Arno Camenisch: Ustrinkata.

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Belletristik

Erzählung Der Bündner Arno Camenisch berichtet vielstimmig und hinreissend vom Stammtisch in einer Dorfbeiz, die ein letztes Mal ausschenkt

«Jo kasch tenka!» – «Sep mein i au» Arno Camenisch: Ustrinkata.

Engeler-Verlag, Solothurn 2012. 100 Seiten, Fr. 25.–. Von Martin Zingg «Schon nicht zu verstehen, ohne ‹Helvezia›, sperren zu nach hundert Jahren, und dann soll man noch wissen was anstellen den ganzen Tag», sagt Otto. Otto sitzt in der «Helvezia», am runden Stammtisch. Dort sitzen auch Luis, der als Indianer verkleidete Isidor, Alexi und Silvia, die sich ständig neue «Caffefertic» zubereitet. Es werden im Lauf der Stunden noch weitere Gäste hinzustossen, der Giacasep etwa, Gion Baretta, Romedi. Und die Wirtin wird unermüdlich Getränke nachreichen, Bier und Härteres. Die «Helvezia» soll geschlossen werden, für immer, aber bevor hier etwas zu Ende gehen kann, geht es zunächst einmal fröhlich weiter: Die «Ustrinkata» versammelt eine kleine Runde aus einem ungenannten Bündner Dorf um einen Tisch, wo sie «austrinken» – und reden und schweigen, ein letztes Mal. Es sitzen geeichte Trinker am Stammtisch, das macht die Frequenz der Bestellungen schnell deutlich. Und sie erzählen, sie erinnern sich, sie prahlen, sie spotten, sie schweigen vielsagend und fallen einander ins Wort, und zuweilen werden sie melancholisch, wenn auch nie für lange. Sie kennen einander seit Ewigkeiten, und immer noch haben sie etwas zu erzählen, in einem Idiom, das leicht kontaminiert ist vom surselvischen Rätoromanischen und Bündnerischen und das einen ganz unwiderstehlichen Charme hat. In dem Stimmengeflecht, das sich allmählich entwickelt und das über assoziative Wucherungen immer dichter und breiter wird, kommt buchstäblich alles zur Sprache. Da es schon seit Tagen regnet, drängen zwangsläufig Erinnerungen hoch an üble Katastrophen, die das Dorf in vergangenen Zeiten erlebt hat, an rutschende Hänge oder an Lawinenniedergänge. Es sind tief sitzende, hartnäckig wiederkehrende Bilder, die beschworen werden, unklar ist allein die Datierung. Ob jener verheerende Steinschlag im Jahr 1927 war oder schon früher, 1925, darüber muss noch verhandelt werden. 1925 setzt sich endlich durch, «sep mein i au». Die Vergangenheit scheint immer nah, und bisweilen sind längst verstorbene Menschen genauso gegenwärtig wie die noch Lebenden. So gab es im Dorf vor Zeiten einmal einen Dichter, Gion Bi, dem die Runde einmütig zugute hält, dass er nichts erfunden hat: er habe alles «dem Leben abgeschrieben». Und es kann nicht überraschen, dass die Rede auch auf die Auf- und Ausbruchs10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. März 2012

YVONNE BÖHLER

Zum letzten Mal austrinken

Arno Camenisch, empathischer Erzähler mit einem Ohr für den Klang der Sprache, schliesst mit «Ustrinkata» seine Bündner Trilogie ab (Aufnahme 2011).

versuche jener Dorfbewohner kommt, die ihr Glück ausserhalb des Angestammten gesucht haben. Einige sind gar bis in die USA gereist, und natürlich hat das nicht viel gebracht, «jo kasch tenka». Glück ist jenseits des Dorfes kaum zu finden, das scheint in dieser Runde eine ausgemachte Sache. Bitte: Wozu soll man denn von hier weg? Warum in Genf Möbel herumtragen, wenn man dies auch hier machen kann?

Neuzuzüger im Dorf

Zu reden geben umgekehrt auch jene, die neu ins Dorf gekommen sind, einmal wird gar «ein Zugezogener aus dem Nachbarsdorf» erwähnt. Oder, schlimmer noch, ein Unterländer, der seine Arbeit als «Günäkolog» aufgegeben hat und nun im Dorf als Bauer arbeitet. Dass der Arglose einmal die unsichtbaren, aber darum nicht minder gut bewachten Grenzen seines Grundbesitzes beim Mähen ein wenig überschritten hat, zahlt ihm sein Nachbar auf gnadenlose Weise heim. Pardon wird nicht gegeben, die Regeln sind mitunter streng, auch in der Gesprächsrunde. Der «Frisör» Alexi bekommt, weil er im Augenblick kein Bier trinken mag, deswegen allerhand Schmähendes zu hören, und nachdem der Busfahrer Romedi am Ende seiner Pause die Runde verlassen hat, um – vermutlich nicht mehr ganz nüchtern – eine nächste Fahrt zu unternehmen, wird sofort über ihn und seine Fahrkünste gelästert. Auch hier haben die Abwesenden Unrecht, wie wohl in jeder Runde. In «Ustrinkata», Arno Camenischs drit-

tem Prosaband, entfaltet sich auf knapp hundert Seiten ein ganzes Universum. Camenisch erzählt mit viel Geduld und Empathie, mit einem unglaublich wachsamen Ohr auch für den Klang der Sprache und für die präzis placierten Beiläufigkeiten der Konversation. Da ballen sich Wortwitz und Sarkasmus, und immer wieder blitzen berückende Lebensklugheiten auf. Camenischs Figuren wissen sehr gut damit umzugehen, dass hier etwas zu Ende geht, und zwar mehr als nur eine Beiz. Für diese Ustrinkata-Runde hat der Tod seinen Stachel längst verloren. Und dennoch wird nicht die Vergänglichkeit gefeiert – und wenn schon, ist weniger der Tod das Thema als vielmehr das Vergehen und Sterben. Und dieses kann dauern, das zeigt die Grossmutter, die sogar Mühe mit dem Schlafen hat. «Treis Schnaps», drei Schnäpse bekommt sie, damit sie sich ein wenig hinlegen kann, «und wenn das nicht hilft, dann lasse ich die Kassette mit den Kirchenglocken laufen, auch wenn Sonntag erst übermorgen ist, und sie schläft ein sofort.» Mit «Ustrinkata» rundet Arno Camenisch seine bisherigen Prosawerke zu einer Trilogie. «Sez Ner» steht am Anfang, ein zweisprachiger Text, der von einem Sommer auf der Alp Stavonas erzählt. «Hinter dem Bahnhof» gilt dem kleinen Dorf in der Surselva: Es ist der Ort, wo die «Helvezia» ein letztes Mal geöffnet hat. «Ustrinkata» erzählt davon auf bewegende Weise. Unglaublich, was man aus diesem schmalen Werk alles erfahren kann! ●


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