Restauro 03/2015

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Zeitschrift f端r Restaurierung, Denkmalpflege und Museumstechnik

Holztafeln: RElevante Zuordnungen gelungen Kunstst端ck Von Heinrich Campendonk muss das sein? Schutzverglasungen an Kirchen

Kunst trifft HighTech: Neue chancen f端r Museen www.restauro.de

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April/Mai 2015


Inhalt

TitelThema: Neubau oder Umbau

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Kommentar von Anja Schaluschke „Neu- und Umbauten: Chancen für Museen“

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Alexander Stumm Die Transformation des historischen Baumonuments in ein Museum Drei Konzepte

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Ira Diana Mazzoni Kunsttempel im Schoß der Stadt Das Staatliche Museum Ägyptischer Kunst München

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Teamwork, Sprache, guter Wille – Ein Erfolgsrezept? Ein Interview mit Diplom-Kommunikationswirt Jan-Christian Warnecke und Diplomrestauratorin und Kulturmanagerin Andrea Funck

3 Museen – 3 Umbaukonzepte

Holztafeln: Neue Forschungsergebnisse

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Uta Baier Im Schatten des Vaters Lucas Cranach der Jüngere (1515–1586)

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Stefanie Bosch und Evamaria Popp Jerusalem in Ulm. Neue Forschungsergebnisse aus Stuttgart

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Helen Smith-Contini und Daniel Görres Interdisziplinär und interinstitutionell – Das „Cranach Digital Archive“

Im Fokus: Lucas Cranach d. J.

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Fotos (v. o. n. u.): Paolo Pellion, Torino; Gunnar Heydenreich, Jana Herrschaft; Schott AG

Glas in der Denkmalpflege Ulrich Huber Maschinengezogene Gläser Ästhetik und Funktionalität der Verglasung für historische Gebäude

Mathias Hötzel und Dieter Pfaltz 48 Eine alternative Möglichkeit der Antikglasherstellung Gotthard Voß 54 Muß das sein? Schutzverglasungen an Kirchenfenstern 44

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Rekonstruierte Gläser

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Matthias Rothkegel Zurück zum Ursprung – Zum Erhalt mittelalterlicher Glasscheiben

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Gotthard Voß Bescheiden im Umfang, aber sehr informativ – Eine Buchrezension

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rubriken  6

Kunststück

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Blickpunkt Ein älteres Damaskuszimmer Wenig Besucher: Tag der Restaurierung Das RDK ist endlich online EwaGloss: Fachwörterbuch in Vorbereitung Libyens kulturelles Erbe schützen Moskau: Erhalt einer Bibliothek nach dem Feuer

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Gefördert VON

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Beruf

60 Termine 60 Ausstellung 62 Veranstaltungen 63 Vorschau 64 Stellenanzeigen 64 Impressum 66

Porträt

Titelmotiv Bei der abgebildeten Plastik handelt es sich um den Statuenkopf des Cheops. Er wurde aus Kalkstein gefertigt und ist um 2.600 v. Chr. datiert. Das Königsbildnis des Alten Reiches ist geprägt von idealisierenden Zügen, die das überpersönliche Amt des Königtums und die Verantwortung des Herrschers betonen. Die Plastik steht im Raum „Kunst und Zeit“ des Staatlichen Museum Ägyptischer Kunst in München. Hier wurde Verantwortung für das Objekt im Rahmen des Neubaus übernommen: Die eigens dafür angefertigte Vitrine schützt

Das Besondere hervorheben

Foto: Ira Diana Mazzoni

Perlglanzpigmente & Perlglanz Aquarelle von Kremer Pigmente

www.kremer-pigmente.de

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Titelthema: Von Neubau bis Umbau: Lösungen für Museen

Alexander Stumm

Die Transformation des historischen Baumonuments in ein Museum Drei Konzepte

Schon in der französischen Revolution war die Umnutzung der von ihren Pariser Herren verlassenen Palästen (Louvre), Kirchen und Klöster (Musée des Monuments français, Musée des Arts et Métiers) in Museen eine städtebauliche Strategie. Im postindustriellen und globalisierten Zeitalter kommen zentral im urbanen Gefüge gelegene Fabriken, Produktionsstätten, Lagerhallen und Bahnhöfe, aber auch militärische Anlagen und Bunker hinzu. Ohne Funktion warten sie auf ihre Wiederbelebung.

