Culturescapes Island: Zwischen Sagas und Pop

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zwischen sagas und pop

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herausgeber culturescapes mitherausgeber kateryna botanova jurriaan cooiman florence croizier ursula giger verlag christoph merian verlag

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zwischen sagas und pop

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inhalt

Zu diesem Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

i gedacht Das doppelte Trojanische Pferd – Über ‹Culturescapes› . . . . . . . . . . 17 Unbekannte Landschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

Emily Lethbridge Islands narrative Landschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Reinhard Hennig Die Bedeutung der mittelalterlichen isländischen Literatur für die Umweltdiskussion der Gegenwart. . . . . . . . . . . . . . . 45

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ii geschrieben Horizonte – Eine Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37

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Lukas Rösli Die verschachtelten (Text-) Welten der altnordischen Mythologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Gauti Kristmannsson Die (leicht) verborgene Literaturgeschichte Islands . . . . . . . . . . . . . . 69 Jürg Glauser Die Sehnsucht nach Landschaft

.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ástráður Eysteinsson Die Suche nach Island . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Andri Snær Magnason Römm er sú taug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Katrín Jakobsdóttir Kultur als verlässlichster Kitt der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Emilie Mariat-Roy Analyse über die marinen Ressourcen in Island 1990–2010 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Mona De Weerdt Über das zeitgenössische isländische Tanzschaffen . . . . . . . . . . . . . . . 131 Monika Gradalska Der isländische Film der grossen und kleinen Literaturgeschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Matthias Wagner K Isländereien – von Sehnsucht, Sagas und Design .. . . . . . . . . . . . . . . . 153 Hallgrímur Helgason Die wunderbaren 7% – Für Kunst eintreten in einer Zeit der Not . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161


iii gesichtet Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 iv gemacht Keep Looking . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Interviews – Was es bedeutet, Künstler oder Künstlerin in Island zu sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Icelandic Love Corporation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Ragna Róbertsdóttir . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Egill Sæbjörnsson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Einar Falur Ingólfsson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 Andri Snær Magnason . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Anna S. Þorvaldsdóttir . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 Yrsa Sigurðardóttir . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 Daníel Bjarnason .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Sóley Stefánsdóttir . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 Pétur Thomsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 Jón Gnarr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 Agenda: ‹Culturescapes Island› 2015 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237

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inhalt

v anhang Karten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schweiz – Island in Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Biografien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Weiterlesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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kateryna botanova jurriaan cooiman florence croizier ursula giger

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ie Topografie Islands scheint mit Historie und Fiktion un­ t­ren­nbar verwachsen zu sein. Die Geschichte und die Ge­ schichten der Insel offenbaren sich in den Bergen, im Wasser, im Wind – und in den Wörtern. Vor allem dort. Der isländische Literaturnobelpreisträger Halldór Laxness bezeichnete die Land­ schaft als einen ‹Sagaraum›, da jeder Fjord, jedes Tal und jeder Fluss mit den mittelalterlichen Sagas verbunden sei. Seit den Anfängen der Besiedelung der Insel durch norwegische Wikinger um das Jahr 870 n. Chr. geniesst die Kunst des Erzählens höchstes Ansehen. Durch mündliche Überlieferung wurden die eigenen Geschichten weitergegeben, bis sie Jahrhunderte später in etlichen Varianten niedergeschrieben wurden. Diese Sagas und die in den verschiedenen Eddas überlieferten Erzählungen der nordischen Mythologie bilden die Grundlage der isländischen Literaturtradition, die wegen ihrer umfassenden Überlieferung in mittelalterlichen Handschriften eine einzigartige Stellung in der Weltliteratur einnimmt. Die Literatur ist Islands älteste und bis heute einflussreichste Kunstform. Nicht nur Schriftsteller, auch Komponistinnen, Maler und Filmemacherinnen

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der Gegenwart finden bei den Saga-Helden, in den Rímur-Klängen und den Göttergeschichten Inspiration. Die meisten Kunstformen haben sich in Island aus Mangel an Ressourcen jeglicher Art vergleichsweise spät entwickelt. Es fehlte an Know-how fehlte und angesichts des stetigen Überlebenskampfs auch schlicht an Musse. Der Mangel an lokalen Traditionen ist sicherlich ein Grund für die eigenwillige Entwicklung, die viele Kunstsparten in jüngster Zeit erfahren haben. Islands Kunstschaffende können dadurch kreativer, chaotischer und freier experimentieren. Der Umstand, dass die raue Natur den Isländern manche Prüfung auferlegt, mag ebenfalls zur Entwicklung solcher Ansätze beigetragen haben. Immer bedroht von Naturkatastrophen, hat die stark bäuerlich geprägte Bevölkerung gelernt, auf sich selbst zu vertrauen und eigene Ideen umzusetzen. Bedenkt man die rasante Entwicklung, die das Land erfahren hat – bis Anfang des 20. Jahrhunderts lebten die Isländer in Torfhäusern –, erstaunt und fasziniert die Vielfalt der zeitgenössischen Kunstszene um so mehr. Island ist ein Hot­ spot – der Geologie wie auch der Kreativität. Da Island ein verhältnismässig junger Staat ist, wurden viele kulturelle Institutionen erst spät gegründet. Zwischen 930 und 1262/64 war die Insel ein unabhängiger Freistaat, geriet dann jedoch unter norwegische, später unter dänische Herrschaft. Mehrere Jahrhunderte stand Island kaum in Kontakt mit anderen Ländern, da Dänemark den Handel seiner Kolonie vollständig kontrollierte und somit fast jeder Entwicklung im Wege stand. Die Isländer verstanden sich aber stets als zusammengehöriges, einst freies Volk – wegen ihrer eigenen Sprache und ihrem ausgeprägten Geschichtsbewusstsein. Das führte nach langem Unabhängigkeitskampf 1944 zur Deklaration der Republik Island und somit zur erneuten Eigenständigkeit. Nach der Staatsgründung etablierten sich auch die öffentlichen kulturellen Institutionen. Das Nationaltheater und das Symphonieorchester wurden 1950 gegründet, Kunstschulen entstanden erst in den letzten Jahrzehnten. Die Geschichte der Kunst in Island ist entsprechend überschaubar, in dieser kurzen Zeitspanne ist allerdings ein singuläres Verständnis des künstlerischen Schaffens entstanden.


