bodo Juni 2021

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bodo DAS

06 | 21 Die besten Geschichten auf der Straße

IN STRASSENMAGAZ

2,50 Euro Die Hälfte für die Verkäuferin den Verkäufer

MARTIN BR AMBACH CHRISTINE SOMMER BJÖRN ROSENBAUM

Impfungen für Obdachlose Seite 12

CHRISTIAN LINDNER

Hausbesuche Seite 46

Z T A L P S N E J Ü RG H FÄNGT NEU AN E I N MÖNC

NUR MIT AUSWEIS

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IMPRESSUM

Herausgeber, Verlag, Redaktion: bodo e.V. , Schwanenwall 36 – 38, 44135 Dortmund 0231 – 950 978 0, Fax 950 978 20 Redaktionsleitung und V.i.S.d.P.: Bastian Pütter, redaktion@bodoev.de 0231 – 950 978 12, Fax 950 978 20 Layout und Produktion: Andre Noll, Büro für Kommunikationsdesign info@lookatnoll.de Veranstaltungskalender: Petra von Randow, redaktion@bodoev.de Anzeigenleitung: Susanne Schröder, anzeigen@bodoev.de 0231 – 950 978 0, Fax 950 978 20 Vertriebsleitung: Oliver Philipp, vertrieb@bodoev.de 0231 – 950 978 0, Fax 950 978 20 Autoren dieser Ausgabe: Annette Bruhns, Franz, Alexandra Gehrhardt, Wolfgang Kienast, Max Florian Kühlem, Bastian Pütter, Petra von Randow, Markus Roeser, Sebastian Sellhorst, Ilse Weiß Titel: Jürgen Knörr Bildnachweise: Giorgos Agelakis (S. 32, 34), Gonzalo Fuentes / Reuters (S. 16), Rene Golz (S. 37), Jürgen Knörr (S. 33), Lisa Konrad (S. 23), Thomas Meyer (S. 41), Presseamt Bochum (S. 27), Hafiez Razali / Shutterstock (S. 36), Daniel Sadrowski (S. 3, 4, 5, 6, 18, 19, 20, 21, 22, 30), Laura Sander (S. 26), Sebastian Sellhorst (S. 2, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 45, 46), Shutterstock.com (S. 22), Martin Steffen (S. 29), Urbane Künste Ruhr (S. 24), Frank Vinken (S. 25), Anneke Wardenbach (S. 25) Druck: LN Schaffrath GmbH & Co. KG DruckMedien Auflage, Erscheinungsweise: 20.000 Exemplare, monatlich in BO, DO und Umgebung Redaktions- und Anzeigenschluss: für die Juli-Ausgabe 10. Juni 2021 Anzeigen: Es gilt die Anzeigenpreisliste 06. 2019 Verein: bodo e.V. ist als gemeinnützig eingetragen im Vereinsregister Dortmund Nr. 4514 Vereinssitz: Schwanenwall 36 – 38, 44135 Dortmund www.bodoev.de, facebook.com/bodoev

INHALT

Ein kleiner Pieks

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„Ich hab den Bogen letzte Woche schon ausgefüllt, damit das gleich schnell geht.“ Fredi ist einer der Ersten an diesem Morgen. Im Dortmunder FZW findet der erste Impftag für Wohnungslose statt, knapp 2.300 Impfdosen für Wohnungslose hat die Stadt insgesamt bestellt. Von Alexandra Gehrhardt

Jürgens Platz

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Das Foto zeigt einen Sadhu-Mönch mit dichtem weißen Bart. Er sitzt auf einer Mauer, sein T-Shirt und der Sarong sind orange, er trägt einen Turban. Der Mann heißt Jürgen. Indien hat ihn nach 30 Jahren abgeschoben, barfuß, in ein Land, in dem er als Wohnungsloser neu beginnen muss.

Von Ilse Weiß

Langeweile

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Die Psychologie-Professorin Sabrina Krauss spricht im Interview vom Umgang mit einer Zumutung: von Frustrationstoleranz und NetflixKonsum, über Forschungsfragen in der Pandemie, von der Kunst des Nichtstuns und den Glücksgefühlen, eine To-do-Liste abzuarbeiten. Von Wolfgang Kienast

Vorstand: Andre Noll, Verena Mayer, Marcus Parzonka verein@bodoev.de Geschäftsleitung, Verwaltung: Tanja Walter, 0231 – 950 978 0, verein@bodoev.de Öffentlichkeitsarbeit: Alexandra Gehrhardt, Bastian Pütter 0231 – 950 978 0, redaktion@bodoev.de Transporte, Haushaltsauflösungen: Brunhilde Posegga-Dörscheln, 0231 – 950 978 0, transport@bodoev.de Buchladen, Spendenannahme Dortmund: Schwanenwall 36 – 38, 44135 Dortmund 0231 – 950 978 0, Mo. – Fr. 10 – 18 Uhr, Sa. 10 – 14 Uhr Anlaufstelle und Vertrieb Dortmund: Schwanenstraße 38, 44135 Dortmund Mo. – Fr. 10 – 13 Uhr Spendenannahme Bochum: Kleiderkammer Altenbochum und Laer Liebfrauenstraße 8 – 10, 44803 Bochum Mo. 10 – 13 Uhr, Sa. 10 – 12 Uhr Anlaufstelle und Vertrieb Bochum: Henriettenstraße 36, Ecke Bessemerstraße 44793 Bochum, Mo., Do., Fr. 11 – 14 Uhr Di. 11 – 17.30 Uhr, Mi. 8 – 14 Uhr Spendenkonto: Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE44 3702 0500 0007 2239 00 BIC: BFSWDE33XXX

Franz, bodo-Verkäufer in Bochum Liebe Leserinnen und Leser, bei mir war es endlich soweit. Im bin geimpft worden. Mit einer Gruppe von bodo-Kolleginnen und -Kollegen habe ich das Angebot der Stadt für Wohnungslose genutzt. Ich stehe zwar schon seit Anfang März bei meinem Hausarzt auf der Warteliste, aber von dem habe ich bis jetzt noch nichts gehört. Vor Ort hat dann alles supereinfach geklappt. Nach einem kurzen Vorgespräch waren wir alle nach einer halben Stunde wieder draußen. Da wir den Impfstoff von Johnson & Johnson bekommen haben, bleibt uns auch der zweite Termin erspart. Als ich im Vorgespräch von meinen Herzmedikamenten erzählte, meinte der Arzt, dass ich eigentlich schon lange an der Reihe hätte gewesen sein müssen. Ich war zwar auch in den letzten Monaten immer an meinem Verkaufsplatz, aber jetzt mit Impfstoff im Arm fühle ich mich doch besser, wenn ich den ganzen Tag auf der Straße stehe. Jetzt hoffe ich nur noch, dass das Thema Corona irgendwann für uns alle vom Tisch ist. Bis dahin, bleiben Sie gesund! Ihr bodo-Verkäufer Franz

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EDITORIAL

04 Menschen | Christine Sommer und Martin Brambach 07 Straßenleben | Eine Lücke weniger 08 Neues von bodo 12 Reportage | Nur ein kleiner Pieks 16 Das Foto 16 Mieten & Wohnen | Raus auf den Balkon! Und der Grill? 17 Kommentar | Verstörende Stille 17 Die Zahl 18 Reportage | Dortmunds jüdische Gräber 22 Wilde Kräuter | Malve 23 Kultur | Björn Rosenberg 24 Kulturlandschaft 30 bodo geht aus | Maschas 32 Reportage | Jürgens Platz 36 Interview | Langeweile 39 Bücher 40 Interview | Christian Lindner 43 Eine Frage… | Wird vererbt, was uns schmeckt? 44 Leserpost | Rätsel 45 Leserpost 46 Verkäufergeschichten | Kudlip

Liebe Leserinnen und Leser, das auf unserem Titel ist Jürgen. Auf dem zwei Jahre alten Foto ist er SadhuMönch in Rishikesh im indischen Bundesstaat Uttarakhand. Wer sich für Fernöstliches, für Yoga und Hinduismus interessiert, mag die Stadt am Fuße des Himalaya kennen. Naja, und Beatles-Fans. Weil die Welt ja inzwischen fast überall erstaunlich ähnlich funktioniert, widerfuhr Jürgen das, was auch zum Alltag in Deutschland gehört: Nach 30 Jahren in Indien fiel auf, dass da einer am falschen Ort sei. „Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen“, Brecht, Sie kennen das. Jürgen kam in Abschiebehaft, und ein Jahr später saß er barfuß in einem Flieger nach Deutschland. Das Gute: Nach Deutschland Abgeschobene landen nicht im Krieg, im Gefängnis oder müssen in Erdlöchern hausen. Die Wohnungslosenhilfe war zur Stelle, Jürgen hat ein erstes Dach über dem Kopf und beginnt jetzt mit mönchischer Gelassenheit, die gesellschaftlichen Veränderungen und technischen Innovationen der vergangenen 30 Jahre nachzuarbeiten. Gerade macht er einen von unseren KollegInnen vom „Straßenkreuzer“ angebotenen Smartphone-Kurs. Auf die Frage, ob er einverstanden sei, dass wir sein Foto auf unseren Titel nehmen, sagte er meiner Kollegin Ilse Weiß, die seine Geschichte aufgeschrieben hat, wie stets undurchschaubar und mit schwebender Ironie: Ja, das sei möglicherweise ganz sinnvoll. Hier habe vielleicht nicht jeder mitbekommen, dass er wieder da sei.

Ihre Meinung ist uns wichtig. Seite 44

Viele Grüße von bodo Bastian Pütter – redaktion@bodoev.de

Von Nothilfe bis Neuanfang: Helfen Sie helfen.

Neben unserer praktischen Arbeit klären wir auf über die Ursachen von Obdachlosigkeit und über das, was hilft, um sie zu beenden. Wir geben Betroffenen eine Stimme und sind eine Lobby für die Menschen „am Rand“. Mit Ihrer Hilfe. Spendenkonto: Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE44 3702 0500 0007 2239 00

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MENSCHEN

Wenn mal wieder Zweifel aufkommen, ob es nicht eigentlich viel schönere Orte zum Leben gibt als das Ruhrgebiet, dann tut es gut, sich die Geschichte von Martin Brambach und Christine Sommer anzuhören. Das Schauspieler-Paar gehört logischerweise nach Berlin oder Wien. Gelandet ist es allerdings in Recklinghausen – und wirkt sehr glücklich damit. Von Max Florian Kühlem | Fotos: Daniel Sadrowski

Leben im Brennglas Martin Brambach, den Fernsehzuschauer heute vor allem als Kommissariatsleiter aus dem Dresdner Tatort kennen, und Christine Sommer, die schon in vielen Filmen und Serien von Wilsberg bis SOKO gespielt hat, sitzen auf einer Bank vor dem Kutscherhaus am Rande der Recklinghäuser Innenstadt und genießen die letzten warmen Sonnenstrahlen des Nachmittags. Welche (Irr-)Wege haben sie hierher geführt? „Ich bin wegen meiner Frau hier gelandet“, bringt Brambach die Geschichte kurz auf den Kern – und untermauert damit eine Selbstbeschreibung, die, wie er findet, gut ins Ruhrgebiet passt: „Ich bin geradeheraus.“ Christine Sommer hat es wegen ihres ersten Mannes nach Recklinghausen verschlagen: Georg Sommer wirkte in den 1990er-Jahren als musikalischer Leiter unter anderem bei den Bad Hersfelder Festspielen und lernte dort die gebürtig aus Wien stammende Schauspielerin kennen. „Ich bin ein freiheitsliebender Mensch, ich wollte frei arbeiten“, erinnert sie sich, „und bin nichtsahnend hierher gezogen.“ Bald kam die erste Tochter, etwas mehr Beständigkeit musste ins Leben einziehen. 2001 hat es dann allerdings mit Martin Brambach gefunkt bei einem Tatort-Dreh in der Steiermark. „Martin war ein impotenter Verdächtiger. Das hat mich beeindruckt“, sagt sie und verbreitet ein ansteckendes Lachen. Martin Brambach wohnte damals in Berlin und hatte bereits ein ereignisreiches Leben hinter sich: Geboren in Dresden, folgte er 1984 über die Familienzusammenführung seiner Mutter nach

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Westdeutschland. Dort erreichte ihn der Anruf eines Bekannten, der Regisseur unter Claus Peymann am Bochumer Schauspielhaus war: Brambach sollte dort spielen im Stück „Die Eroberung des Südpols“. Nach einem abgebrochenen Abitur verbrachte er dann sogar ein Jahr auf der Schauspielschule in Bochum, die damals noch „Westfälische“ hieß und in Baracken am Lohring untergebracht war. Doch Brambach vertraute lieber auf seinen eigenen als auf den vorgegebenen Bildungsweg: „Ich habe dem Studium nicht den nötigen Ernst entgegengebracht. Handwerk ist wichtig – bewegen, sprechen, tanzen, singen – das habe ich mir aber woanders geholt, auch im privaten Umfeld.“ Der Erfolg gibt ihm Recht: Nach dem Engagement in Bochum folgten eins in Köln und zehn Jahre Burgtheater Wien. Mittlerweile ist er sehr etabliert als Fernsehschauspieler. „Auch deshalb kann ich gut im Ruhrgebiet


