Baumeister 08 2012

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Bau me ister

10 9 . J a h r g a ng

August

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Das ArchitekturMagazin

Neuer Kult ums Handwerk? seite 86

Ablenken lassen!

Wolf Prix über Günther Domenig

Schöne Architektur, vom Auto aus gesehen

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Londoner Ziegelwelten

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Was bringen eigentlich Architekturbiennalen?

Jubel Trubel Frustrationen Ab s e i t e 6 8


Bergstrecke

1 bis 2

Populärste Landschaftsroute Norwegens: Elf dramatische Kehren führen hinauf zum neu gestalteten Trollstig-

A r c h i tekt u r E r f a h r en

Plateau.

Zwei Architekten, Reiulf Ramstad und Werner Tscholl, waren beauftragt, für Baukultur an zwei beliebten Ferienrouten zu sorgen. Das Ergebnis ist eine Reise wert – oder vielmehr zwei. Um das grüne Gewissen zu beruhigen, können Sie ja das Mountainbike nehmen.

Foto: Ste inar Skaar/Statens vegvesen

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Bergstrecke

„Wild, schön und abwechslungsreich“ – der

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Prospekt zu den norwegischen Landschaftsrouten verspricht nicht zu viel. Unten eine der beiden Aussichtskanzeln am Trollstig

Kunst-Landschaft

A r c h i tekten

Reiulf Ramstad Kritik

Robert Schäfer

Der Trollstig im norwegischen Fjordland zählt zu den größten Touristenattraktionen des Landes. Mit der Eröffnung eines neuen Rastplatzes von Reiulf Ramstad beginnt jetzt auch die Vermarktung des Landschaftsrouten-Programms, das den Fremdenverkehr noch weiter ankurbeln soll.

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Foto: Jarle Wæ hle r/Statens vegvesen

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L ageplan R o u te

3 Aussichtsplattform

( 1 0 6 km )

Ørnesvingen

Landschaftshotel)

der Nähe das Juvet-

4 Fähranleger Linge

6 Rastplatz Trollstigen

1 Langvatnet

5 Aussichtsplattform,

7

2 Rastplatz

Rastplatz und Café

Flydalsjuvet

Gudbrandsjuvet (in

Sogge bru

elch dunkle Macht zwingt uns, höchste Berge zu erklimmen, um dann von windigen Felsen hinunter ins Tal zu blicken? Oder gar: zu springen? In Åndalsnes wohnt Tom Eirik Heimen, einer der besten Basejumper der Welt, der sich mit seinem „Wingsuit“ spektakulär von den Bischof, König und Königin genannten Bergen stürzt und gelegentlich recht nah an den Touristen vorbeizischt, die von der neuen Aussichtskanzel am Trollstigen eine der beeindruckendsten Szenerien der norwegischen Berglandschaft genießen. Nicht wenige mit schlotternden Knien, manche – wie ich – mit Höhenangst. Mehr als 700.000 Menschen besuchen jährlich das Trollstigplateau, vom weltberühmten Geirangerfjord her kommend oder vom Raumafjord, von Åndalsnes. An Stelle eines beschwerlichen Pfades über die Berge schlugen Ingenieure und ein Heer von Arbeitern in mühevoller Handarbeit eine der schönsten Passstrecken der Welt in den Fels. Elf feingeschwungene Haarnadelkurven (Seite 24/25) überwinden seit 1936 die steilste Strecke am Talschluss. Diese Straße ist ein Beispiel für Baukultur im Straßenbau, so wie es die Hamburger Erklärung des jüngsten Konvents der Baukultur wohl fordert. Der Trollstigvej ist eine technische Meisterleistung in dramatischer Landschaft, die natürlich durch den Trollstigfoss, einen Wasserfall, ergänzt wird. W e i te r