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Die 13. Ausgabe des Festivals ‹Culturescapes› nimmt die Insel im Nordatlantik in den Fokus und gibt sich damit eine neue Blickrichtung: Bisher war es der Osten, heuer ist es ein Land, das durch sein Inseldasein und seine Lage am westlichen Rand Europas eine besondere Position einnimmt. Die ungewöhnliche Dynamik dieser Insel wirft die Frage auf, woher die reiche Kunstszene mit ihren unermüdlichen Protagonisten ihre Inspiration nimmt. Mit dieser Publikation erhält das Publikum die Gelegenheit, das Phänomen Island besser zu verstehen. Diese Annäherung steigt bei der grundlegenden Frage ein, wie die Menschen ihre Zugehörigkeit zu einer Region, einer Stadt oder einem Herkunftsland definieren. Dabei werden Fragen nach der Identitätsfindung aufgeworfen und Wurzeln vor dem Hintergrund der vorgefundenen Landschaft und Sprache ergründet. Im weiteren Sinne steht der Begriff der Sprache hier auch für Traditionen, ästhetische Praxen und Historiografie. Denn Geschichtsschreibung ist in diesem Kontext auch Geschichtspolitik, wie wir sie in Schulbüchern und anderen kanonisierten Formen der Identitätsbildung vorfinden. Den Herausgeberinnen des vorliegenden Buches ist es ein Anliegen, dem Kunstschaffen des heutigen Islands und seinen Inspirationsquellen, Intentionen und Hintergründen eine breite Plattform in Text und Bild zu bieten. Teil ‹I – gedacht› präsentiert zum ersten Mal in der ‹Culturescapes›-Reihe den konkreten Hintergrund dieses Festivals. Neben Gedanken zu dessen Ansatz und Zukunft werden auch allgemeine Überlegungen zur Motivation von Kunstschaffenden in Europa angeführt. Dabei sind insbesondere jene Werke interessant, die Fragen nach dem Stellenwert kultureller Identitäten neu stellen. Teil ‹II – geschrieben› widmet sich Island: In ihren Beiträgen geben isländische und internationale Autorinnen dem Leser Einblick in die gegenwärtige und mittelalterliche Literatur und in die jüngeren Sparten Tanz, Film, Design und bildende Kunst. Die Bildstrecke mit Werken von Pétur Thomsen, Einar Falur Ingólfsson, Ragna Róbertsdóttir, Egill Sæbjörnsson und anderen in Teil ‹III – gesichtet› eröffnet einen Bildraum, der die Insel als eine Landschaft reflektiert, die sich verstörend verändert oder überwältigend imposant präsentiert. Einen Eindruck von der aktuellen Befindlichkeit der isländischen

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Kulturszene erhalten die Leserinnen schliesslich in den Interviews mit namhaften isländischen Künstlern in Teil ‹IV – gemacht›. Diese Statements und Reflexionen erhalten durch die Porträts der Illustratorin Lóa Hlín Hjálmtýsdóttir ein Gesicht und runden den Parcours durch Islands Kulturlandschaft ab. Das Zustandekommen dieser Publikation verdanken die Herausgeber zahlreichen Mitwirkenden. Besonderer Dank gebührt allen Autorinnen und Autoren, allen Fotografen, den Künstlerinnen und Künstlern, Ragnar Helgi Ólafsson für seine hervorragende Buchgestaltung, Tristan Simme für das Lektorat und die Übertragungen aus dem Englischen, den Übersetzerinnen Maja Egli, Sabine Leskopf, Caroline Weps und Rosi Widmer, sowie Oliver Bolanz und Claus Donau vom Christoph Merian Verlag. Allen, die sich im Hintergrund am Gelingen dieser Publikation beteiligt haben, sei an dieser Stelle ebenfalls von Herzen gedankt. Wir wünschen dem Leser und der Leserin eine bereichernde Lektüre und viel Freude beim Entdecken der Insel im Nordwesten.


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I gedacht

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das doppelte trojanische pferd über ‹culturescapes›

jurriaan cooiman im gespräch mit kateryna botanova

kb:

Seit zwölf Jahren ist er das Gesicht des Festivals. ‹Culture­ scapes› entstammt seiner Idee, änderte sich mit ihm und kommt mit einem biennalen Rhythmus in eine neue Phase. Dieses Gespräch mit Jurriaan Cooiman scheint nötig, geradezu unausweichlich, um die Ursprünge des Festivals, seine besondere Aufmerksamkeit für verschiedene Kulturen, und, besonders wichtig, die Bedeutung dieser Kulturen für die Menschen zu verstehen.