Die Manica Lunga des Castello di Rivoli nach der Transformation durch Andrea Bruno

Abstract The transformation of the historic monument into a museum: three concepts

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Foto: Paolo Pellion, Torino

Based on three projects – namely Andrea Bruno’s Castello di Rivoli near Turin, Herzog & de Meuron‘s Tate Modern in London und Tadao Ando‘s Punta della Dogana in Venice – the article describes differing concepts for the transformation of historic monuments into museums for modern and contemporary art.

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Von Neubau bis Umbau: Lösungen für Museen Gerade das Museum dient heute als prestigeträchtiger Kulturort und gerne als Katalysator einer urbanen Revitalisierung. Was also liegt näher, als diese brachliegenden Monumente in Museen zu verwandeln? Drei Projekte seit 1980, die heute Ausstellungshäuser für moderne und zeitgenössische Kunst sind, werden hier stellvertretend näher untersucht, wobei verschiedene architektonische Herangehensweisen an die historischen Bestände deutlich werden. Castello di Rivoli Das erste Beispiel ist das Castello di Rivoli nahe Turin, welches Architekt Andrea Bruno mit umfassenden Maßnahmen 1979 bis 1984 und 1993 bis 1999 in ein Museum für zeitgenössische Kunst verwandelte. Der großartige Ausbau des seit dem Mittelalter belegten Kastells begann, als der Herrscher Emanuele Filiberto von Savoyen 1563 die Hauptstadt vom im französischen Stammland gelegenen Chambéry nach Turin verlegen ließ. Vor allem aber sein auf Rivoli geborener Sohn Carlo Emanuele I. ließ es von dem Architekten Castellamonte von 1644 bis 1670 durchgreifend erneuern. Aus dieser Zeit ist noch die Manica Lunga, der Galerietrakt, der die umfangreiche fürstliche Kunstsammlung beherbergte, erhalten. Mit seinen ca. 140 x 8 m Grundfläche ist der vierstöckige Bau in seinen Proportionen äußerst ungewöhnlich (Abb. 1). Die Vierflügelanlage des neuen Schlosses selbst wurde jedoch schon wenige Jahre später, 1693, von einmarschierenden französischen Truppen schwer beschädigt. Im spanischen Erbfolgekrieg engagierte sich Vittorio Amedeo II. jedoch wiederum erfolgreich und konnte in den schwierigen Friedensverhandlungen von Utrecht im Jahr 1713 die Krone des Königs von Sizilien für sein Haus Savoyen beanspruchen. Mit diesem hochangesehenen Titel änderte sich auch sein architektonisches Repräsentations- und Anspruchsniveau, das mit der Berufung des Baumeisters Filippo Juvarra an den Hof seine Entsprechung fand. Dieser entwarf eine neue Schlossanlage, welche den Corps de logis des bestehenden Baus übernehmen und anhand eines westlich angebauten Atriums achsensymmetrisch spiegeln sollte, womit sich die Ausmaße vervielfacht hätten. Die grandiosen Pläne mussten jedoch alsbald den finanziellen Realitäten weichen; nach dem Herrscherwechsel 1731 wurden die Bauarbeiten schnell eingestellt. Zu diesem Zeitpunkt war lediglich der Corps de Logis soweit umgebaut, dass er als östlicher Flügel funktionierte (Abb. 2). Durch den Baustopp überlebte aber auch die Manica Lunga, die ansonsten dem Neubau des Westflügel zum Opfer gefallen wäre. Diese war durch die besondere topographische Lage von jeher leicht aus der Achse nach Nordosten verschoben und stand 3/2015

entar K o m m aluschke

ch Anja S

Sie ist seit 2009 Geschäftsführerin des Deutschen Museumsbundes e. V. Davor war sie für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit in der Museumslandschaft Hessen Kassel verantwortlich.

