Grenzfälle - Basel 1933-1945

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GRENZFÄLLE Basel 1933 –1945


Basel 1933 –1945 Herausgegeben von Patrick Moser und Alexandra Heini fßr das Historische Museum Basel

Christoph Merian Verlag



INHALT VORWORT 7 Marc Fehlmann, Patrick Moser, Alexandra Heini

KONTEXT 11 Einleitende Gedanken zur Ausstellung –

Thomas Maissen 17 Vom Weltkrieg zum Holocaust – Gregor Spuhler 27 Die Staatsschutzakten in Basel – Hermann Wichers 35 Quellenkritik: «Groß-Deutschland» an der Adria? –

Benjamin Mortzfeld 41 Basel in seiner doppelten Einbettung – Georg Kreis

THEMEN 49 Humaner als Bern? Basel und die Flüchtlinge –

Catrina Langenegger 67 Nationalsozialisten und Kommunisten in Basel –

Alexandra Heini 75 Die Israelitische Gemeinde Basel im Kampf

gegen Antisemitismus – Erik Petry 83 Basel als Finanzzentrum – Marc Perrenoud 93 Die Basler Chemie und der Nationalsozialismus –

134 Alexandra Heini und Patrick Moser

eine Nachgeschichte – Guido Koller 59 Die Flüchtlingsbetreuung in der Schweiz –

GESCHICHTEN

ANHANG 258 Autorinnen und Autoren 259 Abbildungen 260 Literaturverzeichnis 274 Register 281 Projektförderung 282 Patronat / Wissenschaftlicher Beirat 283 Leihgeberinnen und Leihgeber / Dank 284 Impressum

Patrick Moser

101 Auseinandersetzungen um Kunst in Basel 1933 –1945 –

Esther Tisa Francini

111 Bauten der Autonomie oder der geistigen Anpassung? –

Ulrike Jehle-Schulte Strathaus

117 Basel im Zeichen der Geistigen Landesverteidigung –

Patrick Moser

125 Alltag im Ausnahmezustand: Basel während des Zweiten

Weltkriegs – Patrick Kury

Inhalt

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VORWORT Am 8. Mai 2020 jähren sich die Kapitulation der deutschen Wehrmacht und das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa zum 75. Mal. Mit diesem Tag endete die nationalsozialistische Diktatur, die sich mit einem beispiellosen Vernichtungskrieg zeitweise über fast ganz Europa ausgedehnt hatte. Millionen von Menschen wurden vom NS-Regime mit seiner antisemitischen, rassistischen, antidemokratischen und antiliberalen Ideologie vertrieben, verfolgt und ermordet. Einige dieser Verfolgten, viele von ihnen Jüdinnen und Juden, versuchten, bei Basel legal oder illegal die Grenze in die vermeintlich rettende Schweiz zu überqueren. Wem dies gelang, der sah sich vielfach mit der antisemitisch geprägten Flüchtlingspolitik unseres Landes konfrontiert. Die Schweizer Behörden verlangten finanzielle Sicherheiten und drängten die Ankommenden zur möglichst baldigen Weiterreise, auch wenn dies während des Kriegs faktisch oft unmöglich war. Die Zeit des Nationalsozialismus von 1933 bis 1945 und der Zweite Weltkrieg ab 1939 prägten das Leben in der Region Basel massgeblich. Grenzüberschreitende Verbindungen blieben bestehen, die Schweiz war nicht die abgeschlossene Insel, als die sie die Geistige Landesverteidigung verklärte. Basler Unternehmen hielten während der NS-Zeit ihre wirtschaftlichen Beziehungen zu und in Deutschland und in die besetzten Gebiete aufrecht und passten sich aus unterschiedlichen Motiven den politischen Gegebenheiten an. Fluchtnetzwerke waren über die Landesgrenzen hinweg aktiv, und das Grenzgebiet diente in beiden Richtungen dem Schmuggel von Propagandamaterial und Gütern. In Basel gab es bis zu viertausend deutsche NSDAP-Mitglieder und eine Hitlerjugend; die Schweizer Fussballnationalmannschaft trug bis 1942 mehrere Länderspiele gegen NS-Deutschland aus. Die Ausstellung und die Begleitpublikation ‹Grenzfälle – Basel 1933–1945› beleuchten deshalb ebenso grenzüberschreitende Kontakte und die Verflechtung der Basler Akteurinnen und Akteure mit der Weltpolitik wie auch die Entscheidungsspielräume der staatlichen Institutionen. Sie thematisieren das Verhältnis von Baslerinnen und Baslern, von Schweizer Behörden sowie von lokalen Unternehmen und Institutionen zum Nationalsozialismus und zum NS-Staat. Der Blick richtet sich aber auch auf die Flüchtlinge und die Flüchtlingspolitik, das lokale politische Umfeld, die wirtschaftliche Vernetzung, die jüdischen Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt, die Geistige Landesverteidigung und den Alltag während des Kriegs. Dabei werden nicht nur geografische, sondern auch menschliche, rechtliche und moralische ‹Grenzfälle› aufgezeigt.

Vorwort – Marc Fehlmann, Patrick Moser, Alexandra Heini

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Die Ausstellung und die Begleitpublikation wären ohne die Unterstützung, die Mitarbeit und das Engagement zahlreicher Personen und Institutionen nicht realisierbar gewesen. Unser Dank geht an alle privaten Stiftungen sowie die kantonalen, nationalen und internationalen Stellen, die das Projekt ideell und finanziell ermöglicht haben. Ein überregional zusammengesetztes Patronatskomitee unterstützte das Projekt dankenswerterweise mit grossem Engagement. Die fachliche Begleitung wurde von einem multidisziplinär zusammengesetzten, internationalen wissenschaftlichen Beirat erbracht. In intensiven und konstruktiven Diskussionen konnten wir mit Expertinnen und Experten den Grundstein für eine Ausstellung und eine Publikation legen, die der komplexen und emotionalen Thematik konzeptionell und inhaltlich nach bestem Wissen und Gewissen gerecht werden wollen. Dafür gebührt unserem Beirat der allergrösste Dank. Ebenfalls danken möchten wir den Autorinnen und Autoren der Publikation und dem Christoph Merian Verlag für die angenehme Zusammenarbeit und die Aufnahme ins Verlagsprogramm. Das umsichtige und behutsame Lektorat verdanken wir Rosmarie Anzenberger, die auch das Register und das Literaturverzeichnis erstellt hat. Natascha Jansen gebührt der Dank für viele Neuaufnahmen von Exponaten und Manuela Frey für die wunderbare Gestaltung der Publikation. Sie zeichnet auch für Szenografie und Design der Ausstellung verantwortlich. Wir danken allen privaten Leihgebern, die auf unsere Kontaktaufnahme bei der Suche nach passenden Objekten und Geschichten positiv reagiert haben, und allen institutionellen Leihgeberinnen, die uns grosszügig zahlreiche Exponate überliessen. Ein besonderer Dank gilt jenen Donatorinnen und Donatoren, die unserem Museum im Hinblick auf das Projekt Objekte geschenkt haben, die nun in der Ausstellung zu sehen sind. Zudem haben uns zahlreiche Institutionen und Privatpersonen Fotografien zur Verfügung gestellt, welche die Publikation und die Ausstellung massgeblich bereichern. Last but not least möchten wir dem ganzen Team des Historischen Museums Basel unseren herzlichsten Dank aussprechen. Das ausserordentliche Engagement und die grossartige Leistung, die unsere Kolleginnen und Kollegen einmal mehr erbracht haben, können nicht genügend gewürdigt werden. Marc Fehlmann, Direktor Patrick Moser, Ausstellungskurator und Herausgeber Alexandra Heini, Assistenzkuratorin und Herausgeberin

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Vorwort – Marc Fehlmann, Patrick Moser, Alexandra Heini