Ausgangspunkt für mich war meine Neugierde nach anderen Kontexten und Konstellationen, nach Dingen, die sich anders verhalten. Mit all den Recherchen und Reisen werden sie immer mehr Teil von mir. Nach 12 Jahren ‹Culturescapes› sehe ich, wie sich bestimmte Dinge wiederholen. Überall gibt es ein Sediment von kultureller Aktivität, der Menschenleben, der Künstler und ihrer Arbeiten. Nicht alle Künstler werden weltweit bekannt. Einige sind besonders wichtig für die Menschen, die sie als ‹ihre› Künstler sehen. Dieses Sediment gibt es auf der ganzen Welt – in China wie in

gedacht

jc:

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Island. Wir brauchen es wie Sauerstoff zum Atmen. Menschen brauchen kulturelle Bezugsrahmen, um in der Realität weiter zu kommen, diese aufzugreifen und zu verändern, die Worte der vergangenen Generationen weiterzugeben. Auf eine Art ist es überall so, selbst in sehr traditionellen Gesellschaften wie der japanischen, in der ein grosser Kontrast zwischen Tradition und Moderne existiert. Es ist eine menschliche Natur, die zu diesem Rucksack an Bezügen führt. Ich nehme meinen Rucksack mit bei meiner Erforschung verschiedener Gesellschaften und entdecke dort neue Rucksäcke.

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jc:

Du beschreibst zwei Arten von Zugehörigkeit. Eine ist bestimmt durch eine vertikale, intergenerationelle Verbindung, sie überträgt sich durch das Gedächtnis und wird durch Künstler übertragen und weitergegeben. Die andere ist der Rucksack, die menschliche Natur, die universell ist. Wie sind diese beiden verbunden? Und welche Rolle spielt Gesellschaft dabei?

Ich interessiere mich für Gesellschaft als offene Form, nicht definiert durch Grenzen und Steuerzahler. Selbstverständlich spielt der Staat eine Rolle, indem er das Leben in der Gesellschaft organisiert und bündelt, aber auf Grundlage dessen können sich vielfältige kulturelle Differenzen und Positionen ergeben. Alle Grenzen wurden einst geschaffen – sei es durch Geschichte, Kriege oder Natur. Aber innerhalb dieser Grenzen können sich verschiedene Formen von Gesellschaften entwickeln. Einige versuchen die Grenzen und die Geschichte zu hinterfragen, andere instrumentalisieren sie. All das ist ein Spiel mit kultureller Identität, an dem alle beteiligt sind, weil es hier kein Eigentum gibt. Deshalb ist es so einfach, hier mitzumischen. Alle sind Teilhaber, solange sie sich beteiligen. Die menschliche Natur beinhaltet ein Bedürfnis, das für alle gleich ist, nämlich das Bedürfnis nach Entwicklung. Die Fähigkeit sich zu entwickeln ist das wertvollste Kapital un-


kb:

Siehst du die Herausforderungen, die der gegenwärtige Aufstieg des Nationalismus dafür bedeutet? Ist nicht Nationalismus die andere Seite der Medaille?

jc:

Die Geschichte lehrt uns, dass während einer Globalisierung die Teile des Globus, die das Spiel verlieren, ein stärkeres Bedürfnis nach Nationalismus zeigen. Die Gewinner, die immer grösser werden, die nach ihren Regeln handeln können, die einen besseren Zugang zum Kapital haben, scheren sich nicht darum, sich selbst etwas zu beweisen oder sich von anderen abzugrenzen. Aber die, die schwächer werden, schau-

gedacht

serer Zeit geworden – dazu gehört die Fähigkeit, Dinge zu erfinden und Dinge anders zu betrachten. Genau das ist es, was ich unter dem horizontalen, unserem gemeinsamen Teil von Zugehörigkeit, verstehe. Der vertikale Teil ist folglich, die Bedingungen für die Entwicklung dieses Bedürfnisses zu ermöglichen. Diese sind die Wurzeln, an denen Menschen – zumindest für den Anfang – arbeiten müssen. Diese Wurzeln sind gleichermassen Begrenzung und fruchtbarer Boden, ohne einen Widerspruch darzustellen. Sie sind eine Begrenzung, über die diskutiert, gegen die rebelliert oder die abgelehnt werden kann, aber nur solange man sich über diese Begrenzung im Klaren ist. Aber solange dies nicht der Fall ist, weiss man nicht, wer man wirklich ist. Während des Festivals sprechen wir dieses Thema indirekt an, nicht unmittelbar. Wir präsentieren kulturelle Phänomene, doch damit diktieren wir keineswegs eine bestimmte Betrachtung, sondern ermöglichen vielmehr eine Gelegenheit, ein Konzept – unser Wissen zu Gesellschaft, Kultur oder Land – zu betrachten und zu verändern. Auf einem höheren Level fragen wir jedoch auch: Warum haben Menschen überhaupt Grenzen? So sind die universellen und kulturellen Aspekte verbunden, aber für mich hat die Verwurzelung eine grössere Rolle, ein grösseres Gewicht. Dies mag sich in der Zukunft ändern.

