Restauro 08/2015

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ZEITSCHRIFT FÜR KONSERVIERUNG UND RESTAURIERUNG

NO 8 2015

3-D und mehr Erhalt durch Digitalisierung

Pompeji Studenten retten die antike Stätte vor dem Verfall

Graz Die Technik einer bedeutenden Tiermalerin

Neubritannien Warum Tanzmasken nur einmal verwendet wurden


INHALT

TITELTHEMA: DIGITALE DOKUMENTATION Kommentar von Dr. Irmgard Christa Becker Digitale Archivare? Ein Berufsbild im Wandel

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Möglichkeiten der digitalen Rekonstruktion

Joerg Maxzin Habemus lucam 3-D-Technik verhilft Kulturerbe zu neuem Leben Nina Quabeck Vergänglichkeit digital begegnen Heike Schlasse Die Zukunft der Restaurierung ist digital? Zur Sicherung bauwerksbezogener Daten mit Hilfe digitaler Kartierungssysteme „Gegen digitales Vergessen“ Ein Interview mit Markus Hundemer vom Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege

GEMÄLDE UND PIGMENTE

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Restaurierung zwischen Farbe und Leinwand

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Paul-Bernhard Eipper Malmaterial, Malprozess, Maltechnik und Restaurierung Gemälde von Norbertine von Bresslern-Roth

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Stephanie Schwind Oberfläche und Tiefenschichten Zur Restaurierung eines Gemäldes aus dem „Siglo de Oro“

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Alexandra Nyseth Vier Rezensionen zu Materialien und Herstellungstechniken

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Ethnolgische Kunstwerke konservieren

Angelica Hoffmeister-zur Nedden Nur für einen einzigen Tanz Über die Restaurierung von Bainingmasken aus Neubritannien im Grassi Museum für Völkerkunde Melanie Korn Von Raupen, Dämonen und Vogelspinnen–Tanzmasken aus Rindenbast Boaz Paz, Elise Spiegel, Wigbert Maraun Kontaminiertes Kulturgut Ein ganzheitlicher Lösungsansatz

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Fotos (v. o. n. u.): Joerg Maxzin N. Lackner/UMJ; Kaspar&Lauterwald GbR

ETHNOLOGISCHE OBJEKTE


RUBRIKEN 6

KUNSTSTÜCK

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BLICKPUNKT Restaurierung in Pompeji Rahmengespräche Der Bart des Tutanchamun Salzburg: Auf zur Monumento

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LESERBRIEFE

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GEFÖRDERT VON

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BERUF

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TERMINE Ausstellung Veranstaltungen Impressum Vorschau Stellenanzeigen

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PORTRÄT

Titelmotiv

Foto: Joerg Maxzin

Das Titelmotiv zeigt den mit Hilfe von digitaler Technik rekonstruierten Kopf eines Stiers, der zur Lukasfigur in der Theatinerkirche in München gehört. Die Ergänzungen gingen in diesem Fall sehr weit, wurden jedoch für den Besucher kenntlich gemacht. Die Bedeutung digitaler Möglichkeiten im Bereich der Restaurierung nimmt zu – darum widmen wir dem Thema vier Beiträge.

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TITELTHEMA: DIGITALE DOKUMENTATION

Joerg Maxzin

Habemus lucam 3-D-Technik verhilft Kulturerbe zu neuem Leben

Mit den Worten „habemus lucam“ begrüßte der Kirchenrektor der Münchner Theatinerkirche bei einem feierlichen Festakt im Mai 2015 die versammelten Gäste. Was war geschehen? Nach siebenjähriger Forschungsarbeit war es dem Team das 3-D-Labors der Technischen Hochschule Deggendorf gelungen, die monumentale Holzskulptur des Evangelisten Lukas in der Münchner Theatinerkirche wieder zu vervollständigen. Im Zweiten Weltkrieg war die bedeutende frühbarocke Holzskulptur teilweise verbrannt. In einer Kombination aus traditionellem Bildhauerhandwerk und neuen 3-D-Techniken konnten die Fehlstellen nach historischen Fotos rekonstruiert, in Holz gefertigt und an der Figur montiert werden. Nun wurde die Figur enthüllt.