Bergstrecke

R

eiulf Ramstad, Architekt aus Oslo, lieferte nun die dazu passende Architektur. Ganz profan zunächst als Servicezentrum für die vielen Touristen geplant, tat er dies jedoch in so schlichter wie gewagter Gestaltung. Tom Eirik und Reiulf kennen sich schon geraume Zeit, und wer weiß, vielleicht ist die geschwungene Form der Dächer, die zum Teil begehbar, zum Teil mit Gras bewachsen sind, dem Flügelgewand des Felsenspringers nachempfunden? Die Spitzen zitieren auf jeden Fall die schroffen Berge, die nicht selten das Wort tind, also Spitze, im Namen führen – allen voran der Trolltind, der sich gelegentlich zeigt, wenn die Wolken aufreißen. Dieses Gebiet ist für Kletter- wie Skitouren beliebt bei den Norwegern, deren Autos oft schon in aller Frühe die Parkplätze besetzen, lange bevor die Autotouristen ankommen und auch die Buskarawane der Kreuzfahrer, die sowohl von Åndalsnes wie von Geiranger über den Adlerweg und Valldal zum Pflichtausflug hierher gekarrt werden. Alles hätte größer dimensioniert werden können, was jedoch wesentlich empfindlichere Eingriffe in die Hochgebirgslandschaft erfordert hätte, die bis Mitte Mai in Schnee gepackt ruht. Die Straße bleibt im langen Winter geschlossen, die Saison ist kurz. Das Plateau liegt auf 1000 Metern Höhe, oberhalb der Baumgrenze. Schönheit und Geschäft Eine Ansammlung von Hütten und Kiosken musste dem neuen Gebäude weichen, ebenso wilde Stufen im Fels, zu gefährlich für die unzulänglich beschuhten Gäste auf Stippvisite. Der Tourismus ist drittgrößte Einkommensquelle in Norwegen, entsprechend ernst nimmt man das Geschäft, immer mehr Reisende anzulocken. Dazu erfand die Norwegische Straßenbaubehörde das Programm der Turistveger, das seit Kurzem im Deutschen ganz offiziell Norwegische Landschaftsrouten heißt (siehe auch B9/11, Seite 20). Ausgewählt wurden 18 der schönsten Strecken des Landes, von Haugesund im Süden bis nach Varanger im Norden. Architekten, Künstler und Landschaftsarchitekten bekamen nach individuellem Auswahlverfahren den Auftrag, Raststätten, Aussichtspunkte und Landmarken inmitten weiter Landschaft zu schaffen. Die Hoffnung: mehr Touristen, mehr Einnahmen für die Gemeinden an den Strecken. Der Nachteil: mehr Verkehr. Ohne Automobil bleibt der Zugang zu den neuen Attraktionen nur den Sportlichsten vorbehalten, die bei Wind und Wetter sich und ihr Trekkingrad quälen. Der Trollstig erwies sich in der Vergangenheit nicht selten als Alptraum für Buschauffeure aus dem Flachland, die dem speziellen Geschick-

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Hinter dem Café teilt sich der Weg zu den beiden Aussichtsplattformen: Links geht es

lichkeitsparcours nicht gewachsen waren. Gegen starken Protest wurden in diesem Jahr die Kurven verbreitert und neu gesichert. Der Technikdenkmalschutz unterlag dem Wunsch nach Verkehrsbeschleunigung. Tatsächlich herrscht im Juli und August dichter Verkehr – kostenloses Spektakel, gut einzusehen von oben, wenn sich Lastwagen und Omnibusse aneinander vorbeischieben. Beton, Stahl und Glas herrschen vor in Ramstads Cafeteria samt Souvenirshop und Toilettengebäude. Man kann sich mit seinem Kaffeebecher und Krabbenbrot oder Lefse aufs Dach setzen oder vor die große obligate Feuerstelle hinter Glas. Doch die Show läuft draußen. Promenaden führen zu zwei Aussichtskanzeln. Die eine schwebt gleich hinter den neuen Wasserbecken, in denen der Bach gezähmt wurde, um die Hochwassergefahr zu bannen, über dem brodelnden Wasser, das sich ein paar Meter weiter zum Wasserfall formt. Die untere Plattform kragt weit über den Fels hinaus und gibt den Blick frei auf den Trollstig. Doch beide Aussichtskanzeln sind für sich sehenswert: funktional und dramatisch, die Sinne betörend, sowohl durch die Komposition als auch durch das Zusammenspiel der Architektur mit der Landschaft. Subtil bildete der Architekt mit dem gezackten Geländer den Schwung der Serpentinen nach. Schon jetzt scheint dieses Follie in luftiger Höhe das neue Symbol für die norwegischen Landschaftsrouten geworden zu sein. Erhoffter Aufschwung für die Gegend