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en nach Unterstützung in der Einzigartigkeit der Kulturen. Wir erleben dann tiefe Traumata und Verdrängungen als Resultat, nicht notwendigerweise aus der Vergangenheit, aber auch aus der Gegenwart mit ihren enormen Ungleichheiten. Nichtsdestoweniger ist Verwurzelung, besonders im Gegensatz zu Globalisierung, nicht per se schlecht. Sie ist eine Tatsache, zu der man sich sein Leben lang verhält. Sie bietet die Möglichkeit zu wachsen, aber auch zu entwachsen oder die Reichhaltigkeit der Vergangenheit, die Geschichte zu schätzen, aber auch sich zu bewegen, zu verändern und etwas Neues zu schaffen. kb:

Wäre es dann richtig zu sagen, dass die Verwurzelung dann produktiv ist, wenn Individuen und Gesellschaften diese als Herausforderung verstehen?

jc:

Vielleicht ist es nicht so einfach. Wenn du sagst, dass du die Herausforderungen siehst, impliziert dies bereits eine innere Distanz. Und um eine innere Distanz zu schaffen, musst du reisen – innere wie äussere Reise –, um den Grund zu sehen, auf dem du stehst.

kb:

Ist es das, was du mit ‹Culturescapes› verfolgst – das Reisen und die Gelegenheit, den eigenen Grund zu sehen, in Teile Europas zu bringen, die in gewisser Hinsicht vor einiger Zeit mit dem Reisen aufgehört haben?

jc:

Es war nie eine bewusste Wahl, etwas hierher zu bringen, was hier fehlt. Es war vielmehr Ausdruck meines Wunsches, die Welt differenzierter zu betrachten. Und dafür brauchst du mehr Wissen und Erfahrungen, beispielsweise eine Reise zum und über den Eisernen Vorhang hinaus. Die Welt wäre einfacher – die beiden Seiten und ihre Differenzen. Beide waren eine Einheit und sind nun zwei Seiten, auch wenn die eine Seite fragmentierter ist als die andere. Aber alles differenziert sich mehr und mehr aus in der Gegenwart – die Länder in


kb:

Was sind diese tieferen Ebenen, die du deinem Publikum zeigen möchtest?

jc:

Störungen, Fragen, Veränderungen. Ich suche idealistisch nach einer besseren Balance zwischen den Reichen und Armen, dem Norden und Süden, dem Osten und Westen, denen, die haben, und denen, die nicht haben. Wenn es ein stärkeres Bewusstsein für dieses gäbe, würden sich die Dinge

gedacht

einzelne Regionen und Städte. Ich folge dieser Entwicklung mit einem veränderten Fokus des Festivals hin zu Regionen, wie bei dem Balkan-Festival oder einzelnen Städten wie mit Moskau oder Tokio. Und dieses Jahr ist es mit Island eine Insel geworden. Vielleicht ist der Begriff der Verwurzelung nicht mehr so relevant in der Gegenwart. Vielleicht sollten wir mehr über Anker nachdenken, die wir hochzuziehen und an eine andere Stelle zu bewegen versuchen. Vielleicht ist das ein angemessener Weg, all das zu betrachten. Auf der anderen Seite arbeite ich selbstverständlich für und mit dem Schweizer Publikum. Aber ich denke, ich mache es anders, weil ich als Niederländer selbst ein Fremder hier bin. Gibt es Vorteile, eine fremde Kultur als Fremder zu präsentieren? Vielleicht sollten wir Positionen und Perspektiven öfter austauschen. Wie wäre es zum Beispiel mit einem fremden Kurator, der mit Schweizer Künstlern während des Festivals arbeitet? Das wäre ein interessantes doppeltes Trojanisches Pferd. Das Schweizer Publikum fragt sich oft selbst, wenn es auf etwas Neues schaut: «Aber wir haben keine Tradition dafür, wir kennen das nicht gut.» Die Gefahr ist also, zu einer Dekoration zu verkommen oder dem Publikum nicht die Gelegenheit zu geben, zu sagen «Oh ja, das kennen wir». Ich möchte eine Ebene tiefer gehen, aber das ist sehr schwierig. Alles ist definiert in diesem Land, alles hat eine Funktion. Es gibt keine Zwischenzonen. Die Schweiz hat nicht das definiert, was hinter der Hülle streckt. Vielleicht ist das sehr symbolisch.

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dann anders verhalten? Können wir uns dann von dem überbordenden Konsumismus, der die Schultern des mächtigen Westens bewohnt, befreien und Werte und Unterstützung teilen?

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Kehrst du zurück zur Universalität?

jc:

Es gibt einen Weg von der Verwurzelung zur Universalität, aber man kann dabei nicht einzelne Stufen überspringen. Eigene Wurzeln bedeuten nicht, nicht universell sein zu können, aber keine Wurzeln bedeuten, dass du es nicht kannst. Wir müssen uns damit auseinandersetzen, wer und wie wir sind, und daraus heraus einen bewussten Schritt hin zum Gemeinsamen machen. Um genau dieses Level beim Publikum zu erreichen, benötigen wir mehr Übersetzung und Transformation von Idee­n in Möglichkeiten des Verstehens. Bis jetzt war das Festival sehr offen in Bezug darauf, aber es ist noch viel zu tun. Es wäre eine interessante Idee für die nächsten Festivals, zwei oder drei Länder in einer Festivalausgabe zu bündeln, um einen Dialog zwischen diesen zu ermöglichen. Vielleicht könnte dies Aspekte wie Zugehörigkeit, Wurzeln oder Anker, Macht und Manipulation, Universalität und gemeinsame Werte expliziter machen. Die Schweiz könnte in einem solchen Szenario die dritte Teilnehmerin sein. ‹Culturescapes› hat es bis jetzt immer geschafft, wichtigen Veränderungen und Entwicklungen in Europa zu folgen – sei es die Revolutionen in Georgien und in der Ukraine 2003 und 2004, sei es die Krise in Moskau zu Beginn der 2010er, sei es Island, das es durch die gewaltige Krise 2008 schaffte. Vielleicht erlaubt eine Bewegung hin zu einem offenen Dialog zwischen den Kulturen nicht eine Rückschau, sondern eine Vorwegnahme dessen, was in Europa passieren sollte. Aus dem Englischen von Tristan Simme