KONTEXT



Einleitende Gedanken zur Ausstellung Thomas Maissen

Der Bundesrat liess 1989 eine Reihe von Veranstaltungen, Ausstellungen und Broschüren organisieren.1 Diese Übung ‹Diamant› sollte die sogenannte Aktivdienstgeneration würdigen: die Männer, deren Militärdienst man zuschrieb, dass die Schweiz den Zweiten Weltkrieg überstanden hatte, ohne in grössere Kriegshandlungen verwickelt zu werden. Über 150ʼ000 Veteranen reisten zu den gut fünfzig Mobilmachungsplätzen und trugen, wie ein halbes Jahrhundert zuvor, einen gültigen Marschbefehl mit sich. Kritiker fragten sich, weshalb die Schweiz mit einem aufwendigen und feierlichen Anlass des Kriegsbeginns gedenke, der für die übrigen Europäer und nicht zuletzt für die Nachbarländer die wohl grösste Katastrophe in ihrer Geschichte darstellte. Die Veranstalter entgegneten, die Informationen vermittelten die «Bedeutung der Friedens- und Freiheitssicherung durch bewaffnete Neutralität unseres Landes während der Jahre 1939–1945 und für die Zukunft». Die unmittelbare Zukunft, das war die Abstimmung über die Abschaffung der Armee am 26. November 1989. Gute zwei Wochen nach dem Fall der Berliner Mauer wurde sie bei einer sehr hohen Stimmbeteiligung zwar klar abgelehnt, doch 35,6 Prozent Ja-Stimmen und zwei befürwortende Standesstimmen (Genf und Jura) waren für die Initianten ein unerwarteter Achtungserfolg. Wer in den Kriegsjahren Verantwortung getragen hatte, war 1989 zumeist schon verstorben; und wer damals Militärdienst geleistet hatte, kam ins Rentenalter, ebenso die Frauen, die das prägende Generationenerlebnis geteilt hatten. Die unmittelbaren Zeitzeugen verloren damit das Deutungs-

monopol, das sie als Lehrer, Journalisten, Politiker oder einfach Erzähler am Familien- und Stammtisch lange für ihre vorwiegend männlichen, militärischen Erinnerungen beansprucht hatten. Das heisst nicht, dass sie hinter den Publizisten, Schriftstellern oder Historikern verschwanden, die schon seit etlichen Jahren zusehends kritischere Fragen stellten. Aber die Zeitzeugen wurden nun von der dominanten Autorität über die Vergangenheit zu einer Quelle neben anderen für künftige Forschungen; vom Subjekt der Selbstdarstellung zu einem Objekt fremder Neugier. Ausstellungen spielten dabei eine wichtige Rolle. Das noch junge, 1987 gegründete Deutsche Historische Museum, damals noch im westlichen Teil von Berlin, eröffnete am Gedenktag des Kriegsbeginns, am 1. September 1989, eine einmonatige Ausstellung. Sie präsentierte sich etwas umständlich und vorsichtig als ‹Versuch über den Umgang mit Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg›. In den Wintermonaten, als die DDR auseinanderbrach, war dieselbe Ausstellung im Schweizerischen Landesmuseum in Zürich zu sehen. Die Akteure der Aktivdienstgeneration dominierten noch die Rednerliste einer begleitenden Vortragsreihe: so die Publizisten Oskar Reck und Urs Schwarz, die Schauspielerin Anne-Marie Blanc, die Historiker Hans-Rudolf Kurz

Einleitende Gedanken zur Ausstellung – Thomas Maissen

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und Walther Hofer, der auch SVP-Nationalrat war, oder der polnische Auschwitz-Überlebende und spätere Aussenminister Wladyslaw Bartoszewski. Aber sie waren nur noch Kommentatoren einer Ausstellung, die von Nachgeborenen entworfen worden war und anderen Nachgeborenen die Schrecken des Krieges vor Augen führen wollte. Für eine deutsche Mitarbeiterin des Zürcher Landesmuseums war das zu viel. Sie bat um Versetzung, da die Ausstellung schlimmer sei, als sie befürchtet habe. Sie beanspruchte, auch für das polnische und jüdische Volk zu reden, als sie ihr Gesuch begründete: «Die meisten von uns wollen vergessen. Aber wir ‹dürfen› nicht. Man lässt uns nicht.»2 Der Konflikt zwischen Historisierung, die Distanz schafft, und belebender Erinnerung war bereits der Kern des deutschen ‹Historikerstreits› von 1986 gewesen. War der Holocaust ein einzigartiges, unvergleichliches historisches Ereignis, und wie stark sollte dieser Völkermord die kollektive Identität der Bundesrepublik Deutschland prägen? Ernst Nolte sprach in zweifachem Sinn von einer «Vergangenheit, die nicht vergehen will»:3 zum einen als Erinnerung der Nationalsozialisten an frühere bolschewistische Verbrechen, die ihren eigenen Massenmord als Reaktion darauf erkläre; und zum anderen als Erinnerung an den Weltkrieg, die den Deutschen als Schreckbild weiter vor Augen gehalten werde und sie als Dauerschuldige von anderen Aufgaben ablenke. Jürgen Habermas wies diese revisionistischen Positionen klar zurück und pries die «Kraft einer reflexiven Erinnerung»4 als intellektuelle Voraussetzung der demokratischen Bundesrepublik. Doch andere Historiker äusserten durchaus Verständnis für Nolte. Das Gebot der Erinnerung war also 1989 nicht die Selbstverständlichkeit, die sie heute scheinen mag, sondern vielmehr ein Auftakt. Die 1990er-Jahre wurden tatsächlich eine Zeit der Erinnerungsarbeit: Sie machte, um Henry Rousso5 zu zitieren, die Erinnerung zu einem Wert, einer Pflicht, ja zu einer

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Einleitende Gedanken zur Ausstellung – Thomas Maissen

Obsession. Dieses Erinnern benennt die eigene Schuld, als Täter, als tatenlos Zuschauender, und will dadurch wiedergutmachen. Die Opfer sollen späte Anerkennung erfahren, indem das Geschehene nicht auch noch beschwiegen wird, als ob die Opfer und Überlebenden es nie hätten erleben müssen. 1993 setzte Steven Spielberg ihnen mit ‹Schindler’s List› ein künstlerisches Denkmal, ein Jahr danach gründete er die ‹Shoah Foundation›. Sie nahm weltweit Zeugnisse von Überlebenden des Holocaust auf Video auf, um sie für nachfolgende Generationen zu erhalten. In der Schweiz wurde 1995 der Verein Memoriav gegründet, der das audiovisuelle Kulturerbe des Landes bewahren will – also nicht zuletzt die Zeugnisse aus der NS-Zeit. Der Zweite Weltkrieg wurde so vom Zentrum der Zeitzeugenerzählungen zum Schwerpunkt der Archivierung und Musealisierung. Im Vordergrund stand dabei der Holocaust, der mit einer völkerverbindenden Pädagogik das ‹Nie wieder› vermitteln sollte. 1993 öffnete das ‹United States Holocaust Memorial Museum› in Washington seine Tore – eines von 22 Holocaustmuseen in einem Land, das mit dem Völkermord an den Juden unmittelbar weder als Täter noch als Opfer zu tun hatte. Mehr Mühe mit dem Erinnern an den Holocaust hatten die Länder der Täter, zumal dies nicht mehr nur Deutschland war. Viele Nationen hatten sich in ihrem Selbstbild als unschuldiges, heroisches, aber zumindest vorübergehend doch unterlegenes Opfer der deutschen Aggression eingerichtet. Ausgeblendet dabei wurde der eigene Antisemitismus, das Mitwirken von Angehörigen dieser Völker bei der Judenverfolgung und beim Judenmord. Die Schweiz pflegte denselben blinden Fleck: Was konnte ein neutrales Land, das nicht an Kriegshandlungen beteiligt gewesen war, mit den NS-Verbrechen zu tun haben? Allerdings hatte die Auseinandersetzung mit der Flüchtlingspolitik schon vergleichsweise früh eingesetzt: mit dem LudwigBericht von 1957, Alfred Häslers Buch ‹Das Boot ist


Luftaufnahme Kleinbasel mit Wettsteinbrücke von 1931. ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv/Stiftung Luftbild Schweiz, LBS_MH01-006626, Foto: Walter Mittelholzer.

voll› (1967) und Markus Imhoofs gleichnamigem Film (1980). In den 1990er-Jahren wurden der Umgang mit Flüchtlingen, die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit NS-Deutschland, Antisemitismus, Kunstraub und weitere verhängnisvolle Bereiche nicht mehr nur auf der nationalgeschichtlichen Ebene gesucht, sondern zunehmend im nahen, regionalen Rahmen. Das hing damals auch mit einem stark gewachsenen Interesse an Kantonsgeschichten im Allgemeinen zusammen. ‹Humaner als Bern!