Christine Sommer & Martin Brambach Christine Sommer: geboren 1970 in Wien Schauspielausbildung am Max-Reinhardt-Seminar in Wien Theater-Engagements in Wien, Tübingen, Braunschweig und den Ruhrfestspielen Recklinghausen Fernsehrollen in Serien wie Kommissar Rex, Wilsberg und SOKO Martin Brambach: geboren 1967 in Dresden 1984 Übersiedelung in den Westen Theater-Engagements in Bochum, Köln, Wien Unzählige Kino- und Fernsehrollen von „Tatort“ bis „Lindenberg! Mach dein Ding“ Ausgezeichnet mit dem Bayrischen und Deutschen Fernsehpreis und dem Deutschen Schauspielpreis

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MENSCHEN

leben, weil ich gerade nicht so viel Netzwerkpflege betreiben muss“, sagt er. „Hier trifft man halt nicht mal eben einen Regisseur im Supermarkt.“ Dafür hat das Ruhrgebiet andere Vorzüge. „Berlin hat mir nicht gut getan“, erinnert sich Martin Brambach. „Meine Ehe ist kaputtgegangen, ich hatte Schulden.“ So ist er 2003 auch deshalb zu Christine Sommer nach Recklinghausen gezogen, um sich zu erden, eine neue Perspektive zu bekommen. „Ich bereue es keine Sekunde“, sagt er – unter anderem deshalb, weil er in der Region vieles findet, was er am Leben in der DDR neben all den bekannten Nachteilen doch geschätzt hat: „Neben all der Kleingeistigkeit und der Unfreiheit – auch in der Kunst – gab es doch eine große Solidarität und Aufrichtigkeit. Man war aufeinander angewiesen.“

„Der Nahverkehr ist eine Katastrophe“, sagt Christine Sommer, „die Preise sind unglaublich hoch. Das sorgt dafür, dass das Ruhrgebiet keine Metropole ist.“

Diese Tugenden haben Christine Sommer und Martin Brambach bei einer Grubenfahrt auf der Zeche Prosper Haniel wieder erlebt: „Erst im Stollen begreift man das Ruhrgebiet so wirklich“, sagt Christine Sommer. „Dieses Malochen. Es war heiß, mir war schummrig. Ich hatte eine kurze Krise: Wo ist das Licht? Da unten muss man aufeinander achten, da gibt es keine Hierarchie. Christen, Muslime und Juden gehen an der Heiligen Barbara vorbei. Das wurde oben so weitergelebt.“ Auch Martin Brambach sieht im Leben an der Oberfläche, dass dort die multikulturelle Einstellung weitergelebt wird. „Meine Generation ist kosmopolitisch aufgewachsen“, sagt er. „Ich habe mich immer in erster Linie als Weltbürger verstanden und sehe das Ruhrgebiet als Brennglas für die Zukunft: Wenn Zusammenleben der Kulturen und Strukturwandel hier gelingen, dann vielleicht überall.“ In einem Punkt würde sich das Paar allerdings doch eine klare Veränderung in der Region wünschen: „Der Nahverkehr ist eine Katastrophe“, sagt Christine Sommer, „die Preise sind unglaublich hoch. Das sorgt dafür, dass das Ruhrgebiet keine Metropole ist.“ Deswegen sind beide gerne mit dem Fahrrad unterwegs. Die erhoffte Erdung hat der 53-jährige Schauspieler im Ruhrgebiet gefunden: Dass er ein bekannter Schauspieler ist, wird hier – sagen wir mal – nicht überbewertet. „Letztens blieb ein Mensch an meinen Zaun stehen und beobachtete mich minutenlang“, erzählt er, „und sagte irgendwann: ,Gartenarbeit ist wohl nicht so deins?‘“ Solche Begegnungen empfindet er als wohltuend: „Wir Quatschmacher werden ja nur so hoch gehandelt, weil wir in einer Medienwelt leben. Aber Schauspieler ist nur ein Beruf unter vielen, Schreiner oder Verkäufer sind doch genauso wichtig.“ Wenn die beiden ihren Beruf ausüben und zum Beispiel Lesungen in den umgebauten Zechen der Umgebung machen, dann feiern sie die Menschen allerdings auch dafür: „Die sind eigentlich immer voll“, sagt Christine Sommer, die es im Fernsehgeschäft allerdings immer schwerer hat: „Wir können noch so viel über #metoo oder das Gendern reden – ab 50 gibt es für Frauen kaum noch Rollen. Da kannst du noch so gute Castings machen.“

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STRASSENLEBEN

In Barop haben die Stadt Dortmund und European Homecare die neue Übernachtungsstelle für wohnungslose junge Erwachsene eröffnet. Bisher fallen diese Menschen mangels passender Angebote oft aus dem System der Wohnungslosenhilfe. Diese Lücke soll nun geschlossen werden. Von Alexandra Gehrhardt Fotos: Sebastian Sellhorst

Eine Lücke weniger A

uf dem Plan stand die Unterkunft schon seit Jahren. Als die Wohnungslosenzahlen um 2017 massiv stiegen und auch in Dortmund die Lücken im in die Jahre gekommenen Hilfesystem sichtbarer wurden, setzte sich die Verwaltung hin, befragte Akteure im Feld dazu, was gut läuft und was fehlt. Am Ende stand ein Konzept zur „Weiterentwicklung der Wohnungslosenhilfe“, das jährlich aktualisiert wird und nun stärker dem Umstand Rechnung trägt, dass es für unterschiedliche Gruppen – seien es Suchterkrankte, Menschen mit psychischen Erkrankungen oder eben Jüngere – unterschiedliche Angebote braucht. Sozialdezernentin Birgit Zoerner und Sozialamtsleiter Jörg Süßhardt sehen die neue Einrichtung als „wichtigen Lückenschluss“ im Hilfesystem: Bisher gibt es für Menschen zwischen 18 und 27 Jahren, die für die Jugendhilfe eigentlich zu alt sind, nicht wirklich passende Angebote, auch weil viele die Unterkünfte für Erwachsene meiden. Im „gap jump“, so der Name, sollen nun bis zu 20 Menschen, untergebracht in Zweier- oder Einzelapartments und einer WG, für maximal fünf Monate ein Obdach finden, vor allem aber „Perspektiven entwickeln“, für den Schulabschluss, einen Beruf, eine Wohnung. Das Haus ist ganztags geöffnet und stärker als andere Angebote auf Autonomie ausgerichtet, die Zimmer haben Kühlschrank, Herd und Bad. Ein Team von fünf Sozialarbeiter- und PädagogInnen

hilft bei Behördengängen, der Klärung von Leistungsansprüchen, Bewerbungen, Tagesstruktur und Freizeitangeboten. Die Basis für den gewünschten Lückenschluss ist also gelegt. Wie gut er gelingt, wird sich zeigen. Der Betreiber, das Unternehmen European Homecare, steht immer wieder wegen mangelhafter Sozialarbeit in der Kritik (bodo 09.20), und auch der Misshandlungsskandal von Burbach wirkt bis heute (bodo 05.19). In Dortmund betreut EHC die Männerübernachtungsstelle und einzelne Einrichtungen für Geflüchtete. Der nächste Lückenschluss soll in der zweiten Jahreshälfte folgen: Dann soll die neue Übernachtungsstelle für wohnungslose Drogenabhängige eröffnen.

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NEUES VON BODO

Herzlich willkommen! Mit Prognosen ist es nicht nur in der Pandemie so eine Sache. Mit einem Monatsmagazin in Zeiten von Push-Nachrichten und Livestreams hadern wir manchmal damit, dass unsere Aussagen viele Wochen Gültigkeit haben müssen. Die sich zum Teil rasant schnell ändernden Corona-Maßnahmen machen das Magazin endgültig zum falschen Ort, um zum Beispiel Ladenöffnungszeiten bekanntzugeben. Am Tag, an dem dieses Heft in Druck geht, sind wir aber so optimistisch, sagen zu können: Es geht wieder los! Unser Dortmunder und unser Bochumer Buchladen freuen sich über KundInnen, dort nehmen wir wie bisher auch ihre Buchspenden an. Über Sachspenden freut sich das Dortmunder Hygienezentrum und unsere Bochumer Kleiderkammer. Die aktuellen Öffnungszeiten und alle weiteren Informationen finden Sie auf unserer Website sowie bei Facebook und Instagram.

NEUES VON BODO

Was wir tun, wie es weitergeht bei bodo – aktuelle Kontaktund Öffnungszeiten und vieles mehr finden Sie auf www.bodoev.de

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Gute Arbeit

Sommer am U

Unser Team führt Haushaltsauflösungen durch – von der Einzimmerwohnung bis zum großen Wohnhaus –, entrümpelt Keller- und Dachböden besenrein, transportiert Kartons und Kisten, entsorgt Gartenabfälle und entfernt Tapeten und Bodenbeläge. Möchten Sie die Unterstützung unseres Teams? Wir freuen uns auf Ihren Anruf. Jeder Auftrag ist anders. Zwar können wir Ihnen am Telefon noch nicht sagen, welche Kosten genau auf Sie zukommen, jedoch verabreden wir gerne kurzfristig einen Besichtigungstermin mit unserer Teamleiterin Brunhilde Posegga-Dörscheln und erstellen einen unverbindlichen Kostenvoranschlag: 0231 – 950 978 0 oder transport@bodoev.de.

Vom 16. Juni bis zum 27. August soll es in diesem Jahr den „Sommer am U“ geben, die entspannte „umsonst und draußen“-Veranstaltungsreihe im Schatten der f liegenden Bilder. Auch in diesem Jahr sind wir als einer der Partner der Reihe dabei und gestalten einen Abend selbst: Am 8. August holen wir ein zweites Mal nach 2019 Jeff Silvertrust nach Dortmund. Die Straßenmusiklegende aus Chicago tourt durch ganz Europa als One-Man-Band. Der Multiinstrumentalist plündert schamlos die Musikgeschichte – ob Klassik, Jazz, Pop, Rock oder Volkslied – und erweitert die Songs um bissige, sozialkritische Texte in diversen Sprachen. Alle Termine und Zeiten auf sommer-am-u.de


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Unter dem Dach des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes in Dortmund haben sich rund 200 gemeinnützige Vereine, Organisationen und Initiativen zusammengeschlossen. Sie bieten Unterstützungsleistungen in allen Lebensbereichen an:

Sozialarbeit mobil Mit den bodo-e-Lastenrädern in Bochum und Dortmund hat sich der Radius der aufsuchenden Arbeit deutlich erweitert. Auch außerhalb der Innenstädte kann unsere Sozialarbeit Wohnungslose beraten. Die Räder ergänzen das Angebot unserer Anlaufstellen und der täglichen Versorgungstouren zu Fuß.

Vielen Dank! Unsere soziale Arbeit, von der Nothilfe auf der Straße bis zur Nachbetreuung ehemals Wohnungsloser in den nun eigenen vier Wänden, ist spendenfinanziert. Unsere Arbeitsbereiche verzichten auf staatliche Regelförderungen und erwirtschaften einen Großteil ihrer Einnahmen selbst – auch wenn die Pandemie das zur Herausforderung hat werden lassen. Ob mit Geld-, Buch- oder Schlafsackspenden (im Bild eine Maskenspende unseres Langzeit-Kooperationspartners Mieterverein Bochum), mit dem Kauf des Straßenmagazins, dem Kauf von Büchern oder Dienstleistungen machen Sie unsere Arbeit für Menschen in Not möglich. Unseren herzlichen Dank dafür!

