Vorwort
„Wir spielen mit großer Wonne Haydnsche Trios ohne Cello, Sie werden Ihre größte Freude dran haben!“ Dieses kurze Zitat aus einem Brief von Johannes Brahms an Clara Schumann vom 23. Juni 1855 ist in der Korrespondenz des damals 22-jährigen Komponisten kein Einzelfall und dokumentiert zusammen mit ähnlichen Äußerungen, dass Brahms sich intensiv mit der Kammermusik, aber auch mit der Symphonik Joseph Haydns auseinandersetzte. Doch trotz dieser Vorliebe war die kompositorische Beschäftigung mit Haydn keine unmittelbare Folge, denn als Brahms gegenüber Theodor Billroth erstmals die vorliegenden „Haydn-Variationen“ erwähnte, waren seit den enthusiastischen Berichten aus der Jugendzeit immerhin 18 Jahre vergangen. Der den Variationen als Thema zugrundeliegende „Chorale St. Antonii“ aus Haydns Divertimento Hob II: 46 war Brahms – wohl erst wenige Jahre zuvor – durch den Wiener Haydn-Forscher Carl Ferdinand Pohl zugetragen worden. Die Uraufführung der Haydn-Variationen fand unmittelbar nach Abschluss der Partitur am 2. November 1873 in Wien im 1. Philharmonischen Konzert der Gesellschaft der Musikfreunde unter Leitung des Komponisten statt. Dass Brahms auf dieses Werk –in beiden Versionen, sowohl für Orchester (op. 56a) als auch für zwei Klaviere (op. 56b) – in späteren Jahren noch mit für ihn ungewöhnlichem Wohlwollen zurückblickte, mag erneut die Korrespondenz mit Clara Schumann belegen, die offenbar kurz zuvor (Anfang 1891) die Klavierfassung im Konzert vorgestellt hatte: „Dein Brief war mir eine gar schöne und liebe Überraschung! Daß Du meine Haydn-Variationen gespielt, daß sie bis zum d. c. [da capo] gefallen, und am allerschönsten, daß sie Dir so ans Herz gegangen – das mußte ich gleich öfter hintereinander mit Wonne lesen. Dem Stück gegenüber bin ich etwas schwach, und ich denke daran mit mehr Vergnügen und Genugtuung, als an viele andere.“
Es kann hier nicht der Platz sein, die Haydn-Variationen von Johannes Brahms eingehend zu betrachten. Auf einige wichtige Merkmale der Variationstechnik soll jedoch hingewiesen werden. Das Thema, ohne die hohen Streicher intoniert, hatte Brahms ursprünglich nur dem voll besetzten Streichorchester zugedacht. Der Bläserchoral-Duktus lag also nicht von Anfang an fest. Als Konsequenz aus der Exposition des Themas werden Bläser und Streicher in der weiteren Entwicklung oft blockartig gegenübergestellt. Drei der acht Variationen stehen in b-moll – der Moll-Bereich erhält damit erstaunlich großes Gewicht. Subtil kontrastierend ist sogleich der Beginn der Variation II (die erste Moll-Variation), wenn die Streicher die Gegenläufigkeit zu Anfang der Variation I auf den Kopf stellen. In den darauffolgenden Abschnitten finden sich weitere Kontrastmomente, die als ein wesentliches Merkmal der thematischen Arbeit in den Haydn-Variationen gelten können. Besonders aufschlussreich für den Gehalt und die Bedeutung des Werkes ist die Final-Passacaglia, die aus dem Variationen-Thema (nicht aus dessen Basslinie) abgeleitet ist:
(Thema)
(Passacaglia)
Schon hier wendet Brahms die in der Musik des 19. Jahrhunderts bis dahin ungebräuchliche barocke Passacaglia-Technik an, die im Schlusssatz der 4. Symphonie noch einmal eine Intensivierung erfahren sollte. Der historische Brückenschlag zur Barockmusik und damit zum Passacaglia-Modell fand 1874, ein Jahr nach der Vollendung der Haydn-Variationen, übrigens tatsächlich statt. Brahms hatte dem Bach-Forscher Philipp Spitta das Autograph der Haydn-Variationen (die Fassung für zwei Klaviere) überlassen, und dieser sandte ihm im Gegenzug eine Kopie der damals noch unveröffentlichten Bach-Kantate BWV 150 „Nach dir, Herr, verlanget mich“ zu. Der Bass der Chaconne „Meine Tage in den Leiden“ aus dieser Kantate
ist bis auf einen chromatischen Schritt mit der Passacaglia aus der 4. Symphonie von Brahms identisch:
Unübersehbar sind jedoch auch die offenkundigen Verwandtschaften zwischen der Bach-Chaconne und der Brahms/Haydn-Passacaglia. Spitta hatte seine Kantatenabschrift mit Bedacht ausgewählt. Die Linie Bach–Haydn–Brahms führt also direkt zu der für das Gesamtwerk von Brahms zentralen Frage „Thema mit Variationen“, die der Komponist in der oft zitierten Äußerung (aus einem Brief an den Musikkritiker Adolf Schubring aus dem Jahre 1869) bewusst überspitzt beantwortet und – schon damals, vor Vollendung der Haydn-Variationen! – das Augenmerk fast überdeutlich auf die Passacaglia-Form gelenkt hat: „... bei einem Thema zu Variationen bedeutet mir eigentlich, fast, beinahe nur der Baß etwas. Aber dieser ist mir heilig, er ist der feste Grund, auf dem ich dann meine Geschichten baue. Was ich mit der Melodie mache, ist nur Spielerei ...“ Die grundsätzliche Bedeutung dieser Frage blieb auch der Mitwelt nicht verborgen. Dies mag auch Hugo Wolf, einer der schärfsten Brahms-Kritiker, gespürt haben. Wolf resümierte, die Haydn-Variationen legten „ein beredtes Zeugnis ab für die eigentliche Begabung Brahms’: die der kunstvollen Mache. Auf Variierung von gegebenen Themen versteht sich Herr Brahms wie kein anderer. Ist doch sein ganzes Schaffen nur eine große Variation über die Werke Beethovens, Mendelssohns und Schumanns... Die Kunst, ohne Einfälle zu komponieren, hat entschieden in Brahms ihren würdigsten Vertreter gefunden.“ Was offenkundig nach beißendem Spott klingt, lässt dies nicht zugleich – unter der Oberfläche, versteht sich – auch Bewunderung erkennen?
