Kino der Moderne

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FILM IN DER WEIMARER REPUPLIK



FILM IN DER WEIMARER REPUPLIK

Herausgegeben von der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn und der Deutschen Kinemathek, Berlin


INHALT

6 Vorwort

18  MODERNES LEBEN

R A I N E R R OT H E R R E I N WO L F S

10 Individuum und Typ K R I S T I N A JA S P E R S ANNIKA SCHAEFER

58 Sport MAXIMILIAN WEINBERG

22 Arbeitswelten A N N I KA S C H A E F E R

64 Gender A N N E T T E D O R G E R LO H

28 Soziales PETER MÄNZ

70 Mode DA N I E L A S A N N WA L D

34 Kindheit KA R I N H E R B S T- M E S S L I N G E R

76 Stars & Fans T H O M AS M AC H O

40 Mobilität V E R A T H O M AS

82 Wissenschaften RALF FORSTER

46 Urbanität DIETRICH NEUMANN

88 Psychoanalyse K R I S T I N A JA S P E R S

52 Interieur N I L S WA R N E C K E


94 Avantgarde

136 NEUES SEHEN

J E A N PAU L G O E R G E N

100 Musik ALBRECHT DÃœMLING

106 Literatur K R I S T I N A JA S P E R S

112 Exotismus

140 Der Traum vom Kino Zur Filmtheorie in der Weimarer Republik A N TO N KA E S

152 Aufbruch ins Unbekannte Frauen hinter der Kamera G E R L I N D E WA Z

SUSANNE MARSCHALL

118 Natur M AT T H I A S S T R U C H

124 Laster WO L F G A N G T H E I S

130 Politik R O L F AU R I C H

164 ANHANG 166 Verzeichnis der Exponate 188 Personenregister 192 Filmregister 195 Bildnachweis 196 Impressum



MO DER NES

LEB EN


Wie keine andere Kunstform rezipiert und befördert der Film den Zeitgeist der Moderne: Mode und Sport, Mobilität und urbanes Leben, Genderfragen und das Entstehen der Psychoanalyse, aber auch die gesellschaftlichen Auswirkungen des Ersten Weltkriegs spiegeln sich im Kino der Moderne. Die Leinwand ermöglicht eine Form der Selbstbefragung: Wer sind wir, und wer wollen wir sein? Besonders deutlich wird dies, wenn man den Film im Austausch mit Alltag, Kunst und Kultur der Weimarer Republik betrachtet. Die Umbrüche in der Arbeitswelt und die oft äußerst prekären sozialen Verhältnisse werden vom Kino direkt gespiegelt. Ab Mitte der 1920er Jahre, während der Phase der sogenannten relativen Stabilisierung der Republik, beginnt der Film, sich verstärkt der zeitgenössischen Arbeitswelt zuzuwenden. Neue Typen tauchen auf der Leinwand auf, zum ­Beispiel »die Sekretärin« oder, allgemeiner, »der Angestellte«; erstmals kommen Themen wie Arbeitslosigkeit, Techni­ sierung und Maschinisierung auf die Agenda. Auch die extremen Unterschiede in den sozialen Verhältnissen werden sowohl im Spielfilm als auch in Repor­ tagen und Wahlkampffilmen thematisiert. Die Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen, überkommene Erziehungs­ methoden, ideologische Manipulationen oder Gewalt an Minderjährigen erscheinen auf der Leinwand.

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Die Metropole wird zum ikonischen Bild der Moderne. Berlin als pulsierende Hauptstadt der Republik ist Vorbild für Mobilität und Tempo. Der nervöse Lebensrhythmus und das Nebeneinander verschiedenster gesellschaftlicher ­Rea­litäten kulminieren in diesem Bild von Urbanität. Die neusachlichen Kino-­ Entwürfe Erich Mendelsohns und Hans Poelzigs bilden Inkunabeln der modernen Großstadtarchitektur. Neue Wohnund Designkonzepte, vom Bauhaus bis zur Neuen Sachlichkeit, werden in Form ­filmischer Requisiten umgehend rezipiert. Auch die Interdependenzen zwischen Mode und Film sind vielfältig: Designe­ rinnen und Designer beginnen, für die Studios zu arbeiten und Kostüme zu gestalten, ebenso wie einige Modejournalistinnen jener Zeit. Zugleich ist das Kino ein Sehnsuchtsort, der Nähe und Distanz schafft zwischen Fan und Star, der die Identifikation mit den Helden und das Spiel mit Identitäten ermöglicht. Die »Neue Frau« ist ein zentrales Schlagwort weiblicher Emanzipation in den 1920er Jahren. Die selbstbewusste Frau, die ihr Leben eigenverantwortlich gestaltet, wird L ­ eitbild einer neuen, jungen Generation. Zudem werden die noch im Kaiserreich gültigen Geschlechterrollen aufgebrochen: Homosexualität und Crossdressing werden auch vom Film aufgenommen und inszeniert. Vergnügen und Laster ­zeigen sich im »Babylon« Berlin in vielfältigen Facetten. Zeitgleich ­entwickelt sich der Sport zum Massenphänomen. Fußball, Boxen, Bergsteigen sowie ­Rad- und Motorsport sind beliebte


Freizeit­beschäftigungen und finden ­Eingang in den Film, der Boxweltmeister Max Schmeling erobert die Leinwand. Zur Erholung von der Stadt dienen Rückzugsorte auf dem Land, am Badesee oder am Meer. Neben den ländlichen Gebieten sind auch die Berge beliebter Ferienort, was wiederum im populären Genre des Bergfilms Widerhall findet. Die Entwicklungen in den Naturwissenschaften und der Medizin beeinflussen insbesondere den Kultur- und Lehrfilm. Mikroskop und Teleskop gewähren einen neuen Blick auf die Welt. Der Röntgen­ apparat ermöglicht Einblicke in den menschlichen Körper, und es entstehen Flugaufnahmen, die die Aufsicht auf die Welt erlauben. Doch auch neueste Errungenschaften auf dem Gebiet der ­Kriminologie werden vom Film aufgenommen, wie etwa in Fritz Langs M (1931). Dass das Medium auch zur Darstellung psychischer Vorgänge besonders geeignet ist, bemerken Filmemacher wie ­Psychoanalytiker gleichermaßen. Sigmund Freud wird zur Mitarbeit an mehreren Filmprojekten aufgefordert; zwei seiner engsten Kollegen, Hanns Sachs und Karl Abraham, beteiligen sich an G. W. Pabsts GEHEIMNISSE EINER SEELE (1926). Traumdarstellungen in Form von Mehrfachbelichtungen und Überblendungen prägen die Filmästhetik bis heute. Die experimentellen Möglichkeiten der ­Kinematografie werden schon früh von der künstlerischen Avantgarde genutzt; der expressionistische Film setzt einen ersten Meilenstein. Bildende Künstler