ABSTRACT Habemus lucam 3-D technology helps cultural heritage to new life In seven years of research, the 3-D lab team at Deggendorf Institute of Technology under direction of Prof. Joerg Maxzin succeeded in the completion of the monumental wooden sculpture of the Evangelist Luke in Munich Theatine Church. During World War II the figure was destroyed to about one third. The missing parts could be reconstructed by the use of the latest 3-D techniques. The supplements were crafted in wood and mounted on the figure. For the first time an innovative blend of traditional sculptural craft techniques and new methods of 3-D modeling and 3-D production was employed. On the 21st of May 2015, the completed statue was unveiled in the Theatiner Church in a ceremony.

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Die Belohnung für Geduld ist Geduld Wer eine schnelle Lösung sucht, findet in der modernen 3-D-Technik nicht unbedingt den erhofften Heilsbringer. Trotzdem eröffnen sich in fast unerschöpflichen Anwendungsszenarien neue Chancen und Möglichkeiten. Es ist ohne Frage lohnend, sich in die virtuellen Welten einzuarbeiten und sich mit den neuen Verfahrenstechniken vertraut zu machen. Aber es ist ein langer Prozess, der eine Unzahl neuer Herausforderungen mit sich bringt. Bei einem so umfangreichen Projekt wie der Ergänzung des Lukas aus der Theatinerkirche braucht man daher vor allem eines: Geduld. 2008 begannen die Arbeiten an der Figur im Rahmen eines Forschungsprojekts des 3-D-Labors der Technischen Hochschule Deggendorf. Die Figur war zu diesem Zeitpunkt bereits wieder zusammengefügt und in der Kirche aufgestellt worden (Abb. 2). In einem Artikel in der RESTAURO 5/2012 wurden die ersten Arbeitsschritte in dem Projekt geschildert.

Was war der Stand damals? Der gesamte, in der Kirche wiederaufgestellte Torso des Lukas, war mit einem Streifenlichtscanner millimetergenau digitalisiert worden. Die Daten standen daraufhin virtuell zur Verfügung und konnten im 3-DLabor weiter bearbeitet werden. Dort sollten an einem Modell nach historischen Fotos die Ergänzungen entstehen. Die Lösung bot damals ein 3-D-Druck, oder konkreter ein maßstäbliches Laser-Sinter-Modell aus weißem Polyamid, das eine exakte Miniatur des eingescannten Lukas bereitstellte. Dieses Modell wurde von Hand bildhauerisch ergänzt. Mittels Computertomografie wurde der „Bozzetto“ anschließend wieder digitalisiert. So standen die von Hand modellierten Ergänzungen auch digital zur Verfügung und konnten im virtuellen Raum verfeinert werden. Das war der Stand 2012. Die tatsächliche Fertigung der einzelnen, nachgebildeten Versatzstücke hatte noch nicht begonnen. 8/2015

Foto: Joerg Maxzin

Mit einem 3-D-Druck wurde die Passung einer modellierten Maske überprüft. Die Wand ist an einigen Stellen so dünn, dass die darunterliegende Holzkohle hindurchscheint.


