StudiVersum #36

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AUS DEM LEBEN

VORTER DEM HAUS Manche Gespräche führe ich mit meiner Familie immer und immer wieder. Obwohl dabei gar nichts Neues rauskommt. TEXT JULIA KRÄTTLI

Durch langjährige Gesprächsarbeit haben sich die Fronten derart verhärtet und die Argumente sich so oft wiederholt, dass sie eigentlich gar nicht mehr ausgesprochen werden müssten. Wenn ich so darüber nachdenke, würde ein Stichwort für den Auftakt genügen – danach könnten alle schweigen und die zwangsläufig darauf folgende Unterhaltung innerlich geniessen. Aber nein! Viel zu schade wäre das! Schöne Eigenschaft des chronisch geführten Gesprächs ist ja gerade dessen Absehbarkeit. Kaum sagt bei uns ein Familienmitglied «Vor dem Haus...etc.», stellen sich bei den restlichen drei wohl wissende Gesichter ein. Im vollen Bewusstsein, dass der kurze Einwurf «Wo meinst du? Ach so, hinter dem Haus» eine Lawine von bereitstehenden Sätzen, Sticheleien, Überzeugungsversuchen und vielleicht, ja vielleicht sogar neuen Argumenten (oder wenigstens neuen Teilargumenten) auslösen könnte, die den ursprünglichen Gesprächszusammenhang von «Vor dem Haus...etc.» gnadenlos überrollen würde. Wohl wissend also, dass ein unbekanntes Gespräch ruck, zuck durch ein altbekanntes dahingemäht werden könnte, steigt die Spannung am Tisch (Dieses Gespräch wird meistens am Esstisch geführt. Wenn nicht dort, dann in der Küche. Küchen sind sowieso tolle Orte für Gespräche). Belustigung macht sich breit. Ein Kribbeln. «Ach so, hinter dem Haus.» – «Nein, vor dem Haus. Im Garten.» – «Ja, aber wir haben vor dem Haus keinen Garten, nur hinter dem Haus», (der Part meiner Mutter und mir). «Vorne ist dort, wo es schön ist, wohin das Haus ausgerichtet ist. Sowieso ist vorne immer im Süden und unser Garten ist im Süden, also vorne. Im Norden ist immer hinten», (der Part meines Vaters und meiner Schwester) – «Besucher kommen aber vorne durch die Eingangstüre hinein, gehen durch das Haus und kommen hinten in den Garten.» – «Ausser dem Briefträger hält sich doch eh niemand beim Eingang hinter dem Haus auf. Wir kommen ja auch immer von der Garage her durch den Garten ins Haus.» – «Schon, aber der Briefträger kann schliesslich nicht durch die Garage zum Hintereingang. Würde ihm auch nichts nützen, dort steht bekanntlich kein Briefkasten. Unser

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Briefkasten ist vor dem Haus…» Neulich führten wir dieses Gespräch im Haus einer Verwandten. Nach längeren Ausschweifungen meines Vaters über Nor-

den und Süden bei Grundstücken und Häusern, sowie Aussenaufenthaltsräumen im Süden, fragte er: «Ja, wo ist denn bei dir der Eingang?» – «Neben dem Haus.»

MEINE SOMMER-SONGS DES JAHRES UND WIESO In der Wirtschaftspolitik heisst es ja oft, man solle antizyklisch handeln. Was bietet sich für den anstehenden Winter also Besseres an als eine Liste mit dopen Sommersongs? Text Christoph Lutz

Broken Social Scene – Art House Director Keine Ahnung, worum sich dieses Lied dreht, nur soviel weiss ich: Es handelt sich um ausgezeichnete Trainings-Mucke. Sei es zum Krafttraining, Schach, Fallschirmspringen oder Dart: Mit «Art House Director» kann man nichts falsch machen. Mit «Art House Director» kann man natürlich auch nichts richtig machen. Denn wenn «Art House Director» läuft, läuft alles wie von selbst. Und das ist dann weder richtig noch falsch. Flying Lotus – Galaxy in Janaki Sonst steh ich zwar nicht auf psychotische und fricklige Sounds, aber hier passt das Getobe und Getöse wie die Faust aufs Auge: eine ratternde Mischung aus Dschungel, Disneyland und Stanzfabrik. Okkervil River – Westfall Auf dieses Lied bin ich zufällig gestossen. In der Bibliothek hat es mich von hinten gepackt, vom Stuhl geworfen und am Boden zertreten wie eine lästige Schabe. Und da liege ich nun, unfähig mich zu erheben. Der Song dreht sich um einen unmotivierten Mord aus Sicht des Mörders selbst. Er schildert seine Festnahme, wie all die Hausgänge gesichert sind, mindestens 20 Bullen, die ihn ins Gefängnis werfen werden. Und die Kamerablitze suchen das Böse im Gesicht, fahnden nach einer diabolischen Re-

gung in den schuldigen Zügen. Aber da gibt es nichts zu sehen, denn «evil don’t look like anything». Best Coast - Bratty B – When I’m with You Der Text ist scheisse, das Geschrammel unerträglich, die Stimme pennälerisch, das Schlagzeug auf billig getrimmt, alles auf den Effekt ausgerichtet... Und verdammt, ich liebe es! Wie man diese Songs findet? Man schreibt sich folgende Zeilen auf, einfach so, weil sie einem einfallen, nach einem langen Tag im Freibad: «Pick up the phone, I wanna talk about my day, it really sucked.» Dann googelt man danach, stösst auf diese Songs und liebt sie. Oder man schaut sich die last.fm-Profile 19-jähriger Indie-Girls an und sieht dort «Best Coast». Oder man stolpert darüber wie über einen abgefallenen Ast nach einem Sommersturm. Joanna Newsom – In California Das Gegenstück zum vorigen Eintrag: 5 Mal länger, 15 Mal komplexer und 55 Mal heavier-listening. Irgendwann ist es aber auf die gleiche Stufe runtergeschmolzen und das Mitsingen gestaltet sich genauso schwerelos. Bis dahin hat man einen langen Weg vor sich, aber keinen steinigen, und gelegentlich stösst man dabei auf einen im Sommersturm abgefallenen Ast, den man mit Leichtigkeit überhüpft.


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