„Neu- und Umbauten: Chancen für Museen“ Das Museum baut: Sächsisches Landesmuseum für Archäologie Chemnitz, Kunstgewerbemuseum Berlin, LWL-Museum für Kunst und Kulturgeschichte Münster, Museum Neuruppin, Historisches Museum Frankfurt, Clemens-Sels-Museum Neuss, Kunsthalle Mannheim, Hessisches Landesmuseum Kassel, Sprengel Museum Hannover und, und, und … . Die deutsche Museumslandschaft macht sich fit für die Zukunft. Doch die Fülle an Bautätigkeiten ist nur scheinbar, der Sanierungsstau erheblich. Noch viele Ausstellungen harren der zeitgemäßen Inszenierung, viele Depots der konservatorisch erforderlichen Ertüchtigung. Solche Baumaßnahmen stellen für Museen komplexe Herausforderungen dar, liegt doch die Verantwortung und Kompetenz für das Bauen nur in den seltensten Fällen beim Museum selbst. Umso wichtiger, dass die Museumsexperten als selbstbewusste Interessenvertreter in diesem Prozess auftreten. Denn nachdem die Baumaßnahme abgeschlossen ist, sind sie es, die das Haus bespielen, Präsentationen entwickeln, Sammlungen inszenieren, Inhalte vermitteln, Museum und Ausstellung betreiben und pflegen. Erst wenn gewährleistet ist, dass das Museum oder die Ausstellung den Anforderungen zeitgemäßer Museumsarbeit entspricht und mit angemessenen Personal- und Haushaltsmitteln betrieben werden kann, dann ist ein Neu- oder Umbau auch eine Chance für das Museum. 17


Holztafeln: Neue Forschungsergebnisse

Uta Baier

Im Schatten des Vaters Lucas Cranach der Jüngere

Ohne Forschung geht bei Cranach gar nichts. Denn die beiden Maler Lucas Cranach der Ältere (1472–1553) und sein Sohn Lucas Cranach der Jüngere (1515–1586) produzierten nahezu ununterscheidbare Kunst. Das war ihr Ziel und der Anspruch der Auftraggeber. Doch die Nachgeborenen interessiert nichts so sehr wie die „Händescheidung“. Im Vorfeld der ersten Retrospektive über Cranach den Jüngeren wurde dessen Werk nun umfassend erforschtin Tagungsband dokumentiert den neusten Stand. Wenn im Juni in Sachsen-Anhalt die Ausstellung „Cranach der Jüngere“ eröffnet, wird schon allein das eine Sensation sein. Denn es gab noch nie eine Ausstellung, die sich ausschließlich mit der

1 Epitaph Joachims von Anhalt, Lucas Cranach d. J. (1515–1586), Dessau–Midensee 1565, Selbstporträt von Cranach d. J. als Mundschenk, H. 257,5 cm, B. 209 cm, Johanneskirche

Kunst des Cranach-Sohnes beschäftigte. Gezeigt wird sie gleich in drei Städten. In Wittenberg werden neben dem Augusteum, in dem die zentrale Ausstellung zu sehen ist, auch die Stadtkirche

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Abstract Outshone by his father – Lucas Cranach the Younger

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Fotos: Gunnar Heydenreich, Jana Herrschaft

When it comes to Cranach, research is an essential. For the two painters Lucas Cranach the Elder (1472–1553) and his son Lucas Cranach the Younger (1515–1586) produced art that was pretty much indistinguishable. This was their aim and indeed what their clients wanted. However, nothing is as fascinating to later generations as the attribution of authorship. For a long time it was above all the art historians who differentiated between the masters’ hand and that of their pupils in the workshop, yet the time has now come for the researchers to have their say.