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Beratung bei Ehe- und Lebenskrisen Unterstützung bei der Betreuung von Kindern Angebote für Jugendliche und junge Erwachsene Unterstützung bei psychischen Erkrankungen Hilfen für Menschen mit Behinderungen Hilfen in Notlagen und bei besonderen sozialen Schwierigkeiten Selbsthilfeunterstützung

Kontakt über Paritätischer Wohlfahrtsverband NRW Kreisgruppe Dortmund Ostenhellweg 42-48/Eingang Moritzgasse | 44135 Dortmund Telefon: (0231) 189989-0, Fax: -30 dortmund@paritaet-nrw.org | www.dortmund.paritaet-nrw.org

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Vielfalt erleben! vor Ort & online

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Im Interview: Robert Habeck Seite 40

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DAS STRASSENMAGAZIN

für Die Hälfte die Verkäuferin den Verkäufer

Die besten Geschichten auf der Straße

Die Hälfte für die Verkäuferin den Verkäufer

RUHR : DING A KLIM

CHRISTINE SOMMER

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IM KUNS

BJÖRN ROSENBAUM

REICHTUM UND MORAL

18 Kameras Seite 18

NEUSTART

TBRET WELT SPIEL

MARTIN BRAMBACH

DIE MODISTIN

NS ME RTE UM NO ORTMUS EUM BOCH

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Die besten n Geschichte auf der Straße

DIE HASENAPOTHEKE

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JÜRGENS PLATZ

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Impfungen für Obdachlose Seite 12

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EIN MÖNCH FÄNGT NEU AN

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NEUES VON BODO

Stadtführungen Ob in Hamburg, Berlin oder Köln, in Athen, Glasgow oder Wien – meist ausgehend von den sozialen Straßenzeitungen laden in vielen Großstädten StadtführerInnen mit echter Straßenerfahrung zu Stadttouren „von unten“. Sie zeigen die meist unsichtbaren Hilfestrukturen für Wohnungslose und bieten einen anderen Blick auf die Stadt an. Corona zwang die meisten dieser Stadtführungen – so auch unsere – von der Straße. Statt einfach weiterzumachen, konzipieren wir nun unsere Führungen in Bochum und Dortmund völlig neu – und bitten um etwas Geduld. Wir setzen beim Neuentwickeln auch auf die Expertise unserer KollegInnen im neu gegründeten Netzwerk INST. Hier schließen sich die gemeinnützigen Anbieter sozialer Stadtführungen zusammen. Ein erster Zoom-Austausch zählte 62 TeilnehmerInnen, im September ist ein zentrales Treffen von StadtführerInnen in Basel geplant.

SOZIALES Mehr Miete bei ALG II in Bochum: Wer Transferleistungen bezieht, muss sich bei der Wohnungssuche an bestimmte Preisobergrenzen halten. Diese hebt die Stadt Bochum nun an – und erkennt damit an, dass es GeringverdienerInnen auch in Bochum auf dem Wohnungsmarkt zunehmend schwer haben. Eine Single-Wohnung darf nun bis zu 392,85 Euro Bruttokaltmiete kosten, eine Vier-PersonenWohnung 685,14 Euro. Falsche Jobcenter-Sanktionen: Wenn SGB-II-BezieherInnen Termine verpassen oder „Pflichten“ verletzen, dürfen Jobcenter Sanktionen aussprechen. Diese sind häufig unberechtigt: 48 Prozent aller Widersprüche wurde im vergangenen Jahr ganz oder teilweise stattgegeben. Sanktionen bedeuten eine Kürzung des Regelsatzes (2020: 432 Euro) um bis zu 30 Prozent - 2020 waren gut 400.000 Menschen davon betroffen. Keine neuen Rechte für trans Menschen: Der Bundestag hat mehr Rechte für trans und intergeschlechtliche Menschen abgelehnt. Kern des Gesetzentwurfs war, die Personenstandsänderung zu vereinfachen, sodass Menschen ihre Geschlechtsidentität nicht mehr durch teure und entwürdigende Gutachten nachweisen müssen, sondern eine Erklärung reicht. Auch medizinische Leistungsansprüche sollten gesetzlich verankert werden. Vonovia vor Megadeal: Der Bochumer Wohnungskonzern Vonovia will den Dax-Rivalen Deutsche Wohnen (DW) übernehmen. Mit über 500.000 Wohnungen würde, stimmen Aktionäre und Bundeskartellamt zu, Vonovia zu Europas größtem Wohnungsunternehmen. Mietenbewegungen fordern seit Langem, dass das Thema Wohnen nicht Kapitalmarktinteressen unterliegen darf – die Fusion würde das Gegenteil bedeuten.

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Mietenstopp Die bundesweite Kampagne „Mietenstopp!“, getragen unter anderem von Mieterbund, Paritätischem und DGB, ruft für den 19. Juni zu einem dezentralen, bundesweiten Aktionstag auf. Das Bündnis fordert, Mieten auf dem jetzigen Stand flächendeckend und bundesweit für sechs Jahre einzufrieren und bei Wiedervermietungen strikte Oberwerte zu schaffen. Dabei sieht das Positionspapier Ausnahmen für faire VermieterInnen und Genossenschaften vor. Um das Wohnproblem in den Griff zu bekommen, fordert das Bündnis darüber hinaus u.a. ein soziales Bodenrecht, eine neue Wohnungsgemeinnützigkeit und einen Fokus auf den Neubau von bezahlbaren Mietwohnungen.


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Redaktion und Öffentlichkeitsarbeit: Alexandra Gehrhardt Bastian Pütter redaktion@bodoev.de Anzeigen: Susanne Schröder anzeigen@bodoev.de Vertrieb: Oliver Philipp vertrieb@bodoev.de

bodos Bücher: Julia Cöppicus buch@bodoev.de Haushaltsauf lösungen und Entsorgungen: Brunhilde Posegga-Dörscheln transport@bodoev.de

Gewalt gegen Obdachlose der BAG W 22 wohnungslose Menschen durch Gewalt gestorben. Innerhalb der Szene ist der Gewalt durch fehlende Rückzugsräume schwer zu entgehen. Auf der Straße zu leben bedeutet eine permanente Stresssituation. Wenn die Ressourcen knapp sind und die Konkurrenz groß, kann man sich Ärger und Stress nicht einfach entziehen, indem man nach Hause geht. Gleichzeitig begünstigt die gesellschaftliche Stigmatisierung von Wohnungslosen und ihre strukturelle Abwertung Gewalt. Was hilft, ist eine Tür, die man schließen, ein Ort, an den man sich zurückziehen kann. Der beste Schutz ist eine Wohnung.

en lassen.“ „Nicht ärgern. Berat © by Photocase.de

Anfang Mai verübte eine Gruppe unbekannter Täter in der Dortmunder Innenstadt mehrere Raubüberfälle auf obdachlose Männer. Dabei wurden zwei Obdachlose zum Teil schwer verletzt. Eine der Taten soll nach Angaben von Zeugen gefilmt worden sein. Ebenfalls im Mai wurden in Bochum nach einem Streit zwei Wohnungslose schwer bzw. lebensgefährlich verletzt. Der Täter wurde festgenommen. Gewalt gegen Obdachlose ist Alltag. Viele Taten werden jedoch nicht zur Anzeige gebracht, weil Betroffene Angst vor Rache durch die Täter haben, sich schämen oder Ermittlungsbehörden nicht vertrauen. Allein 2020 sind nach Zählungen

Mieter schützen · Mietern nützen!

Mieterverein Dortmund und Umgebung e.V.

Mieterverein

Bochum, Hattingen und Umgegend e.V.

Brückstraße 58 44787 Bochum Tel.: 0234 / 96 11 40 mieterverein-bochum.de

Kampstr. 4 44137 Dortmund Tel. 0231/557656-0 mieterverein-dortmund.de

Öffnungszeiten Mo - Do 9:00 - 18:00 Fr 9:00 - 12:00

Öffnungszeiten Mo - Do 8:30 - 18:00 Fr 8:30 - 14:00

Mitglieder im Deutschen Mieterbund

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REPORTAGE

Die Impfungen gegen Sars-Cov-2 haben Fahrt aufgenommen. Fast 40 Prozent der Einwohner in Deutschland hatten Mitte Mai ihre erste Dosis bekommen. Auch Wohnungslose sind als Risiko- und damit Prioritätsgruppe anerkannt, doch wegen Problemen mit dem Impfstoff stockte der Prozess. Im Mai gab es in Dortmund mehrere Impftage an Anlaufpunkten für Menschen ohne Wohnung. Den Auftakt machte das Gast-Haus im FZW. Von Alexandra Gehrhardt | Fotos: Sebastian Sellhorst

Ein kleiner Pieks

Oben: Die Organisation läuft reibungslos im FZW, der Ton ist freundlich. Wo sich sonst Club- und Konzertpublikum drängt, wird diszipliniert gewartet.

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E

s ist noch früh, kurz vor halb 8 Uhr morgens, trotzdem ist schon eine kleine Schlange am FZW. Gut 20 Leute stehen schon an – nicht um hier zu frühstücken, sondern um sich gegen Covid-19 impfen zu lassen. Das Gast-Haus, das in der Bar im selben Haus schon das Versorgungsangebot für wohnungslose und bedürftige Menschen organisiert, hat die große Impfaktion initiiert.

Oben: Und jetzt: Weitererzählen! Die Wohnungslosenhilfe erhofft sich viel davon, dass Geimpfte – hier bodo-VerkäuferInnen – in den Communities helfen, Ängste und Vorbehalte abzubauen.

Auch drinnen ist schon einiges Gewusel. Dort, wo sonst Konzerte gespielt und Partys gefeiert werden, stehen Tische und Stühle, liegen Zettel, stehen Pakete mit Pflastern und Einmalhandschuhen. Im großen Saal letzte Erklärungen von Gast-Haus-Chefin Katrin Lauterborn und die Aufteilung für den Tag: Wer steht zum Fiebermessen am Einlass, wer an der Anmeldung? Welche ÄrztInnen machen das Vorgespräch, welche impfen? Wer begleitet die Gäste von einer Station zur nächsten? Ist der Impfstoff schon da und das Sanitäter-Team für den Notfall?

Unten: Nur ein Pieks: 2.300 Dosen des Impfstoffs von Johnson & Johnson hat Dortmund für Wohnungslose bestellt. Auch die Methadon-Ausgabe, das Wichernhaus und die Frauenübernachtungsstelle organisieren ganze Impftage.

„Ich hab den Bogen schon ausgefüllt“ Wohnungs- und obdachlose Menschen gehören in der Corona-Pandemie zu den Risikogruppen: Viele haben Vorerkrankungen, einen schlechten Gesundheitszustand und damit ein höheres Risiko, an Covid-19 schwer zu erkranken und zu sterben. „Zu Hause bleiben“ können sie aber nicht, in der Regel bieten weder die Straße noch Sammelunterkünfte ausreichende Rückzugsmöglichkeiten. Zugleich sind sie für den „üblichen“ Impfweg schwerer erreichbar: Das komplizierte Anmeldeverfahren für Impfzentren, genau zum zugewiesenen Termin da zu sein, den zweiten einzuhalten und

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REPORTAGE

zwischendurch die Unterlagen nicht zu verlieren – das alles sind Hürden auf dem Weg zur Impfung. Unten: „Rechter Arm oder linker?" Das eigentliche Impfen ist eine Sache von Sekunden. Danach heißt es nochmal Warten. 20 Minuten sollen die frisch Geimpften in dem großen Wartebereich sitzen bleiben. Falls jemand heftig auf das Impfen reagiert, ist ein Sanitätsteam hier. Eine Gast-HausHelferin geht mit Wasser, Saft und Schokolade herum.

Darum greift auch Nordrhein-Westfalen auf den Impfstoff von Johnson & Johnson zurück, bei dem eine Impfung ausreicht und das im Kühlschrank gelagert werden kann. Eigentlich sollte es schon Wochen früher losgehen. Weil auch bei „Janssen“ in den USA Fälle seltener Thrombosen aufgetreten waren, verzögerte sich die Auslieferung in die EU. Als die wieder anlief, kamen auch die Impfungen von Wohnungslosen ins Rollen. Hamburg und Berlin haben Hunderte Obdachlose geimpft, auch NRW-Städte wie Hagen haben schon begonnen. Bochum folgte Mitte Mai. „Nützt ja nix“, sagt Fredi, einer der Ersten heute Morgen. „Wenn wir nach Alter dran wären, hätten wir noch ewig gewartet. Das ist schon gut, dass das jetzt hier geht.“ Fredi ist in seinen Fünfzigern und oft nebenan bei der Corona-Hilfe von Gast-Haus und Wärmebus zum Frühstück, kennt die Leute, die die Aktion heute machen. Als der Impftermin angekündigt wurde, sagt er, hat er nicht lang überlegt. „Ich hab den Bogen letzte Woche schon ausgefüllt, damit das gleich schnell geht.“ Los geht‘s, erst zur Temperaturmessung am Eingang, dann zur Anmeldung. Wer wie Fredi schon registriert ist, kann schnell weiter zum ärztlichen Vorgespräch. „Es kann sein, dass Sie ein bisschen Fieber bekommen und Gliederschmerzen, wie eine leichte Grippe“, warnen die Ärztinnen und Ärzte vor. „Wir geben Ihnen noch eine Paracetamol mit, das können Sie dann einnehmen.“ Es gibt die Bögen in verschiedenen Sprachen, bei Bedarf übersetzt ein Arzt oder eine Ehrenamtliche. – „Haben Sie Vorerkrankungen?“ – Ein Häkchen bei Nein. „Allergien?“ – Nein. „Hatten Sie sonst nach dem Impfen Probleme?“ – Auch nein.