unbekannte landschaften

kateryna botanova

gedacht

S

o reich an Eindrücken und beeindruckend sich unsere gegen­ wärtige Welt darstellt, fühlen wir uns gleichwohl oftmals verloren, wenn wir uns mit den verschiedenen Kulturen und historischen Kontexten konfrontieren. Überladen mit all der Vielfalt von Wissen, Positionen, Wahrnehmungen und auch Realitäten, ziehen wir uns an den sichersten und uns bekanntesten Ort zurück – unsere eigenen kulturellen Identitäten. Besonders Mutige indes hören nicht auf und versuchen sich selbst durch die vielfältigen Schichten verschiedener kultureller Kon­texte zu navigieren, dabei halten sie Ausschau nach Grenzen und Bedeutungen, gegen die das Selbst sich bestätigen kann. Und die Tapfersten wagen nicht nur auf die Kontexte zu schauen, die die kulturellen Identitäten konstruieren, sondern bestreiten, hinterfragen und dekonstruieren diese. Letztere sind oftmals Künstler. Diese Reisenden, die – Marco Polo gleich – Aufzeichnungen und Spuren hinterlassen, benötigen eine beachtliche Kühnheit. Ganz grundsätzlich müssen diese Reisenden der Welt mitteilen, dass die Überzeugung, wonach alles bereits geöffnet und entdeckt sei, nicht nur falsch, sondern vielmehr irreführend ist; dass der Überschuss an

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Informationen nicht notwendigerweise auch den Zugang zu denjenigen nach sich zieht; dass die kulturelle und politische Weltkarte – löst man sich einmal von Stereotypen und Clichés – ungemütlich weiss aussieht. Des Weiteren sagt die Reisende, der Reisende im Grunde: alles, was wir über uns selbst wissen, trifft nicht mehr zu. Die Sicherheit, dass die Welt von Elefanten und Schildkröten getragen werde, ist so stark erschüttert worden, dass zu hoffen ist, sie für immer los zu sein. Vor über 60 Jahren, im Jahr 1959, schrieb Czesław Miłosz über all dies in seinem tiefgründigen und feinen Ausflug zur Bedeutung von Zugehörigkeit – ‹West- und Östliches Gelände›. Leider enthält weder die englische noch die deutsche Übersetzung den Originaltitel, der ‹Das familiäre Europa› oder ‹Europa als Familie› bedeutet und in gewissem Sinne eine weitere Lesart des Buch erschliesst – nämlich als eine Beschreibung der gründlichen Erforschung von Identität und Zugehörigkeit, die untrennbar mit den immensen Transformationen in Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbunden ist. Die rotierende Erdkugel ist sehr klein geworden, und – geographisch gesprochen – gibt es keine ungefärbten Gegenden mehr. In Westeuropa hingegen gilt man schnell als Gast aus Septentrion, wenn man aus den grösstenteils unbereisten Gegenden im Osten oder Norden kommt, über die nur eines bekannt ist: es ist kalt dort. … Zweifelsohne könnte ich Europa mein Zuhause nennen, doch wäre es ein Zuhause, das sich selbst weigert, sich als Ganzes anzuerkennen. Wie oft bin ich stumm geblieben, weil ich – der ich eben aus jenen nebligen Weiten stamme, über die Bücher, selbst Lehrbücher, kaum Informationen liefern (oder wenn sie doch Informationen dazu geben, dann falsche) – sonst ganz von vorne hätte anfangen müssen … Der erste Keim dieses Buches damals war es daher, Europa den Europäern näher zu bringen.1

60 Jahre sind vergangen und der Globus ist wesentlich kleiner geworden, aber zwei Tatsachen haben sich grundsätzlich nicht geändert – Entfremdung und die Notwendigkeit einer (Wieder-)Öffnung


gedacht

Europas für Europäer und Europäerinnen. Beides hat nach 1989 enorm an Dringlichkeit gewonnen. Der Fall des Eisernen Vorhangs, die Wiedervereinigung Deutschlands, wiedererlangte und neu etablierte Unabhängigkeit für einige osteuropäische Staaten, ihre Aufnahme in die EU in ihrer gegenwärtigen Form und die Balkankriege mit ihren Folgen – all diese Ereignisse änderten nicht bloss die politische Karte Europas, sondern schufen vielmehr neue Voraussetzungen für die Herausforderung, wie die Zugehörigkeit auf dem ganzen Kontinent neu empfunden werden soll. Auf die eine oder andere Weise hat Milosz’s ‹Septentrion› die Grösse und Form von ganz Europa angenommen. Es sind bisher kaum Bücher zu den Migrationsbewegungen der Menschen innerhalb Europas verfügbar, zu ihrer neuen Heimat an Orten, an denen sie zuvor nicht gelebt hatten und die sich zuvor nicht um die Existenz dieser Menschen geschert haben. Die andere Seite der Migration war der Anstieg lokaler Nationalismen – eine neo-romantische Welle, die die Staaten zurück ins 19. Jahrhundert und in die Euphorie der Bildung von Nationalstaaten wirft. Basil Davidson beschrieb einen aufbauenden, vereinenden Nationalismus in seinem Werk über die Überwindung des Kolonialismus ‹Africa in Modern History›, der die Zusammengehörigkeit und die Existenz einer Gemeinschaft erneuert, nach ideologischen Pfeilern sucht und nach einer neuen Einheit strebt, «die grösser ist als die vorherige».2 Die (wieder-)konstruierten oder (wieder-)bestätigten kulturellen Identitäten versprachen Freiheit und Ermächtigung und boten einen scheinbar sicheren Raum, in dem die Historien endlich eine Stimme bekamen, Schmerzen betrauert und Dinge geäussert wurden. Damit entstand eine neue Dringlichkeit für den von Milosz geäusserten Wunsch, ganz von vorn zu beginnen, um nicht verstummen zu müssen. Die kulturellen Identitäten verdeutlichten auch die Grenzen des Wissens der Europäer über sich selbst und ihre Nachbarn, die nicht mehr bequem als schweigende Fremde wahrgenommen werden konnten. Archive wurden geöffnet, die konfliktreichen und überlappenden Geschichten kamen an die Oberfläche gegenwärtiger Politik,