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Holztafeln: Neue Forschungsergebnisse 2

Sankt Marien und das Cranach-Haus in die Ausstellung einbezogen. In Dessau ist der so genannte Johannbau (Westflügel des ehemaligen Schlosses) Ort der Ausstellung „Cranach in Anhalt“. Der Wörlitzer Park hat mit dem Gotischen Haus einen Ort zu bieten, an dem noch heute 18 Gemälde der Cranachs beheimatet sind. Im Vorfeld der Ausstellungen ist viel geforscht worden, denn bisher gab es weder eine Biografie des Malers noch detaillierte Untersuchungen seiner Werke und seiner Werkstatt. Der Grund war vor allem, dass Lucas Cranach der Jüngere als der zweitrangige Maler gilt und lange komplett im Schatten seines Vaters stand. Dabei führte er nach 1550, als Cranach der Ältere Wittenberg verließ, 36 Jahre lang eine eigene Werkstatt – erfolgreich wie sein Vater. Händescheidung Interesse, aus dem Schatten des Vaters zu treten, hatte Lucas Cranach der Jüngere nie, schließlich erwarteten Auftraggeber im 16. Jahrhundert zwar höchste Qualität, aber nicht unbedingt Individualität. Wo Cranach draufstand, sollte Erwartbares von Cranach kommen. Und ein Werk mit dem Schlangensignet, dem Wappen und Werkstattzeichen der Cranachs, bedeutete bei den Auftraggebern nicht Cranach der Ältere oder der Jüngere, sondern eben Qualität à la Cranach. Und das war die Werkstatt des Vaters und später des Sohnes mit einer nicht bezeichneten Anzahl von Mitarbeitern, die sich einem einheitlichen Stil unterordneten. Ihre Namen sind bis heute unbekannt, ihr Anteil an den Werken auch. Die Annahme, Cranach und sein Sohn hätten als Werkstattleiter die Bilder entworfen und während des Malprozesses mehr oder weniger korrigierend eingegriffen, ist sicher richtig. Doch wie groß ihr Anteil an einem Bild tatsächlich ist, kann in letzter Konsequenz nicht nachvollzogen werden. Und dafür sorgten die Maler perfekt: Um die emailartig glatt-glänzende Gesichtshaut mit gleichbleibendem Ergebnis ausführen zu können, wurde die Farbe mit einer speziellen Tupftechnik aufgetragen, die die Gesellen leicht lernen konnten. Außerdem nutzte die Werkstatt immer wiederkehrende Figurenmodelle, denn Serienproduktion war in der Kunst kein Schimpfwort, sondern Ausdruck einer funktionierenden Werkstatt. „Händescheidung“ dagegen war ein Fremdwort und „Schnellmaler“, wie beide Cranachs genannt wurden, Ausdruck der Bewunderung. Doch heute gilt, was Hanne Kolind Poulsen anlässlich einer Tagung in Wittenberg 2014 sagte: „Seit dem Beginn der Cranach Forschung im 19. Jahrhundert ist ihr Hauptcharakteristikum – ja sogar ihr Hauptschwerpunkt – die Händescheidung von Cranach dem Älteren, seinen zwei Söhnen, der Cranach-Werkstatt und anderen Cranach-ähnli3/2015

2 Kanzel, Schloss Augustusburg, Kapelle, Cranach d. J. (1515–1586), 1573 3

3 Detail der Kanzel, 1573, Schlangensignet von Cranach d. J. (1515– 1586) 4

4 Geburt Christi, Cranach d. J. (1515– 1586), 1573, Detail des roten Gewandes von Maria mit Bleiweißvergrauung im Bereich der Lichthöhungen

