Vom Glück mit Büchern zu leben - Leseprobe - Jahn

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J Fessle m ic h! Olive r Jah n

Journalist und Chefredakteur von AD

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Oliver Jahn

Rechts: Wohnzimmer eines Sammlers von Mid-century-Objekten. Um den Tisch der Architektin Katja Buchholz Stühle von

Ich habe ein

Charles Eames. Auf dem Sideboard aus den

starkes physisches

Ror Wolf und das Coverplakat zum ersten

1960ern zwei Collagen des Schriftstellers

Tintin-Comic von Hergé von 1930.

Verhältnis zu

Schnitte frei. „Ich warte auf die neuen Regale des Schrei-

Büchern. Ich mag es

ners und das ist immer noch eine Zwischenlösung. Aber sie gefällt mir gut und vielleicht lasse ich es so“, sagt der

nicht, wenn man

41-Jährige. „Die meisten Bücher erkenne ich auch ohne Einband. Und ich mache gerade lauter Ausgrabungen,

ihnen den Rücken

wie ein Archäologe.“ Jahn hat dieses intensive Körpergedächtnis für

bricht.

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Bücher, das bei vielen Bibliomanen so ausgeprägt ist. Bücher sind in ihn eingeschrieben, in sein Denken, sein Wesen, in seinen Körper. Literatur war in seiner Familie immer Teil des Lebens, auf unangestrengte Weise, nicht mit bildungsbürgerlichem Habitus. Die Mutter arbeitete als Buchhändlerin, der Großvater als Schriftsetzer. Bei den Großeltern lernte Oliver die Bände der Büchergilde

r hat sie alle flachgelegt. So um die

Gutenberg mit ihren Künstler-Illustrationen kennen. „Ich

8 000. Und das ist nur ein Teil seiner

war immer ein richtiger Bücher-Nerd, und während meine

Liebhabersammlung. Oliver Jahn,

Schulkameraden im Badischen an ihren Mofas rum-

Chefredakteur der Architektur- und

schraubten, habe ich mich für Literatur und Design inter-

Kunstzeitschrift AD Architectural Digest,

essiert. Auf dem Land musste man das eher geheim hal-

lebt und arbeitet für die Schönheit. Er reist für ein groß-

ten“, sagt er. An sein erstes Buch erinnert er sich sichtbar

artiges Haus ohne Zögern nach Feuerland, sieht auf den

wohlig: „Ich hatte die große Ausgabe von Eric Carles Die

wichtigsten Kunstausstellungen der Welt nach, ob sie

Raupe Nimmersatt und fand es faszinierend, die Finger

wirklich so wichtig sind, er kann die revolutionäre Form

in die Löcher der dicken Pappseiten zu stecken. Ich be-

eines Stahlrohrmöbels oder die marmorne Weichheit

kam das Buch jeden Tag vorgelesen, konnte alles aus-

eines Betonkubus’ bis ins Detail beschreiben. Sein tiefes

wendig, las mit und schlug die Seiten im Takt um.“ Als er

„Ich“ ist aber nicht der Jetsetter im Dienst der guten

schließlich selbst lesen konnte, holten er und seine bei-

Form, sondern das des Bücherliebhabers. Jahn besitzt

den jüngeren Brüder wäschekorbweise Bücher aus der

rund 15 000 Bände, und da er gerade in eine neue Woh-

Leihbibliothek, und bald hatte Oliver ein eigenes Bücher-

nung gezogen ist, steht ein großer Teil seiner Bücher

bord. Die erste eigene Leseinsel, von der aus das mani-

nicht mit dem Rücken zum Betrachter im Regal, sondern

sche Sammeln begann: Er gab als Schüler sein ganzes

liegt auf der Seite und gibt den Blick auf die nackten

Taschengeld für Bücher aus, ackerte die zwölfbändige

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Oliver Jahn links: Auf dem Schreibtisch aus den 1950er Jahren zwei Bauhaus-Lampen, davor ein Stahlrohrsessel der Firma Mauser. Das gerahmte Foto zeigt den Dichter Arno Schmidt in den 60ern auf dem Sprungturm eines Freibads. unten: Auf dem Rollen-Beistelltisch aus den 1950ern liegen Exemplare aus Jahns Sammlung der Zeitschrift Gebrauchsgraphik aus den 1920er Jahren. Ganz Unten: B端cherhimmel f端r jeden Designliebhaber. Vor dem Regal zum Thema Mode ein Exemplar des Sessels Vostra von Jens Risom mit original Vinylbezug.

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Oliver Jahn

Meine Mutter schlug drei Kreuze, als ich zuhause auszog. ich habe in ihrer Buchhandlung auf das Mitarbeiterkonto jahrelang anschreiben lassen.

oben: Ausgesuchte Abendlektüre, griffbereit auf der grünen tschechischen Stahlrohrgarderobe aus den 1930ern. Die Vintage-Lampe stammt aus den 50ern. links: Spielarten der Bücherliebe: Jahn besitzt rund 1 000 Bände zu Themen wie Bibliotheken, Büchersammler, die Geschichte des Papiers, lesende Helden und Bibliomane.

