EB 9433 – Busoni, Arlecchino op. 50 K 270

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Busoni – ARLECCHINO Ein theatralisches Capriccio in einem Aufzug A Theatrical Caprice in One Act op. 50 K 270 EB 9433 Breitkopf & Härtel Edition Breitkopf
Piano Vocal Score
Klavierauszug

FERRUCCIO BUSONI

1866–1924

Ein theatralisches Capriccio in einem Aufzug

A Theatrical Caprice in One Act op. 50 K 270

Piotr Kołodziej (Anhang | Appendix)

Edition Breitkopf 9433

Printed in Germany

ARLECCHINO
Textbuch von | Libretto by Ferruccio Busoni Klavierauszug von | Piano Vocal Score by Philipp Jarnach
Contents Personen | Characters 4 Orchester | Orchestra 4 Ort und Zeit | Place and Time 4 Aufführungsdauer | Performing Time 4 Vorwort 5 Preface 7 Vor dem Vorhang | Davanti al sipario | In Front of the Curtain 9 Erster Satz | Primo Tempo | First Movement Arlecchino als Schalk | Arlecchino come buffone | Arlecchino as Rogue 1 Einleitung, Szene und Liedchen | Introduzione, Scena e Canzonetta | Introduction, Scene and Canzonetta 10 2 Duett | Duetto | Duet 27 3 Terzett | Terzetto | Trio 38 Zweiter Satz | Secondo Tempo | Second Movement Arlecchino als Kriegsmann | Arlecchino come guerriero | Arlecchino as Warrior 4 Marsch und Szene | Marcia e Scena | March and Scene 49 Trio 50 Coda 53 Dritter Satz | Terzo Tempo | Third Movement Arlecchino als Ehemann | Arlecchino come marito | Arlecchino as Husband 5a Szene und Arie | Scena e Aria | Scene and Aria 55 5b Kleine Arie | Arietta 60 6 Szene für zwei, dann für drei Personen | Scena a due, poi a tre | Scene for Two, then Three People 65 Vierter Satz | Quarto Tempo | Forth Movement Arlecchino als Sieger | Arlecchino come vincitore | Arlecchino as Conqueror 7 Szene, Quartett und Melodram | Scena, Quartetto e Melodramma | Scene, Quartet and Melodrama 86 Quartett | Quartetto | Quartet 100 8 Monolog | Monologo | Monologue 116 9 Umzug und Tanz (Schluß) | Processione e Danza (Finale) | Procession and Dance (Close) 122 Anhang „Variante“ (Arie) | Appendice „Variante“ (Aria) | Appendix “Variant” (Aria) 126
Inhalt |

Personen Characters

Ser Matteo del Sarto, Schneidermeister (Bar) Ser Matteo del Sarto, Tailor (Bar)

Abbate Cospicuo (Bar)

Dottor Bombasto (B)

Arlecchino (Sprechrolle)

Leandro, Cavaliere (T)

Annunziata, Matteos Frau (stumme Rolle)

Colombina, Frau des Arlecchino (Mez)

Abbate Cospicuo (Bar)

Dottor Bombasto (B)

Arlecchino (Speaker)

Leandro, Cavaliere (T)

Annunziata, Matteo‘s wife (mute role)

Colombina, Arlecchino‘s wife (Mez)

Zwei Sbirren, Ein Kärrner, Personen an den Fenstern, Two Sbirros, One Carter, People in the Windows, Ein Esel (stumme Rollen) A Donkey (mute roles)

Orchester Orchestra

2 Flöten (2 auch Piccolo), 2 Oboen (2 auch Englisch Horn), 2 Flute (2nd also Piccolo), 2 Oboes (2nd also English horn), 2 Klarinetten (2 auch Bassklarinette), 2 Fagotte (2 auch 3 Clarinets (2nd also Bass Clarinet), 3 Bassoons (2nd also Kontrafagott) Contrabassoon)

3 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen

4 Horns, 3 Trumpets, 3 Trombones, Tuba

Pauken, Schlagzeug (2 Spieler) Timpani, Percussion (2 players)

Celesta Celesta

Streicher Strings

Bühnenmusik: 2 Trompeten, Pauken, Schlagzeug

Stage Music: 2 Trumpets, Timpani, Percussion

Ort und Zeit der Handlung Time and Place of the Action

Bergamo, um das 18 Jahrhundert

Bergamo, around the 18th Century

Aufführungsdauer Performing Time

etwa 60 Minuten

approx 60 minutes

Aufführungsmaterial mietweise erhältlich

Singbare Übersetzungen:

– englisch von Edward J Dent

– italienisch von Vito Levi

– portugiesisch von Germana de Medeiros

Performance material on hire

Singable translations:

– English by Edward J Dent

– Italian by Vito Levi

– Portuguese by Germana de Medeiros

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Vorwort

„Gestern abend auf der Durchreise in Bologna, sahen wir ein Theaterstück, welches von italienischen Masken dargestellt wurde Der Arlecchino gab eine sehr eindrucksvolle Figur; es verkörperte sie ein Schauspieler, der der selben einen Zug ins Monumentale verlieh“,1 schreibt Ferruccio Busoni im Mai 1912 an Egon Petri Die Aufführung springt ihn förmlich an, die Begegnung mit dem Harlekin der italienischen Stegreifkomödie lässt sogar vorsichtige Zweifel an der Oper aufkommen, die kurz zuvor in Hamburg uraufgeführt wurde, Die Brautwahl nach einer Erzählung von E T A Hoffmann, denn bei den italienischen Masken herrscht ein gänzlich anderer Ton: „Nirgends die niedere Komik des Deutschen, (in welche – beispielsweise auch mein Thusman verfiel).“ Thusman, das ist der drollig, wunderliche Verlierer in der Brautwahl, fast eine Spitzwegfigur in Sichtweite zu Wagners Beckmasser Das ist in der Tat sehr deutsch, aber jetzt zeigen alle Wegweiser in Richtung Italien! Schon seit längerem ist das so, in einem Brief vom September 1908, formuliert er gar den Gedanken, den Italienern, seinen Landsleuten, eine „Nationaloper“ zu schreiben 2 1913 nimmt er eine Berufung zum Direktor der alterhrwürdigen Liceo Musicale in Bologna an, eine Stelle, die ihm kein Glück bringt Und selbst die Berlinische Oper Die Brautwahl ist zwar sehr deutsch, trägt aber partiell ein Falstaff-Erbe aus „Um die nämliche Zeit lernte ich das römische Marionetten-Theater kennen, dessen Vorführung einer kleinen komischen Oper des zwanzigjährigen Rossini („Die Reisetasche oder Gelegenheit macht den Dieb“) mir einen ergreifenden Eindruck hinterließ “3 So erinnert er sich viele Jahre später Den Arlecchino wird er machen, wobei Rossini, bzw dessen „Burletta per musica“ also L‘occasione fa il ladro wohl weniger im Sinne eines musikalischen Vorbilds genannt wird, sondern eher als Ideal einer südländischen Leichtigkeit eine Rolle spielen dürfte Die Perspektive eines „Marionettentheaters“ begleitet das kommende Stück noch eine Weile, jedenfalls findet sich im Berliner Nachlass ein Partitur-Fragment vom November 1914, das den Arlecchino als „Marionetten Tragödie“4 ausweist Das deutsch gesetzte Stichwort „Tragödie“ für die kommende Harlekinade verrät, dass dem Humor in dem Einakter nicht ganz zu trauen ist Endgültig wird die Novität als „Theatralisches Capriccio in einem Aufzuge“ gedruckt, vollendet am 7 November 1916 in Zürich Zusammen mit Turandot, nach Gozzi in zwei Akten, unter Verwendung einer bereits vorhandenen Schauspielmusik für Max Reinhardt, werden beide Stücke am 11 Mai 1917 im StadtTheater Zürich uraufgeführt

Zwar liegt das Textbuch 1914 vor, die ersten Arbeiten an der Partitur beginnen, doch dann verhindert der erste große Krieg, den Busoni in den USA abwarten will, die Weiterarbeit; stattdessen entsteht nach dem vorhandenen Material und darüber hinaus eine Orchestersuite, die er Ende 1915 fertig aus Amerika mitbringt Dieses Rondo Arlecchinesco, auch Harlekins Reigen in der (deutschen) Originalausgabe bei Breitkopf & Härtel, wird im März 1916 in Rom uraufgeführt Inzwischen ist er schon in der neutralen Schweiz, in Zürich untergekommen, wo er bis zu seiner Rückkehr nach Berlin 1920 wohnen wird Die vier Orchestersuiten Busonis wären eine eigene Untersuchung wert, sie begleiten fast sein ganzes Schaffen und sind autonome Stücke, die sich jenseits gängiger orchestraler Formen trotzig installieren, sie werden in einem komplexeren, konzentrierten Sinne als „Orchesterelegien“ fortgeschrieben; unter diesen sechs (Elegien) ist das Rondo die dritte, zu verstehen als eine Seitenansicht zur noch nicht fertigen Oper, die wie das Orchesterstück