Ärmel hoch, Spritze rein, fertig 138 Menschen, vor allem NutzerInnen der Wohnungslosenhilfe-Angebote in der Stadt, haben sich im Vorfeld angemeldet, einige kommen noch spontan. Gut 30 Leute sind im Einsatz: Ärztinnen und Ärzte vom Gast-Haus und dem Dortmunder Klinikum, die impfen, Medizinisch-Technische AssistentInnen, die sich um den Impfstoff kümmern, Ehrenamtliche, die die Anmeldung organisieren, sich um die Gäste kümmern und sie durch die Impfstraße begleiten. Das Angebot soll so wenige Hürden haben wie möglich, auch ohne Ausweis bekommt man eine Impfung. Das Gast-Haus hat zwei Termine im FZW angesetzt, auch im Tagesaufenthalt im Wichernhaus, in der Frauenübernachtungsstelle und der Methadon-Ausgabe an der Bornstraße gibt es ganze Impftage. Insgesamt hat der Krisenstab der Stadt Dortmund fast 2.300 Impfdosen für Wohnungslose bestellt. Was übrig bleibt, soll in Geflüch-

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tetenunterkünften zum Einsatz kommen. Auch dort ist es für die Untergebrachten schwierig, sich zurückzuziehen und im Mehrbettzimmer Abstand zu halten. „Die Virologen sagen, Impfen ist das einzige, was hilft“, sagt Christian Ionescu. Normalerweise ist er im Klinikum auf Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie spezialisiert, heute gibt er alle paar Minuten eine Spritze in Oberarme. „So etwas wie heute ist eine gute Sache, und letztendlich hilft es ja allen.“ Schon kommt der nächste Besucher: „Rechter Arm oder linker?" Der Mann ist Rechtshänder, zieht den linken Ärmel hoch, Spritze rein, fertig. Nach dem Pieks heißt es nochmal Warten. 20 Minuten sollen die frisch Geimpften noch in dem großen Wartebereich sitzen bleiben. Falls jemand heftig auf das Impfen reagiert, ist ein Sanitätsteam hier. Eine Gast-HausHelferin geht mit Wasser, Saft und Schokolade herum. Fredi ist entspannt, wie eigentlich alle hier. „Ging ganz flott. Und jetzt ist es auch gut, dass wir sicher sind. Und gleich geht‘s frühstücken.“ Draußen steht Kim, er wartet noch auf einen Kumpel. Er ist Ende 20 und oft im Gast-Haus und im FZW. Auch er ist entspannt und scheint froh, es hinter sich zu haben. Dass er heute herkommt, war für ihn keine Frage. „Ich hab auch keine Lust auf diese vielen Falschinformationen.“ Die Verschwörungsmythen rund um das Virus, die Falschnachrichten, die über MessengerGruppen und YouTube-Videos verbreitet werden, sind unzählbar – und zuweilen viel einfacher zu finden als wissenschaftlich basierte, gut aufbereitete und verständliche Informationen. „Ich mach jetzt Storys auf TikTok und erzähle, wie es bei mir gelaufen ist.“ Ein paar Sprachnachrichten an Bekannte: „Ob das nur für über 60-Jährige ist, weiß ich nicht, aber wir kriegen das hier alle.“ – „Du kannst noch herkommen, das geht bis zwölf.“ Sein Kumpel ist da, noch eine rauchen, dann geht‘s zum Frühstück. „Weißte, was die Ärztin gesagt hat? Ich hätte ‘ne harte Haut. Bin ja auch‘n harter Typ“, lacht er. Jetzt mit Pflaster auf dem Arm.

Oben: Initiiert und organisiert hat die Impftage im FZW Gast-Haus-Chefin Katrin Lauterborn (ganz oben, rechts). Links: Gut 30 Leute sind im Einsatz: ÄrztInnen von Gast-Haus und Dortmunder Klinikum, die impfen, Medizinisch-Technische AssistentInnen, die sich um den Impfstoff kümmern, Ehrenamtliche, die die Anmeldung organisieren, sich um die Gäste kümmern und sie durch die Impfstraße begleiten.

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DAS FOTO

In Dortmund wird in Industriekultur-Kulisse gegen Covid-19 geimpft, in Bochum in einem Veranstaltungskomplex aus Glas und Stahl. Der Ennepe-Ruhr-Kreis impft in einem ehemaligen Aldi-Markt, Unna in einer Turnhalle, Recklinghausen hat eine Leichtbauhalle aufgestellt. In Montigny-le-Bretonneux, südwestlich von Paris, wird man bei Impfungen im Velodrom von Frankreichs trainierender Radsport-Nationalmannschaft umkreist. Foto: Gonzalo Fuentes / Reuters

MIETEN & WOHNEN

Raus auf den Balkon! Und der Grill? Von Markus Roeser, Mieterverein Dortmund und Umgebung Nachdem der Frühling bei uns ungewöhnlich kalt startete, kommen jetzt doch endlich die warmen Tage. Da möchte man raus und im Park, Garten, Hof oder auf dem Balkon die Sonne genießen. Wir haben schließlich im letzten Winter alle lange genug drinnen verbracht. Viele schmeißen bei gutem Wetter direkt den Grill an. Das führt immer wieder zu Streitigkeiten in der Nachbarschaft.

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Grundsätzlich darf ich auf meinem Balkon grillen – solange die Rauchentwicklung nicht zu stark ist und nicht konzentriert in die Wohnungen meiner Nachbarn zieht. Ein Kohlegrill ist dann kritischer als ein Elektrogrill. Immer wieder beschäftigen sich Gerichte damit, wie häufig man grillen darf. Das Amtsgericht Westerstede (Aktenzeichen: 22 C 614/09) urteilte beispielsweise, dass zweimaliges Grillen pro Monat in Ord-

nung wäre, auch ohne Ankündigung. Etwas anders sahen es die Richter am Amtsgericht Bonn (Aktenzeichen 6 C 545/96): Sie gaben einem grillenden Mieter auf, seine Nachbarn 48 Stunden vorher darüber zu informieren, dass er mit Kohle grillt. Eine spontane Grillrunde fällt dann weg. Allerdings können Vermieter Grillen auf dem Balkon oder im Innenhof auch verbieten. Dies müssen sie dann allerdings im Mietver-


KOMMENTAR

Verstörende Stille Von Alexandra Gehrhardt An einem Sonntag im Mai bastelt ein Mann in der Dortmunder Nordstadt aus einer Bierflasche und einer Flüssigkeit einen Molotowcocktail und wirft die brennende Flasche in einem Park auf zwei Familien. Der Mann geht weg, die Polizei stoppt ihn mit einem Schuss. Die Polizei weist auf psychisch auffälliges Verhalten, Zeugenaussagen auf ein rassistisches Motiv hin. Die Staatsanwaltschaft sieht dafür noch eine Woche später keine Hinweise. Einer Handvoll Medienberichten und der Empörung linker Gruppen steht eine Stadt(teil)politik gegenüber, die darüber kein Wort verliert. Im Jahr zehn nach der Selbstenttarnung des NSU.

Der Brandsatz im Park

Nach solch einem Vorfall stellen sich Fragen: Warum tut jemand sowas? Hat er das geplant? Bei einem solchen Angriff in einem migrantischen Stadtteil sollte eine Frage auch sein: Könnte es einen rassistischen Hintergrund geben? Ein Zeuge spricht von einem unvermittelten Angriff und davon, dass der Mann ein Stück weiter eine zweite Flasche aus dem Rucksack holte. Eine Ladenbesitzerin sagt, der Mann habe auch ein Messer gehabt und mehrmals gerufen, er wolle „alle Ausländer“ töten. Täter und Opfer hätten sich nicht gekannt, soweit der Stand. Die Polizei ermittelt wegen versuchten Mordes. These: In jedem anderen Stadtteil wäre die Anteilnahme wohl riesig und die Bestürzung groß. In der Nordstadt: vor allem Schweigen. Es sind JournalistInnen, die die Sätze, die AnwohnerInnen und Zeugen gehört haben, öffentlich machen. Es sind linke Gruppen, die sagen müssen, dass es schön wäre, bei einem Anschlag in einem migrantischen Setting Rassismus wenigstens in Betracht zu ziehen und nicht gleich am nächsten Tag auszuschließen. Und sonst so? Da fliegt ein Molotowcocktail und in der Lokalpolitik herrscht Stille. Weil die Staatsanwaltschaft, die schon den rechten Mord an Thomas Schulz entpolitisierte und beim Mord an Mehmet Kubaşık den Rassismus nicht erkannte, kein Motiv erkennt? Weil der mutmaßliche Täter psychisch krank ist? Weil die Tat nicht eindeutig ist? Ja, die Welt ist kompliziert. Kurze Einordnung: Man kann psychisch krank sein und gleichzeitig RassistIn. Der NSU konnte auch deshalb so lange morden, weil es so viele nicht interessierte. Die, die gemeint waren, verstanden die Botschaft genau. In diesem Jahr wird noch oft die Rede davon sein, dass man zusammenstehen muss gegen rechte Gewalt und Rassismus. Die Attackierten und ihre Bedrohung ernst zu nehmen und ihnen zur Seite zu stehen, wäre ein Anfang.

trag festschreiben. Eine nachträgliche Änderung der Hausordnung, ohne Zustimmung des Mieters, reicht dazu nicht aus. Regelt also der Mietvertrag und die damals anerkannte Hausordnung hierzu nichts, kann ich verantwortungsbewusst grillen. Eine strikte rechtliche Richtschnur gibt es häufig nicht, die subjektive Wahrnehmung ist immer unterschiedlich. Im Zweifel müsste die Frage dann ein Gericht entscheiden.

Besser ist es natürlich, dass es erst gar nicht zu einem Verfahren kommt. Daher gilt für beide Seiten: Rücksicht nehmen. Häufig lassen sich auch im Gespräch Lösungen finden. Vielleicht kann man auch mal zusammen grillen. Dann fühlt sich keiner gestört.

DIE ZAHL

86 EURO

Beinahe jeder fünfte Hartz-IV-Betroffene hat höhere Wohnkosten, als das Jobcenter erstattet. Im Schnitt 86 Euro müssen diese Haushalte aus dem Regelbedarf für Essen, Bekleidung etc. zur Deckung dieser Wohnkostenlücke aufbringen.

Mieterverein Dortmund und Umgebung e.V. Kampstraße 4, 44137 Dortmund 17


REPORTAGE

Es ist der erste Schritt Die jüdischen Gräber auf Dortmunder Friedhöfen Vor 150 Jahren wurde der Historische Verein für Dortmund und die Grafschaft Mark gegründet. Er steht jetzt, im Jubiläumsjahr, vor dem wohl größten Projekt, das er je auf den Weg gebracht hat. Zunächst werden alle jüdischen Grabstellen auf Dortmunder Friedhöfen gesichtet und dokumentiert. Es folgt ein Quellenstudium in Standesamtsregistern und Zeitungsarchiven. Perspektivisch soll dann ein möglichst umfassendes Bild der ehemaligen jüdischen Gemeinde der Stadt gezeichnet werden. Gefördert wird das Vorhaben durch das „Heimatzeugnis“-Programm des NRW-Heimatund Kommunalministeriums. Von Wolfgang Kienast | Fotos: Daniel Sadrowski

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D

er Ostfriedhof im Dortmunder Kaiserviertel wurde 1876 gegründet. Als erste prominente Beisetzung wird häufig das Begräbnis der Kochbuchautorin Henriette Davidis genannt. Ihre sterblichen Überreste ruhen, in unmittelbarer Nähe zum Haupteingang, auf Feld 2. Wer von dort aus geradlinig den Friedhof quert, gelangt auf der gegenüberliegenden Seite zum Feld 14. Ein unscheinbarer kleiner Stein am Weg, dessen eingemeißelte Inschrift „Abtheilung 14“ kaum noch lesbar ist, markiert das Areal; Abtheilung ist, wie vor 1900 üblich, mit ‚th‘ geschrieben. Der Bereich war für die Begräbnisse der jüdischen Gemeinde reserviert. „1885 fand hier die erste Beerdigung aus dem Kreis dieser Gemeinde statt“, sagt Klaus Winter. Der ehrenamtliche Heimatforscher ist im Historischen Verein tätig und an dem eingangs erwähnten Projekt maßgeblich beteiligt. „Beigesetzt wurde eine Frau Elias. Zwar existiert das Grab nicht mehr, aus den Akten kennen wir aber die Stelle, wo es sich befunden hat. Die Grabsteine stehen heute nur selten an ihrem ursprünglichen Standort. Das Arrangement resultiert aus den Aufräumarbeiten nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein Luftbild zeigt, dass es auf dem Feld drei oder vier Bombentrichter gab. Später hat man die Steine wieder aufgerichtet, aber garantiert nicht an ihrer originalen Position. Das wird in dem Chaos seinerzeit gar nicht möglich gewesen sein.“


Vergessenes und Verdrängtes Unterstützung erfährt Herr Winter durch die Historikerin Christina Steuer aus dem Team der Dortmunder Geschichtsmanufaktur. Die beiden haben teils detektivische Arbeit zu leisten. Immerhin befinden sich auf Feld 14 etwa dreihundert Grabsteine. Viele sind moosbewachsen, von rankendem Efeu überwuchert, einige liegen halb eingesunken im Erdreich, andere sind stark beschädigt; ob durch die Bombeneinschläge, Schändungen der Nationalsozialisten oder Plünderungen in den Nachkriegswirren ist nicht mehr feststellbar. Besonders gelitten haben Sandsteine, deren Inschriften oft bis zur Unleserlichkeit verwittert sind. Andererseits können aber auch Grabmale in vergleichsweise gutem Zustand Rätsel aufgeben. „Da hinten zum Beispiel.“ Herr Winter deutet auf ein säulenbewehrtes Triptychon aus schwarzem Marmor. „Da sind Angehörige der Familie Jonas bestattet, vor der Arisierung Besitzer des Kaufhauses Gebrüder Kaufmann am Westenhellweg. Leo Jonas starb 1951 im New Yorker Exil. Seine erste Ehefrau war bereits 1918 verstorben, sein Sohn Kurt 1940 in Panama. Ich kann Ihnen aber nicht sagen, wer nach Leo Jonas Tod die Inschrift in Auftrag gegeben hat. Vielleicht war es seine zweite Ehefrau von New York aus. Ich weiß es nicht. Wir werden nicht alle Fragen beantworten können.“

Auf dem Ostfriedhof befinden sich rund 300 jüdische Grabsteine. Manche sind gut erhalten, viele sind überwuchert, verwittert oder stark beschädigt.