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Shakespeare-Ausgabe durch, fuhr auf die Buchmessen nach Frankfurt und Leipzig, besuchte Antiquariate und kaufte Werkausgaben wie Wein – nach schönen Etiketten. Heinrich von Kleist wurde in diesen Jahren zu seinem Hausheiligen. „Kleists Prosatexte und die Zeitungsbeiträge für die Berliner Abendblätter haben mich sehr geprägt. Ich habe mich bis zum Uni-Examen viel mit ihm beschäftigt.“ Jahn studierte Germanistik, Philosophie und Sprachwissenschaft in Saarbrücken und Kiel. Zu seinem großen Glück wurde er als Hilfskraft seines Kieler Philosophieprofessors Chef der philosophischen Seminarbiboben: Vor dem Billy-Regal ein Ausstellungsplakat des Designers Carlo Mollino, den Jahn als Mann mit hoher Geschwindigkeit und zugespitzter Eleganz in allen Lebenslagen bewundert. links: Rimini blu: Vier Keramikobjekte aus der Kollektion von Aldo Londi.

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Während des Studiums begann er Literaturkritiken

liothek. „Ich konnte jeden Tag die Büchersammlung mit 50 000 Bänden aufschließen, es war fantastisch, so et-

für die Kieler Nachrichten zu schreiben, wurde später

was wie die schweinslederne Augustinus-Ausgabe aus

Feuilletonmitarbeiter der SZ und der Literarischen Welt.

dem 16. Jahrhundert rauszuholen. Mit einem Freund ha-

2002 ging er als Arno-Schmidt-Spezialist zum Suhrkamp

be ich dort wie in einer Lesehöhle gelebt, wir hatten mit

Verlag, wechselte danach zur Kunstzeitschrift Monopol in

einem Bibliothekar so eine Art ‚Club der toten Dichter‘,

Berlin und entwickelte ein großes Faible für Möbel- und

haben Cordhosen und dicke Pullover getragen und uns

Objektdesign des 20. Jahrhunderts; von dort wurde er

unsere Schätze gezeigt“, sagt er. Er kaufte pro Tag zwei,

zu AD Architectural Digest abgeworben, seit 2011 ist er

drei neue Bücher, trug jeden Titel mit laufender Nummer

Chef der Zeitschrift. „In der Redaktion lachen sie über

in ein Kassenbuch ein, führte außerdem ein Lesetage-

mich, weil ich meine Bücher hüte wie meine Augäpfel. Ich

buch. Diese Gesten belächelt er heute. „Dieser heilige

setze Himmel und Hölle in Bewegung, wenn ich einen

Ernst ist mir fremd geworden. Aber die Lust ist immer

vergriffenen Katalog oder ein seltenes Buch brauche. Ich

noch dieselbe wie früher.“ Seinen Namen schreibt er bis

bin ein knallharter Jäger, rufe Kuratoren oder Direktoren

heute mit einem feinen Bleistift in jeden Band. „Ich wollte

an“, gibt er zu. „Manchmal nehme ich mir lauter Bücher,

in Büchern immer meine Spur hinterlassen. Das Anver-

lege sie auf den Boden, setze mich zu ihnen und schaue

wandeln, Einverleiben, ein Ritual, die Inkorporation in den

sie mir einfach an. Das ist eine selige Zeit. So wie früher

Bibliothekskörper – das war und ist mir wichtig.“

das Spielen mit meinen Matchbox-Autos.“

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Oliver Jahn

Jahn sieht die schönsten Häuser der Welt. Wie wür-

Linke seite: Geometrische Farbkompositi-

den denn seine Bücher wohnen, wenn er ihnen ein Zu-

on beim Blick vom Flur in die Küche.

hause bauen könnte? „Das weiß ich genau“, sagt er und

Neben der Tür ein Regal mit der Reihe

man spürt, dass er schon oft darüber nachgedacht hat.

Bibliothek Suhrkamp, in der legendären

„Ich träume von einem Haus aus grauem, poliertem

Einbandgestaltung von Willy Fleckhaus.