vier „Sätze“ hat In der Tat, Arlecchino das „theatralische Cappriccio“ ist gegliedert in vier Sätze, in denen Busoni ganz bewusst, ja demonstrativ das genutzte Formenrepertoire ausstellt Die Musik bedient das Szenario perfekt, behauptet sich aber gleichzeitig mit einer selbstbewussten Absolutheit, die von der Tradition weiß, um sie mit erfrischendem Übermut zu radikalisieren Der Psychologisierung der Oper, einem Markenzeichen ihrer Gegenwärtigkeit, erteilt dieses Konzept eine Abfuhr, man könnte von Entsubjektivierung durch Typisierung sprechen, der Rückgriff auf die „Commedia dell‘Arte“ bildet dazu die Folie Heraus kommt eine Oper mit gesprochenen Dialogen, neben den fünf Sängern und einer Sängerin, sowie einigen stummen Rollen (darunter ein Esel), tritt der sprechende Darsteller des Arlecchino überdeutlich hervor – seine Partie ist melodramatisch angelegt, also über weiter Strecken rhythmisch notiert zur Instrumentalbegleitung

Inspirierendes Moment für diese Akzentuierung, könnte Pierrot Lunaire gewesen sein, uraufgeführt im Oktober 1912 in Berlin Am 17 Juni des folgenden Jahres lädt Busoni Arnold Schönberg und seine Truppe mit der graziösen Novität in seine große Wohnung am Viktoria-Louise-Platz Von dem generösen Privatkonzert mit zahlreichen auch prominenten Gästen zeugt ein ausführlicher Brief des Gastgebers an Egon Petri; das Schreiben belegt, welchen Eindruck das Stück in Busoni hinterlässt Für Antony Beaumont ist Schönbergs Pierrot Lunaire eine Art „Katalysator“ auf der Suche nach Arlecchino, 5 zum einen weil dieser mondsüchtige Pierrot ein naher Verwandter des italienischen Harlekin ist, zum anderen, wegen der besonderen Behandlung der Sprechstimme, die hier nicht nur rhythmisch notiert ist; die ebenfalls angegebenen Tonhöhen sind sprechend anzudeuten, in wenigen Augenblicken darf/muss gesungen werden Die so entstehende Vokallinie verleiht dem Text eine fluidale, abgründige, nicht zuletzt manierierte Präsenz, die, unterstützt durch eine kristalline Kammermusik, idealtypisch zu den „dreimal sieben Gedichten“ nach Albert Giraud passt Ein Anstoß gewiss, eine Herausforderung, – das „Theatralische Cappriccio“ nimmt einen eigenen Weg, nicht nur weil Busoni eine etwas unangestrengtere Form des Melodrams wählt Trotz aller Italianità – Arlecchino klinkt sich listig in die Entwicklungslinie des (deutschen) Singspiels ein, das in dieser extravaganten Form mit einer ganzen Palette von Vokaläußerungen aufwartet, insbesondere, was das Sprechen des Titelhelden angeht, also mit und ohne Orchesterbegleitung rhythmisch notiert oder einfach nur gesprochen, etwa in dem programmatischen Prolog Die Dialoge sind von einer schlagfertigen Knappheit, gelegentlich darf/muss auch Arlecchino singen Das virtuose „La, la, la“ von 23 Takten, mit dem er sich nach dem ersten (szenischen) Auftritt davonmacht, ist allerdings von einem Schauspieler schwer zu bewältigen, der Schlusston dieser Jubelei, das hohe A, ist drei Takte lang zu halten In den meisten Fällen macht das wohl der Tenor, der als Leandro erst später gebraucht wird Das sind Theatertricks Busoni verlegt den effektvollen Abgang für alle Fälle hinter die Szene, im Rondo Arlecchinesco hatte er die Vokalise bereits als Überraschung eingebaut: „Una voce di Tenore“, fast identisch mit der späteren Theaterversion Von Anfang an denkt er für die Besetzung der Titelpartie im Übrigen an Alexander Moissi, einen Superstar der Reinhardt-Bühnen Der spielte 1911 in der TurandotInszenierung im Deutschen Theater Berlin mit Busonis Musik den Kalaf Moissi war berühmt für einen kurvigen Vortragsstil, seinem durchaus umstrittenes Markenzeichen Klabund preist