wie George Grosz und Fernand Léger wirken an Spielfilmprojekten mit, Expe­ rimentalfilmer wie Lázló Moholy-Nagy, Hans Richter oder Walther Ruttmann ­setzen sich auch theoretisch mit dem neuen Medium auseinander. Die Schriftsteller Bertolt Brecht, Arthur Schnitzler, Vicki Baum und Thomas Mann verfassen Drehbücher, Hanns Eisler, Paul Dessau und Walter Gronostay komponieren Filmpartituren. Lotte Reiniger verfilmt im Scherenschnitt-Animationsverfahren DIE ABENTEUER DES PRINZEN ACHMED (1926). Schon früh werden exotische Abenteuerfilme gedreht, so etwa von Joe May und Ernst Lubitsch. Hinzu kommen ethnolo­ gische Kultur- und Expeditionsfilme aus aller Welt. Dabei werden erstmals kolo­niale Blickperspektiven hinterfragt. Der Film verfolgt das Werden der ersten deutschen parlamentarischen Demo­ kratie von Beginn an: Von der Novemberrevolution über die frühen Krisen- sowie sich anschließenden Stabilisierungsjahre der Weimarer Republik bis hin zu ihrem Untergang ist er Zeuge ihrer Entwicklung. Dabei tritt er sowohl als politisches ­Instrument (Wahlkampffilm) wie auch als Spiegel seiner Zeit (Spielfilm) auf. Auch die historische Identität wird im Kino der Weimarer Republik zu einem bedeutenden Thema. Die »umkämpfte Erinnerung« galt beispielsweise dem Ersten Weltkrieg, doch spielen in alle Historienfilme, nicht nur in die Fridericus-Rex- oder Preußen-­ Filme, die politischen Auseinandersetzungen machtvoll hinein.

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A N N I KA S C H A E F E R

ARB EITS

WEL TEN Am 23. Dezember 1924 feierte Friedrich Wilhelm Murnaus Film DER LETZTE MANN Premiere im Berliner Ufa-Palast am Zoo. Emil Jannings verkörpert in dem von Carl Mayer er­dachten Stoff einen Hotelportier, der aufgrund seines fortgeschrittenen Alters vom einst angesehenen, prächtig uniformierten Wächter des Hoteleingangs zum kittelbe­kleideten Hüter der Herrentoiletten degradiert wird. Die beiden ­Schauplätze – hoch frequentierter, repräsentativer Hotel­ eingang und kellerartige Toilettenräume mit vergitterten

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Szenenbildentwurf »Büro Arvai« von Otto Hunte zu DIE PRIVATSEKRETÄRIN (1931, Wilhelm Thiele) | Kat. 32


Fensterschächten –, die Murnau in seinem Film erschließt und einander gegenüberstellt, sind mehr als nur Arbeits­ bereiche, die Mayers Drehbuch als Setting ­vorgeben: Sie werden (vielleicht in der Prägnanz zum ­­ersten Mal im deutschen Kino) als emotionale und soziale Transiträume inszeniert. Denn mit dem Wechsel des Arbeitsplatzes ­vollzieht sich ein Wandel im sozialen Gefüge: Der gesellschaftliche Abstieg des ehemaligen Hotelportiers scheint unaufhaltsam und kann letztlich nur durch einen Deus ex machina abgewendet werden. ­Murnaus Film ­pointiert: Die Erwerbsarbeit eines jeden I­ndividuums definiert und prägt seine soziale Stellung in der Gesellschaft.

DER LETZTE MANN ist einer der ersten Spielfilme in der ­Weimarer Republik, der den Arbeitsplatz als wirkmächtigen gesellschaftlichen Raum in den Film übersetzt. Den zeitgenössischen Rahmen bildet hier die ab Mitte der 1920er Jahre einsetzende »relative Stabilisierung«, eine Phase der wirtschaftlichen und innenpolitischen Beruhigung, die ebenso das kulturelle und intellektuelle Klima berührte. Der revolutionär-utopische Idealstaat der ersten Krisenjahre wich der konsolidierten parlamentarischen Demokratie, die Extreme des Expressionismus wurden von der Nüchternheit der Neuen Sachlichkeit abgelöst. Diese lebensweltlichen Veränderungen der Weimarer Gesellschaft beeinflussten auch die sich stetig ausdifferenzierenden und rationalisierenden Arbeitswelten.

Illustrierter Film-Kurier (Wien), Nr. 171, DIE PRIVATSEKRETÄRIN (1931, Wilhelm Thiele)

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Geprägt vom Streben der Neuen Sachlichkeit nach Objektivität und der Darstellbarkeit von Wirklichkeit, sucht auch der Film nach neuen Erzählungen, innovativen ­Motiven und zeitgenössischen Figuren und wurde unter anderem in den Arbeitswelten fündig. Bis dato nur wenig berücksichtigte Schauplätze und Protagonisten wurden ab Mitte der 1920er Jahre zentrale Elemente deutscher Filmproduktion: Arbeiter in Fabriken, Kumpel im Unter­tagebau, Verkäuferinnen und Verkäufer in Geschäften, Sekretärinnen in Vorzimmern, Journalisten und Redakteure in Großraumbüros, Beamte in Dienststellen, Ingenieure in Zeichenräumen, Bankdirektoren in Chefbüros – die Vielfalt der Arbeitswelten im Film war groß, stets orientiert am Moment des Gegenwärtigen. Ein beliebtes Handlungs­muster waren die romantischen Verwicklungen von Chef und Sekretärin am Arbeitsplatz; das Chefbüro erwies sich besonders seit der Tonfilmzeit als ein immer wieder gern bespieltes Set. Als lichtdurchflutete, im obersten Stock angesiedelte Schaltzentrale von kapitaler und amouröser Macht vereint der von Filmarchitekt Otto Hunte großzügig entworfene Arbeits­raum des Bankdirektors Arvai (Hermann Thimig) in Wilhelm Thieles DIE PRIVATSEKRETÄRIN (1931) seriöse

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Hermann Thimig (als Bankdirektor Arvai) und Renate Müller (als Sekretärin Vilma Förster) in DIE PRIVATSEKRETÄRIN (1931, Wilhelm Thiele)