zum Wildwasser und rechts zum spektakulären Blick auf die Passstraße und ins Tal.

Bauherr: Norwegische Straßenverwaltung

Mit dem Trollstigareal wurde am 16. Juni zugleich das gesamte Programm offiziell eröffnet, auch wenn noch längst nicht alle Routen fertig gestellt sind. Die Strecke Geiranger-Trollstigen als zentraler und meistbesuchter Abschnitt bietet sechs weitere bauliche Attraktionen, die schon länger in Betrieb sind (siehe Karte). Hilde, Fremdenverkehrschefin von Åndalsnes, möchte gerne die etwas spröde Stadt aufwerten und hofft, dass ein soeben verabschiedeter Masterplan einen architektonisch sehenswerten Ort hervorbringen wird. Eine lebendige Outdoor-Sportszene gibt es bereits, und Reiulf Ramstad entwirft für Tom Eirik und andere Bergfexe zur Zeit ein Kletterzentrum. Vielleicht verhelfen die Autorouten zu guter letzt Alpinisten und Basejumpern zu einem neuen Basislager.

A r c h i tekten : Reiulf Ramstad Arkitekter AS, Oslo L ands c h a f ts a r c h i tekt : Multiconsult W ettbewe r b : 1. Preis, 2004 Fe r t i gstell u ng : 2012 M 1:6 0 0 0

S tand o r t : Romsdalen, Norwegen

Foto: Roge r E llingsen/Statens vegvesen

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L ageplan T r o llst i g - P latea u 1 Parkplätze 2 Raststätte 3

zu den Aussichtsplattformen


Bergstrecke

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Straßenarbeiten Das Timmelsjoch ist bei gutem Wetter eine Reiseempfehlung, wenn man den aussichtsreichen Weg über die Alpen sucht und dem Urlaubstreck über den Brenner entgehen möchte. Die Straße sollte „mittags Skilauf auf den Ötztaler Gletschern und nachmittags Entspannung unter Palmen in Meran“ ermöglichen. A r c h i tekten

Werner Tscholl Kritik

Wolfgang Bachmann

L ageplan R o u te T i mmelsj o c h 1 Granat 2 Fernrohr 3 Passmuseum

A

4 Schmuggler 5 Steg

Zwieselstein 4 5

Granat

Obergurgl

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Sterzing

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Ziel der Interventionen 1

war es, der TimmelsjochMoos in Passeier

straße ein neues Erscheiohne bunte Folklore auszubreiten. Oben: Bei Nacht leuchtender Aussichtpunkt „Granat“ in Moos.