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um angefochten und nicht notwendigerweise einfach befriedet zu werden. Wenn wir auf die Kehrseite der Medaille von 1989 schauen, erblicken wir die grossen Herausforderungen bezüglich Schutz und Sicherheit. Die umgeschüttelte und gedrehte Realität hat Protektions­ mechanismen mit neuen Abgrenzungen, Mauern und Grenzen hervorgerufen und konstruiert, um das zu schützen, was noch stabil und sicher wirkte. Der Schatten von 1989 brachte die bereits zuvor viel diskutierte Globalisierung in den Alltag der Menschen in Europa. Was Milan Kundera kurz vor 1989 eine Einheit der Menschheit nannte, «in der niemand irgendwohin fliehen muss», wurde eine alltägliche Realität, wo nicht nur Informationen unausweichbar wurden, sondern auch die Menschen selbst.3 Zygmunt Bauman dagegen hebt mehr auf die Entfernung ab, die zwischen der Offenheit und neuen Freiheiten auf der einen, und dem Mangel an Sicherheit und damit einhergehenden Ängsten auf der anderen Seite besteht: Eine offene Gesellschaft ist Schicksalsschlägen ausgesetzt. Während die Idee einer offenen Gesellschaft ursprünglich für die Selbstbestimmung einer freien Gesellschaft, die die eigene Offenheit anerkennt, stand, zeigt sich in der Gegenwart für viele die beängstigende Erfahrung einer heteronomen, glückslosen und verletzlichen Bevölkerung, die sich mit Kräften konfrontiert sieht, gar von diesen überwältigt wird, die sie weder kontrolliert noch in Gänze versteht; eine Bevölkerung entsetzt wegen der eigenen Schutzlosigkeit und besessen von der Dichte der eigenen Grenzen und der Sicherheit für die Individuen innerhalb dieser Grenzen. Gleichzeitig sind es genau die Undurchlässigkeit der Grenzen und die Sicherheit innerhalb der Grenzen, die das Keuchen umgehen und schwer fassbar zu bleiben scheinen, solange der Planet allein einer negativen Globalisierung unterworfen ist (einer selektiven Globalisierung für Handel und Kapital). Auf einem negativ globalisierten Planeten kann Sicherheit innerhalb eines Landes oder einer Gruppe von Ländern nicht erreicht werden,


Was passiert, wenn Sicherheit nicht gewährleistet werden kann und die Offenheit der Grenzen zu einer Bedrohung verkommt? Was soll getan werden, wenn die Nationalstaaten darin verharren, innerhalb nationaler Grenzen zu agieren, und keine Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung finden? Bauman führt aus, dass bei einer Trennung von Staat und Macht der Staat nicht in der Lage ist, den Herausforderungen entsprechend zu reagieren. Staatliche Institutionen scheitern daran, sich um die realen Bedürfnisse der Gesellschaft zu kümmern, und werden nutzlos. Wenn die Macht zum Kapital wandert, weil dieses global agiert, wer bleibt dann übrig, um sich um die Ängste zu sorgen, die dadurch entstehen? In seinem Buch ‹Troubles Identity and the Modern World› schlägt Leonidas Donskis – im Rückbezug auf Baumann – ein Verständnis von Identität vor, das nicht nur zwischen dem ‹Sein› und dem ‹Sein-Sollen› vermittelt, sondern auch verbindet und versöhnt, was gegenwärtig getrennt ist: «Wahrheit und Wert, Vernunft und Tradition, Wissen und Gemeinschaft».5 Wo die Kluft zwischen Tradition – als unantastbarem kulturellem Kanon – und Realität – zwischen festgelegten Werten als Grundlage der Demokratie – und erreichten Werten sich vergrössert, steigt auch das Bedürfnis, die eigene Identität fortwährend zu artikulieren. Die Idee einer ‹Identität›, oder genauer: einer ‹kulturellen Identität›, die oftmals als unumgänglich dafür verstanden wird, innerhalb von Staatsgrenzen Einheit zu erzeugen, erscheint wie ein Sicherheitsnetz, das die im Strudel der Veränderung hin und her geworfenen Gesellschaften umgibt. Ein solches Netz scheint sowohl auf lokaler wie auf globaler Ebene zu funktionieren, betrachtet man die verschiedenen Teile Europas nach 1989. Auf der einen Seite kann man die auf der Nation aufgebaute kulturelle Identität im Sinne von Basil Davidson als ein Instrument der Versöhnung und der Wiederkehr des Gemeinsinns in unruhigen Zeiten verstehen. Die Begrenztheit dieses Instruments liegt in seiner

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geschweige denn versichert werden: nicht durch die eigenen Mittel alleine und nicht unabhängig von den Ereignissen auf der restlichen Welt.4