Schweizer und Basler Asylpraxis gegenüber den jüdischen Flüchtlingen von 1933 bis 1943 im Vergleich› – Jean-Claude Wackers Dissertation von 1990 war symptomatisch für diesen neuen Ansatz. Ebenso war es die Ausstellung ‹Réduit Basel 39/45›, die das Historische Museum Basel 1989/90 im damaligen vorübergehenden Kulturzentrum der ‹Stücki› in Kleinhüningen zeigte. Die Bedeutung solcher lokaler und regionaler Ausstellungsinitiativen war erheblich für die folgenden Gedenkan-

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lässe, die fünfzig Jahre nach den Kriegsereignissen stattfanden. Manchmal erinnerten sie an die damaligen Geschehnisse in einer Gemeinde oder in einer Stadt, doch zunehmend erstreckte der Blick sich über die eigenen geografischen und mentalen Grenzen hinaus. Im badischen Singen thematisierte die Ausstellung ‹GrenzWege› 1994 den Widerstand an der Schweizer Grenze von 1933 bis 1945. Die Abkehr von der nationalen Kirchturmperspektive auf den Zweiten Weltkrieg fügte sich in ein Nachdenken ein, ob die Schweiz vielleicht nicht doch mehr mit Europa gemeinsam hatte, als es während zweier Weltkriege und des Kalten Kriegs vielen schien. Bereits 1992, im Jahr von EU-Beitrittsgesuch und EWR-Abstimmung, thematisierte das Landesmuseum in Zürich unter dem Titel ‹Sonderfall?› die Schweizer Selbsterzählung ‹zwischen Réduit und Europa›. ‹Aufbruch in den Frieden? Die Schweiz am Ende des Zweiten Weltkrieges› war 1995 der Titel einer Berner Ausstellung und einer Begleitpublikation, die ebenso wie das populärwissenschaftliche Buch ‹1945 – die Schweiz im Friedensjahr› den Sonderfall nicht mehr propagierten, sondern problematisierten. Das hatte auch wichtige politische Folgen. Bundesrat Kaspar Villiger hatte 1989 als Vorsteher des Militärdepartements für die Übung ‹Diamant› verantwortlich gezeichnet. Als Bundespräsident sagte er 1995 bei einer Sondersession des Parlaments zum Kriegsende: «Auch die Schweiz hat Schuld auf sich geladen.» 6 Zwar erfolgte sein Eingeständnis widerstrebend und bezog sich nicht auf die Flüchtlingspolitik an sich, sondern allein auf die Einführung des sogenannten J-Stempels im Jahr 1938. Dennoch bekannte die offizielle Schweiz damit, dass sie ein Teil des gesamteuropäischen Mordprojekts der Nationalsozialisten gewesen war. Die lokale und regionale Erinnerung schlug so den Bogen von den älteren Generationen zu den jüngeren und von der vermeintlich isolierten Friedensinsel Schweiz hin zu ihren Nachbarländern,

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Einleitende Gedanken zur Ausstellung – Thomas Maissen

die durch Krieg und Terror versehrt worden waren. Wie sich diese Perspektiven zusammenbringen liessen, zeigten 1995 nicht zuletzt die koordinierten Ausstellungen ‹Nach dem Krieg. Grenzen in der Regio 1944–1948 – Après la guerre. Frontières dans la régio 1944–1948›, die in Lörrach, Liestal und Mulhouse zu sehen waren. Im Vorwort des Katalogs erklärte der stellvertretende Leiter des Kantonsmuseums Baselland Jürg Tauber 7 die Initiative auch mit der Übung ‹Diamant› und seinem damaligen Unbehagen, dass man den Beginn des Kriegs «feierte», zumal in einer rein schweizerischen Nabelschau. Er erwähnte weiter, dass die Personen, welche die Ausstellung und den Begleitband schufen, diese unmittelbare Nachkriegszeit nicht selbst aktiv erlebt hatten. Dafür ernteten sie zuweilen Kritik, gerade von Zeitzeugen, die nur noch Interviewpartner waren. Dieselben Vorwürfe musste die Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (UEK) unter Jean-François Bergier aushalten, die von 1997 bis 2002 ihre Forschungen vor allem zur wirtschaftlichen Kooperation der neutralen Schweiz mit dem NS-Unrechtsregime durchführte. Man mag bedauern, dass die Reaktion gerade der offiziellen Schweiz auf die Leistungen und den Schlussbericht der UEK verhalten war. Aber deren Tätigkeit symbolisierte wie nichts anderes den unvermeidlichen Sieg der Geschichtswissenschaft über die Selbsterklärung der seltener werdenden Zeitgenossen. Was bedeutet es vor diesem Hintergrund, wenn das Historische Museum Basel 2020/21 eine Ausstellung über die NS-Zeit veranstaltet? Es gibt noch Zeitzeugen, die aus eigener Erinnerung erzählen können, aber sie sind weit über achtzig Jahre alt und in den öffentlichen Diskussionen wenig präsent. Sie verteidigen nicht mehr, wie noch in den 1990er-Jahren, ihre Deutung des Erlebten gegenüber ihren Kindern. Letztere, die 68er-Generation, relativierte die Zeitzeugen durch wissenschaftliche Kritik, durch die Auswertung von Archivmaterial und durch die Einbindung in internationale For-


schungsdiskussionen. Inzwischen sind auch die 68er im Rentenalter. Wenn hoffentlich Zeitzeugen des Weltkriegs diese Ausstellung besuchen, dann erleben sie den Blick ihrer Enkel auf ihre prägenden Jugendjahre, und bei der musealen Umsetzung wirken bereits ihre Urenkel mit. Sie und wir leben weiter mit einer Vergangenheit, die nicht vergehen will, wie das Ernst Nolte im Historikerstreit apologetisch gesagt hat; und später ähnlich Henry Rousso, aber in analytischer Absicht. Mit ihm kann, ja muss man sich fragen, ob wir uns lieber pflichtbewusst, ja rituell mit einer negativen Vergangenheit beschäftigen, die uns lehrt, was wir vermeiden müssen, als mit einer Zukunft, deren positive Gestaltung uns überfordert. An den Holocaust zu denken ist einfacher, als den Bürgerkrieg in Syrien zu verhindern oder sich heute für Flüchtlinge einzusetzen. Vielleicht empfiehlt es sich, diese Ausstellung und diese Publikation weniger als moralische Ermahnung anzusehen denn als das, was sie vor allem sind: die Vermittlung des aktuellen Forschungsstands in der Geschichtswissenschaft.

Anmerkungen 1 Tribelhorn 2014. 2 Leimgruber 1990, S. 19 – 20. 3 Nolte 1986. 4 Habermas 1986. 5 Durand 2016. 6 Villiger 1997. 7 Tauber 1995.