Foto: Alex a Raine r

nungsbild zu geben,

S ta r t

St. Leonhard in Passeier


Bergstrecke

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iese Alpen-Überquerung ist nicht ohne. Auf alle Fälle sollte man nicht mit viertelvollem Tank losfahren, denn bei der immer steiler werdenden Bergstrecke narrt einen der Bordcomputer, und die gerade noch angezeigte Reichweite von 100 Kilometern schrumpft beängstigend rapide auf 30, 20... Befahren darf man die größtenteils ohne Leitplanken ausgeführte schmale Passstraße von Juni bis Oktober nur zwischen 7 und 20 Uhr. Und das empfiehlt sich schon deshalb, damit man die hinreißenden Bergpanoramen erleben kann. Das Timmelsjoch bildet die tiefste unvergletscherte Kerbe zwischen Brenner- und Reschenpass, sie wurde schon vor Jahrhunderten als gefährlicher Saumweg zwischen Passeier- und Ötztal für den Warenaustausch genutzt – von Kraxenträgern und, kaum komfortabler, von Händlern mit Maultieren und Pferden. Natürlich suchten auch Schmuggler auf dieser kürzesten Verbindung über den Alpenkamm ihre dunklen Geschäfte. 1955 bis 59 wurde schließlich die heutige Passstraße angelegt, zunächst von Österreich aus. Es sollte aber noch bis 1968 dauern, bis die Italiener mit ihrer von Mussolini für einen möglichen Einmarsch in Tirol angelegten Militärstraße eine durchgehende Nord-SüdVerbindung herstellten. Fluchtpunkte überm Abgrund Mittlerweile wurden dieser aussichtsreichen Passstraße einige Attraktionen hinzugefügt, die bei der Überquerung auf den Urlaub einstimmen oder mit einer Unterbrechung die Heimreise erträglicher machen. Dabei helfen die zwischen Moos (Italien) und Hochgurgl (Österreich) installierten Architekturskulpturen von Werner Tscholl. Rätselhaft begleiten diese fünf Follies an der Straße, Aussichtspunkte und Erlebnisstationen; sie erzählen etwas zu Geschichte und Region, vor allem stehen sie wie Artefakte, die ihre karge Bergumgebung scheinbar nur versuchsweise als benutzbare Gehäuse konfrontieren. Das Material ist rötlich eingefärbter Beton, auf dessen Oberfläche sich die raue OSB-Schalung abgedrückt hat, oder rostender Stahl (kein Corten!), der ebenfalls wie eine rationale Verdichtung aus der umgebenden Natur im Geröllfeld lagert. Alle folgen einleuchtend einer Räson, als gingen sie auseinander hervor oder seien andere geometrische

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Erscheinungsformen derselben Idee. Vor allem belasten sie die Bergwelt nicht als originelle, farbige Gehäuse, sondern besetzen ihre Positionen mit einem gewissen Ernst. Land-Art verbindet Länder In Moos erregt der „Granat“ Aufmerksamkeit, ein Nachbild der hier typischen Gesteinsformation, einmal als schwindelerregende Aussichtsplattform, dann als Schauraum. Einige hundert Meter höher lohnt es, sich den Blick durch zwei überdimensionale „Fernrohre“ auf den Granatkogel und den Hohen First lenken zu lassen, zwei lagernde, offene Pyramidenstümpfe, neben denen hingestreute Betonwürfel den Gegensatz zu den rauen Felstrümmern zeigen. Auf dem Gipfel erklärt das Passmuseum, ein provozierend auskragender Polyeder, die Geschichte des Straßenbaus. Schon weiter abwärts, mitten in der kargen Talsenke, widmet sich ein Würfel, den man durch zwei ausgesägte GanovenProfile betreten kann, dem Thema „Schmuggler“. Und zum Abschluss (oder zu Beginn, wenn man aus Tirol kommt) wird man noch einmal mit dem Talent der Tragwerksplaner konfrontiert, wenn man auf dem spitz ins Nichts ragenden „Steg“ die erlebbare Landschaft mit den Informationen auf den abgedruckten Tafeln vergleicht. Es sind außergewöhnliche Haltepunkte, die sich mit dem Landschaftsraum verbinden, mehr Kunst als künstlich, die man keinesfalls auslassen sollte. Schon um den Straßenkämpfen zwischen Wohnmobilen und Kamikaze-Motorrädern zu entgehen.

Schmuggler Grenzen haben schon immer zur Flucht, zum Untertauchen und vor allem zum illegalen Warentransport verführt. An die Vor-SchengenZeit erinnert der Kubus.

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Fotos: Richard Becke r

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