EB 8993 – Raff, Klaviersonaten op. 14 / op. 168

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VI de und schließende Romanza, die manchen der Lieder ohne Worte des von Raff verehrten Felix Mendelssohn Bartholdy nahesteht. Der weitere Verlauf bezieht Satztechniken ein, die sich häufig in Klavierwerken Liszts finden: Oktavläufe, weitgespannte Begleitfigu­ ren und Melodien in Tenorlage. Der Mittelteil des Satzes wendet sich (wie auch schon die Durchführung des Kopfsatzes und spä­ ter ein Abschnitt des Finales) in enharmonischer Umdeutung von Ces-dur nach H-dur und erreicht damit die diatonisch weiteste Distanz zur Grundtonart es-moll. Zu dieser kehrt das Finale zu­ rück. Seine Anlage ist zweiteilig: der abschließenden Fuge geht ein weitläufiger Teil mit der Abschnittsfolge A – B – A’ – C voraus. In den A-Partien wird das Hauptthema mit wechselnden virtuosen Satztechniken ausgesponnen. Zwischendurch klingt in verspielter Abwandlung das den Kopfsatz beherrschende Doppelschlagmo­ tiv an (T. 19–26, 141–148). Abschnitt B (T. 67–116) bringt einen neuen, lebhaften Gedanken in staccatissimo-Impulsen. Teil A’ rundet den bisherigen Verlauf zu einer dreiteiligen Form ab. Überraschend setzt danach ein neuer, gesanglicher Teil C (T. 171, dolce sognando) ein. Er hebt zart an und weitet im Folgenden den ariosen Gesang breit aus, wobei die schwelgerische Terzen- und Sextenseligkeit in eine salonmusikhafte Larmoyanz abdriftet. Umso größer ist die neuerliche Überraschung durch den Einsatz der abschließenden großen Fuge, die das Hauptthema der A-Teile in dreistimmigem Satz polyphon ausführt. Durch den Rückgriff auf das Thema ergibt sich für das gesamte Finale die Formanlage A – B – A’ – C – A’’, wobei die auf Johann Sebastian Bach verweisende Diktion des fugierten Teils stilistisch denkbar weit von den voran­ gehenden Abschnitten entfernt ist. In der Fuge zeigt sich Raff als gewandter Kontrapunktiker. Ab T. 320 fugiert er die Umkehrung des Hauptthemas und im Schlussteil bringt er eine zweimalige Engfüh­ rung des Themas. Der Satz endet mit einer rasanten Steigerung und einer synkopischen, in heftigem fortissimo abwärts geführten Akkordfolge. Diese wiederholt den katastrophischen Schluss des Kopfsatzes und bekräftigt endgültig den tragischen Grundcharakter der Tonart es-moll. Die Sonate op. 14 zeigt Raffs früh ausgebildetes Können im Um­ gang mit stilistisch weit auseinanderliegenden musikalischen Idio­ men und diversen Satztechniken. Die Ambition könnte nicht größer sein: Mit der Schlussfuge knüpft Raff eine Verbindung zum Gipfel­ werk der Sonatenkomposition, Beethovens Sonate B-dur op. 106, der „Hammerklaviersonate“.

Fantasie-Sonate d-moll op. 168 Kürzer und ganz anders angelegt als die frühe Sonate op. 14 ist die Fantasie-Sonate op. 168. Sie wurde im Herbst 1871 in Wiesba­ den komponiert und erschien im April 1872 im Verlag Carl Friedrich ­Wilhelm Siegel in Leipzig. Raff stand zur Entstehungszeit im Zenit seines Ruhms. „Tage voll reichen und frohen Geschehens reihten sich aneinander.“19 1871 ist auch das Jahr der deutschen Reichsgründung nach dem Deutsch-Französischen Krieg. Raff hatte zwar die deutschen Siege begeistert begrüßt, mochte aber nach Kriegsende nicht in den all­ gemeinen frankreichfeindlichen Jubel einstimmen. „Der deutsche Idealist alten Schlages, der in Raff steckte, fühlte sich abgestoßen von dem wüsten Schwindel der Gründerzeit, wie von der lärmen­ den Volksbegeisterung Derer, die es mit einmal zeitgemäß fanden, Patrioten zu sein – weil Deutschland reich und stark geworden war.“20 Die Widmung der Sonate an Camille Saint-Saëns, einem der damals prominentesten Komponisten Frankreichs, darf als ein Zeichen der Abwendung vom deutschen Jubelpatriotismus und des Respekts vor der Kultur des geschmähten „Erbfeindes“ verstanden werden. (Saint-Saëns hatte 1871 zusammen mit einigen anderen