DIGITALE DOKUMENTATION

ENTAR KOMM hrista Becker

ga Dr. Irm Vorteile der virtuellen 3-D-Modellierung Aber schon damals wurde deutlich, dass die Arbeit mit den virtuellen Modellen einige unschätzbare Vorteile mit sich brachte. Einer der größten Vorzüge bestand darin, dass viele Ergänzungen direkt aus historischen, digitalisierten Teilen der noch erhaltenen Ableithner-Skulpturen entwickelt werden konnten. Die nachgebildeten Ergänzungen orientierten sich damit so exakt wie möglich am Original. So entstand etwa das Modell für die verloren gegangene linke Hand des Lukas aus dem Scan seiner erhaltenen rechten Hand. Das Ausgangsmaterial für den fehlenden linken Fuß des Lukas stammte gar von einem Fuß des Evangelisten Johannes. Zweifelsohne bedurfte es einiger Anstrengung, um die Gliedmaßen gemäß der Fotovorlagen umzuarbeiten. Aber beispielweise das Spiegeln eines Datensatzes ist im 3-D-Raum mit einem Mausklick in Sekundenbruchteilen erledigt. Im realen Raum stellt das spiegelverkehrte Kopieren einer Vorlage selbst für einen erfahrenen Bildhauer eine immense, zeitraubende Herausforderung dar. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Skalieren, Drehen und Verschieben von Objekten. Ein virtuelles Modell kennt keine Masse, die kraftraubend bewegt werden muss. Will man ein Detail aus der Nähe sehen, muss keine Leiter erklommen werden, es genügt ein kleiner Dreh am Mausrad, um an die gewünschte Stelle am Objekt heranzuzoomen. Manche Dinge konnten überhaupt erst durch die Virtualisierung der Lukasfigur sichtbar gemacht werden. Fertigung und Montage Als alle zunächst von Hand modellierten Ergänzungen für den Lukas digitalisiert und in der 3-D-Modellierung verfeinert waren, begannen die eher ingenieurstechnischen Arbeiten. Alle Teile sollten auf einer CNC-Fräse vorgefertigt werden. In der Regel waren es überaus amorphe Formengebilde, die für die Fertigung mitunter virtuell aufgetrennt werden mussten (Abb. 3). Bisweilen wurden auch spezielle Frässtutzen konstruiert und an die einzelnen Modelle angefügt, damit die entsprechenden Holzrohlinge überhaupt in der Fräse eingespannt werden konnten. Für die Montage war es indes von entscheidender Bedeutung, herauszufinden, an welchen Stellen die Skulptur welche Stärken aufwies – zum Beispiel dann, wenn Verschraubungen geplant 8/2015

rd C

ist wissenschaftliche Archivarin und Leiterin der Archivschule Marburg – Hochschule für Archivwissenschaft.

Digitale Archivare? Ein Berufsbild im Wandel Digitale Langzeitarchivierung, digitalisierte Archivalien im Netz, Nutzung sozialer Medien, Verknüpfung der Online-Findmittel mit externen Netzressourcen – die digitale Welt ist in den Archiven längst angekommen. Sicherlich sind nicht alle Elemente in jeder Institution zu finden, eines oder mehrere Elemente aber in den meisten. Und das Berufsbild? Es folgt diesem Wandel! Archivarinnen und Archivare übertragen die in Jahrhunderten entwickelten archivarischen Aufgaben, Prinzipien und Standards in die digitale Welt. Sie entwickeln auf dieser Grundlage neue Methoden und Techniken, um digitale Archivalien zu bearbeiten und um die neuen Techniken in der Arbeit mit konventionellen Archivalien anzuwenden. Denn diese verschwinden ja nicht, sie müssen weiter für die Zukunft bewahrt und in der digitalen Welt nutzbar gemacht werden. Eine Trennung in Aufgaben für konventionelle und digitale Archivalien ist daher nicht sinnvoll. Archivarinnen und Archivare sind aufgefordert, mit Neugier und Offenheit auf die neuen Möglichkeiten der digitalen Welt zuzugehen und sie für alle Archivalien gewinnbringend zu nutzen.

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GEMÄLDE UND PIGMENTE

Paul-Bernhard Eipper

Malmaterial, Malprozess, Maltechnik und Restaurierung Gemälde von Norbertine von Bresslern-Roth

Norbertine von Bresslern-Roth (1891–1978) gilt als Österreichs bedeutendste Tiermalerin. Sie verwendete kompromisslos Malmaterialien, mit denen sie ganz bewusst freskale Effekte erreichen wollte. Mit der beabsichtigten Mattigkeit der Oberflächen steht sie für eine zu ihrer Zeit vorherrschenden malerischen Auffassung. 2016 zeigt die Neue Galerie Graz am Universalmuseum Joanneum eine große Retrospektive zu Werk und Leben der Künstlerin. Aus diesem Anlass wurden sämtliche der gezeigten Werke konserviert und restauriert.