Andere Fragen wären zu beantworten gewesen, hätte man sie nur gestellt. „Hier liegen auch Simon und Sally Blankenberg begraben. Die Brüder waren Gründer vom TV Gut-Heil 1865 Aplerbeck. Für sein 150-Jähriges hat der Verein einen geschichtlichen Überblick veröffentlicht. Dabei berufen sie sich, weil die Originale im Weltkrieg verlorengegangen sind, auf eine Chronik, die ein Herr im Jahr 1938 geschrieben hat. Der hatte damals kein Interesse, zu erwähnen, dass der TV von Juden gegründet worden ist. In dem Zusammenhang habe ich mich vor ein paar Jahren ein bisschen aufregen müssen, denn wer nur ein bisschen sucht, findet diese Information im Zeitungsarchiv.“

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REPORTAGE

Die „Abtheilung 14“ des Dortmunder Ostfriedhofs war für die Begräbnisse der jüdischen Gemeinde reserviert.

Gemeinde und Stadtgesellschaft Neben den Grabsteinen steht auf dem Areal auch ein Mahnmal für die jüdischen Opfer des NS-Regimes. Im Vergleich zu anderen Denkmalen, die an die Verfolgung und systematische Ermordung der jüdischen Bevölkerung erinnern, ist es mit einer Höhe von vielleicht drei Metern relativ bescheiden ausgefallen. Dafür könnte es eine Erklärung geben. „Man hatte wohl in Dortmund ein ziemlich schlechtes Gewissen“, vermutet Herr Winter. „Das Mahnmal wurde nämlich bereits 1946 errichtet, ein Jahr nach Kriegsende. Das war sehr früh. Da stellte sich in den Mangelzeiten allerdings zwangsläufig die Materialfrage. Es gab ja nichts. Ich denke, hätte man es

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später gebaut, wäre es bestimmt doppelt so groß ausgefallen.“ Es ist jedoch nicht nur dem relativ schlichten Mahnmal geschuldet, dass dieser Teil des Ostfriedhofs auf den ersten Blick kaum ins Auge fällt. Es fehlt die typische Mauer, die eigentlich ein jüdisches Gräberfeld umgeben müsste. Nur sporadisch sieht man Davidsterne oder hebräische Schriftzeichen und selten liegen Steinchen auf den Grabsteinen, wie sie traditionell von Hinterbliebenen als Zeichen der Erinnerung platziert werden. Letzteres könnte einen traurigen Hintergrund haben. Verständlicherweise kehrten nur wenige Juden, die dem Holocaust entkommen konnten, nach 1945 an ihren alten Wohnsitz zurück. Von daher wird es kaum direkte familiäre Verbindungen zwischen Mitgliedern der heutigen Gemeinde und den hier Bestatteten geben. Das dezente Erscheinungsbild ist für Klaus Winter auch ein Zeichen für den offenen, liberalen Charakter der Gemeinde, deren Mitglieder gesellschaftlich ja nicht nur bei der Gründung von Turnvereinen aktiv waren. „Signifikant war zum Beispiel die Synagoge. Sie war unter anderem Schauplatz regelmäßiger großer Orgelkonzerte, die im Wechsel mit solchen in der Reinoldikirche stattfanden. Die Musikliebhaber damals haben diese Veranstaltungen konfessionsübergreifend besucht. In einer orthodoxen Synagoge wäre eine Orgel undenkbar gewesen. Und um noch einmal auf den Ostfriedhof zurückzukommen: Aus einer Akte im Stadtarchiv geht sogar hervor, dass die Gemeinde hier ursprünglich kein ei-


genes Gräberfeld haben wollte. Man wollte in Reihe mit den anderen Toten beisetzen. Die Diskussion ist eingeschlafen, wohl, weil es Bedenken vor allem von christlicher Seite gab.“

Lebendige Geschichte Eine Zielsetzung des Projekts ist die möglichst umfassende Rekonstruktion der Struktur dieser Gemeinde. Ausgangspunkt sind die Informationen, die man auf Grabsteinen findet, also Namen, Geburts- und Sterbedaten sowie gelegentlich Berufsbezeichnungen oder Ortsangaben. Dabei wird selbstredend nicht nur der Ostfriedhof untersucht, sondern jeder jüdische Friedhof auf Dortmunder Stadtgebiet. Das ist der erste Schritt. Die gewonnenen Ergebnisse werden der im Netz zugänglichen Datenbank des Steinheim-Instituts für deutsch-jüdische Geschichte zugeführt. Außerdem dienen sie als Grundlage für eine weiterführende Recherche im Zeitungsarchiv und im Standesamtsregister. Mithin sollen nicht nur Strukturen der Familien und die der Familien innerhalb der jüdischen Gemeinschaft sichtbar werden, sondern auch die vielen privaten und wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen den Gemeindemitgliedern und der Dortmunder Bevölkerung insgesamt. Es soll gezeigt werden, in welchem Umfang die offensichtlich aufgeschlossene und tolerante Gemeinde das soziale, politische, ökonomische und kulturelle Leben in Dortmund mit bestimmt hat.

Die Historikerin Christina Steuer unterstützt Klaus Winter bei der Recherche. Sie und ihr Team von der Geschichtsmanufaktur sind später für die mediale und didaktische Aufbereitung zuständig.

Sobald diese Erkenntnisse vorliegen, ist deren Dokumentation in analoger wie digitaler Form geplant. Nicht zuletzt müssen Wege erarbeitet werden, das Thema an die Öffentlichkeit zu bringen. Darin bestehe die Hauptaufgabe der Geschichtsmanufaktur, sagt Frau Steuer. „Wir beteiligen uns als Historiker natürlich auch an der Recherche. Und dann kümmern wir uns um die Internetpräsenz, entwickeln Print-, Video- und Audioformate und besorgen die didaktische Aufbereitung für den Schulunterricht. Da setzen wir einen Schwerpunkt. Wir möchten, dass diese Geschichte lebendig dargestellt wird.“ Sie sollte nie vergessen werden.

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WILDE KRÄUTER

Unsere monatliche Exkursion in die urbane Welt der wilden Kräuter. Mit nützlichen Informationen, pointierten Fußnoten, vielen Geschichten – und immer einem originellen Rezept. Von Wolfgang Kienast

MALVE

Malvaceae

S

ommerzeit ist Urlaubszeit. Tiefer Seufzer. Mit der Sehnsucht, mal wieder unbeschwert verreisen zu können, bin ich bestimmt nicht allein. In den vergangenen Wochen, ein halbwegs halbwertiger Ausgleich, habe ich mir Ferienfotos vergangener Jahre angeschaut. Und irgendwann dabei, tagträumend, tauchten unangemeldet Erinnerungen an früheste Urlaubserlebnisse auf. Ich fühlte wieder Jugendherberge, Feriencamp und Landschulheim. Ich hatte den Geruch der großen Küchen in der Nase, sah vor mir die Essensausgabeklappen und mich beim gemeinsamen Kartoffelschälen. REZEPT In einem gut verschließbaren Glas Zucker und Malvenblüten in etwa fingerdicken Schichten aufschütten und drei Wochen ruhen lassen. Danach die Blüten aus dem Zucker entfernen. Sie sehen dann wohl ein wenig ramponiert aus, eignen sich aber eventuell noch als Dekoration für Süßspeisen, definitiv aber als aromatisches Naschwerk. Der Zucker selbst wird ein wenig klumpen, mit einer Gabel kann man ihn wieder streufähig machen. Im Juli folgt ein Rezept für Baiser aus dem aromatisierten Zucker.

Abends gab es immer Tee. Man goss ihn aus riesigen Edelstahlkannen in stapelbare weiße Porzellantassen. Manche hatten einen hellgrauen Sprung. Es gab die Sorten Hagebutte, Pfefferminz und Malve. Mit Hagebutte und Minze war ich vertraut, beides wuchs im Garten meiner Eltern. Die Malve dagegen hatte etwas sehr Exotisches. Allein der Name. In meinen Ohren klingt „Malve“ noch immer sanft wie unergründlich. Falsch ist dieser Eindruck nicht. Das Wort stammt ursprünglich aus einer wohl unbekannt untergegangenen Sprache aus dem Mittelmeerraum, sickerte als „maláchē“ ins Griechische beziehungsweise als „malva“ ins Lateinische ein und bedeutet so viel wie „weich, beruhigend“. Ganz angetan war auch Horaz. „Mir sind Cichorien, mir sind des Oelbaums Früchte – Und leichte Malven stets vergnügende Gerichte“, reimte der römische Dichter bereits in vorchristlicher Zeit und rückte die Malve so früh in einen Delikatessenkontext. Es dauerte dann nicht mehr allzu lang, bis sich die mittelmeerische Malve im Westen Europas etablierten konnte. Damit zählt sie

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hier zu den Archäophyten. Archäophyten sind Pflanzen, die sich – im Gegensatz zu den Neophyten – schon vor 1492 selbstständig und ohne fremde Hilfe in einem für sie neuen Gebiet vermehren konnten, nachdem sie dort zuvor durch (in-)direkten menschlichen Einfluss eingeführt worden waren. Interessant ist, dass die auffallend hübsche Pflanze mit den attraktiven Blüten dann weder deutliche Spuren im Volks- und Aberglauben hinterlassen konnte noch Einzug in die Kochkunst fand. Ausnahmen sind der erwähnte Tee sowie die essbaren Früchte, die anscheinend vor der Erfindung von Esspapier und Gummibärchen von Kindern weggeknuspert wurden. Dabei kann man in der Wildkrautküche, neben den Früchten, auch die Blätter, Blüten und Wurzeln der Malve verwenden. Anbei ein Malvenblütenzuckerrezept.

Manche Malven-Arten werden aufgrund ihres Aromas in der Industrie für Kosmetikartikel verwendet oder zu Malvenblütentee verarbeitet. Tee aus Blättern der Wilden Malve ist außerdem ein Heilmittel gegen Reizhusten. Die meisten Malven-Sorten werden als Zierpflanzen genutzt.


KULTUR

Der Slam-Poet, Autor und Moderator Björn Rosenbaum genießt ein hohes Ansehen in der Szene. Diverse Titel unterstreichen seinen Ruf. Rosenbaums Vita weist ihn als Vize der NRW-Landesmeisterschaft 2014 aus sowie als Stadtmeister in Wuppertal (2016) oder Bielefeld (2018, 2019). Regelmäßig wird er zur deutschsprachigen Meisterschaft eingeladen. Als „vorläufigen Höhepunkt“ seiner Karriere aber nennt der durch und durch schwarzgelbe Dortmunder die 2017 gewonnene Stadtmeisterschaft in Gelsenkirchen. Von Wolfgang Kienast Foto: Lisa Konrad

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a, der Mann beherrscht die feine Klinge wie die Keule, die (Selbst-)Ironie wie den Klartext, auf der Bühne agiert er mal laut, mal leise, emotional oder seelenruhig. Sein Publikum weiß er mittels Sprache, Gestik und Mimik gleichermaßen in den Bann zu ziehen. Da stellt sich unwillkürlich die Frage, ob das auch zwischen zwei Buchdeckeln funktionieren kann. Björn Rosenbaum lacht. „Deswegen habe ich dem Buch eine Art Gebrauchsanweisung vorangestellt“, erklärt er. „Ich glaube, ich bin der Einzige, der das bislang so gemacht hat. Damit kann man sich beim Lesen besser vorstellen, wie ich live agieren würde. Man hat mir auch gesagt, dass es funktioniert, dass man die Performance vor dem geistigen Auge sehen kann.“ Im Vorteil wäre also, wer ihn auf einer Bühne erleben durfte. Doch auch ohne diese Freund wie Feind zu gönnende Erfahrung kann man Vergnügen an seinen Texten finden. Meist basieren sie auf detaillierten Beobachtungen, die ihren oft herb-skurrilen Witz aus den Absurditäten des alltäglichen Lebens ziehen. Das Schöne ist, dass er die unfreiwilligen Objekte seiner akribischen Observierung nie unwiderruf lich zum Deppen macht, dass er immer eine ausreichend große Hintertür findet, dem vorgeführten Menschlein die Würde zu lassen.