Hierarchie und weltmännisches Auftreten. Primat hat hier die Präsentation: Der Direktorenschreibtisch steht zentral vor dem deckenhohen Fenster, der Teppich verläuft vom Haupteingang fast schon unerbittlich auf ihn zu. Nach hinten abgerückt und damit in seiner Bedeutung beschnitten ist der deutlich kleinere Schreibtisch der Sekretärin, auf dem Hunte detailgetreu eine Schreibmaschine einzeichnete – das Werkzeug der jüngst etablierten und weiterhin wachsenden Schicht der Angestellten. Siegfried Kracauer widmete sich 1929 in einer Studie der neuen sozialen Schicht, deren »Leben unbekannter ist als das der primitiven Völkerstämme«. Sogar ein Filmprojekt entstand daraus: Mit dem Künstler und Experimental-

filmer Hans Richter korrespondierte Kracauer im Sommer 1930 über die Planung eines »Angestellten-Films«. Letztlich wurde der zwar nie realisiert, doch bevölkerten die An­­ gestellten als Figuren zunehmend die deutsche Spielfilmproduktion, dort vor allem die großen Bürosäle, die sich, analog zur historischen Wirklichkeit, mit ihrem rationalisierten Mobiliar zu Effizienzräumen verdichteten, in denen möglichst viele Menschen möglichst kostengünstig ihre Arbeit verrichten. Szenenbildner Erich Kettelhut entwarf das Großraumbüro in DER SIEGER von 1932 (Hans Hinrich, Paul Martin) entsprechend als hohen Raum mit Galerie, wodurch auf zwei Ebenen effektive Schreibtischkolonnen arrangiert werden können.

Szenenbildentwurf eines Großraumbüros von Erich Kettelhut zu DER SIEGER (1932, Hans Hinrich, Paul Martin) | Kat. 31

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KA R I N H E R B S T- M E S S L I N G E R

KI ND HE IT

Im Alter von sechs Jahren wurde Jackie Coogan an der Seite von Charles Chaplin in THE KID (USA 1921) zum Filmstar. »Die Weltkonkurrenz in Kinderstars hat angefangen«, kommentierte Béla Balázs die Entwicklung im internatio­ nalen Filmgeschäft, für die der Junge stand. Ebenso ­erfolgreich wie Coogan waren im Hollywood der Stummfilmzeit Diana Serra Cary (»Baby Peggy«), die ab 1921 Hauptrollen in mehr als 100 Kurzfilmen spielte, und Mary Pickford, die als »Little Mary« bereits ab 1909 in ­Filmen von D. W. Griffith mitwirkte. Die Karriere der berühmten Shirley Temple begann 1932.

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Szenenfoto, DIE VERRUFENEN (1925, Gerhard Lamprecht), Foto: Walter Lichtenstein


Selbstporträts eines anonymen Mädchens und eines anonymen Jungen, Photomaton-­ Fotos, um 1930 | Kat. 61, 60

Mit verleihbedingten Verzögerungen waren die amerikanischen Kinderstars auch in den Kinos der Weimarer Republik zu sehen und füllten dort eine Lücke: Als eigenständige Zielgruppe wurden Kinder von der deutschen Filmindustrie erst nach 1933 berücksichtigt. Bis dahin ­zählten Märchenverfilmungen wie ASCHENPUTTEL (1922) oder der Silhouetten-Animationsfilm DIE ABENTEUER DES PRINZEN ACHMED (1926), beide realisiert von der Film­pionierin Lotte Reiniger, zu den cineastisch anspruchsvollen und dabei jugendfreien Ausnahmen im Kino jener Zeit. Der 1928 von G. W. Pabst gegründete Volksverband Filmkunst e. V. war einer der wenigen Interessenverbände, die die Herstellung von Kinderfilmen forderten: »Es gibt bisher keine Filme für ­Kinder«, war im November 1929 in der Zeitschrift Film und Volk zu lesen. »Die Filme, die jetzt Kindern in ›Jugendvorstellungen‹ vorgesetzt werden, sind die üblichen Wildwestgeschichten, jugendfreie Kitschfilme oder andere Erzeugnisse, die normalen Menschen nicht mehr geboten werden können. Die einzigen annehmbaren Versuche in dieser Art sind die sorglosen amerikanischen Kindergrotesken, in denen nur Kinderdarsteller mitwirken.« Auch die Inter­ nationale Arbeiterhilfe (IAH) setzte sich für die jungen Kinogänger ein und veranstaltete ab Mitte der 1920er Jahre deutschlandweit regelmäßig zielgruppengerechte Filmabende. Dem jungen Publikum wurden dabei aktuelle russische Produktionen gezeigt, in denen es um die ­»sozialistische« Lebensrealität von Kindern ging; die Mitwirkenden waren Arbeiterkinder.

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Marga Köhler, Ossi Oswalda, Victor Janson und Gerhard Ritterband (v. l. n. r.) in DIE PUPPE (1919, Ernst Lubitsch)

Screenshot, DIE KINDER-REPUBLIK (1928, Aufnahmen: Lorenz Paringer)

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Wohl gab es in der Weimarer Republik eine Vielzahl von ­Filmen, in denen Kinder und auch Jugendliche eine wichtige Rolle spielen. Aufgrund restriktiver Zensurgesetze waren diese Werke aber nur dem erwachsenen Publikum zu­gänglich. Ernst Lubitsch erfand eine der wenigen jugendlichen Filmfiguren jener Jahre mit komödiantischer Note: den stets zu Streichen aufgelegten Lehrling (Gerhard Ritter­ band) in dem Lustspiel DIE PUPPE (1919) – einer heiteren Reminiszenz an Lubitschs eigene Lehrzeit in einem Berliner Stoffgeschäft. In Richard Oswalds Spielfilm DIE GEHEIMNISSE VON LONDON (1920) nach Motiven von Charles Dickens’ Oliver Twist übernahm der ungarische Kinderstar Manci Lubinsky den Part des Waisenjungen Percy und damit als erstes Kind eine Hauptrolle in einer deutschen Filmproduktion. Gerhard Lamprecht thematisierte in seinen drei von Heinrich Zille inspirierten Sozialdramen DIE VERRUFENEN