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ihn 1927 als „Musikanten Gottes“ (wohlgemerkt es geht um einen Schauspieler), er sei der „bezauberndste Singspieler deutscher Zunge“6, heißt es weiter Bevor er von keinem geringeren als Josef Kainz entdeckt wurde, wollte er eigentlich Gesang studieren Bezeichnenderweise hat Busoni kurz vor der Premiere, einen Teil der Schlussansprache Arlecchinos, als gesungene Version nachkomponiert: für einen Bariton 7 Diese Variante hatte zweifellos die Ambitionen des „Singspielers“ im Visier, ob sie zum Einsatz kam, ist ungewiss Sicher dürfte sein, dass Moissi bei der Uraufführungsproduktion Sprechkurven à la Pierrot Lunaire realisiert hat, ohne dass Busoni irgendetwas dazu notieren musste Busonis Arlecchino kommt raffiniert und robust zugleich daher! Was klingt wie ein mutwilliger Gegensatz, macht gerade den Kunstcharakter der Oper aus Schon in der Fanfare, die den Prolog eröffnet und anschließend die „Einleitung“ anführt, ist das auszumachen Das kesse Trompetensolo von nicht einmal 10 Sekunden Dauer katapultiert den Mann im „buntgefleckten Gewande“ direkt ins Zentrum der Aufmerksamkeit Dem sprunghaften Auf und Ab eignet etwas Lauerndes, ja, das klingt ein wenig gefährlich; zur Grundausstattung dieses Titelhelden gehört eben auch ein martialischer Zug Im Handstreich nimmt er die Stadt Bergamo, oder zum wenigsten einige ihrer Bewohner unter seine Kontrolle, um damit ein neues Liebesabenteuer zu dekorieren Davon bemerkt der Schneidermeister nichts, in der Göttlichen Komödie lesend vergisst er die Welt Das wird in dem Stück fast ein Running Gag, zumindest ein Motiv, das am Schluss nochmal auftaucht Busoni vertont Dante – Dante Alighieri in Andeutungen Die Idee der Nationaloper zündet hier nicht, er versenkt das Monument in ironisch-lamoryanten Melismen, der gute Mann träumt sich von da weiter zum Don Giovanni (ein entsprechendes Zitat blitzt auf), während Arlecchino dem lesenden Schneider gerade die Ehefrau ausspannt „An einem Fenster seines [des Schneidermeisters] eigenen Hauses, gerade über seinem Kopf, sieht man Arlecchino mit Sèr Matteos schöner junger Frau verstohlen herausschauen “ Der Westentaschen-Don Juan der Typenkomödie, dem wenig später die eigene Angetraute zu dieser ungünstigen Stunde über den Weg läuft, hat so etwas wie ein Donna Elvira-Erlebnis Das und anderes wird kurz angeschlagen, um im Rahmen der vorherrschenden Handlungsmechanik davon geschwemmt zu werden Die Musik setzt das Ganze unter Strom Abbate und Dottore halten mit ihrem schwadronierenden Nichtverstehen die Zeit an, dafür setzt Busoni elegisch ausholende Linien Beiseite gesprochen: Busonis Text ist durchweg brillant bis sarkastisch und agiert lustvoll in seiner altfränkischen Maske Die lyrischen Augenblicke sind von frappanter Kürze: Die zauberhaft säuselnde Musik, mit der Colombina, Arlecchinos Angetraute, gleichsam hereinschwebt, weicht einem wütenden Furioso; entzückt durch das schöne Sprechen, ergibt sich schnell eine kleine emphatische Arie Treibende Kraft ist der Harlekin, er wickelt alle um den kleinen Finger und triumphiert am Schluss Der eingangs zitierte Brief an Egon Petri kommt einem wieder in den Sinn; der Schauspieler habe der Figur „einen Zug ins Monumentale“ verliehen Ohne Frage hat Busoni das auch so realisiert, die Ansprachen ans Publikum zu Beginn und am Schluss unterstreichen das in ihrer Beispielhaftigkeit Arlecchino hat Züge eines „Festspiels“, als leichtfertiges Gegenstück zum Doktor Faust, der fast gleichzeitig in Busonis Fokus gerät Zu großen Teilen während des Ersten Weltkriegs entstanden, erscheint das Stückchen wie ein hintergründiger Kommentar zur Lage, man denke nur an die falsche Mobilmachung oder verschiedene Verlautbarungen zu Krieg, Soldaten und die damit verbundenen Umstände, dabei war der Text

eigentlich schon vorher fertig, nur wenige Änderungen waren erforderlich: „Das inzwischen ausgebrochene Gemetzel bewirkte, dass die ursprünglichen ‚Türken‘ des Librettos in ‚Barbaren‘ gewandelt wurden “8 Im Archetypus der „Commedia“ schlummert ein Potential, das sich in der jeweiligen Zeit aktualisiert, „bis zu neuen Begebenheiten“