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Anfälligkeit für Nationalismus. Nationalistische Kulturen beruhen auf dem Begriff nationaler Identität, und nationalistische Politik ist stets Identitätspolitik, wie Edward Said in ‹Culture and Imperialism›6 schreibt. Der Grat zwischen einem versöhnenden oder rekonstruktiven Nationalismus, wie er besonders während der letzten 25 Jahre in Süd- und Osteuropa zu beobachten war, und einem essentialistischen, restriktiven Nationalismus ist äusserst schmal. Im Kern sind sie dasselbe, wobei sie die Instrumente der ‹Identität› und der ‹Identitätspolitik› auf unterschiedliche Weise einsetzen. Der Nationalismus des Widerstands (Frantz Fanon) erstreckt sich auf Gedächtnis und Geschichte, wo Kontinuität und Integrität verloren gingen oder zerstört wurden. Er schafft kulturelle Identität als Grundlage dafür, vergangene Wunden zu heilen und eine neue Zukunft aufzubauen. Dies hat sich in Ost- und Südeuropa seit den 1990er Jahren abgezeichnet. Der Ärger beginnt, wenn die Grundlage steif und selbstverherrlichend wird, wenn das Gedächtnis ein kultureller Kanon wird, der in Schulen eingetrichtert und in der nationalen Politik vorangetrieben wird. Bereits in seinem Buch ‹Die Verdammten dieser Erde› bietet Frantz Fanon, der viel beachtete und zugleich kontrovers diskutierte Kritiker des Kolonialismus, eine Perspektive: Solange nationales Bewusstsein im Moment seines Triumphs nicht in gesellschaftliches Bewusstsein umschlägt, kann die Zukunft keine befreiende sein.7 Das gilt nicht nur für anti-koloniale Bewegungen – zumindest die osteuropäischen Nationalismen waren zu Beginn anti-kolonial –, sondern für alle Befreiungsbewegungen. Kulturelle Identität ist gut als Schutzschild, solange sie nicht vor der Realität selbst schützt, bis man den Realitätssinn verliert. Solange sie nur als Zeitkapsel verstanden wird, die ‹das Beste von früher› bewahrt – bestimmte Handlungsketten, die als anonyme und zeitlose Entscheidungen betrachtet werden – ist sie vereinfachend und begrenzend. Sie bringt uns in die vormoderne Tradition, da wir innerhalb von Entscheidungen leben, die bereits für uns getroffen wurden: durch Kultur, Sprache und die Geschichte. Wie kann diese fatale Voreinstellung von Bedingungen nationalkultureller Identität überwunden werden? Wie kann ‹nationales Be-


... Benjamin sah in Klees Bild, was dort tatsächlich gar nicht aufgezeichnet oder abgebildet war. Stattdessen las er ‹Angelus Novus› allegorisch und mit klar historischem Blick, während er sich einer anderen Katastrophe gegenübersah, die sich

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wusstsein› zu ‹gesellschaftlichem› werden? In seinem Buch ‹Exit, Voice und Loyalität› schreibt Albert Hirschman über die (Identitäts-) bedingungen, die verändert oder nicht verändert werden können. Einige soziale Bedingungen können leicht in Bewegung versetzt werden, während das bei anderen – wie der Familie, der Religion oder (manchmal) dem Land – nicht so ist. Wenn also Veränderungen erwünscht sind, die innerhalb eines gewissen Rahmens vollzogen werden müssen, so entspricht dies einer ‹voice option› – einer Option zu kritisieren und bestimmte Veränderungen zu fordern sowie Möglichkeiten und Strategien anzubieten.8 Kulturelle Identität kann und sollte also als eine Gegebenheit verstanden werden, die eine ‹voice option› beinhaltet und voraussetzt, selbst aber bereits eine solche ‹voice option› darstellt, die Veränderungen anbietet für grössere Einheiten wie etwa Staaten oder Politik im Allgemeinen. Künstlerische Praktiken sind einer der wichtigsten Wege, kulturelle Identität als ‹voice› zu verstehen und auszuüben. Sie erlauben alternative Visionen und Lektüren des kulturellen Kanons; sie können ihn herausfordern, in Frage stellen, manchmal nachhaltig erschüttern. Sie loten die Grenzen der kulturellen Identität aus, der Machtpolitik und des darin enthaltenen Verstummens und der verschiedenen Ausgrenzungen. Gleichzeitig sind es die künstlerischen Praktiken, die all dies in einer Art Sicherheitsmodus zu tun erlauben – in einer Weise also, die die Gesellschaften und ihre Identitäten nicht in Gefahr bringt oder angreift, sondern einen Raum des Zweifels und der Kritik eröffnet und darin alternative Szenarien anbietet und prüft. Okwui Enwezor, der Kurator der 56. Biennale in Venedig mit dem ambitionierten Namen ‹All the World‘s Futures›, bezieht sich in seiner Einleitungsrede auf Walter Benjamins ‹Geschichtsphilosophische Thesen›, in der Benjamin das Bild ‹Angelus Novus› von Paul Klee interpretiert.