(1925), DIE UNEHELICHEN (1926) und MENSCHEN UNTER­ EINANDER (1926) explizit das in der Folge des Ersten Weltkriegs entstandene soziale Elend, von dem viele Kinder in der Großstadt Berlin betroffen waren. Lamprechts genauer Blick für aktuelle gesellschaftspolitische Fragen und nicht zuletzt seine einfühlsame Regiearbeit machen diese Filme zu berührenden Plädoyers gegen die Miss­ handlung und Ausbeutung von Kindern durch Erwachsene. Als Begründer der sogenannten Aufklärungs- oder ­Sittenfilme, die in der Phase der Zensurfreiheit nach dem November 1918 entstanden (vgl. dazu Theis, hier S. 127 ff.), machte Richard Oswald immer wieder auf die Auswirkungen gesellschaftlich tabuisierter Themen auch für junge Menschen aufmerksam; dazu zählten Drogenkonsum oder – damals ebenfalls strafrechtlich verfolgt – Schwanger­ schaftsabbruch und Homosexualität. 1918 drehte Oswald DAS TAGEBUCH EINER VERLORENEN nach Margarete

Illustrierter Film-Kurier, Nr. 1322 (11. Jg.), 1929, mit einer Zeichnung von Käthe Kollwitz zu M ­ UTTER KRAUSENS FAHRT INS GLÜCK (1929, Phil Jutzi) | Kat. 48

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DIETRICH NEUMANN

URB

ANI

TÄT Es ist eines der mächtigsten Bilder der Filmgeschichte: der gewaltige Turm der Zukunftsstadt Metropolis, der sich drohend und triumphierend zugleich über den Verkehrsströmen einer dunklen Straßenschlucht erhebt. Unzählige Male ist dieses Bild reproduziert worden – als Beispiel für die architektonische Fantasie des Weimarer Kinos, für den Amerikanismus der 1920er Jahre und für die erste ­Darstellung einer Stadt der Zukunft im Film überhaupt. New York hatte bei Fritz Lang einen ungeheuren Eindruck hinterlassen – er versuchte die Lichterfülle des Broadway mit einer Doppelbelichtung einzufangen –, ebenso wie bei seinem Kollegen Friedrich Wilhelm Murnau, der den Hochhäusern Manhattans mit Stereofotografie bei­­kom­­ men wollte.

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Szenenfoto, METROPOLIS (1927, Fritz Lang)


Broadway bei Nacht, 1924, Foto: Fritz Lang | Kat. 77

New York, um 1926, Foto: Friedrich ­Wilhelm Murnau | Kat. 78

Auf den ersten Blick handelt Fritz Langs METROPOLIS (1927) von einer erfolgreichen Revolution in der Stadt der Zukunft. Der Arbeiterführer und der geläuterte Herrscher geben sich am Ende friedlich die Hand: Von nun an soll das Herz zwischen Hirn und Händen vermitteln. Doch da sind auch eine Liebesgeschichte, ein weiblicher Roboter, ­Reli­gionssymbolik, Eifersucht zweier Rivalen und zahllose Anspielungen auf aktuelle Stadtdiskussionen. Die Premierenkritik war allerdings wenig begeistert. Der Film sei zu lang, zu kitschig, die Handlung ungelöst: »Ein unge­ heures Stückwerk fiel jammervoll auseinander«, schrieb Axel Eggebrecht in der Weltbühne. Auch die grandiose Zukunftsstadt hinterließ erstaunlicherweise keinen großen Eindruck: Sie wurde als »Über-Chicago der angeblichen Zukunft« abgetan – so Walter Riezler in der Zeitschrift Die Form – oder allgemein als »schwer enttäuschend« ­empfunden.

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Werkfoto, METROPOLIS (1927, Fritz Lang) | Kat. 326

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Szenenbildentwurf ­»Metropolis Stadt 1. Fassung« von Erich Kettelhut, zu M ­ ETROPOLIS (1927, Fritz Lang) | Kat. 82

Szenenbildentwurf ­»Metropolis II. Fassung« von Erich Kettelhut, zu METROPOLIS (1927, Fritz Lang) | Kat. 83

Sicher lag das anfänglich geringe Interesse daran, dass  die große Stadtansicht nur knapp eine Minute lang auf  der Leinwand erschien, also nur 0,6 Prozent der Gesamt­ spielzeit von zweieinhalb Stunden. Schuld war die ­mühsame Herstellung im »Einergang« – also im Stop-­ Motion-Verfahren – Bild für Bild. Vor jeder Aufnahme ­mussten Flugzeuge, Schnellbahnen, Autos und Fußgänger in dem sechs Meter tiefen Modell einzeln vorgerückt ­werden. Es dauerte viele Wochen, die 1  500 Einzelbilder aufzunehmen. Der britische Science-Fiction-Autor H. G. Wells war der Einzige, der sich genauer mit der Stadtvision befasste: METROPOLIS sei der dümmste Film, den er je gesehen habe, schrieb er in der New York Times. Vor allem die ver­ tikale soziale Schichtung lehnte er als veraltet ab, Arbeiter und Fabriken würden in die Vorstädte verdrängt werden und nicht in unterirdische Höhlen. Dabei war die vertikale Stadt eines der großen Themen der 1920er Jahre. Ein »Hochhausfieber« hatte Deutschland erfasst. Zahllose unausgeführte Entwürfe versuchten, dem Zukunftsbild des amerikanischen Wolkenkratzers eine deutsche Alternative entgegenzusetzen – statt des New Yorker Wildwuchses historisierender Türme etwa einen zentralen Großbau. Beispiele sind der Leipziger Messeturm von 1920 oder Mies van der Rohes geschichtsloser ­glas­umhüllter Zylinder von 1922. Mies’ Freund Ludwig ­Hilberseimer schlug 1924/1926 eine erschreckend radikale Gliederung von Verkehrsebenen, Büro- und Wohnbauten vor – unendlich fortsetzbar. Hinweise auf solche Ideen finden sich schon in den ­beiden Vorskizzen des Filmarchitekten Erich Kettelhut für METROPOLIS. Die erste Version zeigt elegante Fußgängerbrücken über Straßen und Eisenbahngleisen, Schaufenster, Parkplätze, Hochhäuser mit Glasverkleidung oder Fensterbändern und im Hintergrund die Altstadt mit ihrer Kathe­ drale – eine durchaus einladende Zukunftsvision, die Platz für urbanes Leben und Flaneure lässt. Fritz Lang schritt ein und schrieb: »Kirche fort, dafür Turm Babel.« Der taucht im Hintergrund der zweiten Fassung auf, mit auskragendem Flughafen an der Spitze, doch die Stadtlandschaft scheint nach wie vor lebenswert. Lang wird noch einmal protestiert haben: Als Ort für die Arbeiterrevolte gegen einen brutalen Herrscher war das nicht überzeugend. Die Endfassung schließlich hatte die Stadt von der Utopie in eine Dystopie verwandelt: Von der Höhe des 50. Stockwerks blicken wir in dunkle Straßenschluchten, Menschen sind kaum zu erkennen. Die Bauten im Vordergrund sind auf 40 bis 80 Geschosse angewachsen, im Hintergrund thront des Herrschers Turm von 200 Stockwerken. Als der spanische Kritiker und angehende Regisseur Luis Buñuel 1927 METROPOLIS sah, schrieb er begeistert: »Von nun an wird für immer der Architekt den Set Designer