Während Busoni intensiv an seinem Doktor Faust arbeitet, kommt ihm die Idee zu einem zweiten Teil seines „Cappriccios“, dessen Textbuch er am 22 Juli 1918 abschließt: „Der Arlechinade Fortsetzung und Ende“9 Wer Zweifel hat, dass der egoistische Libertin im ersten Teil eine Identifikationsfigur des Dichterkomponisten ist, wird hier eines besseren belehrt Arlecchino, aus dem Kerker entflohen, kehrt zurück zu den Seinen, die Eltern, die ihn sehnsüchtig erwarten, tragen unzweifelhaft die Züge von Anna und Ferdinando Busoni Die „Fortsetzung“ mischt Persönliches mit Vorgaben aus dem ersten Teil, der unselige Krieg, der den Kosmopoliten Busoni gut drei Jahre in der Schweiz festhält, wirft seine Schatten auf die anspielungsreiche Phantasie und verführt den Autor zu einer Friedensapotheose, die fast wie das Jüngste Gericht daherkommt Die Guten werden von den Bösen geschieden, der Drache aus Wagners Siegfried erhält einen Platzverweis, den Kriegstreibern aller Sparten reißt der omnipotente Narr die Masken vom Gesicht, eine „himmelhohe Mauer aus Blumengeranke“, herbeigezaubert vom Doktor Faust, wächst zwischen diesem „Pack“ und der (heiligen) Familie Wichtiger als die Details dieses selbstbewussten Traumbilds ist das Licht, das von da auf den ersten Teil zurückfällt Die „ethische Idee des Stückes“, also Arlecchino, werde hier weiter gesponnen, resümiert Busoni 1921, das sei eine „abstrakte ‘Fantasie‘“, die „vom Opernwerke äußerlich losgetrennt, schwerlich musizierbar und kaum darstellbar“ ist 10 Immerhin verspricht er die baldige Veröffentlichung des Textes, was freilich nie geschah, noch im Oktober 1919 kann er sich den komponierten zweiten Teil vorstellen und macht sich Gedanken darüber, was er stattdessen seiner Turandot an die Seite stellen soll 11 Manches von dem, was die beiden „Harlekinaden“ bewegt, etwa die dort sich andeutenden Tendenzen zum Festspiel, wird er geläutert, konzentriert und entsprechend gewandelt, im Doktor Faust verwirklichen, der den zweiten Einakter als ein zu realisierendes Bühnenwerk immer mehr verdrängt

Köln, Frühjahr 2022 Reinhard Ermen

1 Ferruccio Busoni, Briefe an Henri, Katharina und Egon Petri, mit Anmerkungen und einem Vorwort versehen von Martina Weindel, Wilhelmshaven 1999, S 177

2 Siehe dazu Ferruccio Busoni, Briefe an seine Frau, hrsg von Friedrich Schnapp, Zürich 1935, S 159

3 Ferruccio Busoni, Arlecchinos Werdegang (1921), in: Wesen und Einheit der Musik. Neuausgabe der Schriften und Aufzeichnungen Busonis, revidiert und ergänzt von Joachim Herrmann, Berlin 1956, S 95

4 Siehe dazu Jürgen Kindermann, Thematisch-chronologisches Verzeichnis der Werke von Ferruccio Busoni, Regensburg 1980, S 314

5 Siehe dazu Antony Beaumont, Busoni the Composer, Bloomington 1985, S 208f

6 Klabund, Der Musikant Gottes, in: Moissi. Der Mensch und der Künstler in Worten und Bildern, hrsg von Hans Böhm, Berlin 1927, S 57