Eine Liebeserklärung Aufregen kann er sich über seine Artgenossen durchaus. Da müssten dem Slam-Poeten die unter Corona an den Tag gelegten, teils aberwitzigen Verhaltensmuster doch jetzt als Reservoir für Jahre dienen können? „Im Prinzip ist es so“, meint Rosenbaum. „Aber dieses Thema möchte ich bewusst nicht aufgreifen. Noch nicht. Ich möchte die Leute, die gerade die Pandemie überstanden haben, nicht schon wieder mit Corona konfrontieren. Davon haben doch alle die Nase gestrichen voll. Andererseits vermute ich, dass viele meiner Kolleginnen und Kollegen das trotzdem tun. Es könnte inflationär werden.“ Erschienen ist das Buch unter dem Titel „Eine Liebeserklärung“ Anfang Mai im Paderborner Lektora-Verlag, der sich als „Poetry-SlamVerlag aus der Szene für die Szene“ versteht. Es beinhaltet alte wie neue Texte und bietet somit einen Streifzug durch Rosenbaums bisheriges Schaffen. In Buchform ist er (fast) so gut wie auf der Bühne.

Björn Rosenbaum Eine Liebeserklärung ISBN: 978-3- 95461-169-0 Lektora | 196 Seiten | 13,90 Euro

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Kulturlandschaft Juni | 2021

Nun geht es langsam wieder los: Türen von Museen, Theatern und Konzerthallen öffnen sich vorsichtig, Kulturschaffende treten blinzelnd ins Freie. Sogar der Mai-Regen hat ein Ende. Noch immer steht die Kulturlandschaft voller Fragezeichen. Wie geht es los, wenn es losgeht? Wird in Zukunft an der Kasse mit dem Impfpass gewedelt? Und die Jungen lassen sich dann erzählen, wie es war? Oder ist ab jetzt alles Open Air? Und wie hat die Kulturszene den erzwungenen Stillstand überstanden? Bei aller Vorsicht haben wir uns für einen optimistischen Blick entschieden: Unser Kulturkalender für einen hoffentlich schönen Frühsommer.

AUSSTELLUNGEN Ruhr Ding: Klima (live) Das Ruhr Ding: Klima versteht sich als eine städteübergreifende Wanderausstellung im öffentlichen Raum. Das Projekt mit Installationen, Skulpturen, Videoarbeiten, Performances, künstlichen Landschaften und schwimmenden Pavillons ist eine gemeinsam mit einer Vielzahl von KünstlerInnen und Kooperationspartnern ermöglichte Weiterentwicklung der im vergangenen Jahr pandemiebedingt abgesagten Ausgabe. Bis zum 27. Juni treffen ortsspezifische Konzeptionen auf die thematische Klammer Klima und verbinden 22 künstlerische Neuproduktionen in den vier Städten Gelsenkirchen, Herne,

Recklinghausen und Haltern am See. „Das Ruhr Ding: Klima reflektiert nicht nur das Verhältnis zwischen sozialem Klima und globaler Erwärmung, sondern in seiner Weiterentwicklung nach der Verschiebung im letzten Jahr auch ganz konkret unsere Erfahrungen mit der Corona-Pandemie. Die charmante Fledermaus-Familie der Künstlerin Monster Chetwynd in Recklinghausen fordert uns augenzwinkernd auf, von ih-

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Kunstförderung

Wissenschaft

Denkmalschutz

Jugendsport

Soziales & Bildung

Werner Richard - Dr. Carl Dörken Stiftung Herdecke

ren großen sozialen Fähigkeiten zu lernen. Der Blick der KünstlerInnen auf die Gegenwart ist für uns alle unverzichtbar. Umso wichtiger ist es, dass wir jetzt die Möglichkeit bekommen, die 22 mit viel Liebe eigens für das Ruhrgebiet entwickelten, neuen Projekte stufenweise für alle zugänglich zu machen“, sagt Britta Peters, künstlerische Leiterin von Urbane Künste Ruhr, die das Ruhr Ding: Klima veranstalten. 1. Juni bis 27. Juni www.urbanekuensteruhr.de

Studio 54: Night Magic (live) Voller Hoffnung den Werner Richard Saal und die Dr. Carl Dörken Galerie bald wieder öffnen und mit Leben füllen zu können, freuen wir uns auf Kunst und Kultur, Künstlerinnen und Künstler und nicht zuletzt, auf Sie! Dr. Carl Dörken Galerie der Werner Richard - Dr. Carl Dörken Stiftung | Infos, Tickets & Öffnungszeiten: s. Website

Wetterstraße 60 · 58313 Herdecke · www.doerken-stiftung.de 24

Das legendäre „Studio 54“ kommt nach Dortmund: Das Dortmunder U präsentiert eine große Ausstellung rund um den einflussreichen New Yorker Nachtclub, der Kulturgeschichte schrieb. Die


Ausstellung wird nach Stationen im New Yorker Brooklyn Museum und der Art Gallery of Ontario, Toronto, gezeigt. Bis heute, mehr als drei Jahrzehnte nach seiner Schließung, hält der Einfluss des Studio 54 auf Mode, Gesellschaft und Clubkultur an. In Fotografien, ModeObjekten, Film und Musik sowie nie zuvor gezeigten Kostümillustrationen und Set-Designs erzählt die Ausstellung die bewegte Geschichte des Nachtclubs. 26. Juni bis 17. Oktober Dortmunder U, Dortmund www.dortmunder-u.de/

FESTIVAL f² Fotofestival (live) Renommierte FotografInnen, aufstrebender Nachwuchs, spannende Projekte: Das f² Fotofestival bietet auch in diesem Jahr vielfältige Einblicke in die Welt der

Fotografie und lädt vom 17. bis 27. Juni zum Austausch über das Thema „Identität“ ein. Schirmfrau der diesjährigen Festivalausgabe ist die Politikerin Claudia Roth. Beteiligt sind zahlreiche Ausstellungshäuser, Ausbildungsstätten, Hochschulen und Verbände aus der Region Ruhrgebiet. Ob Dortmund, Bochum, Essen, Gelsenkirchen oder Duisburg – überall hat man in den letzten Monaten trotz Corona auf das f² Fotofestival hingearbeitet. Doch nicht nur die Region, sondern auch eine lebendige, diverse und internationale Fotografie-Szene spiegelt sich im Programm des Festivals wider. In sechzehn Ausstellungsprojekten zum Thema „Identität“ sind zahlreiche Beiträge internationaler FotografInnen vertreten, die zudem in einer Reihe von Vorträgen über ihre Arbeit berichten werden. Die Diskussionen und Programmpunkte finden je nach aktueller Corona-Lage online oder in

Hybridform statt, und das fotoaffine Publikum kann sich zudem über Ausstellungen im öffentlichen Raum freuen. 17. Juni bis 27. Juni Depot Dortmund www.f2fotofestival.de

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KULTURLANDSCHAFT

Online-Event vom 15. bis 20. Juni statt. Nach der Eröffnung können ab 15. Juni alle Filme bis zum 20. Juni über die Video-on-Demand-Plattform des Festivals geschaut werden. 70 aktuelle, internationale Filme, Online-Gespräche mit Gästen aus allen Winkeln der Welt, ein Video-Studio im Festivalbüro und ein Publikum, das ohne Anreise aus ganz Deutschland sechs Tage lang bequem die Filme sehen kann. Neben dem Fokus „The Connection: Von Pf lanzen, Menschen und anderen Tieren“, dem Panorama für aktuelle Dokumentarfilme und der queerfeministischen Sektion „begehrt! filmlust queer“ gehen im Internationalen Spielfilmwettbewerb für Regisseurinnen acht aktuelle Beiträge ins Rennen um den Preis von 15.000 Euro. Die Filmauswahl für Kinder und

Jugendliche rückt junge Lebenswelten und individuelle Erfahrungen ihrer BewohnerInnen ins Zentrum. Die neue Sektion „Spot on, NRW!“ stellt Filmschaffende aus NRW vor. 15. Juni bis 20. Juni www.frauenfilmfest.com

FutureLovers (online) Der Monat Juni steht alljährlich im Zeichen der „Pride“, in Erinnerung an die Stonewall Riots in New York 1969. Am Schauspiel Dortmund soll erstmalig an vier Tagen das Queer-Festival stattfin-

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GEFÖRDERT VON

Die Oberbürgermeisterin Oberbürgermeisterin Kulturamt Kulturamt

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den. Im Mittelpunkt dieses Festivals steht queeres Denken, das geprägt ist von der Frage des Körpers und seiner (performativen) Präsenz auf der Bühne, im Raum und in der Stadt. Soziale, politische und künstlerische Normen von Geschlecht und Identität(en) werden hinterfragt. Alle künstlerischen Formate stellen dabei den Begriff der Intersektionalität in den Mittelpunkt. Das Festival wird unter anderem aus Performances, Workshops und Diskussionen bestehen. 24. Juni bis 27. Juni www.theaterdo.de/

LESUNG Olumide Popoola: Sit down (online) Die in London lebende nigerianisch-deutsche Schriftstellerin Olumide Popoola stellt ihre Kurzgeschichte „Sit down" vor, die um ein traumatisches Ereignis kreist, das vor zehn Jahren Rahul, Crystal und die Erzählfigur zusammengeworfen hat und von den dreien auf je unterschiedliche Weise verarbeitet wird. Im Gespräch mit Natasha Kelly wird es darüber hinaus um ihre Arbeit und deren inhaltlichen Fokus sowie um ihr Wirken gehen. Olumide Popoola ist Autorin, Sprecherin und Performerin. Zu ihren Veröffentlichungen zählen Essays, Gedichte, die Novelle „This is not about Sadness“ (2010), das Theaterstück „Also by Mail“ (2013), der Kurzgeschichtenband „Breach“ (2016) sowie der Roman „When we speak of Nothing“ (2017). Sie promovierte in kreativem Schreiben, lehrt an verschiedenen Unis und leitet das Schreib- und MentorInnen-Programm

„The Future is Back“ für junge LGBTQ+ -SchreiberInnen. 2018 kuratierte sie Berlins erstes internationales afrikanisches Literaturfestival „Writing in Migration". Aus der deutschen Übersetzung liest die Schauspielerin Azizè Flittner. 9. Juni, 19 Uhr www.bahnhof-langendreer.de

MISCHMASCH Online-Escape-Game (online) Weil das Online-Escape-Game bei der Nacht der Bibliotheken im März großen Anklang gefunden hat, bietet die Stadtbücherei die Veranstaltung ab Juni einmal im Monat montags an. Unter dem Titel „Die Kammer der geheimen Tränke“ können Nutzerinnen und Nutzer gemeinsam rätseln, um den richtigen Zaubertrank zu finden und aus dem Escape Room zu entkommen. Die Veranstaltung ist für Teilnehmende ab 16 Jahren geeignet. Das beste Spielerlebnis mit Bild und Ton bietet die Nutzung eines Laptops mit Kamera und Headset. Daneben benötigen Interessierte ein Smartphone oder Tablet mit QR-Code Scanner. Anmeldungen sind unter der Rufnummer 0234 – 910 24 96 oder per Mail an stadtbuecherei@bochum.de möglich. 7. Juni, 18.30 Uhr (auch 5. Juli) www.bochum.de

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Das ganze Jahr 2021 erinnern wir außerdem mit spannenden Programminhalten an "1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland", das wird echt TOFTE!