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DA N I E L A S A N N WA L D

MO DE

»Ich zieh den Feh an und wirke«: Der Mantel, ein lang­­­­haa­ riger Eichhörnchenpelz, kleidet Doris, die in Berlin ein neues Leben anfangen will. Die Titelfigur aus Irmgard Keuns Roman Das kunstseidene Mädchen hat das teure Stück geklaut. Und sie weiß, wie sie ihren Körper am besten zur Geltung bringt und Männern ein wenig den Kopf verdreht, auch wenn sie sonst nicht viel weiß. Nicht die ­vielen possierlichen Tierchen, die ihr Leben für den Feh ­lassen mussten, kommen dem Bewunderer der damit bekleideten Frau in den Sinn, vielmehr verführt das weiche Fell zum Streicheln, Schmiegen und Schmusen, zum ­Auspacken der darunterliegenden Schichten – seidiger Stoff auf junger Haut, die selbst mit Seide assoziiert wird. Der Feh war vielleicht das einzig Echte an der berühmten Romanheldin: Als um 1925 die Kleidersäume bis kurz unters Knie hochrutschten, waren Schenkel und Fesseln von Frauen plötzlich den Blicken der Öffentlichkeit ausgesetzt und damit Objekte modischer Gestaltung. Kurz vorher hatte Kunstseide aus Holz- und Baumwollzellulose eine Qualität erreicht, die von echter Seide kaum noch zu unterscheiden war, und jetzt waren Strümpfe beispielsweise auch für die »Mädchen aus der Konfektion« erschwinglich, die das Geld dafür mühsam genug zusammensticheln mussten: »Hungern dürfen die Mädels noch und noch, die Hauptsache ist, dass sie gut angezogen sind, denn sonst finden sie überhaupt keine Arbeit« – so beschrieb ein ­Artikel in einer Ausgabe der Arbeiter-Illustrierte-Zeitung von 1924 das Schicksal der Näherinnen in den Textilmanufakturen um den Berliner Hausvogteiplatz.

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Die Mannequin-Börse in der Lindenstraße, ­Berlin, März 1929 | Kat. 128


Dazu trugen die jungen Frauen Unterwäsche aus Char­ meuse, einem ebenfalls aus der neuen Faser gewirkten ­Trikotstoff; und auch luftige Chiffonkleider für den Arbeitstag und noch luftigere für die durchtanzten Nächte waren nicht mehr aus Naturseide, was den Entwürfen etwa der Kostümbildnerin Aenne Willkomm nicht anzusehen ist – hauchzart und bunt getupft wie ihre Aquarelle konnten beide Seiden sein. Der gleiche gerade Hänger-Schnitt kennzeichnete sowohl Tages- als auch Abendkleider. ­Letztere hatten tiefere, paillettenverzierte Dekolletés und wurden durch Perlenketten, Boas und Stirnbänder ergänzt: Fortsetzung des Kunstseidenglanzes mit anderen Mitteln – und zumindest die Federn waren echt.

Dame im gepunkteten Kleid. Kostümentwurf von Aenne Willkomm, Ende der 1920er Jahre | Kat. 137

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Szenenbildentwurf von Erich Kettelhut zu EINBRECHER (1930, Hanns Schwarz) | Kat. 141

Andrée Doussin trägt einen Hauspyjama mit bestickter Jacke, 1925, Foto: Ernst Sandau | Kat. 140

Kostümentwurf von Aenne Willkomm für die Maschinen-­ Maria, M ­ ETROPOLIS (1927, Fritz Lang). Aenne ­Willkomms Ehemann, der Filmarchitekt Erich Kettelhut, erinnert sich, dass sich die meisten Schuhmacher weigerten, diese fersenfreien Riemchensandalen ­herzustellen. | Kat. 139

Nur die extravaganten Schuhkreationen in den feinen Geschäften waren zu kostspielig für »die kleinen Ladenmädchen«: Sandalen, die früher von Armut gezeugt hatten, wurden nun aus Samt und Satin, Schlangen- und Krokodilleder gefertigt. Strass, Perlen, Gold- und Silberbesätze zierten die hauchdünnen Leder- oder Stoffstreifen und die oft hohen Absätze, wie ein Kostümentwurf von Aenne ­Willkomm für die Maschinen-Maria in METROPOLIS (1927, Fritz Lang) zeigt. Der weibliche Fuß, der jahrhundertelang unsichtbar gewesen war, durfte nun nicht nur ausgestellt, sondern sogar inszeniert werden; und selbst die robusteren Riemchenpumps mit niedrigeren Blockabsätzen, wie sie die hart arbeitenden Frauen tagsüber trugen, verweisen noch auf die neue Lust an der Schuhmode.

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»Erst die Beinfreiheit macht die Eroberung des öffentlichen Raumes möglich«, schreibt die Modehistorikerin Barbara Vinken, und wenn man die munteren jungen Angestellten etwa in MENSCHEN AM SONNTAG (1930, Robert Siodmak, Edgar G. Ulmer, Rochus Gliese – erste Drehtage) durch die Stadt eilen sieht, denkt man, dass sie das Laufen, das ­Ausschreiten erst vor Kurzem gelernt hätten, so viel Spaß scheinen sie – Kleinkindern ähnlich – an der Bewegung zu haben. Dazu passt das sportlich-knabenhafte Körperideal, wie es etwa die Schauspielerin Lilian Harvey perfekt vorführte und das durch die Hängekleider mit tief sitzender Taille betont wurde. Das Kleid umspielte und kaschierte auch sehr weibliche Körperformen, machte jede Frau zum Girl.