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Vom Weltkrieg zum Holocaust Gregor Spuhler

‹Die Schweiz im Zweiten Weltkrieg›: Die meisten von uns kennen diese Epoche nicht aus eigenem Erleben, sondern vom Hörensagen, vom Schulunterricht oder aus den Medien. Viele finden die Auseinandersetzung mit jener Zeit wichtig; für andere ist ‹die Schweiz im Zweiten Weltkrieg› ein Reizwort. Beobachtet man als historisch interessierter Zeitgenosse die Gegenwart, so fallen zwei Dinge auf: Erstens ist der Nationalsozialismus – ‹die Nazis›, Hitler, der Holocaust – im Film, im Schulunterricht und in der politischen Öffentlichkeit allgegenwärtig. Offenbar vergeht diese Epoche nicht in derselben Art wie andere Epochen. Zweitens fiel der Schweiz die selbstkritische Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte zur Zeit des Nationalsozialismus lange Zeit schwer, und neue historische Erkenntnisse führten regelmässig zu politischen Kontroversen. Die Geschichte der Schweiz zwischen 1933 und 1945 ist mittlerweile gut erforscht. Der aktuelle Forschungsstand entspricht jedoch nie dem individuellen Wissensstand, denn jede Generation, jede und jeder Einzelne muss sich die Vergangenheit aufs Neue aneignen. Dabei bleiben die von der historischen Forschung zutage geförderten Fakten zumeist bestehen, auch wenn sie in Vergessenheit geraten sind; hin und wieder werden sie durch neue Erkenntnisse ergänzt oder revidiert. Entscheidend ist, dass sich im Laufe der Zeit weniger die Fakten, sondern vor allem die Fragen verändern, die an die Vergangenheit gestellt werden. Deshalb stehen im Folgenden nicht die historischen Fakten im Zentrum; sie kommen in den weiteren Beiträgen dieser Publikation zur Sprache. Vielmehr geht es

um die Veränderung der Fragestellungen, die in der Schweiz die historische Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg geprägt haben. Dieser Wandel zeigt sich in den Titeln der Publikationen, die im Folgenden als Überschriften die verschiedenen Phasen der Auseinandersetzung charakterisieren.

Anpassung oder Widerstand1 Als der Krieg 1945 zu Ende ging, stand die Schweiz unter grossem Druck der Alliierten. Wegen ihrer wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit NS-Deutschland galt sie als Kriegsgewinnlerin oder gar als Kollaborateurin, die von der deutschen Raubwirtschaft profitiert hatte. Deshalb verpflichtete sie sich im Washingtoner Abkommen vom Mai 1946, für den Wiederaufbau Europas 250 Millionen Franken zu bezahlen, was gut zehn Prozent der damaligen Bundeseinnahmen entsprach. 2 Die Sichtweise der Alliierten stand in krassem Gegensatz zur Selbstdarstellung der Schweizer Politik und Wirtschaft: Die Führung des Landes hatte unter schwierigen Bedingungen dank militärischer Widerstandsbereitschaft, geschickter Politik und einer Portion Glück erreicht, dass das Land vom Krieg verschont geblieben war; sie hatte die Landesversorgung sichergestellt und sozialpolitische Massnahmen ergriffen, sodass die befürchtete innenpolitische

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Skulptur ‹Wehrwille› an der Schweizerischen Landesausstellung 1939. Privatbesitz, Foto: Jean Gaberell.

Konfrontation – anders als am Ende des Ersten Weltkriegs mit dem Landesstreik – ausgeblieben war. Die Bevölkerung wiederum hatte den Nationalsozialismus – trotz mancher Sympathien in den frühen 1930er-Jahren, die nach den militärischen Erfolgen Deutschlands 1940 wieder erstarkten – in ihrer grossen Mehrheit abgelehnt. Sie hatte jahrelang unter der Bedrohung durch den aggressiven und übermächtigen Nachbarstaat gelebt und während des Kriegs vielfältige Entbehrungen auf sich genommen. Trotz unterschiedlicher Auffassungen in den jeweiligen politischen und gesellschaft-

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lichen Milieus war es zu keinen tiefgreifenden politischen Konflikten gekommen. Der äussere Druck hatte zu einem gesellschaftlichen Zusammenschluss der demokratischen Kräfte geführt, der in der Landesausstellung 1939 seinen sichtbaren Höhepunkt gefunden und sich als Widerstand gegenüber der nationalsozialistischen Bedrohung verstanden hatte.3 Das Gegensatzpaar Anpassung oder Widerstand prägte die Fragen, die die Forschung bis in die 1970er-Jahre an die Epoche stellte. Dies ist insofern leicht nachvollziehbar, als NS-Deutschland immer wieder Forderungen an die Schweiz gestellt und


mit Drohungen Einfluss zu nehmen versucht hatte, so etwa, wenn es um die Pressefreiheit und die Berichterstattung über die Verhältnisse im Reich ging. 4 Was konnte man solchen Forderungen entgegensetzen? Und wo musste man sich anpassen? Auch wenn diese Fragestellung verständlich ist, wird der Blick damit doch eingeengt: Erstens definiert sie Deutschland als dominanten Akteur, während die Schweiz als unterlegenes Opfer dasteht, das nur zwischen Anpassung oder Widerstand wählen konnte. Ausgeblendet wird dabei, dass es auch in der Schweiz bedeutende Kräfte gab, die die Demokratie für eine überlebte Staatsform hielten und einen autoritären Staat forderten.5 Zweitens zielt sie – in einem Umfeld, in dem Widerstand positiv und Anpassung negativ besetzt ist – auf eine moralische Beurteilung der damaligen Akteure. Schliesslich unterschlägt sie, dass die Schweiz durchaus als selbstständige Akteurin auftreten konnte, die verschiedene Handlungsmöglichkeiten hatte. Deutlich wurde dies im Skandal um den ‹J-Stempel›, der die Schweiz 1954 erschütterte. Damals zeigte sich, dass die Schweizer Diplomatie 1938, als das Regime zur brutalen Vertreibung der Juden aus dem Reich übergegangen war, erfolgreich Druck auf NS-Deutschland ausgeübt und damit erreicht hatte, dass die Reisepässe deutscher ‹Nichtarier› besonders gekennzeichnet wurden. Dies sollte es den Schweizer Grenzorganen erleichtern, die unerwünschten jüdischen Flüchtlinge von den willkommenen ‹arischen› Feriengästen und Geschäftsleuten aus Deutschland zu unterscheiden.6 Dass dieser Skandal 1954 durch eine Aktenedition im Ausland ans Licht gelangte, war kein Zufall, im Gegenteil: Für die Aufarbeitung der eigenen Geschichte brauchte die Schweiz oftmals Anstoss von aussen. Die Schweizer Behörden hingegen erschwerten der Forschung bis weit in die 1970er-Jahre den Zugang zu den Akten und wollten über jene Aspekte, die für die eigene Geschichte weniger rühmlich waren, den Mantel des Schwei-

gens legen.7 Kennzeichnend für diese Mentalität war, dass die Bundesbehörden in den ersten Jahren nach dem Krieg selbstbewusst Rechenschaftsberichte zur Armee, zur Kriegswirtschaft oder zum Staatsschutz vorlegten. Als aber das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) 1951 seinen Bericht über die Flüchtlingspolitik verfasst hatte, verzichtete der Bundesrat auf eine Publikation, da diese nur «Unruhe in eine Frage bringen würde, die heute wohl im Wesentlichen als geregelt angesehen werden darf». 8