Die Cranach-Familie im Fokus der Forschung Im Vorfeld des Reformationsjubiläums 2017 steigt auch das Interesse an der Cranach-Familie. Denn ohne die enge Freundschaft zwischen dem Reformator Martin Luther und Lucas Cranach d. Ä. gäbe es die imposanten Bilder des Reformators und seines Wirkens nicht in dieser Form, Vielfalt und Qualität. Denn Cranach d. Ä. malte nicht nur zahlreiche Portäts und Altarbilder, er gründete auch eine Druckerei, um die Reformationsschriften und die Bibel herausgeben zu können. Thüringen widmet dem Maler das Themenjahr „Bild und Botschaft“, zu dem es Ausstellungen in Gotha, Erfurt, auf der Wartburg und in Weimar gibt. Cranach d. J. führte das Erbe des Vaters getreulich fort und seine Werkstatt erfolgreich weiter. Doch bisher galt er künstlerisch als wenig eigenständig. Im Zuge der Forschungen zur ersten Ausstellung, die allein Cranach dem Jüngeren gewidmet ist, zeigt sich erstmals die künstlerische Handschrift des Sohnes in aller Klarheit und Besonderheit.

chen Meistern sowohl bei Gemälden als auch bei Zeichnungen.“ Gleiches liest man auch in Karin Kolbs Beitrag, der in dem umfangreichen Band „Lucas Cranach der Jüngere und die Reformation der Bilder“ mit den Ergebnissen und Vorträgen der Tagung jetzt erscheint. Forschungsstand Dass die Forschung bei Cranach dem Jüngeren noch am Anfang steht, liegt auch daran, dass sie 37


Glas in der Denkmalpflege

Ulrich Huber

Maschinengezogene Gläser Ästhetik und Funktionalität der Verglasung für historische Gebäude

Denkmalschutz orientiert sich in erster Linie an der Erhaltung historischer Bausubstanz, gegebenenfalls im Zusammenwirken mit behutsamer Restaurierung. Wenn eine Erhaltung aufgrund von Substanzverlust oder irreparablen Schäden ausscheidet, kommt ein Ersatz in Frage.

1 Anlage zur Produktion maschinengezogener Gläser

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Abstract Machine-drawn glass: the aesthetics and functionality of glazing for historical buildings The protection of a country’s historical heritage is first and foremost aimed at maintaining historical building fabric, where necessary, in concurrence with careful restoration. If conservation proves impossible because of the loss of fabric or irreparable damages, thought turns to substitution.

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Ausgangslage Gleiches gilt, wenn die Erhaltung eines Gebäudes als Ganzes unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten nur durch eine Umnutzung erreicht werden kann. Gebäudeeigentümer und Nutzer formulieren in diesem Prozess, getrieben insbesondere von wirtschaftlichen Erwägungen, Anforderungen an Bauteile, so auch an Verglasungen: winterlicher und sommerlicher Wärmeschutz, Sicherheitsaspekte, lichttechnische Parameter und andere. Unter denkmalpflegerischen Aspekten sind nicht nur das optische Erscheinungsbild des Materials und dessen mit dem Original vergleichbare Eigenschaften, sondern auch ein authentischer Herstellungsprozess, der sich zumindest an die historischen Technologien anlehnt, wichtig. Dieser rückt zunehmend ins Bewusstsein der Denkmalpfleger.

Historische Einordnung Die zur jeweiligen Errichtungszeit von Bauwerken aktuelle Technologie der Herstellung von Baumaterialien hat wesentlichen Einfluss auf die Möglichkeiten der Gestaltung von Gebäuden. Das erste überlieferte Glasrezept stammt bereits aus dem 7. Jahrhundert v. Chr.: „Nimm 60 Teile Sand, 180 Teile Asche aus Meerespflanzen, 5 Teile Kreide – und du erhältst Glas.“ Die frühesten bekannten Fenstergläser stammen aus Pompeji und müssen vor dem Ausbruch des Vesuv im Jahr 79. n. Chr. hergestellt worden sein, sehr wahrscheinlich in einem Gießverfahren. Sie waren durchscheinend, jedoch nicht durchsichtig. Erst die Erfindung der Glasmacherpfeife im 2. Jahrhundert v. Chr. ermöglichte die Herstellung von durchsichtigem Tafel- bzw. Fensterglas. Aus der einfachsten zu blasenden 3/2015


