Kultur digital

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Kultur digital —— Begriffe Hintergründe Beispiele Migros-Kulturprozent Christoph Merian Verlag


Kultur digital — Begriffe Hintergrßnde Beispiele

Herausgegeben von Hedy Graber, Dominik Landwehr und Veronika Sellier im Auftrag des Migros-Kulturprozent Mitherausgeber Peter Haber und Claudia Rosiny Christoph Merian Verlag



Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Hedy Graber Die Herausgeber Dominik Landwehr

Geleitwort Vorwort Digitaler Wandel

Hintergründe

Knut Hickethier Georg Christoph Tholen Peter Haber Aleida Assmann Marc Grellert Christiane Heibach Klaus Siebenhaar Felix Stalder Martin Warnke

Kultur im Umbruch Kulturelle Zäsuren Computer-Utopien Tontafeln halten länger Synagogen digital erinnert Schreiben digital Medien – Industrie – Publikum Ungleiche Vielfalt Ästhetik des Digitalen

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Beispiele

Peter Haber Dominik Landwehr Thomas Meyer Philipp Schnyder von Wartensee Thomas Burkhalter David Meili Hansmartin Siegrist Lukas Bangerter Claudia Rosiny Reinhard Storz Meret Ernst Meret Ernst

Google – das Buch im Datenmeer Bibliothek – morgen ist schon heute Klassik – alles beim Alten? Pop ohne Grenzen

161 169 183 193

Zum Beispiel – arabische Musik Fotografie – nur noch digital? Digitales Kino Theater – Slave oder Master? Körper – Tanz – Technik Kunst – Medien – Games Architektur – visualisierte Ideen Design – kühne Entwürfe

205 219 231 249 261 275 287 297

Helge Kaul Raphael Rogenmoser, Mirko Vaiz, Christian Zwinggi Philippe Bischof Peter Haber Dominik Landwehr Emanuel Meyer Tabea Lurk, Jürgen Enge

Web 2.0 – mehr als Hype? Praxis der Sozialen Netze

305 317

Kulturpolitik 2.0 Neue Werkzeuge E-Books – ein Selbstversuch Copyright – Recht und Unrecht Umgang mit digitalen Daten

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Bildnachweis Biografien Impressum

382 383 384

Praxis

Anhang

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Inhaltsverzeichnis

Begriffe

Analog /Digital Archiv Code Computer Datenbank Datenträger Download EFernsehen Formate Fotografie / Film Games Hack Hardware / Software Hypertext Informationsgesellschaft Internet Interface Kompression Medienkunst Mobiles / Mobilität Open Source Original / Kopie Ortung Prosumer Radio Retrodigitalisierung Sampling Simulation Speicherung Suchmaschinen Urheberrecht Video Virtualität Wearables Web 2.0

Alle Begriffe wurden von Verena Kuni verfasst. Ihre Biografie findet sich auf Seite 383.

191 72 144 55 71 85 192 347 248 168 229 286 143 370 104 35 119 295 218 285 316 369 133 259 327 203 167 217 103 181 339 357 247 273 260 315



