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STRASSENLEBEN | von Miriam Sahli | Fotos: Claudia Siekarski
Gestrickt eingefädelt Mit »Töpfchenhexe« unterwegs in Bochum
Es ist schon eine ziemlich gute Masche, Stri-
gemessen hatte. Ein alter Mann, dessen Hund an
cken zur hippen Freizeitbeschäftigung zu er-
einem Straßenschild gerade sein Bein hebt, sieht
heben. Denn Stricken, das verbanden wir sonst
Töpfchenhexe interessiert nach, geht neugierig
immer mit fies-kratzigen Pullovern von Oma
auf die Bank zu. Ein junger Typ rollt mit seinem
oder Tante, schlimmstenfalls mit Schneemann
Skateboard betont langsam an der umgarnten
oder Marienkäfer vorne drauf. Inzwischen
Bank vorbei und mustert ihre neue Erscheinung.
verbinden wir mit einem gestrickten Pullover
Vorher ist ihm diese banale Bank sicher nicht
Straßenkunst – dann nämlich, wenn er sich in
aufgefallen.
Babykleidergröße um einen Poller schmiegt. Guerillastricken nennt sich das – Guerilla
Währenddessen legt Töpfchenhexe einen kleinen
deshalb, weil die Weltverschönerer im Verbor-
gestrickten Pullover – er ist gelb-braun-meliert
genen arbeiten und mit ihren Wollwerken eine
– um ein nacktes Straßenschild, ihre Finger sind
Botschaft verbreiten.
gerötet von der Kälte. Dieser Ort ist ein richtiger Unort. Das Schild ist hässlich: wüst besprüht und
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Töpfchenhexe sitzt auf einer Bank auf dem Willy-
beklebt, die Kulisse ist kein bisschen weniger
Sonderanfertigung für bodo:
Brandt-Platz in Bochum, ihre Augen versteckt sie
hässlich. Mit einer Nadel will Töpfchenhexe den
Eine Bank am Bochumer Willy-
hinter einer schwarzen Sonnenbrille, ihren Mund
Pulli zusammenhäkeln, aber der dicke, fusseli-
Brandt-Platz bekam eine kuschelige,
hinter einem Schal. Ihren richtigen Namen ver-
ge Wollfaden geht nicht durchs Öhr. Dann aber
wärmende Rückenlehne.
steckt sie ebenso. Sie steht auf, beugt sich über ihre Ledertasche, kramt darin und holt etwas Gestricktes heraus, das wie die ersten 20 Zentimeter eines Schals aussieht. An der Rückenlehne der Bank verknotet Töpfchenhexe die Wollfäden, die an jeder Ecke heraushängen, zu Schleifen. Dann klappt sie eine gelbe Butterbrotdose auf, ihre Werkzeugkiste. Ein Maßband quirlt heraus, Stecknadeln, eine Schere, Stricknadeln, Nähnadeln, Zettelchen liegen darin. Mit der Schere verkürzt sie die Schleife, tritt zwei Schritte zurück und betrachtet durch die dunklen Gläser die weiche Rückenlehne – diesmal sogar extra mit der Aufschrift bodo. Töpfchenhexe zieht zum Sprechen ihren Schal ein bisschen tiefer und sagt: „Diese Rückenlehne ist symbolisch. Menschen, die Hilfe bei bodo suchen, haben oft wenig Rückhalt, brauchen jemanden, bei dem sie sich anlehnen können, der Wärme abgibt.“ Sie tritt wieder zwei Schritte näher und holt
doch. Später stellt sich Töpfchenhexe auf die
einen Zettel aus ihrer Werkzeugkiste, eine provi-
Zehenspitzen, um den Pulli so hoch wie mög-
sorische Visitenkarte. Katernberger Strickguerilla
lich zu schieben – das ist bei der Katernberger
– ihr gehört Töpfchenhexe an – und der Internet-
Strickguerilla eigentlich der Job von dem Schie-
link zur facebook-Gruppe stehen darauf, dane-
ber, einem großgewachsenen Essener Studenten,
ben sind Schwarz-Weiß-Fotos von vermummten
der die anderen Mitglieder überragt. Den Pulli
Menschen. Töpfchenhexe befestigt den Zettel an
hat Faule Socke gestrickt, ein IT-Techniker und
einem Schleifenbändchen, legt die Kiste zurück
Töpfchenhexes Nachbar. Faule Socke hätte sie
in ihre Tasche, zieht sie zu und verlässt die Bank,
begleitet, liegt aber an diesem stürmischen,
die sie wenige Tage zuvor ausgesucht und aus-
trist-grauen Nachmittag erkältet im Bett. Dass
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