Lilian Harvey mit zwei Garderobieren bei der Anprobe fĂźr den Film EINBRECHER (1930, Hanns Schwarz) | Kat. 142

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K R I S T I N A JAS P E R S

PSY CHO

ANA LYSE Bilder von Granateinschlägen und Bombenhagel suchen den ehemaligen Soldaten Martin (Franz Lederer) auch zehn Jahre nach Kriegsende in seinen Träumen heim. Wild überlagern sich in Carl Froelichs ZUFLUCHT (1928) Erinnerungsfetzen von Schützengräben mit Bildern der Novemberrevolution und zeigen, dass Martin seinen Platz in der Gesellschaft noch nicht wiedergefunden hat. Schon 1919 hatte Robert Reinert im Prolog zu seinem Film NERVEN allegorische Bilder des Krieges zur Beschreibung des gesellschaftlichen Zustandes genutzt: Die Welt ist aus den Fugen, die Nerven sind zerrüttet, das Werte­system zerstört. Auch Robert Wienes expressionistisches Psychodrama DAS CABINET DES DR. CALIGARI, im Februar 1920 uraufgeführt, ließe sich als ein solches Zeitbild lesen.

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Werner Krauß als Dr. Caligari, DAS CABINET DES DR. CALIGARI (1920, Robert Wiene)


Der Erste Weltkrieg hatte ein neues Krankheitsbild her­ vorgebracht, die Kriegsneurose. Als »Zitterer« wurden ­Sol­daten beschrieben, die nach traumatischen Erlebnissen an der Front mit Schütteltremor und anderen Symptomen nicht mehr einsatzfähig waren. Im September 1918 ­be­­nannte Freud auf einer Tagung zur Kriegsneurose in Budapest den Konflikt zwischen dem Friedens-Ich und dem ­kriegerischem Ich als Krankheitsursache. Demnach bedrohe das Soldaten-Ich als eine Art »parasitischer Doppelgänger« das friedliche Ich. Die Figur des Doppelgängers hatte Freuds Kollege Otto Rank bereits 1913 Stellan Ryes Film DER STUDENT VON PRAG entlehnt und als Ausdruck einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung interpretiert.

Plakat zu NERVEN (1919, Robert Reinert), Entwurf: Josef Fenneker | Kat. 159

Albtraum vom Krieg, Screenshots, Franz Lederer in ZUFLUCHT (1928, Carl Froelich)

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Conrad Veidt mit ­Doppelgänger, DER STUDENT VON PRAG (1926, Henrik Galeen)

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Traumsequenz, GEHEIMNISSE EINER SEELE (1926, G. W. Pabst)

Freuds Schüler Ernst Simmel, der als Militärarzt praktizierte, entwickelte während des Krieges eine psycho­ analytische Kurzzeittherapie, die aus Analysegespräch, Hypnose und kathartischem Ausagieren bestand und durchaus Erfolge erzielte. In zahlreichen Krankenhäusern wurde seine Methode imitiert, wenn auch bisweilen recht rabiat und ohne psychoanalytische Grundierung, wie Filmaufnahmen aus dem Allgemeinen Krankenhaus Hamburg-­Eppendorf belegen. Nach Simmel erlebt der ­Patient unter Hypnose das traumatische Ereignis erneut, und zwar wie im Kino: »›Der Film‹ wird noch einmal ab­gerollt; der Kranke träumt das Ganze noch einmal«, schrieb er 1919. Diese Technik wird auch heute noch bei posttraumatischen Belastungsstörungen eingesetzt.

Das Nachkriegskino der Weimarer Republik kann also als eine Art kollektive Traumatherapie betrachtet werden. Wiederkehrende Albträume und wahnhafte Bilder bestimmten besonders den expressionistischen Film. Bereits in frühen filmtheoretischen Texten wurde auf die strukturelle Ähnlichkeit zwischen Film und Traum hin­ gewiesen. Die Prinzipien der Montage und der Fragmen­ tierung scheinen ähnlich; die Flüchtigkeit der Bilder, ihre assoziative Verknüpfung sowie die Unmöglichkeit des ­Eingreifens verbinden den Zustand des Träumens mit dem des Filmschauens. Die Nähe der Bildsprache zum Unbewussten kann durchaus als einer der Gründe für den Erfolg des Mediums Film gelten.

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WO L F G A N G T H E I S

LA ST ER Als Curt Morecks Führer durch das lasterhafte Berlin 1931 erschien, ging es mit dem Laster wie mit der Weimarer Republik bergab. Vergnügungslokale wurden immer häufiger kontrolliert und geschlossen. Das Tragen von Dreiecksbadehosen, die männliche Reize kaum verhüllten, wurde 1932 durch einen Polizeierlass in öffentlichen Badeanstalten untersagt. Die Weimarer Republik erlebte auch sonst ­stürmische Zeiten. Die Demokratie wurde von links und rechts abgelehnt, in der Bevölkerung war sie unbeliebt, viele trauerten noch immer ihrem Kaiser nach. Auch Künstler und Intellektuelle pflegten ihre Vorbehalte gegen die Republik. Die NSDAP stieg zur stärksten Partei auf. Noch Anfang der 1920er Jahre, nach den traumatischen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, der Novemberrevolution und der Inflation, war das Laster nicht nur für die Boheme von schillerndem Reiz. Berlin, als aufstrebende Weltstadt mit ungeheuren sozialen Spannungen, wurde zum Sündenpfuhl der Nation. Weltreisende und Provinzler suchten hier den Kick des Verruchten. Die Illustrierten, das Radio und der Film propagierten den Rhythmus der Großstadt: Hochhäuser, Lichtreklame, Verkehrsgewühl, Nachtlokale, Jazz – und Girls; Girls in Reihen, gleichförmig,

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Transvestiten im Lokal Eldorado in der ­Motzstraße in Berlin-­ Schöneberg, 1929, Foto: Herbert Hoffmann | Kat. 239


Screenshot, Reinhold Schünzel, DER HIMMEL AUF ERDEN (1927, Alfred Schirokauer)

Plakat zu JENSEITS DER STRASSE (1929, Leo Mittler, ­Albrecht Viktor Blum), Entwurf: Peter Pewas | Kat. 242

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Collage, vermutlich von Umbo, zu BERLIN. DIE SINFONIE DER GROSSSTADT (1927, Walther Ruttmann) | Kat. 248

Selbstporträts eines anonymen Paares, ­Photomaton-Fotos, um 1929 | Kat. 235

Porträt von Valeska Gert, DIE 3-GROSCHEN-OPER (1931, G. W. Pabst), Foto: Hans G. Casparius | Kat. 251