Geleitwort

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Wir sind in einer Gesellschaft angekommen, in der neue Informations- und Kommunikationstechnologien unser Leben tief grei­ fend prägen. Der digitale Alltag ist Realität, und in den Künsten sind neue Medien längst zur Selbstverständlichkeit geworden. Diese Entwicklung hat auch ihre Spuren bei uns hinterlassen: Das Migros-Kulturprozent fördert das künstlerische Schaffen im Bereich digitaler Kultur als Schwerpunkt seit 1998. Die Veranstaltungsreihe ‹digital brainstorming› etwa verfolgt die Spuren dieses Medienumbruchs und erforscht mit dem Publikum neue Gestaltungs- und Ausdrucksmöglichkeiten. Der Medien- und Roboterwettbewerb ‹bugnplay› erlaubt es Jugendlichen, auf spielerische Weise den Umgang mit neuen Medien zu testen. Mit unseren ‹Werkbeiträgen Digitale Kultur› haben wir ein Fördergefäss gefunden, das den Bedürfnissen der Kunstschaffenden Rechnung trägt. Die Veränderungen, wie wir sie durch die digitalen Medien erleben, prägen aber nicht nur die digitale Kultur und Medienkunst im engeren Sinn – sie betreffen das Kulturschaffen in seiner ganzen Breite, von der Produktion über die Verbreitung bis zur Vermittlung. Diese Veränderungen zu dokumentieren und auf einer diskursiven Ebene zu reflektieren, ist Ziel der vorliegenden Publikation. Mit der Herausgabe eines Buches mit Texten zum Einfluss der Digitalisierung auf einzelne Kultursparten geben wir der interessierten Leserschaft einen Einblick in den aktuellen Stand der Diskus­ sion. Wichtig ist uns dabei, die Komplexität der Fragestellungen zur Diskussion zu stellen mit dem Wissen, dass diese weder einfach noch abschliessend beantwortet werden können. Die Digitalisie­ rung unseres Alltags entwickelt sich weiter, und wir sind gespannt zu sehen, welchen Einfluss sie in Zukunft auf die Produktion, Rezeption und Vermittlung der Künste haben wird. Vorerst wünsche ich Ihnen eine gute Lektüre und vertiefende Einblicke in die Her­ausforderungen, welche die digitale Kultur an die Künste und die Gesellschaft stellt. Hedy Graber, Leiterin Direktion Kultur und Soziales Migros-Genossenschafts-Bund



Vorwort

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Welche Auswirkungen hat die Digitalisierung der Kultur für Produ­ zenten, Vermittler und Konsumenten? Das vorliegende Buch sucht auf vier Arten eine Antwort: Den Kern bilden erstens eine Reihe von Fallstudien; eine Ergänzung dazu bieten zweitens Es­says. Diese vermitteln gedankliche Werkzeuge, die zu einem ver­tief­ten Verständ­ nis verhelfen sollen. Drittens versucht dieses Buch, Hilfen zur Bewältigung des digitalen Alltags im Bereich des Kulturschaffens, Kulturmanagements und der Kulturver­mittlung zu geben. Dazu zählen Fragen um das Urheberrecht, um Speicherung oder den Einsatz von Sozialen Netzwerken. Vier­tens sind Schlagworte zum Thema in den Text eingestreut, eigent­lich eine kleine Enzyklopädie der Digitalisierung. In vielen Fällen verstecken sich hinter den Begriffen grundlegende kulturelle Konzepte, die in Arbeit und All­ tag eine Rolle spielen. Dass auch bei einem so breit angelegten Unternehmen viele Fragen offen blei­ben, ist nicht zu vermeiden. Einige davon sollen wenigstens an dieser Stelle gestellt werden: Wie verändern sich Inhalte der kulturellen Werke? Welche Folgen hat die wachsende Macht globaler Inhaltslieferanten wie Amazon, Apple und Google? Wohin führt der Dialog mit dem Publikum, zer­stört er nicht letztlich die Essenz des künstlerischen Werkes? Wo bleibt das Publikum für die explo­dierende Masse an Angebot? Wie gehen wir mit dem auf Knopfdruck verfügbaren Wissen um? Und schliesslich: What’s next? Was kommt nach dem Umbruch von heute? Zwar wurden die Auf­sätze in diesem Buch im Jahr 2011 niedergeschrieben. Das Kon­zept zum Buch ist aber das Resultat eines längeren Reflexionsprozes­ses, den die Herausgeber seit 2008 im ‹L’arc› in der Stille von Romainmôtier erlebt haben. Die im Waadtländer Jura gelegene Anlage ist Teil eines rund eintausend Jahre alten kluniazensischen Klosters und wird vom Migros-Kulturprozent seit 1994 als Ort der Reflexion genutzt. Eine vertiefende Dis­kussion darf kein Luxus sein, sondern ist gerade in unserer Zeit eine Notwendigkeit. Dazu will das vorliegende Buch beitragen. Hedy Graber, Dominik Landwehr, Veronika Sellier, Peter Haber und Claudia Rosiny



Dominik Landwehr

Digitaler Wandel

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Einleitung  —  Dominik Landwehr