Checkt daher – wie immer – unsere Social Media Kanäle für alle News und unser online Programm! Bis bald!

facebook.com/DietrichKeuningHaus keuninghausofficial YouTube "Keuninghaus to Go" Unser Programmheft findet ihr auf unserer Internetseite www.dortmund.de/dkh

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KULTURLANDSCHAFT

MUSIK Sounds of Dortmund (online) Mit „Sounds of Dortmund“ setzt die Oper Dortmund dort an, wo der MusiCircus in der Spielzeit 2018/19 aufgehört hat. Erneut waren musizierende Formationen und alle DortmunderInnen dazu eingeladen, Teil der performativen Soundcollage zu werden. Einen Tag lang sollte Dortmund dabei mit Musik, Geräuschen, Tönen und Performances bespielt werden. Ein poetisches Klangkunstwerk, bei dem die Vielfalt der Stadt mit ihren individuellen Sounds in den Mittelpunkt gestellt wird. Aufgrund der Covid-19-Situation und dem damit verbundenen Verbot von Großveranstaltungen wird die ursprünglich geplante Version von „Sounds of Dortmund“ zu einem experimentellen Musiktheaterfilm transformiert. An unterschiedlichen Veranstaltungsorten und bekannten Dortmunder Szene-Locations werden die Mitwirkenden gemeinsam mit SängerInnen aus dem Dortmunder Opernensemble sowie der Dortmunder Hip-Hop-Legende „Too Strong“ ein musikalisches Arrangement einspielen, das mit einer Soundcollage zu einem Musiktheaterfilm verschmolzen wird. Vor dem Stream von „Sounds of Dortmund“ findet ein Livegespräch mit Opernintendant Heribert Germeshausen statt. 13. Juni, 9.30 Uhr www.theaterdo.de/

Joris (live) „Was wenn das kein Ende ist? Sag wieviel Willkommen steckt in Goodbye?“ Eine Frage, die sich zumindest im Fall von Joris` neuem Album ziemlich eindeutig beantworten lässt. Seit jeher nutzt der 31-jährige Singer-Songwriter den Kreislauf aus Kommen und Gehen als lebensnotwendigen, kreativen Motor zur ständigen Veränderung und Weiterentwicklung. Keine neuen Anfänge ohne Abschiede, auch wenn das Herz dabei bisweilen bis zum Zerreißen auf die Probe gestellt wird. So wie auf seinem dritten Longplayer. Doch keine Sorge, mit „Willkommen Goodbye“ legt Joris nun nicht

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etwa sein Farewell-Werk vor. Obwohl manche Stücke von Abschieden handeln. Plural. Aber auch von neuen Herausforderungen und einem weiteren Abschnitt auf seinem Weg. Willkommen. 25. Juni, 20 Uhr Juicy Beats Park Sessions, Dortmund www.parksessions.net

Bukahara (live) Vier Künstler, drei Kontinente, ein gemeinsamer Nenner. Ihre Musik erscheint wie ein Manifest der puren Lebensfreude. Was Bukahara auf ihren Konzerten abliefern, zeugt von einer Band, die sich nicht nur auf musikalischer, sondern auch auf menschlicher Ebene gefunden hat. Doch ist es auch die Fusion verschiedener Musiktraditionen, der eigensinnige Kompositionsstil und die Verzahnung von Handwerk und Leidenschaft, die Bukahara zu dem machen, was sie sind: ein Juwel der deutschen Popkultur. 6. Juni, 20 Uhr Juicy Beats Park Sessions, Dortmund www.parksessions.net

OPER Persona (online) Alex, Rocco und Charly geht es wie den meisten Jugendlichen in ihrem Alter: Sie befinden sich im freien Fall, auf der Suche nach Antworten auf die Frage, wer sie sind und wer sie werden wollen. Sie sind aber auch Inf luencerInnen, deren Leben sich im sozialen Netzwerk „Persona“ abspielt. Längst dokumentieren sie hier nicht mehr, was sie erleben, sondern passen ihr Leben den Regeln der Social-Media-Welt an: Sind sie es, die ihre FollowerInnen beeinf lussen, oder

ist es umgekehrt? In Zusammenarbeit mit der Akademie für Theater und Digitalität schaffen der Composer in Residence Thierry Tidrow, die Librettistin Franziska vom Heede und die Regisseurin Zsófia Geréb ein Musiktheaterstück, das den Einfluss der sozialen Medien in der heutigen Zeit aufgreift. Besonders ist hierbei, dass das Publikum den Verlauf der Handlung maßgeblich mitgestaltet und somit einen direkten Einf luss auf den Ausgang der Geschichte nimmt. 5. Juni, 19.30 Uhr www.theaterdo.de/

THEATER Terrassen-Theater (live) Ende letzter Spielzeit boten die Dortmunder Philharmoniker die neue Konzertreihe, Terrassenkonzerte, an. Auf der Sonnenterrasse des Dortmunder Opernhauses konnte klassische Musik in sommerlicher Atmosphäre genossen werden. Die Resonanz beim Publikum war mit allen ausverkauften Vorstellungen so groß, dass das Theater Dortmund dieses Format als Terrassen-Theater wieder aufleben lässt. In diesem Jahr werden nun alle Sparten des Theaters Publikumsvorstellungen anbieten. Vom 2. Juni bis zum 3. Juli bieten Oper, Ballett, Philharmoniker, Schauspiel sowie Kinder- und Jugendtheater das volle Programm eines Mehrspartenhauses. Bei einem Glas Sekt oder Wein können auf der Terrasse des Dortmunder Opernhauses die Highlights der verschiedenen Genres in sommerlicher Atmosphäre erlebt werden. 2. Juni bis 3. Juli Oper, Dortmund www.theaterdo.de/


Der gefesselte Prometheus (online) Zu Ehren von Zeus, dem obersten aller griechischen Götter im Olymp, wird in Athen ein gewaltiger Tempel gebaut. Zur gleichen Zeit – um 500 vor unserer Zeitrechnung – schreibt der antike Tragödiendichter Aischylos ein Drama, das den Kult um genau diesen Machthaber infrage stellt. Eine Herrscherkritik, ausgehend von Prometheus, der selbst einmal Teil des mächtigen Göttergeschlechts der Titanen war. Der Konflikt der ehemals Verbündeten entsteht, als Prometheus den Menschen nicht nur die blinde Hoffnung schenkt, sondern den Göttern das Feuer stiehlt, um es gegen Zeus’ Willen den Menschen zu übergeben. So gewinnen die „Sterblinge“ Wissen und Macht, also Autonomie. Dem Alleinherrscher Zeus missfällt dieser Akt der Ermächtigung: Seine grausame Strafe, die Prometheus erleiden muss, wird zu einem Kampf zwischen ihm und dem Tyrannen und zu einem Mitleid erregenden Schauspiel: Ewig wird Prometheus über einem Abgrund an einen Felsen im Kaukasus gekettet sein, unbeweglich, der sengenden Sonne und dem nächtlichen Frost ausgesetzt. Prometheus, der „Vorbedenker“, wiederum demonstriert seine Macht durch Schweigen: Er hält sein Wissen über Zeus‘ künftiges Schicksal und das Ende seiner Willkürherrschaft zurück, bis dieser ihn befreit. Und wenn es Jahrtausende dauert. 5. Juni, 19.30 Uhr www.schauspielhausbochum.de

All das Schöne (live oder online)

ihr eine Liste der vielen schönen Dinge, für die es sich zu leben lohnt. 1. Eiscreme. 7. Leute, die stolpern. 26. Ins Meer pinkeln und keiner merkt‘s. Das Theaterstück „All das Schöne“ (englisch „Every Brilliant Thing“) des jungen britischen Dramatikers Duncan Macmillan erfreut sich seit der Uraufführung 2016 auch auf deutschsprachigen Bühnen großer Beliebtheit. Es ist allerdings weder ganz richtig noch ganz fair, „All das Schöne“ als „gewöhnliches“ Ein-Personen-Stück zu bezeichnen, denn das Publikum ist an diesem Abend auf besondere Weise gefragt. Je nach der dann aktuell gültigen Corona-Schutzverordnung des Landes NRW wird die Vorstellung entweder als Live-Stream oder als Präsenzveranstaltung aufgeführt. 10. Juni, 19.30 Uhr (auch 12. Juni) Prinz Regent Theater, Bochum www.prinzregenttheater.de

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Maß für Maß (live) Shakespeares „Maß für Maß“ behandelt allgegenwärtige Themen wie Machtmissbrauch, Versuchung und moralisches Handeln und stellt so sowohl das 22-köpfige Ensemble von Theater Total, als auch das Publikum vor tiefgreifende Fragen des Lebens. Darf ich meine Macht zum eigenen Vorteil nutzen? Welches Handeln kann ich mit meinen eigenen Moral- und Wertevorstellungen vertreten? Setze ich unterschiedliche Maßstäbe für mich und für andere? 12. Juni, 19.30 Uhr Theater Total, Bochum www.theatertotal.de

Nehmen Sie Kontakt auf

Martina Buchbinder Projektleiterin

Tel.: (0160) 74 42 333 E-Mail: Martina.Buchbinder@ jugendhilfe-elisabeth.de

Was tun, wenn man als Kind damit konfrontiert ist, dass die eigene Mutter versucht hat, sich das Leben zu nehmen? Verzweifeln? Aufgeben? Nein: Man schreibt

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BODO GEHT AUS

Café Mascha Kronenstraße 41 44789 Bochum

Neu im Ehrenfeld:

Café Mascha Sandra Schemberg ist im Bochumer Ehrenfeld keine Unbekannte. Als Mitarbeiterin der Villa Claudius hat sie unter anderem das Restaurant Tanas und die Kantine im Schauspielhaus sowie die Gastronomie im Musikforum der Bochumer Symphoniker geleitet – beide als integrative Betriebe mit Menschen, die auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht unterkommen. Nach 13 Jahren hat sie sich jetzt den Traum vom eigenen Café erfüllt. Das Arbeiten im Schauspielhaus wurde zuletzt komplizierter, weil die neue Intendanz alle Abläufe veränderte. „Im Musikforum herrschte immer eine tolle Atmosphäre, aber bei all den Massen-Events droht man den Blick für das Wesentliche zu verlieren“, sagt Sandra Schemberg: „Es geht mir als Gastronomin auch um das Kümmern, Umsorgen, den Menschen abholen können, auch mal zwei Minuten Zeit für ein Gespräch haben.“ Da kam ihr die Idee von Bauherr Willi Gründer gerade recht, der in seinem Neubauprojekt Kronenhöfe auf dem Gelände des alten Stadtarchivs in Bochum auch ein Café etablieren wollte. Café Mascha heißt es – und wenn die Corona-Situation es zulässt, dass Menschen in seinem gemütlichen In-

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Von Max Florian Kühlem Fotos: Daniel Sadrowski nenraum zwischen skandinavischem Look und English-Breakfast-Room Platz nehmen, dann werden sie schnell verstehen, woher der Name kommt: Auf den Tischen und Regalen liegen Bücher der Dichterin Mascha Kaléko aus, einer Zeitgenossin Erich Kästners, deren schöne, lebenskluge Texte ebenfalls der Neuen Sachlichkeit zugerechnet werden. Das Café Mascha schielt nicht so sehr auf die hippe Kundschaft des benachbarten Fräulein Coffea, sondern gibt sich etwas bodenständiger: Es gibt selbst gemachte Kuchen, neben Klassikern wie Käseku-

chen oder russischem Zupfkuchen auch täglich eine vegane Alternative. Mittags soll man bald zwischen Suppe, Salat und Quiche wählen können. Und als Basis für den Cafébetrieb gibt es besonderen BioKaffee aus Triest – für den Abholbetrieb kann man ihn in den Pfand-Bechern des nachhaltigen Start-Ups Cuna bekommen, das bereits mit zehn Bochumer Gastronomien zusammenarbeitet. Im Moment hat das Café Mascha von 11 bis 17 Uhr geöffnet, bald will Sandra Schemberg von 9.30 bis 18 Uhr erweitern – und irgendwann, wenn es wieder erlaubt ist, auch mal zu Abendveranstaltungen wie Lesungen einladen. Bei der Namensgeberin bietet sich das schließlich an.


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Kronenhöfe Bauherr Willi Gründer, der auch hinter dem integrativen Wohnprojekt Claudius-Höfe hinter dem Bochumer Hauptbahnhof steckt, hat auf dem Grundstück des alten Stadtarchivs ein ähnlich vielfältiges Projekt verwirklicht. Es besteht aus drei Häusern: Eins wird von einer Genossenschaft bewohnt, die die Immobilie nach und nach abbezahlt und irgendwann zu ihrem Gemeinbesitz machen wird. Das zweite bietet Eigentumswohnungen in Top-Lage – innenstadtnah und trotzdem ruhig – und das dritte Mietwohnungen, (studentische) Wohngemeinschaften, eine Tagesbetreuung für Senioren und die Praxis einer Logopädin. Bunt und vielfältig geht es hier also zu – und mit dem Café Mascha im Erdgeschoss mit seinem schönen Außenbereich öffnet sich das Projekt auch für die Nachbarschaft.