Wiesbaden, Frühjahr 1989 Frank Reinisch
Preface
“We are enjoying ourselves immensely playing Haydn trios without cello. You would surely take the greatest satisfaction in them!” This short quote from a letter written by Johannes Brahms to Clara Schumann on 23 June 1855 is not the only passage in the correspondence of the then 22-year-old composer which bears witness to Brahms’ engrossment in Joseph Haydn’s chamber music or symphonic works; a number of documents and similar statements underscore this interest. But despite Brahms’ evident predilection for Haydn, it did not lead to any direct consequences on his compositional activity. For when Brahms first mentioned the present “Haydn Variations” to Theodor Billroth, 18 years had passed since his first enthusiastic utterances in his youth. lt was the Viennese Haydn scholar Carl Ferdinand Pohl who introduced Brahms to the “Chorale St. Antonii” from Haydn’s Diver timento Hob II: 46, upon which the Variations are based, undoubtedly only a few years earlier. The first performance of the Haydn Variations was held immediately after the completion of the score. lt took place in the first “Philharmonic Concert” of the Gesellschaft der Musikfreunde in Vienna on 2 November 1873, and was conducted by the composer. From Brahms’ correspondence with Clara Schumann, we know that in later years he looked back with unusual indulgence on this work, in both of its versions: the one for orchestra (Op. 56a) and the one for two pianos (Op. 56b). Clara Schumann had apparently just played the piano version in a concert (at the beginning of 1891): “Your letter was a lovely and pleasant surprise! That you played my Haydn Variations, that they were enjoyed up to the d. c. [da capo] and, the best of all, that you are so fond of them — I had to read this over and over again with delight. I have a slight weakness for this piece, and I think back on it with more pleasure and satisfaction than on many others.”
Although this is not the proper forum for an in-depth analysis of Johannes Brahms’ Haydn Variations, a few important aspects of their variation technique should nevertheless be pointed out. Brahms had originally intended the theme to be stated only by the string orchestra, complete except for the high strings; the wind chorale character was not part of the original plan. As a consequence of the exposition of the theme, the winds and the strings are often set off against each other in blocks as the work progresses. With three of the eight variations in B flat minor, the minor mode is surprisingly emphasized. A subtly contrasting touch is provided at the beginning of Variation II (the first minor-key variation) when the strings completely invert the contrary motion found at the start of Variation I. The following sections contain further contrasting moments, which can be considered as an essential aspect of the thematic elaboration in the Haydn Variations. The final passacaglia sheds a particularly revealing light on the contents and meaning of the work. The passacaglia is derived from the melody of the Haydn theme, and not from its bass line:
(Theme) (Passacaglia)
This is an early example of Brahms’ use of the Baroque passacaglia technique, which had been rarely found until then in the music of the 19th century, and which was to undergo a further refinement in the final movement of the Fourth Symphony. The historical link to Baroque music, and thus to the passacaglia model, was actually forged in 1874, one year after the completion of the Haydn Variations. Brahms had given the autograph of the Haydn Variations (the version for two pianos) to the Bach scholar Philipp Spitta, who answered by sending Brahms a copy of the Bach Cantata BWV 150 “Nach dir, Herr, verlanget mich”, which had not yet been published at that time. The bass of the chaconne “Meine Tage in den Leiden” from this cantata
is, save for a chromatic step, identical with the passacaglia from Brahms’ Fourth Symphony:
However, there are also certain affinities between the Bach chaconne and the Brahms/Haydn passacaglia — Spitta had chosen his cantata copy with astuteness!
The lineage Bach–Haydn–Brahms thus leads directly to the topic “theme and variations”, which is of central importance to Brahms’ entire œuvre. The composer himself referred to it in an often quoted statement (from a letter to the music critic Adolf Schubring of 1869) which was made in an intentionally exaggerated manner and — at a time when the Haydn Variations had not yet been completed — pointed with unequivocal obviousness to the passacaglia form: “... in a theme for variations, practically the only thing that really matters to me is the bass. But this is holy, it is the solid foundation on which I build my tales. What I do with the melody is only banter ...” The fundamental importance of this principle also did not escape Brahms’ contemporaries. Even Hugo Wolf, one of Brahms’ most severe critics, must have sensed this, when he writes that the Haydn Variations “testify eloquently to Brahms’ true talent: that of piecing things together artfully. Brahms is truly one of a kind in varying given themes. In fact, his entire work is one great variation on the works of Beethoven, Mendelssohn and Schumann .... The art of composing music without ideas has decidedly found its most worthy representative in Brahms.” Although obviously intended as biting sarcasm, doesn’t Wolfs comment — to read between the lines, of course — also conceal a certain admiration?
Wiesbaden, Spring 1989
Frank Reinisch
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