‹Das Buch bleibt› – so titelt das Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung im Frühjahr 2011.1 Ist das nun eine nüchterne Feststellung oder nicht vielmehr ein trotziger Wunsch? Die offenen Fragen, die hinter dieser Aussage stehen, sind kennzeichnend für die gegen­ wärtige Situation rund um das kulturelle Schaffen im digitalen Zeitalter. Der Siegeszug der Digitalmedien verändert Produktions-, Distributions- und Vermittlungsprozesse. Nicht überall im glei­ chen Mass und nicht überall mit derselben Geschwindigkeit. Und die Reaktionen sind höchst gemischt – sie reichen von vorbehalt­ loser Zustimmung über Skepsis bis zu klarer Ablehnung. Dieser digitale Umbruch ist kein einmaliger Vorgang, sondern ein jah­re­ langer Prozess, dessen Auswirkungen gelegentlich auch Ermüdungserscheinungen bewirken, wenn man beispielsweise an die regelmässigen Systemwechsel bei den Geräten und Programmen denkt. Der Berliner Kulturwissenschaftler und Informatiker Wolfgang Coy hat die Situation humorvoll auf den Punkt gebracht: «Dass etwas geschieht, ist unbestritten. Was geschieht, wird al­ler­ dings sehr verschieden interpretiert … So wie es aussieht, müssen wir uns also auf lange Zeit in einer Folge von Beta-Versionen der Informationsgesellschaft einrichten. Wir können und wollen nicht zurück, und wir wissen doch nicht wirklich, wo es hingeht. Und wir wissen nicht einmal sicher, ob das Ganze die Mühe wert ist.» 2 Ein Ende der Entwicklung ist nicht abzusehen und die Auswirkungen lassen sich kaum überblicken. Einige Gedanken zu dieser Situation sind heute aber möglich: Wir erleben einen tief reichenden Wandel. Nicht eine einzelne Erfindung oder Entwicklung hat diesen Wandel ausgelöst, sondern ein ganzes Bündel von Entwicklungen, eine komplexe Technologie in deren Zentrum die digitale Informationsverarbeitung steht. Sie ergreift und trans­ formiert unsere Lebenswelt, unsere Arbeit und damit auch das kulturelle Schaffen und die Vermittlung kultureller Werke. Und sie umfasst alle Generationen. Wer heute zwanzig ist und zu den ‹Digital natives› gehört, mag die Tiefe der Umwälzungen anders erfahren als ein Siebzigjähriger, ein ‹Digital immigrant›:


Digitaler Wandel

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«Ich habe in meinem gesamten Leben keine Veränderung erfahren, die so allumfassend war wie diejenige durch das Internet.» Dies gab der 74-jährige Musiker Philip Glass, einer der Pioniere der Minimal Music, bei seinem Besuch in Zürich im Frühjahr 2011 zu Protokoll.3 Die Umwälzungen der digitalen Revolution sind allerdings nicht so plötzlich über uns gekommen, wie es manchem Zeitge­ nossen scheinen mag: Zwar hat sich der Rhythmus der Entwicklung drastisch beschleunigt, seit mit dem Personal Computer Mitte der 1980er-Jahre die Digitaltechnologie auch im Alltag sichtbar wurde. Zehn Jahre später wurden die Computer durch das Internet zu einem gewaltigen, allumfassenden Netzwerk und mittlerweile sind diese miteinander verbundenen Geräte so klein, dass sie in unsere Hosentaschen passen. Der Computer ist dabei längst mehr als ein Schreib- und Rechenknecht; er ist zu einem Universalmedium geworden, das zumindest scheinbar alle übrigen Medien in sich vereinigt. Die Computer-Revolution begann nicht erst Mitte der 1980er-Jahre. Ihre Anfänge reichen weiter zurück und umfassen die logischen Theorien der Mathematiker Charles Babbage (1791 – 1871), George Boole (1815 – 1864) und Alan Mathison Turing (1912 – 1954). Turing hat 1932 in seinem Aufsatz ‹On Computable Numbers› 4 die mathematischen Grundlagen der Digitaltechnik for­muliert; ohne die bahnbrechenden Arbeiten von Briten und Ame­­ rikanern rund um die Entzifferung der legendären ‹Enigma› und anderer Chiffriermaschinen im Zweiten Weltkrieg wäre die Com­puterrevolution am Ende des 20. Jahrhunderts auf der Stre­cke geblieben. Und die Wurzeln reichen noch tiefer in die Ge­ schichte, wenn man an die Rechenmaschinen von Leibniz, an die Walzen und Glockenspiele, an die Lochkarten der Webmaschinen denkt. 5 Obschon man sich vor der Vorstellung einer unaufhaltsam fortschreitenden, sich gleichsam veredelnden Geschichte des gesellschaftlichen und technischen Fortschrittes hüten muss, 6 steht auch diese Entwicklung im Kontext einer säkularen Tendenz der Neuzeit. Ihr Primat heisst Rationalität und Kalkül und in ihrer