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Die Malerin füllt zuvor angelegte Konturen

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Norbertine von Bresslern-Roth war mit sehr vielen Malmaterialien und -techniken vertraut und empfing prägende Eindrücke von ihren Lehrern Alfred Schrötter (Graz), Hans von Hajek (Dachau) und Ferdinand Schmutzer (Wien). Es sind von ihr Zeichnungen, Pastelle, Aquarelle, Linolschnitte, Illustrationen in (Schul-)Büchern, Miniaturen, Tempera-, Öl- und Wandmalereien sowie Mosaiken und Gobelinentwürfe überliefert.

Malmaterial In der Frühzeit ihres Schaffens verwendete Bresslern-Roth hauptsächlich kleinere, industriell grundierte Leinenstücke und befestigte diese auf einem Malbrett, worauf die Einstichlöcher und unbemalten Areale um diese herum hinweisen. Übermalte Gemälde finden sich bei ihr keine: Dies wäre ihrer malerischen Grundauffassung entgegen gelaufen. Zumindest ab den 1920er Jahren 8/2015

Fotos: GrazMuseum, Teilnachlass Norbertine Bresslern-Roth/Scan: Anna Kohlhauser, Neue Galerie Graz

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GEMÄLDE UND PIGMENTE Firnis als „konservatorische Maßnahme“? Beispiel für eine verunklärende, die ursprüngliche Intention der Künstlerin negierende Veränderung an einem Gemälde: Statt einer Reinigung wurde auf einem ungefirnissten Ölgemälde im Zierrahmen ein Firnis aufgetragen.

bezieht sie das Durchscheinen der Grundierung in die Bildgestaltung mit ein. Ihr Malmaterial ist stets von hervorragender Qualität. Nach eigenen Angaben grundierte sie ihre Gewebe und mischte ihre Farben bzw. stellte auch ihre Pastellkreiden selbst her. Die gängigen Bücher über Maltechnik dürften ihr bekannt gewesen sein (Doerner 1921, Wehlte 1938, Wehlte 1938a, Wehlte 1940, Wehlte 1967, Koch 1936).

Foto: Paul-Bernhard Eipper

Papiere Bei den Papieren schwankte Bresslern-Roths Materialauswahl: Neben qualitätvollen geschöpften Büttenpapieren1, die sie eher für Aquarelle und Gouachen einsetzte, finden sich bei ihren Skizzen mehrheitlich minderwertige, heute stark vergilbte Materialien von verschiedener Oberflächenbeschaffenheit und Dicke. Dies illustriert nach Ansicht des Autors auch die Wertigkeit, welche sie ihren Skizzen im Verhältnis zu ihren Ölgemälden beimaß – sie sah darin Vorstudien zu ihren Gemälden. Die für den Verkauf geschaffene Druckgrafik weist hingegen eine höhere und gleichbleibende Qualität der Papiere auf. Gewebe Verwendete sie anfangs feines, industriell vorgrundiertes Leinen, welches sie in der Folge durch körpergebundenes ersetzte, wechselte Bresslern-Roth nach 1920 zu eigens grundiertem Jutegewebe, welches zum Standard für ihr restliches künstlerisches Schaffen wurde. Man erkennt also eine zunehmende Tendenz, die Gewebestruktur als gestalterisches Element in die Malerei einzubinden. Jute gab der Künstlerin die Möglichkeit, raue Oberflächen zu erzeugen, die für ihre Malerei stilbildend sind. Insgesamt sind die meisten Gemälde in Öl auf grundierter Jute ausgeführt. Sie nagelte das ungewaschene Gewebe zunächst mit Spannägeln, welche sie mit Kartonscheiben gegen eventuelle Rostbildung unterlegte, gleichmäßig auf sehr stabile Keilrahmen auf (Abb. 2–4). Erst danach kam die Grundierung.