französischen Komponisten die Société Nationale de Musique gegründet, um insbesondere die neuere Instrumentalmusik franzö­ sischer Komponisten zu fördern.) Näheres über eine persönliche Verbindung zwischen Raff und Saint-Saëns ist nicht bekannt. SaintSaëns stand Liszt und seinem Kreis nahe, möglicherweise hatte sich dadurch ein Kontakt ergeben. Verbindungen zwischen Fantasie und Sonate finden sich vor Raff in einer ganzen Reihe von Werken, etwa in Beethovens beiden Sonaten op. 27 (quasi una fantasia), Schuberts Wanderer-Fantasie D 760 und in Schumanns C-dur-Fantasie op. 17. Die Verbindung von improvisatorisch geprägter Fantasie mit der Architektonik der Sonate ermöglicht vielerlei Konzeptionen. Raff verwirklicht das Fantasie-Prinzip, indem er drei ineinander übergehende Sätze thema­tisch verklammert. Eine variative Gestaltungsweise durch­ zieht so das gesamte Werk. Nur einige wenige der satzübergreifenden Bezüge seien ge­ nannt.21 Die verhaltene, expressiv harmonisierte, Klage- mit Frage­ gestus verbindende Phrase T. 4 bis 6, die auf die monumental und lapidar im unisono anhebenden Eröffnungstakte der Einleitung antwortet, nimmt das in T. 32ff. erklingende Hauptthema vor­ weg; die besagte Eröffnungsphrase ihrerseits wird zum lyrischen Thema des Mittelsatzes umgeformt (T. 186ff.). Das Hauptthe­ ma des Schlusssatzes (T. 276ff.) wiederum greift auf das aus der Einleitung bezogene Hauptthema des Kopfsatzes zurück. Die Ent­ wicklung des Finales mündet in eine triumphale Umformung des seraphisch anmutenden Themas des Mittelsatzes, monumental mit Oktavläufen begleitet, welche die aufwärtsführende Tonfolge der Hauptthemen von Kopfsatz und Finale ausweiten. In den thematischen Bezügen zeigt sich die Gesamtdramaturgie des Werks. Der pathetische Gegensatz zwischen der machtvoll-­ bedrohlichen Eröffnungswendung und der antwortenden Klage bil­ det den konflikthaften Kern, aus dem sich das weitere Geschehen entwickelt. Der dunkel getönten Leidenschaftlichkeit des fantasie­ artig von Arpeggien umspielten Hauptthemas tritt ein lichtes, lyri­ sches Seitenthema gegenüber (T. 84ff.), bevor sich zum Ende des Satzes das Hauptthema durchsetzt und katastrophische Züge an­ nimmt: Die getragenen Viertel verkürzen sich zu Achteln (Reprisen­ beginn T. 138) und steigern sich zu einem leidenschaftlich gehäm­ merten Motiv, das an den Kopfsatz von Beethovens 5. Symphonie (T. 173ff.) gemahnt. Der Mittelsatz entfaltet die Eröffnungsphrase der Einleitung zu einer hell anhebenden zarten Gegenwelt, die nach der vorangehenden Heftigkeit erlösend wirkt. Das Finale bringt zwar wie angedeutet das zarte Thema des Mittelsatzes zu machtvoller Größe, doch schlägt in der Schlussstretta (T. 422ff.) das erreichte D-dur noch einmal in die pathetische Grundtonart d-moll um. Hier geraten die Konturen des zuvor glorios präsentierten Themas in den Strudel des Gewoges, bevor ein energischer Dur-Schluss das Werk beendet. Auch in der Fantasie-Sonate sind diverse Einflüsse stilistischer Vorbilder zu erkennen. Das Wechselspiel der Unisono-Phrase und der klagenden Antwort zu Beginn des Werkes erinnert an den Beginn der Fantasie c-moll KV 457 von Mozart, die Antwortphra­ se selbst an Motive im Kopfsatz von Beethovens Klaviersonate Es-dur op. 31 Nr. 3 (T. 35–42); Begleitfiguren und Triolenfiguratio­ nen im Seitenthema des Finales (T. 305ff.) klingen unverkennbar nach Chopin, die ausschweifenden Arpeggien (T. 125ff.) und die mit alternierenden Händen gehämmerten Figuren (T. 169ff.) nach Liszt. Bemerkenswert sind ferner die in den Variationen des langsamen Satzes vorhandenen Adaptionen aus den Variationen der Arietta in Beethovens letzter Klaviersonate c-moll op. 111. Das gilt besonders für die triolische erste (T. 202ff.) und die durch vibrierende Bassfigu­ rationen verschattete vierte Variation (T. 254ff.).


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