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Einleitung  —  Dominik Landwehr

Welt erhält das Individuum einen stetig wachsenden Platz. Dazu zählt bereits die Erfindung des Buchdrucks um 1450. Nur kurze Zeit zuvor waren die ersten mechanischen Uhren konstruiert wor­ den. Uhr und Buchdruck prägen noch heute die Welt. 7 Bezeichnend für den Siegeszug der digitalen Medien ist, dass wir ihn nicht passiv-duldend oder nur als Zeugen erleben; wir sind gleichzeitig Akteure in diesem gesellschaftlichen Prozess. 8 Und als solche verfügen wir über Möglichkeiten, die wir kaum je aus­ schöpfen können. Noch nie war es so einfach, kulturelle Werke zu schaffen, mögen dies Bücher, Filme, Musik oder Theaterstücke sein. Noch nie war es so einfach, auch die kleinsten kulturellen Nischen zu pflegen und zu bewirtschaften. Die Ökonomen nennen dieses Phänomen ‹Long Tail›9, der Volksmund sagt treffender ‹Kleinvieh macht auch Mist›. Die digitale Revolution gibt uns Ins­ trumente in die Hand, von denen noch vor wenigen Jahrzehnten nicht einmal die Spezialisten zu träumen wagten. Das führt zu einer Verwischung der ehemals festen Grenzen zwischen Amateuren und Profis. In der Popmusik lässt sich dies besonders eindrücklich beobachten: Im Nachwuchswettbewerb ‹Demo Tape Clinic› des Clubfestivals ‹m4music› 10 des Migros-Kulturprozent etwa glänzen immer wieder neue Bands mit ausdrucksstarker und origineller Musik, die nicht selten in Heimstudios produziert und abgemischt worden ist. Die Entmaterialisierung von kulturellen Werken bewirkt eine nie da gewesene Verfügbarkeit. Die Rollen von Händlern, Dis­ tributoren und Aggregatoren verschwimmen und neue, global agie­ rende Konzerne treten an die Stelle von Verlagen, Labels und Vermittlern. Drei Namen werden immer wieder genannt: die Such­ maschine Google, deren gigantische Digitalisierungsinitiative Google Books in den Bibliotheken weltweit wohl nur den Anfang einer viel grösseren Entwicklung darstellt, der Versandbuch­ händler Amazon, der bereits heute mehr Umsatz mit elektronischen Büchern macht als mit gedruckten, und die Computerfirma Apple, deren Download-Dienst I-Tunes heute das wohl wichtigste Musikportal weltweit darstellt. 11 Dass keine globale Kontrolle


