zwischen 1978 und 1985 entstandenen Fotografien zeigen Seiichi Furuyas Frau Christine Gössler. Die beiden lernten sich 1978 kennen und heirateten, 1981 kam ihr gemeinsamer Sohn zur Welt. Furuya war von Anfang an fasziniert von Christine, zu der er eine tiefe Bindung verspürte. Die Fotografie war für ihn eine Möglichkeit, seine Partnerin und die Mutter seines Kindes in zahlreichen Facetten festzuhalten. Dabei kam es weniger auf das fertige Bild an, sondern auf den kurzen, andächtigen Moment des Sich-gegenüberSeins. Ebenso wie er sie fotografisch beobachtete, ent­ deckte er auch sich selbst in diesen Bildern. Die Beziehung endete tragisch, als sich die an Depressionen leidende Christine 1985 das Leben nahm. Hunderte von Aufnahmen seiner Frau sind ein wichtiger Bestandteil von Furuyas Werk. Über Jahrzehnte hinweg setzte er sie immer wieder neu zusammen, vornehmlich in der fünfteiligen Publikationsreihe Mémoires. Die Beschäftigung damit bedeu­ tet für ihn Trauerarbeit, über die er nach eigener Aussage der «Wahrheit» nachgeht, letztlich aber immer nur seine eigene Version der Geschichte wiederfindet. In neueren Projekten wie Lass uns Japanisch lernen! (2019) oder Face to Face (2020) bindet er Fotografien von Christine ein, die sie selbst aufgenommen hat. Da Furuya selbst oft Motiv dieser Bilder ist, entsteht ein Dialog, der über die Blickbeziehung seiner frühen Porträts hinausgeht. Furuyas Arbeit umfasst Schwarz-Weiss- und Farbaufnahmen über viele Genres hinweg, von den eindringlichen Porträts seiner Frau zu Strassenfotografien in Tokio, Istanbul, Dresden, Ostberlin, Amsterdam und Landschaftsbildern in Österreich. Es sind spontane wie sorgfältig geplante Bilder, die teils über­ blicksartige Szenen, teils intime Details darstellen. Das Alltägliche besitzt in den unterschiedlichen Reihen Furuyas eine Komplexität, die von den Grenzen zwischen Menschen, Kulturen und politischen Systemen zeugt, wie zum Beispiel zwischen ihm und seiner Frau, seiner japanischen Herkunft und seiner öster­ reichischen Wahlheimat oder innerhalb des geteilten Deutschlands. Furuya studierte in Tokio Fotografie, ver­ liess das Land jedoch 1973, da er mit der politischen Situation in Japan unzufrieden war und für sich dort keine Zukunft mehr sah. 1975 führte ihn sein Weg ins österreichische Graz, wo er Mitbegründer des Vereins Camera Austria wurde. Neben Ausstellungen seiner eigenen Arbeit organisierte er auch Schauen anderer, vor allem japanischer Künstler_ innen, und verhalf so Nobuyoshi Araki, Daido Moriyama und Shomei Tomatsu zu internationaler Bekanntheit. Matthias Pfaller






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