Réduit Basel 39/45 9 Die Flüchtlingspolitik war aber keine Frage, die «als geregelt angesehen werden» konnte. Diesbezüglich hatte sich der Bundesrat 1951 ebenso getäuscht wie viele weitere nach ihm. Die Politik gegenüber der Judenverfolgung war schon im Krieg umstritten, warf unter dem Titel ‹Das Boot ist voll› 10 einen Schatten auf die Geschichte der Schweiz und weckte bis in die jüngste Gegenwart heftige Emotionen. Bereits 1970 sprach der Basler Geschichtsprofessor Edgar Bonjour, der im Auftrag des Bundesrats die Neutralitätspolitik der Schweiz untersuchte, vom Versagen einer ganzen Generation gegenüber der Judenverfolgung.11 Doch auch in anderen Bereichen gewannen in den 1970er- und 1980er-Jahren kritische Einschätzungen an Gewicht: Dies galt für die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Deutschland ebenso wie für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz oder General Guisan, der als Inbegriff des Widerstands gegolten hatte.12 Die Geistige Landesverteidigung, die von vielen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen als Zusammengehörigkeitsgefühl empfunden worden war, wurde nun als geistige und kulturelle Enge beschrieben.13 Sie hatte zur Ausgrenzung jener geführt, die wegen ihrer ausländischen Staatsangehörigkeit, ihres jüdischen Glaubens, ihrer politischen Meinung oder ihres eigenständigen Denkens und Schaffens mit dem Etikett ‹un-

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schweizerisch› oder ‹nicht assimilierbar› versehen worden waren.14 Schliesslich wurde dem ritualisierten Dank an die ‹Aktivdienstgeneration› – zuletzt mit den sogenannten Diamantfeiern 1989 zum 50-Jahr-Jubiläum der Mobilmachung 1939 – eine kritische Sicht auf die Armee entgegengesetzt. Dass die Schweiz von Hitler verschont worden war, wurde nicht mehr dem Widerstandswillen von Armee und Bevölkerung, sondern der wirtschaftlichen Unterstützung des Deutschen Reiches zugeschrieben.15 Diese Sicht der Dinge beruhte auf seriöser Forschung und der Auswertung einschlägiger Quellenbestände. Gleichzeitig war sie aber auch Ausdruck eines innenpolitischen Aufbruchs, der – auch als Folge der 68er-Bewegung – die vom Kalten Krieg geprägten Deutungsmuster infrage stellte. Unter diesen Vorzeichen wurde Ende 1989 in Basel die letzte Ausstellung zum Zweiten Weltkrieg eröffnet – zur selben Zeit, als der Kalte Krieg mit dem Fall der ‹Mauer› zu Ende ging, die Schweizer Bevölkerung über die Abschaffung der Armee abstimmte und die jahrzehntelange Überwachung der Schweizer Bevölkerung durch den Staatsschutz zum sogenannten Fichenskandal führte. Unter dem Titel ‹Réduit Basel 39/45› widmete sich die Ausstellung den Themen Verteidigung, Wirtschaft, Politik und Mentalität. Es ging um die Rolle der Grenzstadt, die im Zuge der Réduit-Strategie militärisch aufgegeben worden war und deren Bevölkerung nicht evakuiert worden wäre. Weitere Themen waren die ‹Anbauschlacht›, die Lebensmittelrationierung und die Lebenshaltungskosten in der Arbeiterschaft und im Bürgertum. Die Exportstrategien der Chemieindustrie gegenüber Alliierten und Achsenmächten wurden untersucht und die Auseinandersetzungen der Fabrikherren mit der Arbeiterschaft. Die Flüchtlingspolitik nahm – auch mit Fallbeispielen – bedeutenden Raum ein. Schliesslich ging es um die Nationalsozialisten und die Kommunisten in Basel, während die demokratischen Kräfte wenig Beachtung fanden. Und am Schluss des

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Katalogs standen die Leistungen der Frauen und die Analyse der Geschlechterrollen jener Zeit. Die damalige Ausstellung verstand sich als kritisch und löste auch einige Diskussionen aus. In der Rückschau fällt aber auf, was sich schon in der Wahl des Titels zeigt: Es ging, wenn auch in einer innenpolitisch kritischen Perspektive, in erster Linie ums Überleben der Schweiz im Krieg.

Die Schweiz, der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg16 Nach dem Ende des Kalten Kriegs kam die Wiedergutmachung17 der Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes erneut auf die politische Agenda. In den Ländern des ehemaligen Ostblocks, in denen die Verbrechen der deutschen Besatzer weit verheerendere Dimensionen angenommen hatten als im Westen, war eine Wiedergutmachung nämlich weitgehend ausgeblieben. Im Zuge dieser Bestrebungen, die sich auf die westlichen Staaten ausdehnten, wurde der Schweiz die Frage nach den Vermögenswerten gestellt, die jüdische Verfolgte in der Schweiz in Sicherheit gebracht hatten. Im Zentrum standen Guthaben, deren Eigentümer ermordet worden waren und die immer noch als sogenannte nachrichtenlose Vermögen auf Schweizer Banken schlummerten. Unter massivem Druck der USA setzte der Bundesrat eine Unabhängige Expertenkommission ein, die vom Historiker JeanFrançois Bergier präsidiert wurde. Sie untersuchte hauptsächlich die Wirtschaftsbeziehungen der Schweiz zum nationalsozialistischen Deutschland und erhielt das Recht, in den Archiven privater Unternehmen zu recherchieren. Der privilegierte Archivzugang unterschied sie von den über zwanzig Kommissionen, die damals in zahlreichen anderen Staaten mit Untersuchungen zu den nationalsozialistischen Verbrechen und ihrer Wiedergutmachung beauftragt wurden. Der politische und juristische Konflikt wurde in der Schweiz allerdings bereits


vor Abschluss der Forschungsarbeiten gelöst: 1998 erklärten sich die Schweizer Grossbanken UBS und Credit Suisse bereit, den amerikanischen Klägern im Rahmen einer Globallösung 1,25 Milliarden Dollar zu bezahlen. Drei Jahre später publizierte die Expertenkommission die Ergebnisse ihrer Forschungsarbeit in 25 Büchern und einem zusammenfassenden Schlussbericht.18

Karikatur in den ‹Freiburger Nachrichten› vom 11. Dezember 1999. Bildarchiv La Liberté Fribourg, Künstler: KARMA/Marco Ratschiller.

Die Untersuchungen bestätigten manches, das schon bekannt war. Die Flüchtlingspolitik war viel zu hart und von einer antisemitisch geprägten Ablehnung der Juden bestimmt. Dafür hatte sich Bundespräsident Kaspar Villiger 1995 – fünfzig Jahre nach Kriegsende – erstmals im Namen der Landesregierung entschuldigt. Die Schweizerische Nationalbank (SNB) nahm bis in die letzten Kriegstage Gold von der Deutschen Reichsbank entgegen, obwohl sie wusste, dass sich darunter geraubtes Gold befand. Und die Banken hatten nach dem Krieg mit formaljuristischen Einwänden oftmals verhindert, dass die nachrichtenlosen Vermögen der Opfer ihren rechtmässigen Erben zukamen. Es zeigte sich auch, dass den Schweizer Entscheidungsträgern der

Unrechtscharakter der deutschen Diktatur vollkommen bewusst war. Ihr Handeln war jedoch – abgesehen von den Gerichten, die sich deutschen Forderungen öfters widersetzten – kaum von rechtlichen oder ethischen, sondern von wirtschaftlichen und politischen Überlegungen geprägt. Der Bundesrat nahm seine Verantwortung im Krieg unzureichend wahr: Er gewährte den Vertretern der Privatwirtschaft in den Verhandlungen mit Deutschland sehr grossen Einfluss, liess die SNB mit ihrem heiklen Deutschlandgeschäft gewähren und interessierte sich auch nicht für die Schweizerischen Bundesbahnen, die den Transitverkehr der Achsenmächte durch den Gotthard unzureichend kontrollierten. Zudem kamen zahlreiche neue Fakten ans Licht: Unter dem Gold, das in die Schweiz gelangte, befand sich – ohne dass die Schweizer Verantwortlichen dies wussten – auch sogenanntes Opfergold, das in den Vernichtungslagern aus religiösen Gegenständen, Schmuck und Zahnplomben der Ermordeten gewonnen worden war. Die Filialen schweizerischer Unternehmen beschäftigten im Deutschen Reich rund elftausend Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, in einigen Fällen waren auch Gefangene aus Konzentrationslagern darunter. Zwischen 1940 und 1944 lieferte die schweizerische Industrie an die Achsenmächte elfmal mehr Waffen und Munition als an die Alliierten. Allerdings wurde die Bedeutung der Waffenexporte für die deutsche Kriegsführung eher überschätzt: Weit wichtiger waren die Leistungen der Schweiz vor 1939, als sie ebenso wie andere europäische Staaten massgeblich zur verdeckten Aufrüstung Deutschlands beitrug und das Regime befähigte, sechs Jahre nach der ‹Machtergreifung› einen gesamteuropäischen Krieg zu führen. Die Kommission widerlegte auch zahlreiche Gerüchte und Vorwürfe: Es wurden keine Juden von Italien durch die Schweiz nach Auschwitz deportiert. Die Behauptung, die Schweiz habe den Krieg verlängert, lässt sich weder bewei-