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Plakat zu ALKOHOL (1919, Alfred Lind, E. A. Dupont), Entwurf: Hans Rudi Erdt | Kat. 241

spärlich bekleidet, verfügbar. Die Fotografen Umbo und Heinz Hajek-Halke collagierten den Vergnügungswirbel in ihren Arbeiten. Die Fotocollage war das ideale Medium für die Gleichzeitigkeit der Attraktionen des Nachtlebens. Bubikopf und kniekurze Kleider ergaben ein neues Körpergefühl, eine Befreiung des weiblichen Körpers, die vor dem Krieg undenkbar schien. Hatte die Niederlage alle Moral hinweggefegt? Die Emanzipation der Frau, der Invertierten, der Transvestiten war vor allem ein Phänomen in den Metro­­ polen, genossen von einer Schicht der Kriegsge­winnler, der Boheme, der kleinen Angestellten. Misstrauisch beäugt von der Bourgeoisie und der Arbeiterschaft. Was heute unter dem Mythos der »goldenen Zwanziger« kolportiert wird, war wohl nur ein Minderheitenphänomen. Die Bevölkerung der Weimarer Republik hatte mehrheitlich ganz andere Sorgen.

Ins Kino aber gingen alle. Eine Flut von Aufklärungs­filmen ergoss sich über das geneigte Publikum: über Alkoholmissbrauch und vor allem über Prostitution. Gefallene Mädchen, verlockend und alle Opfer fieser Männer, enden meist tragisch. Unzucht wird zum Kitzel der Saison. Nach der ersten anarchischen Welle der filmischen Aufklärung von 1918 bis 1920 wird es gediegener, die Filmzensur kehrt zurück. Jetzt wird literarisch anspruchsvoll inszeniert: Als Wedekinds Lulu tritt die männer- und frauenverschlingende Louise Brooks auf (DIE BÜCHSE DER PANDORA, 1929, G. W. Pabst); an ihrer Seite, in einer kleinen Nebenrolle, die berlinbekannte Speedy Schlichter und ihre Knöpf­ stiefeletten (TAGEBUCH EINER VERLORENEN, 1929, ebenfalls G. W. Pabst). Ein kreativer Fall von Schuhfetischismus, auch in der Kunstgeschichte.

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A N TO N KA E S

DER TRAUM VOM KINO

ZUR FILMTHEORIE IN DER WEIMARER REPUBLIK

DA S M E D I U M D E R M O D E R N E War es Übertreibung, als Rudolf Arnheim im Oktober 1931 rückblickend die Entstehung des Films mit dem Epochenumbruch der Französischen Revolution verglich? Er schrieb: »Zum ersten Mal in geschichtlicher Zeit entsteht eine ganz neue Kunstform und wir können sagen, wir seien dabei gewesen.«1 Dieses Fazit, das auf Goethes Kommentar zur Schlacht von Valmy 1792 anspielt, fand trotz seiner ­ironischen Überspitzung ein vielfaches Echo in der Zeit. So behauptete Walter Benjamin 1927: »Unter den Bruch­ stellen der künstlerischen Formationen ist eine der gewaltigsten der Film. Wirklich entsteht mit ihm eine neue Region des Bewusstseins.«2 Das neue Medium wirkte in der Tat wie ein Erdbeben in der damaligen Medienlandschaft, dessen Nachbeben bis zum jüngsten digital turn spürbar sind. Der Kanon der etablierten Künste wurde durch den Film erschüttert und für immer destabilisiert, die klassischen Vorstellungen von Zeit und Raum wie von Gesellschaft und Politik wurden umgeworfen, und die unmittelbare Umwelt wurde neu wahrgenommen. Im Kino erschien alles in einem anderen Licht. Die Weimarer ­Republik wusste, dass mit dem technischen Medium des Films etwas »gänzlich Neues« in die Welt getreten war. Etwas Neues, das es zu verstehen und zu lenken galt und das ­deshalb eine »Theorie« brauchte.

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Porträt von Rudolf Arnheim


Theorie bedeutet hier nicht ein geschlossenes System, wie es Siegfried Kracauer 1960 in seiner Abhandlung T ­ heorie des Films entwarf oder wie man es in der Filmwissenschaft seit den 1970er Jahren findet. Zu Recht meinte Kracauer 1929: »Die Filmkunst ist noch zu jung, als dass der Versuch zu einer Typologie oder Inventarisierung ihrer Erzeugnisse aussichtsreich wäre.«3 Die Theorie befand sich in den Anfängen des Kinos ebenso in statu nascendi wie das Medium selbst, sie war unfertig, unsystematisch und immer beweglich im Hinblick auf technische Neuerungen und gesellschaftliche Veränderungen. Es war eine dynamische Filmtheorie, der es weniger um starre Klassifikation als um historischen Wandel ging. Dieses öffentliche Nachdenken über Film und Kino war prinzipiell zukunftsbezogen und oft unabhängig von der konkreten Filmproduktion, die wegen kommerzieller Zwänge, technischer Mängel oder staatlicher Zensureingriffe meist als unzulänglich empfunden wurde. Die Filmtheorie der Weimarer Republik legte die Betonung auf die Möglichkeiten des Mediums selbst.

Porträt von Walter Benjamin

In diesem Sinne hatte auch Béla Balázs’ Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films 1924 die Funktion der Filmtheorie definiert: »Sie ist die Landkarte für den Wanderer der Kunst, die alle Wege und Möglichkeiten zeigt, und was zwingende Notwendigkeit zu sein schien, als einen zufälligen Weg unter hundert andern entlarvt. Die Theorie ist es, die den Mut zu Kolumbusfahrten gibt und jeden Schritt zu einem Akt freier Wahl macht.«4 Der Filmtheore­ tiker hatte die Aufgabe, prinzipielle Möglichkeiten des Mediums freizulegen und neue Routen zu erkunden, die denkbar waren. Die Theorie war der Traum vom Kino. Das profunde Bewusstsein eines Neubeginns verschaffte dem neuen Medium eine Resonanz, die weit über den Kinosaal hinausging und als soziales Phänomen in alle Lebensbereiche hineinwirkte. Nicht nur Filmkritiker und Schriftsteller kommentierten die Gegenwart und Zukunft des Kinos, auch Juristen, Mediziner, Psychologen, Päda­ gogen und Pastoren fühlten sich berufen, die Relevanz des jungen und schnell wachsenden Mediums zu erklären.