7 Siehe dazu Beaumont, Busoni the Composer, S 236

8 Busoni, Arlecchinos Werdegang (1921), S 94

9 Im Busoni-Nachlass der Preußischen Staatsbibliothek zu finden: C1; Schriften, Textb 27

10 Busoni, Arlecchinos Werdegang (1921), S 98

11 Siehe dazu Busoni, Briefe an seine Frau, S 339

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Preface

“Yesterday evening, while passing through Bologna, we saw a play performed by Italian masks The Arlecchino cut a very impressive figure; it was embodied by an actor who gave it a monumental touch,”1 writes Ferruccio Busoni to Egon Petri in May 1912 The performance literally jumps out at him; the encounter with the harlequin of Italian improvised comedy even raises guarded doubts about the opera, Die Brautwahl [The Bridal Choice], based on an E T A Hoffmann story, which had premiered shortly before in Hamburg, for a completely different tone prevails in the Italian masks: “Nowhere, the low comedy of the German, (into which – for example – my Thusman also fell) ” Thusman, that is the droll, whimsical loser in the Brautwahl, almost a Spitzweg figure within sight of Wagner’s Beckmesser. This is, in fact, very German, but now all the signposts point towards Italy! This has long been the case; in a letter of September 1908, he even formulates the idea of writing a “national opera” for his compatriots, the Italians 2 In 1913, he accepts an appointment as director of the venerable Liceo Musicale in Bologna, a position bringing him no luck And even the Berlin opera Die Brautwahl, while very German, carries a partial Falstaff legacy

“About the same time, I became acquainted with the Roman Marionette Theater, whose performance of a little comic opera by the twenty-year-old Rossini (L’occasione fa il ladro [Opportunity Makes the Thief; Love’s Luggage Lost]) left a gripping impression on me ”3 Thus, he recalls many years later He will do the Arlecchino, whereby Rossini, or rather his “Burletta per musica”, thus L’occasione fa il ladro, is probably mentioned not so much in the sense of a musical model, but rather as an ideal of southern ease The perspective of a “puppet theater” still accompanies the coming piece for a while, at any rate, a score fragment from November 1914 identifying the Arlecchino as a “puppet tragedy”4 can be found in the Berlin legacy The German keyword “Tragödie” [Tragedy] for the coming harlequinade betrays that the humor in the one-act play is not entirely to be trusted. The novelty is finally printed as “Theatralisches

Capriccio in einem Aufzuge [Theatrical Capriccio in One Act],” completed in Zurich on 7 November 1916 Together with Turandot, based on Gozzi in two acts, using already existing incidental music for Max Reinhardt, both plays are premiered on 11 May 1917 at the Stadt-Theater Zurich

The libretto is, in fact, available in 1914, the first work on the score begins, but then, preventing further work, along comes the first World War, which Busoni wants to wait out in the United States; based on existing and additional material; he composes instead an orchestral suite, bringing it back, finished, from America at the end of 1915 This Rondo Arlecchinesco, also called Harlekins Reigen in the (German) original edition published by Breitkopf & Härtel, is premiered in Rome in March 1916 Meanwhile, he has already taken up residence in neutral Switzerland, where he is to live in Zurich until his return to Berlin in 1920 Busoni’s four orchestral suites would be worth a separate study: They attend almost his entire oeuvre and are perpetuated as autonomous pieces, defiantly installing themselves beyond the usual orchestral forms, in a more complex, concentrated sense as “orchestral elegies ” Among these six (elegies), the Rondo is the third, to be understood as a lateral view to the still unfinished opera, having, like the orchestral piece, four “movements ” As a matter of fact, the “theatrical capriccio” Arlecchino is divided into four movements in which Busoni quite deliberately, even demonstratively, displays the repertoire of forms used The

music serves the scenario perfectly, though at the same time asserting itself with a self-confident absoluteness, knowing about tradition in order to radicalize it with refreshing exuberance This concept rebuffs the psychologizing of opera, a hallmark of its contemporaneity; one could speak of de-subjectification through typification, the recourse to the “commedia dell’arte” forming the foil for this. The result is an opera with spoken dialogue; in addition to the five male singers and one female singer, as well as some silent roles (among them a donkey), the speaking actor of Arlecchino clearly stands out – his part is melodramatic, i e , rhythmically notated over long stretches to the instrumental accompaniment