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sen noch widerlegen. Und der skandalöse Umgang mit den nachrichtenlosen Vermögen – die Schätzungen des Gesamtwerts in den Medien erreichten im Verlauf der Krise absurd hohe Summen – war weder der Grund für den Erfolg des Schweizer Bankenplatzes nach dem Zweiten Weltkrieg noch war er angeblichen Bereicherungsabsichten der Banken geschuldet. Vielmehr herrschten allenthalben Ignoranz und mangelnde Sensibilität gegenüber den Verfolgten, und mancherorts sollten auch problematische Entscheidungen während der Zeit des Nationalsozialismus nun nicht mehr ans Tageslicht gezerrt werden.19 Die Arbeiten der Bergier-Kommission waren mit einem doppelten Perspektivenwechsel verbunden, der bis in die Gegenwart gilt: Erstens stehen heute nicht mehr der Krieg und das Überleben des Landes im Zentrum, sondern das Verhältnis der Schweiz zum deutschen Unrechtsregime. Die frühere Perspektive des neutralen Staates, der sich aus dem Krieg heraushielt, alle Parteien möglichst gleichbehandelte und weiterhin Business as usual betrieb, ist überholt. Die gegenwärtige Sicht ist von rechtsstaatlichen Prinzipien und ethischen Wertvorstellungen geprägt. Dieser Perspektivenwechsel trägt der Tatsache Rechnung, dass damals nicht zwei Kriegsparteien auf Augenhöhe miteinander im Streit lagen. Vielmehr werden die Beziehungen zum Deutschen Reich grundsätzlich als problematisch angesehen, weil der nationalsozialistische Staat Millionen von Menschen – Juden, Roma und Sinti, Behinderte sowie die als ‹Slawen› abgewerteten Menschen in Osteuropa insgesamt – zu minderwertigen Wesen erklärte, ihre Existenzberechtigung verneinte und sie im Laufe des Kriegs gezielt ermordete oder zu Tode kommen liess. Statt des Krieges rückt damit der Holocaust ins Zentrum. Zweitens wurde die Frage ‹Anpassung oder Widerstand› durch den Begriff der ‹Handlungsspielräume› abgelöst. Dieser verdeutlicht, dass es nicht nur zwei, sondern immer mehrere Handlungsmöglich-

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keiten gibt, dass der Handlungsspielraum, wie jeder Raum, aber auch Grenzen hat. Diese Grenzen entstehen in einer Wechselwirkung zwischen äusseren, gewissermassen objektiven Gegebenheiten, wie zum Beispiel Machtverhältnissen, Gesetzen oder technischen Möglichkeiten, und der subjektiven Wahrnehmung dieser Gegebenheiten durch die jeweiligen Akteure. Ein solcher Ansatz vermeidet Entweder-oder-Antworten. Er stellt die Akteure ins Zentrum, verortet sie in Raum und Zeit und fragt nach ihren Entscheidungsgrundlagen – nach Werten, Wissen und Kompetenzen.

Orte der Erinnerung – Menschen und Schauplätze 20 Damit rücken einzelne Menschen, Organisationen und Schauplätze ins Zentrum. Solche mikrohistorische Arbeiten prägten die Forschung der letzten zwanzig Jahre. Beruhend auf den Grundlagenarbeiten der 1970er- bis 1990er-Jahre haben sie unser Wissen zunehmend differenziert und präzisiert. Dies gilt insbesondere für die Flüchtlingspolitik. So haben etwa Fallstudien zu einzelnen Regionen und zur Rückweisungspraxis deutlich gemacht, dass die Zahlen zur Aufnahme und Abweisung von Flüchtlingen für die gesamte Zeit von 1939 bis 1945 nur begrenzte Aussagekraft haben. Von den vielen Tausend, die gegen Kriegsende aufgenommen oder abgewiesen wurden, können nämlich keineswegs alle als Verfolgte des Nationalsozialismus gelten. 21 Die Fallstudien der Bergier-Kommission zu den Industrieunternehmen, Versicherungen und Banken, zum Kunsthandel, zur Beteiligung von Schweizern an den sogenannten Arisierungen, das heisst der Enteignung jüdischer Firmeninhaber, oder zum Freikauf von verfolgten Juden haben das Bewusstsein dafür geschärft, dass die Schweizer Akteure auf vielfältige Weise mit den nationalsozialistischen Verbrechen konfrontiert waren. Sie konnten etwa in den Rollen des Käufers, Verkäufers oder


Plakat zum Ausstellungsprojekt ‹The Last Swiss Holocaust Survivors›. Courtesy Gamaraal Foundation, Zürich, Foto: Manu.

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Vermittlers auftreten und hatten innerhalb dieser Rollen beträchtliche Handlungsmöglichkeiten – von der schamlosen Ausnutzung der Notlage der Verfolgten bis zur uneigennützigen Hilfe. Auf die Bestrebungen, sämtlichen jüdischen Einfluss in der deutschen Wirtschaft auszuschalten, konnten sie unterschiedlich reagieren, wie die Untersuchung der Basler Chemiefirmen zeigte: So bemühte sich Geigy schon 1933/34, die deutschen Behörden davon zu überzeugen, dass Kapital und Direktion ihres Unternehmens rein ‹arisch› seien, und Sandoz trennte sich im April 1933 vom jüdischen Präsidenten ihrer Nürnberger Tochterfirma. Die Roche hingegen konnte bis 1938 an ihren jüdischen Führungskräften in Deutschland festhalten. 22 Mit der Ausdehnung der Perspektive über den Krieg hinaus auf die gesamte Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft gewann auch die Periodisierung an Bedeutung: So waren die Handlungsspielräume für die Schweiz und ihre Akteure vor dem Krieg und nach der Kriegswende 1943 deutlich grösser als zwischen 1940 und 1942. Gleichzeitig fand die Verfolgung, Entrechtung und Beraubung durch das nationalsozialistische Regime bis 1939 in aller Öffentlichkeit statt, während man im Krieg versuchte, den systematischen Massenmord an Behinderten, Jüdinnen und Juden sowie Roma und Sinti geheim zu halten, und das entsprechende Insiderwissen schrittweise an die Öffentlichkeit gelangte. Neben der Flüchtlingspolitik fand auch die Forschung im Bereich des Kunsthandels, der Museen und der Sammlungen in den letzten Jahren starke Beachtung. Motor war hier nicht nur die Restitution der von den Nationalsozialisten geraubten Kunstwerke, sondern – unter dem Stichwort der ‹historischen Gerechtigkeit› und mit Blick auf die internationalen Vereinbarungen zum Kulturgüterschutz – auch eine Neubewertung der europäischen Sammlungstätigkeit generell, die eng mit der Geschichte des Kolonialismus verknüpft ist. Im Ver-