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Auf vielen Gemälden des Expressionismus finden sich heute von Restauratoren aufgebrachte Firnisse. Der Auftrag erfolgte auf diesen Gemälde als eine „konservatorische Maßnahme“: In den letzten beiden Jahrhunderten ging man davon aus, dass Bilder mehrere Jahre nach ihrer Entstehung „genährt“ werden müssten, um eine Craquelé-Bildung zu vermeiden. Leider wird diese Praxis auch heute noch praktiziert, obwohl bekannt ist, dass Klimaschwankungen für die Craquelé-Bildung verantwortlich sind. Manche Restauratoren waren und sind leider bis heute auch beim „Reinigen“ besonders schnell: Sie applizier(t)en auf eine originale, ungefirnisste, aber nach Jahren verschmutzte Oberfläche einen Firnis, zumeist ohne das Gemälde vorher aus dem Zierrahmen zu nehmen, und verkauf(t)en das Resultat als „ursprüngliche Frische der Oberfläche“. Leider wird auch bei dieser Maßnahme die künstlerische Ursprungsintention negiert. Anlässlich der Restaurierung der im Universalmuseum Joanneum befindlichen Gemälde von Norbertine von Bresslern-Roth wurden alle später aufgetragenen Firnisse wieder entfernt.

Grundierung Bresslern-Roth grundierte das Jute-Gewebe gleichmäßig und rasch mit selbstangerührtem, klumpenfreiem, warmem, ungeöltem Grund aus 1/3 Zinkoxid und 2/3 Calcit (Kreide), welcher mit einem Celluloseleim gebunden war. Löcher in der groben Webstruktur der Jute ließ sie bewusst offen. Die starke Saugfähigkeit des Grundes ergibt in Kombination mit den darauf vermalten mageren Ölfarben ohne Zusätze ein mattes, freskales Aussehen. Farben Bresslern-Roth präferierte helle und warme Farben, die ihrer Auffassung nach durch die Natur vorgegeben sind. Zu ihrem unverwechselbaren Malstil fand sie in den 1920er-Jahren – auch ihrer Maltechnik blieb sie ab dieser Zeit treu. Heute lässt sich nicht sicher nachweisen, woher sie ihre Farben bezog und ob sie diese öfter wechselte bzw. ob sie Fabrikate untereinander mischte. Eine starke Präferenz für hochwertige, industrielle Fertigprodukte ist zumindest ab den 1960ern belegt.

Die Verwendung hochwertiger Papiere sind durch Selbstzeugnis belegt (Mitteilung an Tristan Wiedmann, am 13.7.1976). Diese

ABSTRACT Painting material, process and technique facing restoration Summarizes the painting material and painting technique of Norbertine von Bresslern-Roth. Gives information about her opinion how a painting should appear and therefore should not be varnished. Summarizes the condition of the oilpaintings and informs about conservation treatments as has been carried out.

handgeschöpften Papiere waren feinste Schreib- und Dokumentenpapiere.

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ETHNOLOGISCHE OBJEKTE

Angelica Hoffmeister-zur Nedden

Nur für einen einzigen Tanz Über die Restaurierung von Bainingmasken aus Neubritannien

Im Jahr 1913 gelangten sechs Masken der „Zentral-Baining“, einer Bevölkerungsgruppe auf der Insel Neubritannien im Bismarck Archipel, an das Museum für Völkerkunde zu Leipzig. Sie wurden trotz aufwändiger, kunsthandwerklicher Fertigkeiten lediglich für einen Auftritt bei nächtlichen oder am Tage stattfindenden rituellen Tänzen getragen. Dank der Hilfe der Kulturstiftung der Länder konnten sie jetzt restauriert werden.

„Magischer Blick“ einer Nachttanzmaske

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Auf der „idealen Weltkarte“ (Abb. 2), wie sie die Surrealisten um 1929 gezeichnet haben, nehmen die Inseln des Pazifiks zwei Drittel der Erde ein. „Ozeanien bildet den Mittelpunkt der Welt, ein wahres Zauberreich aus Sicht vieler Surrealisten, eine völlig andere Wirklichkeit, in der Geisterglauben und Dämonen herrschten, die Kräfte des Irrationalen, wo es keine zivilisatorische Unterdrückung des Unbewußten, der Triebe und elementaren Naturkräfte gab. Träume und Mythen beherrschen die Wahrnehmung ...“ (Probst 2005). Nach André Breton sollte der Surrealismus die Welt des