Digitaler Wandel

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flächendeckend greift, beweisen die Popularität und die Kontroverse um Online-Tauschbörsen. Kontrovers – und dies nicht nur rechtlich sondern auch ethisch – wird etwa die Frage beurteilt, ob es in Ordnung sei, sich digital gespeicherte Musik, Bücher und Filme gratis aus dem Internet zu besorgen. Das Subjekt erhält neue Möglichkeiten und einen globalen Handlungsradius. Gleichzeitig gelangen neue Akteure in den Fokus, deren Ziel die totale, globale Kontrolle über Inhalte ist. Wem angesichts solcher Entwicklungen nicht schwindlig wird, der ist entweder ein unverbesserlicher Optimist oder vollkommen reali­ tätsblind. Die digitalen Medien bieten nicht nur neue Distributions-, sondern auch neue Kommunikationsmöglichkeiten. Die Sozialen Netzwerke ermöglichen nicht nur einen neuen Dialog mit dem Publikum, sondern auch einen Dialog unter dem Publikum. Das ist grundsätzlich neu: Hier spricht nicht mehr eine Person zu vielen, hier sprechen viele Personen zu vielen. Was sind die Folgen dieser neuen Formen des Dialogs in einer Kulturwelt, die von Ange­ botsorientierung und dem Intendantenmodell geprägt wurde? Zwar können die Sozialen Netzwerke jene medialen Utopien kaum einlösen, die Bertolt Brecht bereits in den 1930er-Jahren in seiner Radiotheorie beschrieb, als er forderte, der Rundfunk sei von einem Kommunikations- in einen Distributionsapparat zu verwan­ deln. 12 Aber die digitalen Öffentlichkeiten des Web 2.0 sind heute überall relevant – in Gesellschaft, Politik und Kultur.13 «Video killed the radio star», singt die Popgruppe ‹The Buggles› in ihrem Song von 1979 und bringt damit eine gängige These vom Konkurrenz-Verhältnis der verschiedenen Medien auf den Punkt. Die Realität mag komplexer sein, dennoch scheint die Entwicklung der letzten beiden Dekaden dieser trivialen Einsicht Recht zu geben. Wenn Buch, Film, Fernsehen, Radio und Telefon in einem Apparat aufgehoben sind, dann spielen die alten Medien und Apparate zwangsläufig eine neue Rolle; der Computer ist zum Leitmedium der Gegenwart geworden. Die Konvergenz der Medien schafft die alten Medien trotzdem nicht ab – das mag über etwaige Verlust­


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Einleitung  —  Dominik Landwehr

ängste hingwegtrösten. Sie ermöglicht ganz im Gegenteil einen neuen Blick auf diese: Plötzlich ist von der Haptik des Buches die Rede, werden die Vorzüge von Zelluloid und Analogfilm sicht­bar, im digitalen Zeitalter klingen die alten Synthesizer von Bob Moog besser und wärmer und die Sammler von alten Apparaten, vom Röhrenempfänger über das Tonbandgerät bis zur Polaroid­ ka­mera, haben Hochkonjunktur.14 Selten haben sich Künstlerinnen und Künstler so stark für die analogen Medien interessiert wie heute; das zeigt auch die Liebe zum Selbstgemachten, die Bedeutung von ‹Do-it-yourself-Kunst›. 15 Eine Folgerung drängt sich auf: Ge­gensätze sind nicht immer wirklich gegensätzlich. Analog und digital sind zwei Formen, die sich nicht notwendigerweise gegenseitig ausschliessen. Dasselbe gilt für Neugier und Skepsis. Die Digitalisierung von Alltag und kultureller Welt ist eine Tatsache. Wir tun gut daran, in der Auseinandersetzung damit sowohl Revolutionsrhetorik als auch Weltuntergangspessimismus beiseite zu lassen und stattdessen eine neugierige Skepsis oder eine skep­ tische Neugier walten zu lassen. Es mag nicht angebracht sein, schon im einleitenden Aufsatz eine Art Zwischenbilanz zu ziehen. Die Versuchung ist trotzdem da: Die Digitalisierung hat unsere Welt – und damit auch die Welt der Kultur – grösser und reicher gemacht. Aber auch unüber­ sichtlicher und komplexer. Und sie hat uns Wahlmöglichkeiten er­öffnet, von denen die letzte Generation nicht einmal zu träumen wagte. Ist sie auch besser geworden, diese neue Welt? Ist es nur der Schreibende, der manchmal eine leise Sehnsucht spürt nach der Zeit, als er seine Seminararbeiten in nächtelanger Fleissarbeit mit der mechanischen Schreibmaschine abtippte, als Gefühle auf Papier gebannt und mit der Post viel zu langsam befördert wurden, als im Fotolabor fleckige und gewellte, selten perfekte SchwarzWeiss-Abzüge entstanden und im Kassettenrekorder die Hits von gestern über den Lautsprecher schepperten? Dominik Landwehr ist Herausgeber des Bandes. Seine Biografie findet sich auf Seite 383.