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gleich dazu ist in anderen Untersuchungsfeldern seit den Arbeiten der Bergier-Kommission weniger geschehen. Die Beziehungen zu den Alliierten fanden kaum Beachtung. Das Verhalten einzelner Unternehmen zur Zeit des Nationalsozialismus ist kaum mehr eigene Studien wert, wird aber als Teil der gesamten Firmengeschichte durchaus behandelt. Zu den Schweizer Opfern des Nationalsozialismus wird erst in jüngster Zeit vermehrt geforscht. Und auch die massgeblichen Arbeiten zum Faschismus und Rechtsextremismus in der Schweiz liegen viele Jahrzehnte zurück. Da Nationalsozialismus und Holocaust nicht in derselben Weise vergehen wie andere Epochen, gewann auch die Erinnerung an das damalige Geschehen in den letzten dreissig Jahren an Bedeutung. Davon zeugen die weltweiten Initiativen zur Sicherung der Erinnerungen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, 23 zahlreiche Denkmäler und Museen sowie die Anstrengungen zur Vermittlung historischer Kenntnisse in Schulen und Öffentlichkeit. 24 Die Erinnerung und das Wissen um die damaligen Verbrechen sind aber keine Garantie, dass Ähnliches ‹nie wieder› geschieht. Das Wissen muss vielmehr an eine ethische Perspektive gebunden sein, die sich an Menschenrechten und Demokratie orientiert. Mit einem solchen Selbstverständnis werden nicht aus der bequemen Position der Nachgeborenen moralische Urteile über Anpassung oder Widerstand gefällt. Die historische Frage lautet vielmehr, weshalb bestimmte Menschen in bestimmten historischen Situationen so und nicht anders handelten. Selbstkritisch gewendet, ist dies die unbequeme Frage: Was hätte ich damals getan?


Anmerkungen 1 Meyer 1965. 2 Perrenoud 2013. Zu den Bundeseinnahmen, die im ersten Nachkriegsjahr ungewöhnlich hoch waren, vgl. Historische Statistik der Schweiz, URL <https://hsso.ch/de/2012/u/5> [abgerufen am 21.10.2019]. 3 Mooser 1997. 4 Kreis 1973. 5 Mattioli 1995. 6 Ludwig 1957; Kreis 2000; UEK Flüchtlinge 2001. 7 Zala 1997. 8 Auszug aus dem Sitzungsprotokoll des Bundesrats vom 28. Dezember 1951, zit. nach Koller 2018, S. 144. 9 Réduit Basel 1989. 10 Häsler 1967. 11 Bonjour 1970, S. 41. 12 Rings 1974; Favez/Billeter 1988; Gautschi 1989. 13 Jost 1983, S. 101–190. Zur Neubewertung vgl. Mooser 1997. 14 Picard 1994; Gast 1997; Kury 2003. 15 Heiniger 1989. 16 UEK Schlussbericht 2002. 17 Der Begriff ‹Wiedergutmachung› wird hier als Oberbegriff für die drei Bereiche (materielle) Restitution, (finanzielle) Entschädigung und (juristische) Rehabilitation verwendet. 18 Maissen 2005; Tanner/Weigel 2002. 19 UEK Schlussbericht 2002, S. 517–550. 20 Haumann/Petry/Richers 2008. 21 Spuhler/Kreis 2014; Fivaz-Silbermann 2017; Koller 2018; Spuhler 2017. 22 UEK Schlussbericht 2002, S. 307. 23 Zentral für die Schweiz war das Projekt Archimob, in des sen Verlauf 555 Personen interviewt wurden. Vgl. Dejung/ Gull/Wirz 2002; siehe auch Fink/Archimob/Gonseth 2005. 24 2004 trat die Schweiz der International Holocaust Re membrance Alliance (IHRA) bei. Sie verpflichtete sich, «die Geschichtsforschung und den Unterricht über den Holo caust zu fördern sowie die Erinnerung an die Opfer durch Gedenkfeiern und -stätten wachzuhalten». URL <https:// w w w. e d a . a d m i n . c h / e d a / d e / h o m e / a k t u e l l / d o s s i e r s / alle-dossiers/schweizer-vorsitz-holocaust.html> [abgeru fen am 22.03.2020].

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Die Staatsschutzakten in Basel Hermann Wichers

Wer den ‹Bericht des Regierungsrates über die Abwehr staatsfeindlicher Umtriebe in den Vorkriegs- und Kriegsjahren sowie die Säuberungsaktion nach Kriegsschluss› an den Grossen Rat am 4. Juli 19461 zur Hand nimmt, wird rasch feststellen: Der Bericht ist fundiert und gründet auf umfangreichem Aktenmaterial, das vom Staatsschutz, der damaligen Politischen Abteilung im Basler Polizeidepartement, angelegt und intensiv ausgewertet wurde.2 Im Fokus des Berichts standen die Aktivitäten der NSDAP und ihrer Vorfeldorganisationen in Basel sowie das staatsfeindliche Wirken schweizerischer Rechtsextremisten. Ausführlich widmet er sich auch der sogenannten Säuberungsaktion nach Kriegsschluss. Damit ist die Ausweisung politisch belasteter deutscher Staatsbürger aus Basel umschrieben.3 Im Anhang des Berichts findet sich eine detaillierte Auflistung dieser Personen. Hinzu kommen Verzeichnisse aller während des Kriegs in Basel wegen politischer Vergehen verurteilten Deutschen und Schweizer.

Vernichtungsaktion 1960/61 Sucht man im Staatsarchiv des Kantons Basel-Stadt heute die Akten über die Aktivitäten von deutschen Nationalsozialisten und Schweizer Rechtsextremisten in Basel bis 1945, stellt sich zunächst Ernüchterung ein. In einem 1991 im Zuge der sogenannten Fichenaffäre vorgelegten Untersuchungsbericht zuhanden des Grossen Rates heisst es lapidar: «Gemäss einer Aktennotiz des Spezialdienstes vom 30. August 1962 hat der Spezialdienst in den

Jahren 1958–62 aus Platzmangel eine umfassende ‹Säuberungsaktion› im Archiv durchgeführt.» Insgesamt wurden dabei «rund 3,3 Tonnen Akten- und Karteimaterial vernichtet». Nachdem man bereits 1958 etwa «50ʼ000 Personenkarten mit vereinzelten Beiträgen aus der Vorkriegs- und Kriegszeit ausgeschieden» hatte, kamen nun nochmals rund 74ʼ500 Karten hinzu, darunter erstmals auch Karten aus der sogenannten Sachkartei, welche Organisationen und Sachbegriffe erfasste. 4 Ausgesondert wurden Unterlagen, die für die laufende Arbeit des Staatsschutzes nicht mehr relevant waren, darunter beinahe alle Fichen (Karteikarten) und Akten zu Nationalsozialismus und Rechtsextremismus. Hingegen blieben viele Aufzeichnungen über die kommunistische Partei der Arbeit (PdA) erhalten. Leider wurde die Vernichtungsaktion nicht sorgfältig dokumentiert. So hielt der Spezialdienst in einem Bericht vom 17. November 1970 fest, dass über die Vernichtung «keine genaue Kontrolle» bestehe. Man habe «in fünf Ordnern und einer Kartothek» Buch geführt, Stichproben hätten aber gezeigt, dass dies «nicht zuverlässig» erfolgt sei. Es fehle der Aktenplan vom 1. November 1951, der «über die vernich-