The inspirational moment for this accentuation could have been Pierrot Lunaire, premiered in October 1912 in Berlin With the graceful novelty, Busoni invited Arnold Schoenberg and his troupe on June 17 of the following year to his large apartment on Viktoria-Louise-Platz A detailed letter from the host to Egon Petri bears witness to the generous private concert with numerous, even prominent guests; the letter documents the impression the piece left on Busoni. For Antony Beaumont, Schoenberg’s Pierrot Lunaire is a kind of “catalyst” in search of Arlecchino, because this moonstruck Pierrot is a close relative to the Italian Harlequin, on the one hand, and on the other, because of the speaking voice’s special treatment, which is not only rhythmically notated here; pitches, also indicated, are to be eloquently suggested, and for a few moments may/must be sung The resulting vocal line gives the text a fluid, unfathomable, not the least mannered presence, which, supported by crystalline chamber music, is ideally suited to Albert Giraud’s “three times seven poems.” An impulse certainly, a challenge, – the “Theatrical Cappriccio” takes its own path, not only because Busoni chooses a somewhat less strained form of melodrama Despite all Italianità –Arlecchino cunningly latches onto the (German) singspiel’s line of development, which in this extravagant form comes up with a whole palette of vocal utterances, especially as far as pertains to the title hero’s speaking, i.e., rhythmically notated with and without orchestral accompaniment or simply spoken, for instance, in the programmatic prologue The dialogues are of a quickwitted brevity, occasionally Arlecchino may/must also sing The virtuosic, 23-measure “La, la, la”, with which he takes off after the first (stage) appearance, is, though, difficult for an actor to master; the final note of this jubilation, the high A, must be held for three measures In most cases, this is probably done by the tenor, who is first used later as Leandro. These are theatrical tricks Just in case, Busoni moves the effective exit to behind the scene; in the Rondo Arlecchinesco he had already incorporated the vocalise as a surprise: “Una voce di Tenore,” almost identical to the later theatrical version From the very outset, incidentally, he is thinking of Alexander Moissi, a superstar of the Reinhardt stages, for the title role He had played Kalaf in the 1911 Turandot production at the Deutsches Theater in Berlin with Busoni’s music Moissi was famous for a curvaceous performance style, his thoroughly controversial trademark Klabund praises him in 1927 as a “musician of God” (mind you, this is about an actor), continuing that he was the “most enchanting singspieler of the German tongue ”6 Before he was discovered by none other than Josef Kainz, he actually did want to study singing. Significantly, shortly before the premiere, Busoni recomposed part of Arlecchino’s closing speech as a sung version: for a baritone.7 This variant undoubtedly had in view the ambitions of the “Sing-

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spieler;” whether it was used is uncertain What would be certain is that Moissi realized speech curves à la Pierrot Lunaire in the premiere production without Busoni’s having to notate anything. Busoni’s Arlecchino comes across as sophisticated and robust at the same time! What sounds like a wanton contrast is precisely what gives the opera its artistic character This is already evident in the fanfare opening the prologue and then leading the “Introduction ” The jaunty trumpet solo lasting less than 10 seconds catapults the man in the “mottled garb” directly into the center of attention There is something lurking about the erratic ups and downs, yes, that sounds a bit dangerous; this title hero’s basic equipment also includes a martial trait. In a coup d’état, he takes control of the city of Bergamo, or at least of some of its inhabitants, in order to garnish a new love adventure The master tailor notices nothing, reading the Divine Comedy he forgets the world This becomes almost a running gag in the play, at least a motif that reappears at the end Busoni sets Dante to music – Dante Alighieri in allusions The idea of the national opera doesn’t catch fire here, he sinks the monument into ironiclachrymose melismas, the good man dreams himself from there further on to Don Giovanni (a relevant quotation flashes up), while Arlecchino is just stealing the wife from the reading tailor. “At a window of his [the tailor’s] own house, just above his head, Arlecchino is seen surreptitiously looking out with Sèr Matteo’s beautiful young wife.” The vest-pocket Don Juan of the farce type, who a runs little later into his own spouse at this inconvenient hour, thus having something of a Donna Elvira experience. That and other things are briefly touched upon, only to be swept away within the context of the prevailing plot mechanics The music energizes the whole thing Abbate and Dottore stop time with their ranting incomprehension, for that Busoni elegiacally sets sweeping lines. Putting that aside: Busoni’s text is consistently brilliant to the point of sarcasm, acting with relish in its antiquated mask The lyrical moments are of striking brevity: The enchantingly purring music with which Colombina, Arlecchino’s spouse, floats in, as it were, gives way to a furious furioso; enraptured by the beautiful speech, a little emphatic aria quickly ensues The driving force is the Harlequin, he wraps everyone around his little finger and triumphs at the end. The letter to Egon Petri cited at the beginning comes to mind again; the actor had given the character “a touch of the monumental ” Without question Busoni also realized it this way, the speeches to the audience at the beginning and at the end underline this in their exemplary nature Arlecchino has features of a “festival play,” as a light-hearted counterpart to Doktor Faust, which is almost simultaneously coming into Busoni’s focus. Written largely during World War I, the play seems like a sly commentary on the situation; one need only think of the false mobilization or various proclamations about the war, soldiers, and the circumstances surrounding them, yet the text was actually ready beforehand, requiring only a few changes: “The carnage that had broken out in the meantime caused the original ‘Turks’ of the libretto to be transformed into ‘barbarians.’”8 Dormant in the “commedia” archetype lies a potential that is updated in the respective time, “up to new incidents ”