Anmerkungen

Literatur

1. Meyer, Martin: Das Buch bleibt. Lesen im digitalen Zeitalter. In: Neue Zürcher Zeitung Nr. 118 vom 21.5.2011, S. 57. 2. Coy 2005. 3. «Die Arbeit darf nicht zu leicht werden.» Interview mit Philip Glass. In: Tages-Anzeiger vom 18. Mai 2011. http://www.tagesanzeiger.ch/kultur/ klassik/Die-Arbeit-darf-nicht-zu-leichtwerden-/story/15435630. 4. Turing 1987. 5. Tholen 2002, S. 184. 6. Zielinski 2002, S. 10f. 7. Hörisch 2004, S. 132. 8. Sievers, Norbert: Kulturpolitik in der digitalen Gesellschaft. In: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 131 IV/2010, S. 42 – 47. http://www.kupoge.de/kumi/pdf/ kumi131/kumi131_42-47.pdf. 9. Anderson 2007. 10. www.4music.ch. 11. Heute heisst das Zauberwort ‹Download›, morgen ‹Streaming›. Und auch dafür ist I-Tunes besser gerüstet als jedes andere Musikportal. 12. Der Begriff ‹Radiotheorie› bezeichnete nicht einen einzelnen Aufsatz. Bertolt Brecht hat sich verschiedentlich mit dem damals neuen Medium Radio befasst und immer wieder darüber geschrieben. 13. Münker 2009, S. 132. 14. Landwehr 2007. 15. Landwehr 2006 sowie Landwehr/Kuni 2010.

Anderson, Chris: The Long Tail – der lange Schwanz. Nischenprodukte statt Massenmarkt. Das Geschäft der Zukunft. München 2007. Coy, Wolfgang: Internetgesellschaft Version 0.9 Beta. In: Gendolla, Peter: Wissensprozesse in der Netzwerkgesellschaft. Bielefeld 2005. Hörisch, Jochen: Eine Geschichte der Medien. Von der Oblate bis zum Internet. Frankfurt am Main 2004. Landwehr, Dominik: Mythos Enigma. Die Chiffriermaschine als Sammler- und Medienobjekt. Bielefeld 2007. Landwehr, Dominik/Kuni, Verena: Home Made Electronic Arts. Basel 2010. Münker, Stefan: Emergenz digitaler Öffentlich­ keiten. Die Sozialen Medien im Web 2.0. Frankfurt am Main 2009. Sievers, Norbert: Kulturpolitik in der digitalen Gesellschaft. In: Kulturpolitische Mit­teilungen Nr. 131 IV/2010, S. 42 – 47. http://www.kupoge.de/kumi/pdf/ kumi131/kumi131_42-47.pdf. Tholen, Georg Christoph: Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen. Frankfurt am Main 2002. Turing, Alan M.: Collected Works. Amsterdam 1992 (Erstausgabe 1937), Band 1. Auf Deutsch: Turing, Alan M.: Über berechen­ bare Zahlen mit einer Anwendung auf das Entscheidungsproblem. In: Ders.: Intelligence Service. Berlin 1987. Warnke, Martin: Theorien des Internet. Zur Einführung. Hamburg 2011. Zielinski, Siegfried: Archäologie der Medien. Zur Tiefenzeit des technischen Hörens und Sehens. Hamburg 2002.

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Hintergründe

Geschichte  Utopien  Erinnern  Schreiben  Kultur  Demokratie  Ästhetik

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Knut Hickethier

Kultur im Umbruch

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Hintergründe  —  Knut Hickethier