Unbewussten, des Traums und ferner Kulturen wieder entdecken. Seit seinem 18. Lebensjahr sammelte er Gegenstände aus aller Welt. Die Fähigkeit zum „magischen Sehen“ – so wie nach Einschätzung der Surrealisten in den ozeanischen Gesellschaften erhalten geblieben – sollte überkommene Schönheitsbegriffe auflösen und zur inneren Natur der Dinge vordringen. In einem Auktionskatalog von 1931 wurden Sammlungsobjekte aus dem Besitz von André Breton und Paul Éluard angeboten, unter ihnen befindet sich unter Nr. 97 auch eine Bainingmaske (Abb. 3). 8/2015

Foto: Kaspar&Lauterwald GbR

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ETHNOLOGISCHE OBJEKTE 2

2 Le Monde au temps des surréalistes / Die Welt zu Zeiten der Surrealisten, Scan aus: Variétes. Le Surréalisme en 1929, Brüssel, Juni 1929

Fotos: (2) Variétes. Le Surréalisme en 1929, Brüssel, Juni 1929, aus der Sammlung des MoMA; (3) Collection André Breton et Paul Éluard. Scultures D’Afrique, D’Amerique, D’Oceanie, Paris Vente à L’Hôtel Drouot les 2 et 3 Juillet 1931, PL. VII

3 Auktionskatalog mit Objekten aus den Sammlungen von André Breton und Paul Eluard, 1931, Scan aus: Collection André Breton et Paul Éluard. Sculptures d'Afrique, d'Amerique, d'Oceanie, Paris Vente à L’Hôtel Drouot les 2 et 3 Juillet 1931

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Die Baining und der Tanz Die Baining, Bewohner der nordöstlich gelegenen Gazelle-Halbinsel von Neubritannien, schaffen bis heute mit ihren Masken Objekte, die nur für einen einzigen Tag oder eine einzige Nacht verwendet, danach weggeworfen oder sogar zerstört werden. Die verschiedenen Maskentypen fertigen Männer an. Die des Nachts auftretenden Masken werden um ein großes loderndes Feuer getragen. Sie stellen jeweils verschiedene mächtige Geister aus der Pflanzen- und Tierwelt dar, die den Menschen gefährlich werden könnten und auf diese Art und Weise besänftigt werden müssen. Begleitet wird der Tanz bis zum Morgengrauen von Gesang und rhythmischem Trommeln, bis die Geister in den Busch zurückgedrängt sind (Heermann 2001, S. 78 ff.). Von Neubritannien nach Leipzig Dank der Fördermittel der Kulturstiftung der Länder im Rahmen des Projekts „Kunst auf Lager – Bündnis zur Erschließung und Sicherung von Museumsdepots“ konnten im Grassi Museum für Völkerkunde zu Leipzig im Jahr 2014 sechs Tanzmasken der Baining restauriert werden. Kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges wurden sie mehrheitlich von Phoebe Parkinson, der Witwe des Pflanzers und Ethnologen Richard Parkinson, für die Leipziger Sammlung erworben. Richard Parkinson hatte sich im Dialog mit den Baining um die Deutung der Bemalung bemüht und schon damals eine geradezu surrealistische Bewertung vorgenommen: „Die Erklärungen der Ornamente sind von den Baining selbst gegeben, es kann daher kein Zweifel darüber entstehen, daß die Anfertiger wirklich mit der Zeichnung einen 8/2015

bestimmten Begriff verbinden, obgleich der Zusammenhang uns in den allermeisten Fällen unklar bleibt, da die Zeichnung keinerlei Ähnlichkeit mit dem gedachten Gegenstand aufweist.“ (Parkinson 1907, S. 624). Die große Vungvung-Maske beispielsweise war 1914 Teil einer Inszenierung auf der in Leipzig veranstalteten „Internationalen Ausstellung für Buchgewerbe und Graphik“ (Abb. 4, 5). Zu diesem Zeitpunkt gehörte sie zu den Neuankäufen des Museums und wurde hier stolz präsentiert. Aufgrund mehrerer Umzüge und Auslagerungen blieben die

ABSTRACT Only for a single dance In 1913 six masks from the Central Baining peoples of the island of New Britain in the Bismarck Archipelago arrived at the Museum für Völkerkunde zu Leipzig [the Museum of Ethnology in Leipzig]. Despite the intricate craftsmanship of these masks they were only ever worn for daytime and nocturnal dance rites. Thanks to the Cultural Foundation of the federal states, they could now be restored.

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