While Busoni is working intensively on his Doktor Faust, he gets the idea for a second part of his “Cappriccio,” the libretto of which he completes on 22 July 1918: “Der Arlechinade Fortsetzung und Ende [The Arlechinade Sequel and Conclusion] ”9 Anyone doubting that the egotistical libertine in the first part is the poet-composer’s identification figure will be disabused here. Arlecchino, escaped from the dungeon, returns to his own, the parents eagerly awaiting him certainly bear the features of Anna and Ferdinando Busoni The “sequel” mixes the personal with parameters from the first part, the unfortunate war that keeps the cosmopolitan Busoni in Switzerland for a good three years, casts its shadow on the allusive imagination and seduces the author into an apotheosis of peace, which almost comes across as the Last Judgment The good are separated from the bad, the dragon from Wagner’s Siegfried is sent packing, the omnipotent jester tears the masks off the faces of the warmongers of all stripes, a “sky-high wall of flowery tendrils,” conjured up by Doctor Faust, grows between this “pack” and the (Holy) Family More important than the details of this self-conscious dream image is the light falling back from there onto the first part. The “ethical idea of the piece,” thus, Arlecchino, is here further spun out, Busoni summing up in 1921, it was an “abstract ‘fantasy’” that is “externally separated from the operatic work, difficult to put to music and hardly representable ”10 In any case, he promises an early publication of the text, which admittedly never occurred; as late as October 1919 he can still imagine the composed second part and is still thinking about what, instead, to put alongside his Turandot 11 Some of what moves the two “Harlequinades,” such as the tendencies towards the festival play that are indicated there, he will achieve, refined, concentrated and accordingly changed, in Doktor Faust, which increasingly displaces the second one-act play as a stage work to be realized

Cologne, spring 2022 Reinhard Ermen

1 Ferruccio Busoni, Briefe an Henri, Katharina und Egon Petri, with comments and a preface by Martina Weindel, Wilhelmshaven, 1999, p 177

2 See on this, Ferruccio Busoni, Briefe an seine Frau, ed by Friedrich Schnapp, Zurich, 1935, p 159

3 Ferruccio Busoni, Arlecchinos Werdegang (1921), in: Wesen und Einheit der Musik. Neuausgabe der Schriften und Aufzeichnungen Busonis, revised and augmented by Joachim Herrmann, Berlin, 1956, p 95

4 See on this, Jürgen Kindermann, Thematisch-chronologisches Verzeichnis der Werke von Ferruccio Busoni, Regensburg, 1980, p 314

5 Siehe dazu Antony Beaumont, Busoni the Composer, Bloomington IND, 1985, pp 208–9

6 Klabund, Der Musikant Gottes, in: Moissi. Der Mensch und der Künstler in Worten und Bildern, ed by Hans Böhm, Berlin, 1927, p 57

7 See on this, Beaumont, Busoni the Composer, p 236

8 Busoni, Arlecchinos Werdegang (1921), p 94

9 Located in the Busoni-estate of ther Preußische Staatsbibliothek: C1; Schriften, Textb 27

10 Busoni, Arlecchinos Werdegang (1921), p 98

11 See on this, Busoni, Briefe an seine Frau, p 339

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Arlecchino
Ferruccio Busoni op. 50 K 270 Edition Breitkopf 9433 © 2023 by Breitkopf & Härtel, Wiesbaden
*) *) Ferruccio Busoni | Arlecchino Breitkopf EB 9433 10
Erster Satz. 1. Einleitung, Szene und Liedchen Breitkopf EB 9433 11
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Erster Satz. 1. Einleitung, Szene und Liedchen Breitkopf EB 9433 13
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