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teten Sachgebiete noch Aufschluss» hätte geben können. Ebenso sei «das am 14.9.1960 erstellte Verzeichnis über die vernichteten Unterlagen vernichtet worden».5 Ausgelöst hatte diese Zusammenstellung eine Anfrage des damaligen Staatsarchivars Andreas Staehelin nach dem Verbleib der Staatsschutzakten. Darin heisst es: «Wie ich gelegentlich erfahren habe, sollen kurz nach dem 2. Weltkrieg grössere Aktenbestände dieses Spezialdienstes vernichtet worden sein. Sowohl als Staatsarchivar als auch als Historiker möchte ich gerne etwas Licht in diesen Nebel bringen.» Um seinem Schreiben Nachdruck zu verleihen, verwies Staehelin auf die Zuständigkeit des Staatsarchivs für ältere Akten.6 Es war ihm aber kein Erfolg beschieden, die vom Spezialdienst kontaktierte Bundesanwaltschaft in Bern sah auch die kantonalen Staatsschutzakten als Teil ihrer Bestände an: Akten könnten an die Bundesanwaltschaft abgeliefert oder – falls dort im Doppel vorhanden – vernichtet werden. Dem schloss sich das Basler Polizeidepartment mit dem Argument an, die Akten «sind geheim und dürfen nicht herausgegeben werden».7 Dabei blieb es bis zur Fichenaffäre. Nicht bekannt ist, wie viele Personen- und Sachdossiers 1960/61 parallel zu den Fichen entsorgt wurden. Konkrete Zahlen fehlen in den vorliegenden Erhebungen. Nach 1945 verschob sich der Fokus der staatlichen Überwachung aber vom Rechtsextremismus zum nun als gefährlicher wahrgenommenen Kommunismus. In der Grenzstadt Basel, einer Hochburg der Kommunisten in der deutschen Schweiz, war dies nach Ansicht der Leitung des Spezialdienstes besonders wichtig. 8 Von nun an standen die Aktivitäten der Kommunisten und ihrer PdA sowie später der Progressiven Organisationen der Schweiz (POCH) und anderer vermeintlich staatsfeindlicher Organisationen im Zentrum der Überwachung.9

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Die Staatsschutzakten im Archiv Die Fichenaffäre führte zu einer grossen öffentlichen Debatte über den Staatsschutz in der Schweiz. In Basel wurden die 1991 noch vorhandenen Fichen und Dossiers versiegelt. Anschliessend standen sie dem Ombudsmann zur Verfügung, der die Einsichtsbegehren der direkt Betroffenen prüfte. 1994 wurden sie dem Staatsarchiv übergeben, wo sie zunächst weitestgehend unter Verschluss blieben. Ausgenommen waren nur einige wenige ausgewählte Dokumente aus der Zeit vor 1961 10 sowie die umfangreiche Bibliothek mit Literatur zu Kommunismus und Rechtsradikalismus, darunter zahlreiche 1945 im sogenannten Braunen Haus an der St. Alban-Vorstadt 12 beschlagnahmte Werke aus dem Deutschen Reich. Kataloge, Inventar und Nutzungsbücher kamen ins Staatsarchiv,11 die Bücher selbst wurden 1994 der Universitätsbibliothek angeboten, die sie aber nicht integral übernahm und aufstellte, sondern alle Doubletten aussonderte.12 Sucht man heute im Archivkatalog nach den Staatsschutzakten, stösst man auf den Bestand PD-REG 5a, der sich aus mehreren Ablieferungen zusammensetzt, die im Laufe der 1990er-Jahre ins Staatsarchiv gelangten. Die vom Ombudsmann eingegangene Hauptablieferung 1994/15 umfasste dreissig Stahlschränke, zwei Blechkassetten und diverse Faszikel, alles in allem rund hundertdreissig Laufmeter Fichen und Akten.13 Ein erheblicher Teil davon fällt nach wie vor in die besonderen personenbezogenen Schutzfristen des Archivgesetzes des Kantons Basel-Stadt, die sich an den Lebensdaten der betroffenen Personen orientieren.14 Hier ist der Zugang heute für direkt Betroffene möglich. Zugang kann unter der Auflage der Anonymisierung auch für Forschungszwecke gewährt werden. Neben den Rechten der Betroffenen sind stets auch die Rechte Dritter zu berücksichtigen. Über Gesuche zur Einsicht entscheidet das Staatsarchiv auf der Grundlage des Archivgesetzes.15 Ein kleinerer Teil der Unterlagen ist bereits heute wegen abgelaufe-


ner Schutzfristen ohne weitere Auflagen einsehbar. Dieser wird sich in den kommenden Jahren schrittweise erhöhen. Etwa Mitte des 21. Jahrhunderts werden die meisten personenbezogenen Schutzfristen abgelaufen und die Unterlagen weitgehend frei zugänglich sein. Ein erheblicher Teil der noch vorhandenen Fichen und Dossiers umfasst die Jahre nach der Vernichtungsaktion von 1960/61. Gleiches gilt für zahlreiche Fotografien.16 Dieser Teil der Unterlagen ist bisher mit wenigen Ausnahmen nicht detailliert erschlossen und folgt dem Aktenplan des Spezialdienstes vom 1. Februar 1964, erweitert am 1. Mai 1969.17 Erschlossen und im Archivkatalog recherchierbar sind hingegen Dossiers, die der Spezialdienst nach 1962 in grösseren zeitlichen Abständen aus der laufenden Ablage entfernte, da die betroffenen Personen verstorben waren.18 Zu diesem Personenkreis zählen zahlreiche führende PdAMitglieder der 1950er- und 1960er-Jahre, wie zum Beispiel Emil Arnold, über den 104 Fichen, auf Vorder- und Rückseite eng beschrieben, angelegt wurden, aber auch Personen wie der Basler Polizeioffizier Josef Böswald, der während des Zweiten Weltkriegs für den Sicherheitsdienst der SS als Informant arbeitete.19 Ebenfalls bereits erschlossen und recherchierbar sind ältere Sachakten, die 1961 nicht entsorgt wurden. Sie waren nach dem Aktenplan des Spezialdienstes vom 3. Juli 1958 geordnet. Im Archivkatalog des Staatsarchivs ist der gesamte Aktenplan abgebildet, damit wird das breite Betätigungsfeld des Staatsschutzes in den 1950er-Jahren veranschaulicht. Die als leer gekennzeichneten Positionen fielen der Aktenvernichtung zum Opfer. 20 Hinzu kommen Monats- und Quartalsberichte von Spezialdienst und Bundespolizei aus den Jahren von 1946 bis 1989. 21

Aufgefundene Mikrofilme Schon seit dem Untersuchungsbericht von 1991 war bekannt, dass die Fichen des Spezialdienstes erstmals 1959 – also vor der grossen Vernichtungsaktion – mikroverfilmt worden waren. Später folgten weitere Verfilmungen, die letzte 1979. Die Filme übergab der Spezialdienst dem Delegierten für wirtschaftliche Kriegsvorsorge beim Bund zur Einlagerung. Dies wurde stets sorgfältig dokumentiert. Allerdings hat niemand notiert, dass ein Satz der Filme auch beim Spezialdienst in Basel verblieb. Weder im Untersuchungsbericht noch im Dossier des Spezialdienstes zur Mikroverfilmung der Kartothek findet sich darauf ein Hinweis. 22 So fielen die beiden ‹Blechkassetten›, die 1994 mit den vorhandenen Fichen und Akten den Weg ins Staatsarchiv fanden, nicht weiter auf. Das Dossier zur Verfilmung war nicht bekannt, es ruhte wie alle Staatsschutzakten zunächst in einem Magazinraum des Staatsarchivs, zu dem nur wenige Personen Zutritt hatten. Wegen der für diese Unterlagen vom Regierungsrat festgelegten dreissigjährigen absoluten Schutzfrist bestand auch kein unmittelbarer Handlungsbedarf. Die Blechkassetten blieben verschlossen, niemand prüfte genauer ihren Inhalt. Die implizite Schlussfolgerung des Untersuchungsberichtes, die Fichen aus der Zeit vor der Vernichtungsaktion von 1960/61 seien weitgehend vernichtet, wurde ungefragt übernommen. Erst als das Dossier Ende 2017 bei einer anderweitigen Recherche im unerschlossenen Bestand zufällig zum Vorschein kam, ergab sich der Zusammenhang mit den Blechkassetten und ihrem Inhalt. Dieser umfasst 65 Filmrollen, 19 aus dem Jahr 1959, 12 aus dem Jahr 1961, 4 aus dem Jahr 1963, 6 aus dem Jahr 1965 und jeweils 12 aus den Jahren 1970 und 1979. 23

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