Wie tief greifend ist der Einschnitt, den die Digitalisierung der Kultur bedeutet? Seit den letzten zwanzig Jahren ist wiederholt von medialen Revolutionen die Rede gewesen, und in der Tat hat sich im Rückblick unser Kommunikationsverhalten durch die technischen Apparate sehr verändert. Aber, historisch betrachtet, gab es auch schon früher Zäsuren im Mediengebrauch. Wie stellt sich die Digitalisierung der Kultur vor dem mediengeschichtlichen Hintergrund dar? Digitalisierung und Medialisierung der Kultur Die Digitalisierung der Kultur ist Teil der allgemeinen Medienent­ wicklung und Teil eines umfassenderen Prozesses der Verände­ rung der Kultur. Hinter dem vieldeutigen Begriff der Kultur stehen letztlich zwei Grundauffassungen: zum einen ein engeres und älteres Verständnis, das mit ‹Kultur› letztlich künstlerische Artefakte, also Literatur, bildende Kunst, Musik, Theater, vielleicht noch Film und Architektur meint; zum anderen ein umfassenderes, jün­ geres Verständnis, dass auch unsere Lebensweise, die Alltagsor­ ganisation, das zwischenmenschliche Miteinander als zur Kultur gehörig zählt. Dieser Dualismus beginnt in der aktuellen Ent­ wicklung der Digitalisierung zu verschwimmen und unscharf zu werden, denn die Digitalisierung ist nicht nur auf den engeren Bereich der individuellen und gesellschaftlichen Kommunikation, also auf das, was gemeinhin als ‹Medien› bezeichnet wird, be­ schränkt, sondern ist sehr viel umfassender. Die durch technischapparative Medien bedingten neuen Formen der medialen Re­ präsentation verändern unseren gesamten Alltag. Sie verändern die Organisation unseres individuellen Lebens, das Lernen in den Kindergärten, der Schule und Hochschule, sie verändern die gesellschaftliche Administration, die Politik und vor allem auch die wirtschaftliche Produktion, die Herstellung von Waren, den Handel und den Vertrieb. Kaum ein gesellschaftlicher Bereich bleibt unberührt. Individuelle Verabredungen werden mehr und mehr per E-Mail, Handy und Twitter getroffen, Menschen


Kultur im Umbruch

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tauschen sich über Facebook, Twitter und andere elektronische Dienste aus. Viele informieren sich im Internet, über Google, steuern Wikipedia an, surfen in speziellen Wissens-Communitys, schreiben Texte mit digitalen Schreibprogrammen, fügen Bil­ der ein, setzen Töne hinzu und verschicken alles per E-Mail an Adressaten. Es entstehen ganz neue mediengestützte Gemein­ schaften, es etabliert sich eine neue Form des Sich-öffentlich-Dar­ stellens und nicht immer sind sich alle Mediennutzenden der Konsequenzen, die das haben kann, bewusst. Wissenschaft ist heute ohne die digitalen Informations­­ver­ ar­beitungen nicht mehr denkbar. Sie könnte ohne digitale Pro­ gramme keine Gen-Analyse betreiben, keine Klimaforschungs­ modelle simulieren. Keine Weltraumexpeditionen sind ohne digitale Programme denkbar und selbst die Geisteswissenschaften setzen mehr und mehr auf die digitale Zugänglichkeit der ge­ schriebenen Bücherwelten sowie auf digitale Analysesoftware. Die wissenschaftliche Arbeit hat sich verändert, viele Informationen sind leicht zugänglich, nicht alle aber halten auch der genauen Prüfung stand. Das eigene Forschen, Reflektieren und Nachdenken geht andere Wege, aber es ist weiterhin unumgänglich. Am anderen Ende der Skala der gesellschaftlichen Felder, auf die die Digitalisierung einwirkt, stehen politische und ökono­ mische Beschleunigungen. Die revolutionären Entwicklungen der letzten Jahre in verschiedenen Ländern wären ohne die digitale Kommunikation per Mobiltelefon und Internet nicht so erfolg­ reich gewesen – auch wenn die Prozesse durch diese nur beschleu­ nigt wurden: Die Revolutionen in den arabischen Ländern, die Unruhen im Iran und in anderen Staaten sind keine Handy- oder Facebook-Revolutionen. Die Zunahme digitaler Kommunikation ist nicht die Ursache der Revolutionen. Diese liegt weiterhin in so­­zi­ alen Missständen, in der Unterdrückung, und es sind konkrete Anlässe – wie zum Beispiel die Selbstverbrennung von Menschen aus Protest gegen erlittenes Unrecht – die ein Zeichen setzen und den Funken bedeuten, der das Feuer des Aufstands entzündet. Die neuen digitalen Informationen beschleunigen die Verständigung


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Hintergründe  —  Knut Hickethier

Ägypter fotografieren einen in Brand gesetzten Polizeiposten bei der Sultan Hassan al-Rifai Moschee im Zentrum von Kairo am 28. Januar 2011.


Kultur im Umbruch

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