Sichtbeton. Einer sechs Meter hohen Wohnhalle mit einer

oben: Teile von Jahns Sammlung von

Glaswand mit Blick in eine Berglandschaft wie auf den

Fifties-Geschirr aus der Melitta-Kollektion

Bildern von Claude Lorrain. Bunte skandinavische Teppi-

Minden von Jupp Ernst auf einem Beistell-

che, Fläz-Sofas und rötliche Teakholzmöbel. Und an drei

tisch. Dahinter ein Schulstuhl von Karl

Seiten eine Bibliothek, in der meine 15 000 Bücher ste-

Nothelfer, beides aus den 50ern.

hen. Alle in bischofslila Leinen gebunden, Titel und Autoren in silberner Prägung.“ Er sieht diese Bücherhalle als moderne Nachfolgerin der traditionellen Fürstenbibliothek. „Früher bekamen die Fürsten nur den Buchblock, ließen alle Bücher in eigene Gewänder binden und versahen sie mit ihren Wappen. Es war eine Art sich die Bücher anzueignen. Das würde ich auch gerne tun.“

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—Mein schönster erster Satz: „Lange Zeit bin ich früh schlafen gegan-

—Ein Buch, das mein Leben verändert hat: Wahrscheinlich die

—Ein Buch für Stunden der Melancholie: In Stunden der Melan-

gen.“ Aus Marcel Prousts Auf der Suche

Romane von Arno Schmidt. Ich habe sie

cholie lese ich keine Literatur, da schaue

nach der verlorenen Zeit.

mit 17, 18 Jahren entdeckt. Sie sind vol-

ich mir meistens Kunstbücher an. Am

Grandios ist auch der Satz: „Jakob ist

ler Humor, mit einem starken Vibrato

liebsten Claude Lorrain und Schweizer

immer quer über die Gleise gegangen.“

und scharfzüngig. Sie sind recht kurz,

Landschaftsmaler des 18. Jahrhunderts.

Das ist aus Mutmaßungen über Jakob

aber diese Gewalt! Diese präzise, bildrei-

Da geht es entweder um die Idylle oder

von Uwe Johnson. Ich bin ein totaler Fan

che, anspielungsreiche Sprache geht in

die landschaftliche Überwältigung des

von ersten Sätzen.

den Händen los wie ein Feuerwerkskör-

Menschen. Das beruhigt mich.

per. Er gibt einem kleine Rätsel auf, die

—Mein schönster letzter Satz:

man nicht immer entschlüsselt.

Es ist der Schluss von Arno Schmidts

schichte Seelandschaft mit Pocahontas,

—Ein Buch, das mich einmal gerettet hat: Diese Idee ist für mich

die in den 1950er Jahren spielt. Nach

zu weit gegriffen. Es gibt aber wichtige

einigen glücklichen Ferientagen am

Autoren, die mich lange begleiten wie

Dümmer verabschiedet sich die Frau

Heimito von Doderer und Marcel Proust.

von dem Helden, mit dem sie ein paar

Ich habe Auf der Suche nach der verlo-

romantische Tage am See verbracht hat,

renen Zeit dreimal gelesen, es hat mich

und steigt in den Bus, er bleibt zurück.

alle drei Male nicht gerettet, aber sie

Und dann der Schlusssatz: „Mein Kopf

sind ein Vademecum und in ihnen fühle

hing noch voll von ihren Kleidern und ich

ich mich zuhause. Aber ich bin kein Es-

antwortete nicht.“ So schön und so trau-

kapist, ich lebe sehr diesseitig, mag auch

rig. Lesen Sie mal die Erzählung.

Skifahren und Schuhe kaufen.

wunderbarer Sommer- und Liebesge-

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Oliver Jahn

—Ein Klassiker, der mich zu Tode langweilt: Ha! Der Nachsom-

ich vor zwei Jahren gemacht, weil ein Freund eine Doktorarbeit über die Archi-

—Dieses Buch hätte ich gerne geschrieben: Die Strudlhofstiege

mer von Adalbert Stifter. Ich habe vier-

tektur des Rosenhofs in dem Roman

von Heimito von Doderer. Ich habe ein

mal versucht ihn zu lesen. Viele tote und

schrieb. Ich habe 200 Seiten geschafft

Faible für große panoramische Gesell-

lebende Gewährsleute haben dieses

und dann sind meine Augenlider wieder

schaftsromane und die untergehende

Buch geschätzt wegen seiner Land-

runtergeklappt. Unmöglich.

k.u.k.-Welt. Es ist toll, wie er die Treppen-

schaftsbeschreibungen. Also dachte ich,

anlage zum Symbol der Zeitgeschichte

da muss wirklich was dran sein. Aber ich

macht und wie der erste Satz die Ge-

kann es nicht. Den letzten Anlauf habe

schichte eröffnet.

—Auf meinem Nachttisch liegt: Immer nur ein Buch. Ich lese nie mehrere Bücher gleichzeitig. Aber ich lese dasselbe Buch oft mehrmals. Gerade ist es Ein letzter Sommer von Steve Tesich. Es geht um den Abschied von der Jugend eines jungen Mannes, dessen Vater im Sterben liegt und der seine erste Liebe erlebt. Eine typische Coming-of-Age-Geschichte. Hinreißend!

links: Zeitgenossen: Das Lesesofa von Oliver Jahn ist ein Vintage-Stück aus den 1950ern mit original taubenblauem Samtbezug. Dahinter eine alte Arztlampe der Firma Baisch.

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