Glas in der Denkmalpflege

Fotos: Schott AG

Form, der Kugel, schleuderte man eine runde Scheibe („Mondglasverfahren“). Effizienter ließ sich Flachglas herstellen, wenn statt der Kugel ein Zylinder geblasen wurde („Zylinderglasverfahren“). Nach dem Abtrennen der Kappen wurde dieser aufgeschnitten und zum flachen Glas gebügelt. Rechteckige Formen und Abmessungen bis 85 cm x 100 cm eröffneten neue Möglichkeiten der Fensterverglasung. 1688 erfand der Franzose Louis Lucas de Nehou (1641–1728) in Saint-Gobain das Tischwalzverfahren. Das Ausgießen einer Glasschmelze auf einer ebenen Unterlage mit anschließendem Auswalzen, Schleifen und Polieren wurde hauptsächlich zur Herstellung von Spiegelglas genutzt, gelegentlich auch für Fenstergläser. Anfang des 20. Jahrhunderts gelang es erstmals mit Pressluft Zylinder bis zu einer Länge von 12 m und einem Durchmesser von 85 cm zu blasen. Die Verarbeitung zum Flachglas war jedoch weiterhin Handarbeit. Erst das Ziehverfahren erlaubte die Herstellung von Flachglas in einem kontinuierlichen Prozess. 1902 ließ sich der Belgier Emile Fourcault (1862–1919) ein Verfahren zur Herstellung von Glas mit Ziehdüse und senkrechtem Ziehschacht patentieren. Die technische Umsetzung gelang ihm 1904. Die erste industrielle Anlage ging im Frühjahr 1914 mit acht Ziehmaschinen in Dampremy (Belgien) in Betrieb. In den 1920er Jahren setzte sich das Fourcault-Verfahren als erstes voll mechanisiertes Verfahren zur kontinuierlichen Herstellung von Flachglas weltweit durch. In Deutschland durfte aufgrund des Versailler Vertrages rechtsrheinisch erst ab dem Jahr 1925 Flachglas nach dem Fourcault-Verfahren hergestellt werden. Die ersten deutschen Standorte in Witten und Torgau nahmen 1925 ihre Produktion auf und führten diese bis 1990 fort. Maschinengezogenes Glas ist somit für die Bauepoche 1920 bis 1960 und teilweise darüber hinaus das vorherrschende Material der Fensterund Fassadenverglasungen. Die Einführung des Floatverfahrens in den 1960er Jahren drängte das Fourcault-Verfahren stark zurück. Herstellungsverfahren Anlagen für die Herstellung maschinengezogener Gläser (Abb. 1) bestehen im Wesentlichen aus Gemengehaus, Schmelzwanne, Heißformgebung, Ziehschacht und Zuschnitt. Kern von Ziehglasanlagen nach Fourcault (Abb. 2) ist eine aus feuerfestem Material bestehende, geschlitzte Ziehdüse, die auf der flüssigen Glasmasse schwimmt. Der hydrostatische Druck lässt das flüssige Glas durch den Schlitz quellen. Zu Beginn des Ziehprozesses wird die so entstandene Zwiebel mit einem 3/2015

Fangeisen erfasst und nach oben gezogen. Die Bandhochfahrt beginnt. Im zähflüssigen Zustand kommt das Glas nur mit Luft in Berührung. Die Oberfläche ist beidseitig feuerpoliert, das Glas durchsichtig, glänzend und klar. Zwischen zahlreichen Walzenpaaren wird das Glasband dann über mehrere Stockwerke nach oben gezogen und dabei langsam abgekühlt. Am oberen Ende des Ziehschachtes erfolgt das Schneiden des endlosen Glasbandes in einzelne Tafeln.

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Fourcault-Verfahren Zugrichtung Glasband

Transportwalzen

Ziehdüse Glasschmelze

2 Ziehen von Glas nach dem Fourcault-Verfahren

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3 Blick durch ein maschinengezogenes Glas 4

4 Blick durch ein gefloates Glas

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