Porträt von Béla Balázs, Foto: Atelier Jacobi | Kat. 459

Porträt von Siegfried Kracauer, um 1930

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Im Vergleich zu den traditionellen Künsten wie Theater und Literatur war der Film radikal modern, da er funktionierende Apparaturen und elektrischen Strom erforderte. Es wundert deshalb nicht, dass der Film als technisches ­Massenmedium bald zur Chiffre der industriellen urbanen Welt wurde. In der Auseinandersetzung mit Film und Kino schwangen immer auch offene Fragen nach einer Moderne mit, gegen die man sich in Deutschland lange gewehrt hatte. Auch gegen das Kino gab es anfänglich starken Widerstand, der noch in der Weimarer Republik fortwirkte und in Theodor W. Adornos Abrechnung mit Hollywoods Kulturindustrie in Dialektik der Aufklärung (1944) ­kulminierte. Kritik am Kino war immer auch Kritik an der Moderne. Es ist kein Zufall, dass das neue Medium in keinem Land heftiger diskutiert und kritisiert wurde als in Deutschland. Das Selbstverständnis als Kulturnation verhinderte für lange Zeit, dass ein technisches Industrieprodukt als Kunst akzeptiert wurde, und ein Großteil der Diskussionen drehte sich darum, wie man das Kino vom Stigma der niedrigen Geburt befreien könnte. Das deutsche Bildungsbürgertum, das seine kulturellen Privilegien zunächst durch das pro­ letarisch-demokratische Massenmedium bedroht sah, unternahm mithilfe der Filmtheorie bald alle Anstren­ gungen, den Film als neue Kunstform in die bürgerliche Kultur zu integrieren.

F I L M K U N S T U N D KU LT U R I N D U S T R I E Welchen Platz im etablierten System der Künste sollte das technische Medium Film einnehmen? Theoretische Über­legungen kreisten von ihren Anfängen bis weit in die 1920er Jahre hinein um diese Frage. Schon 1913 verglich der Philosoph Georg Lukács in seinem Essay »Gedanken zu einer Ästhetik des ›Kino‹« die Eigenschaften von Schaubühne und Film. Das gesprochene Wort als »Vehikel des Schicksals« fehle im Stummfilm ebenso wie die leib­ liche Präsenz der Schauspieler – aber genau dieses Fehlen, schreibt Lukács, verleihe dem Film eine neue ästhetische Wirklichkeit, in der die Koordinaten von Zeit und Raum und damit auch Logik und Kausalität nicht mehr gelten und wie im Traum alles möglich wird – »ein Leben ohne Seele, aus reiner Oberfläche.«5 Lukács’ Einsichten kehren fast wörtlich in Kracauers Besprechung von Karl Grunes Film DIE STRASSE (1923) ­wieder. Die existenzielle Erfahrung der modernen Großstadtstraße als Fiebertraum und »Straßenrausch« wird mit stilistischen Mitteln dargestellt, über die nur der Film ­verfügt. »Allein die Oberfläche ist ihm zugekehrt«, schreibt Kracauer über den namenlosen Protagonisten, »und in dem Treiben existenzloser Larven, dem Durcheinander des

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Siegfried Kracauers Sichtungsnotizen zu DIE STRASSE (1923, Karl Grune) aus seinen Zettelkästen | Kat. 464


In der Redaktion des Film-Kurier: Ernst Jäger, G. O. Strindt, Richard Otto, die drei Sekretärinnen Hans Felds und Ernst Jägers (linke Tischseite); Hans Feld, Lotte H. Eisner, Lucien Mandelik, Georg Herzberg (rechte Tischseite) | Kat. 458

Atomgemenges, findet er ganz sich selber wieder. […] Keine Begegnung der Seelen hat statt, keine sinnvolle, ­dauernde Verknüpfung umklammert und bindet, nichts Tragisches zwischen ihnen geschieht.«6 Fern der Tragik herrscht nur die blinde Bewegung seelenloser Körper, die im Film auf die Ebene von anorganischen Dingen sinken. Das mechanische Auge der Kamera macht keinen Unterschied zwischen Mensch und Objekt, beide sind im ­zwei­dimensionalen Filmbild zu »existenzlosen Larven« reduziert. DIE STRASSE galt Kracauer als »eines der wenigen Werke moderner Filmregie, in denen ein Gegenstand Gestaltung erfährt, den nur der Film so gestalten kann, und Möglichkeiten verwirklicht werden, die nur für ihn überhaupt Möglichkeiten sind.«7 Wie Lukács schreibt ­Kracauer dem Film medienspezifische Eigenschaften zu, die in der Handlung selbst Form annehmen – »eine stumme Welt, in der kein Wort vom Menschen zum Menschen geht,

s­ ondern die unvollkommene Rede optischer Eindrücke Alleinsprache ist.«8 Als Kracauer 1924 zum Leiter des Filmressorts der Frankfurter Zeitung befördert wurde, begann die goldene Zeit der Weimarer Filmkritik, die bis zu Beginn des NS-­ Regimes 1933 dauern sollte. Kracauer verfasste in diesen Jahren mehr als 700 Einzelrezensionen und Essays zum Film und wurde zum einflussreichsten Filmkritiker in Deutschland. Im Unterschied zu zeitgenössischen Kollegen – Willy Haas, Kurt Pinthus, Hans Feld, Lotte Eisner, um nur einige zu nennen – entwickelte Kracauer eine kritische ­Praxis, die sich aus der philosophischen Tradition herleitete und ihre Nähe zur Frankfurter Schule nicht ­verleugnete. Viele seiner Einzelkritiken dienten ihm als Anlass für Reflexionen nicht nur über die ästhetischen ­Ausdrucksformen des Films, sondern auch über die psychologischen und soziologischen Bedingungen filmischer Erfahrung im Kino.

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Im Kino der Moderne betrachtet sich die Gesellschaft selbst. Die Leinwand wird zum Spiegelbild, indem sie Alltags­themen und -typen ­reflektiert und zugleich selbst zum ­Leitmedium aufsteigt, das Vorbilder und Ideale setzt. Mode und Sport, Mobilität und urbanes Leben, Gender­fragen und die ­Popularität der Psychoanalyse, die ­gesellschaftlichen ­Auswirkungen des ­Ersten Weltkriegs ­– all das spiegelt sich im Film der Weimarer Republik. Das reich ­bebilderte Buch kann aus den bedeutenden ­Sammlungen der ­Deutschen Kinemathek schöpfen, ­zahlreiche ­Foto­grafien und Dokumente werden ­erstmals ­veröffentlicht.

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