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vor seinen Augen als immense Krise abspielte. Indem er den Bildgehalt als eben die Realität freilegte, die sich vor ihm entspann, und in der jene Welt aufgelöst wurde, die er bis dahin gekannt hatte, nötigt Benjamin uns dazu, die Repräsentationskraft neu zu überdenken, die der Kunst eigen ist. Seine Neuinterpretation der lebendigen Strichfigur im Zentrum der Klee’schen Komposition und des Schreckens in ihren Augen als ‹Engel der Geschichte›, zu dessen Füssen die Trümmer der modernen Geschichte immer neue Gipfel erreichen, bleibt ein anregendes Bild; wenn nicht für den Gehalt, den das Bild tatsächlich enthält oder wiedergibt, so für die Art und Weise, in der Benjamin uns zeigt, dass Kunst auch eine Herausforderung sein kann, weiter und tiefer zu sehen als nur bis zur prosaischen Oberfläche der Dinge.9

Während es Enwezor durchaus gelang, die ‹Repräsentationskraft› von Kunst auf der Hauptausstellung der Biennale neu zu überdenken, so gelang ihm dies nicht – wie so vielen Kuratoren und Kurator­ innen vor ihm – in Bezug auf die Repräsentationskraft der nationalen Pavillons. Das erinnert daran, dass es nicht möglich ist, über Kunst als eine ‹voice option› zu sprechen, ohne diese als eine Repräsentation, und häufig eine Stabilisierung und Verstärkung nationaler kultureller Identität zu verstehen (ob gewollt oder nicht). Es ist leicht zu erkennen, dass nationale Interessen auf den Ebenen von Politik und Ökonomie zur Zeit nachhaltig in Frage gestellt, wenn nicht sogar angegriffen werden. Die gegenwärtige Krise in Griechenland ist nur ein weiteres Holzscheit in diesem Feuer, ebenso wie die russische Aggression von 2014, die von vielen – von Timothy Snyder bis Peter Pomerantsev – als die grösste Bedrohung Europas seit dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet worden ist. Was aber kulturelle und identitätsstiftende Politik angeht, so ist die See totenstill. Während die Repräsentationskraft und Instrumentalisierung von Kunst durch kritische Debatten dekonstruiert wird, ebenso wie Formen national-kultureller Identitäten, so werden sie doch in der Sphäre der Politik als eine Art letzte Bastion des Stolzes und Ruhmes wahrgenommen. Sei es inländische Kultur- und Bildungspolitik; sei


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es die auswärtige Politik der Europäischen Länder, einschliesslich der EU-Mitgliedstaaten; sei es das System nationaler Kulturinstitute als Werkzeug auswärtiger Politik mit dem Ziel der Verbreitung der nationalen Kultur, oder seien es internationale Messen oder Biennalen wie die bereits erwähnte Biennale in Venedig oder die Frankfurter Buchmesse: all diese Instrumente unterstützen oder zementieren nolens-volens ‹kulturelle Identität› in Form eines Kanons und einer Reihe von Grenzziehungen. Die sanfte Macht von Kultur und Identitätspolitik ist in einer Art Teufelskreis gefangen. Repräsentation wird zu einem Selbstzweck – die eine kulturelle Identität als etwas leicht von aussen Erkennbares und Lesbares vorführen will, als etwas Exklusives und Differenziertes, präsentiert sie zugleich einen selektiven, verdichteten, abgeschlossenen und widerspruchsfreien Kanon. Und umgekehrt. So wie innere und auswärtige Kulturpolitik heute betrieben wird, schafft sie selbst eine der wichtigsten Einschränkungen für die befreiende und ausdrucksstarke Wirkung kultureller Identitäten. Im starren Rahmen der Kulturpolitik werden die zentralen Identitätsfragen, die eine Vielzahl von möglichen Lesarten, Herausforderungen, Geschichten und Zukunft hervorbringen, zu blossen Markierungen, Labels und Handelsmarken. Dann wird aus Europa ein Flickwerk einzelner Örtlichkeiten, die annähernd gesehen und knapp gehört werden, aber nicht wirklich bekannt sind. Dieser Tage scheint Benjamins ‹Engel der Geschichte› an die Tore Europas zu pochen, während die Festung Europa nicht mehr existiert, da sie in sich selbst zerrüttet ist und interne Kämpfe austrägt. Das Bild eines Europa, das sich in eine Vielzahl mehr oder weniger bewehrter Festungen verwandelt, wirkt immer weniger absurd. Auf der verzweifelten Suche nach Sicherheit werden kulturelle Identitäten als Waffen zur Verteidigung in Stellung gebracht, statt als Mittel der Befreiung und der Eröffnung unterschiedlicher Wege in die Zukunft gesehen zu werden. Haben wir als Europäer noch immer die Wahl, wer und wie wir sein wollen? Vermutlich gibt es kaum einen besseren Zeitpunkt, um Europa den Europäern näher zu bringen.

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1

Milosz, Czeslaw: Native Realm: a search for self-definition. LA, London 1980, S. 2. (Übersetzung Tristan Simme)

2

Davidson, Basil: Africa in Modern History: The Search for a New Society. New York 1978, S. 156.

3

Kundera, Milan: L’Art du roman. Paris 1986.

4

Bauman, Zygmunt: Liquid Times. Living in an Age of Uncertainty. Cambridge 2007, S. 1. (Übersetzung Tristan Simme)

5

Donskis, Leonidas: Troubled Identity and the Modern World. Palgrave Macmillan, 2009.

6

Said, Edward: Culture and Imperialism. New York 1994.

7

Fanon, Frantz: Le damne de la Terre. Paris 1961.

8

Hirschman, Albert O.: Exit, Voice, and Loyalty: Responses to Decline in Firms, Organizations, and States. Cambridge 1970.

9

Enwezor, Okwui: All the World’s Futures… / http://www.labiennale. org/en/art/exhibition/enwezor/ (Übersetzung Tristan Simme)

Aus dem Englischen von Tristan Simme


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