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REPORTAGE

Jürgens Platz Ein Mann mit dichtem weißen Bart sitzt auf einer Mauer, sein T-Shirt und der Sarong sind orange, er trägt einen Turban. Die Hände stützt er auf die Knie, seine Haut ist sonnengegerbt. Ein Sadhu-Mönch wie aus einem Katalog der indischen Tourismus-Zentrale blickt da in die Kamera. Der Mann heißt Jürgen. Jetzt ist er zurück in Deutschland, in Nürnberg, der Stadt, die er vor 30 Jahren verlassen hatte. Von Ilse Weiß | Fotos: Giorgos Agelakis, Jürgen Knörr

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as Foto ist noch gar nicht alt. „Vielleicht zwei Jahre“, schätzt Jürgen. Er trägt jetzt eine warme, dunkle Jacke, Wollmütze statt Stoffturban, die Haut ist noch winterblass, ein Franke halt. Das Bild und ein paar wenige andere hat er zum Gespräch mitgebracht. Sein dickes Notizbuch sieht ziemlich mitgenommen aus. Es ist mehrfach nass geworden in Monsunzeiten, manche Seiten lösen sich ab. Pläne und Bildchen von Pilgerrouten und Tempeln sind eingeklebt, Aufzeichnungen, Skizzen und Gedanken füllen die Seiten. Viel mehr ist nicht geblieben von all dem Leben in Indien. „Alles gestohlen oder verschwunden“, sagt Jürgen. Er stellt es fest, es ist so, wie es ist. Das hat er also auch mitgebracht aus Indien: Gelassenheit und Geduld, Abfinden mit der Realität. Das Wertvollste für ihn ist seine grüne Umhängetasche, die mit exakt abgezählten Knoten im Garn nach religiösen Vorgaben gefertigt wurde. Jürgen Knörr, 67 Jahre alt, verehrt Shiva, den Hindu-Gott mit dem dritten Auge, der als Segensreicher und Zerstörer gleichermaßen gilt. Als junger Mann gehörte Jürgen zu denen, die damals als Langhaarige, Gammler, Halbstarke bezeichnet wurden. Er wuchs bei einer Pflegefamilie auf, lernte Autoschlosser, arbeitete am Bau, jobbte alles Mögliche – „Immer, wenn ich was gekonnt habe, hab ich damit aufgehört“, sagt er. Den üblichen Lebensentwürfen konnte er nichts abgewinnen, es zog ihn weg. Vor allem nach Indien. Mehrere Jahre war er „jeden Winter dort“. Dann bekam er ein Fünf-Jahres-Visum in den Pass gestempelt. Unwiderstehlich für Jürgen. Er packte seinen Rucksack und ging aus Deutschland weg. Lebte in Dörfern in Kerala, im Dschungel, am Strand, brauchte immer weniger von allem. Als sein Geld ausgegeben war, ließ er „Angst und Wünsche weg“. Klingt nach Kalenderspruch, aber er hat es ja überlebt, gelebt. Trotzdem drängen sich Ob-Fragen in Verbindung mit Angst auf. Ob er Angst hatte, nicht genug zu essen zu haben, krank zu werden, zu vereinsamen, zu scheitern …? Eine lange Ob-Liste. Jürgen sagt nichts, wiegt nur den Kopf, eine kleine Bewegung, die zwischen Ja und Nein und Vielleicht liegt und je nach Gespräch genau eins davon bedeutet. Die hat er also auch mitgebracht, die vielsagende Bewegung.

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REPORTAGE

Jeder Tag sei gelungen, er habe viel von Dorf bewohnern gelernt, sei beschenkt worden, überhaupt habe er jeden Tag gerne gelebt, sagt Jürgen. Er pilgerte in die Berge, lebte mehrere Monate in einem Shiva-Tempel, wurde Sadhu, einer von Zigtausenden Männern, die in Indien ohne Besitz als Einzelgänger und Bettelmönche durch das Land ziehen. Sadhu kommt aus dem Sanskrit und bedeutet „zum Ziel gelangen“. Es umfasst alle Bemühungen des Gläubigen, dem Göttlichen näher zu kommen. Bei Jürgen gehörten Yoga und Meditation dazu. Sein Visum war längst abgelaufen. Es interessierte nicht mal die Polizei, Jürgen war längst ein Inder, irgendwie. Die letzten neun Jahre lebte er in Rishikesh im Bundesstaat Uttarakhand, eine mit einer halben Million für indische Verhältnisse kleinen Stadt. Der Ganges ist dort noch frisch, sein Wasser ansehnlich. Rishikesh ist als Yoga-Hauptstadt bekannt, viele Ashrams ziehen Touristinnen und Touristen aus reichen Ländern an. Die wollen hier zur Ruhe und zu sich und vielleicht zu einer Erleuchtung kommen. So wie die Beatles 1968, die hier Transzendentale Meditation bei Maharishi Mahesh Yogi erlernen wollten. Jürgen fand einen Platz oben an einem Ghat, einer Treppe zum Ganges. Jeden Tag ging er hinunter, tauchte in den Fluss, half später im nahen

Ashram bei der Essensausgabe und bekam dafür seines. Er meditierte, pflanzte alles, was er fand, in irgendwelche Gefäße. Er fühlte sich räumlich angekommen und spirituell weiter auf dem Weg. Die Polizei kannte ihn, machte nichts. Er machte ja auch nichts. Dann kritisierte er einen Hotelbesitzer in der Nachbarschaft, der Müll im heiligen Fluss entsorgte. Der zeigte den Ausländer ohne Papiere an. Das konnte die Polizei nicht ignorieren. Jürgen kam ins Gefängnis. Wie schwer und schockierend die mehr als zwölf Monate in Haft gewesen sein müssen, wird klar, weil er darüber reden will. Von den 65 Männern, die mit ihm in einem Raum gefangen waren. Mörder, Vergewaltiger, Räuber, kleine Diebe, alles. Nachts eine halbe Decke breit Platz zum Schlafen. „Gut, dass ich gewohnt war, mit wenig Platz auszukommen.“ Wie er versucht habe, sich mit Yoga innerlich aufrecht zu halten, wie einige der Männer dann auch damit begonnen hätten. Krank sei er geworden, grau, fahl und mager, „alt“ sagt er. Am 9. Oktober 2020 setzten die Inder den großen dünnen Mann in ein Flugzeug. Barfuß verließ er das Land. Am Flughafen, sagt er, hätten sich die Leute nach ihm umgedreht. Erst auf dem Flug „hab ich mir überlegt, wo ich einen Schlafsack bekomme, weil ich ja keine Wohnung habe in Nürnberg.“ Der Rest ist schnell erzählt: Jürgen kommt in eine Notschlafstelle, vermittelt von einer Streetworkerin ins von der Caritas betriebene Haus Domus. Ihr sei er sehr dankbar, sagt Jürgen. Sie und die Domus-Mitarbeiter helfen ihm bei den Themen und Anträgen, die sich für einen 67-Jährigen nach 30 Jahren Abstinenz in der alten Heimat auftun. Anknüpfen kann er an den Dialekt, inzwischen mag er sich sogar vorstellen, ein Handy zu benutzen. Er teilt sich mit einem anderen Mann das Zimmer im Domus. Jürgen sagt dazu nur, dass es nicht leicht sei, zwei völlig unterschiedliche Charaktere. Aber er klagt nicht, er sagt’s nur. Er geht viel spazieren, ihm gefällt Nürnberg, er hofft auf eine Perspektive. Die sieht so aus: Ein Zimmer, eine Küche, ein Bad. Das wäre sein Ziel hier. Ruhe, selbst kochen, sein. Indien, sagt er, sei abgeschlossen. Er trinkt seinen Tee aus, nimmt seine grüne Tasche. Ob er mal wieder vorbeikommen mag? Jürgen bewegt seinen Kopf auf indische Art. Fast unmerklich. Es könnte ein Ja bedeuten. Wir werden sehen. Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Strassenkreuzer / INSP.ngo

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INTERVIEW

LANGEWEILE Vom Umgang mit einer Zumutung

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Im Jahr 1981 veröffentlichte die Marler Punkband Hass den Song „Langeweile“. „Langeweile, Langeweile, kennt keine Hast, kennt keine Eile“ lautete der Refrain. Langeweile zu akzeptieren reichte bereits, um zu provozieren. Vierzig Jahre später, bedingt durch eine Pandemie, scheint Langeweile allgegenwärtig zu sein. Über dieses Phänomen haben wir mit Prof. Dr. Sabrina Krauss gesprochen, Professorin für Psychologie an der SRH Hochschule Nordrhein-Westfalen in Hamm. Von Wolfgang Kienast | Fotos: Hafiez Razali / Shutterstock, Rene Golz

Frau Krauss, wer sich, wie Sie, beruflich mit dem Thema Langeweile beschäftigt, hat aktuell vermutlich viel zu tun. Stimmt, das Thema ist in den Fokus gerückt. Viele Jahre war es in der Forschung ein Stiefkind. Zwar hat es in den 1960er Jahren Untersuchungen gegeben, doch sie wurden kaum beachtet. Seit Corona, seit Mitte des vergangenen Jahres, fragen Journalisten verstärkt bei uns an, denn offensichtlich wissen viele Menschen derzeit nicht, was sie mit ihrer Zeit machen wollen oder sollen.

gehabt. Heute können wir immer alles und alles zu jeder Zeit haben. Das führt sicherlich dazu, dass die Frustrationstoleranz abnimmt. Wir sind es nicht mehr gewohnt, etwas Bestimmtes wie Fernsehen oder Shoppen einfach nicht machen zu können. Wir halten das Warten nicht aus. Früher haben Kinder auf einer langen Autofahrt Regentropfen gezählt, heute haben sie ihr iPad zur Hand. Aber das würde doch heißen, dass man tatsächlich jederzeit Beschäftigung hat. Es gibt Angebote rund um die Uhr. Und trotzdem Langeweile. Genau. Es ist ja auch so, dass man sich jederzeit gesund ernähren und bewegen könnte. Aber das passiert ebenso wenig. Und Langeweile bedeutet nicht automatisch, dass man absolut nichts zu tun hätte. Vielleicht habe ich bereits acht Stunden Filme auf Netflix geschaut. Vielleicht langweilt mich meine Arbeit, weil ich da etwas tun muss, was mich anödet.

Vor der Pandemie hörte man Leute gelegentlich klagen, sie hätten gern mehr Zeit für sich selbst. Jetzt hätten sie ausreichend Zeit, sind aber dennoch unglücklich. Nun ja, man muss einschränkend sagen, dass die Leute das, was sie jetzt gern tun würden, gar nicht machen dürfen. Die gewonnene Freizeit nützt da nur bedingt. Man darf nicht in den Pub, nicht ins Restaurant, sich nicht mit Freunden treffen. Man darf quasi nur Dinge mit sich selbst maWas genau ist denn Langeweile? Ein chen. Das hatten sich die Leute, die Gefühl, oder geht es eher in RichSie meinen, so nicht vorgestellt. Allertung Unpässlichkeit? Ist Langeweile Prof. Dr. Sabrina Krauss, Prodings muss man auch feststellen, dass objektiv messbar oder eine subjektive fessorin für Psychologie an der die Menschen verlernt haben, mit LanEmpfindung? SRH Hochschule Nordrheingeweile umzugehen. Es gab Zeiten, da Langeweile ist zunächst einmal Westfalen in Hamm. zeigte der Fernseher nach 22 Uhr ein unangenehm. Sie tritt auf, wenn man Testbild, man konnte sonntags gar für eine längere Zeit Dinge ausführen nicht und samstags nur bis 13 Uhr einkaufen. Heute muss, die man nicht ausführen möchte. Das ist ein Gehalten es die Menschen für selbstverständlich, sämtliche fühl, nichts Krankhaftes. Aus Langeweile können sogar Angebote rund um die Uhr nutzen zu können. richtig gute Dinge entstehen. Man weiß zum Beispiel, dass Menschen, die sich eine Zeitlang gelangweilt haben, Die Freizeitgesellschaft verspricht unter anderem, anschließend in Testsituationen deutlich kreativer waren dass ich rund um die Uhr bespaßt werde. als Menschen, denen das zuvor erspart geblieben ist. Die Erwartung, bespaßt zu werden, ist riesengroß. Gerade die Digital Natives, die Jugendlichen, die Demnach ist es nicht schlimm, sich ein wenig zu langmit dem Smartphone aufwachsen, kennen es nicht anweilen. ders. Wenn ich damals die „Sendung mit der Maus“ sehen Dazu gibt es neurologische Studien und auch wollte, musste ich zu einem bestimmten Zeitpunkt vor Befragungen. Aber das ist ein schwieriges Feld, allein dem Fernseher sitzen. Wenn ich den verpasst hatte: Pech weil jeder Mensch für sich Langeweile anders definiert.

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INTERVIEW

Das hört man gern. Doch seit wann redet man überhaupt von Langeweile? Könnte es sein, dass es sich um ein recht modernes Konzept von „sich auf eine gewisse Art und Weise unwohl fühlen“ handelt? Mit dem Thema haben sich große Philosophen schon weit vor unserer jetzigen Moderne beschäftigt. Die wissenschaftliche Erforschung begann aber erst in den 1960er Jahren. Es gab ein berühmtes Experiment, seinerzeit von dem Sozialpsychologen Timothy Wilson im „Science“-Magazin veröffentlicht. Er setzte seine Testpersonen zunächst leichten Elektroschocks aus, die diese als unangenehm empfanden. Anschließend bat er sie in einen leeren Raum, in dem sie jedoch die Möglichkeit hatten, sich weitere Stromschläge selbst zuzuführen. Bereits nach fünfzehn Minuten hatten bereits 67 Prozent der Männer und ein Viertel der Frauen davon Gebrauch gemacht. Man hat geschlussfolgert, dass Menschen alles lieber machen als mit sich allein zu sein. Aber das Experiment fand in einer reinen Laborsituation statt. Für die Testpersonen gab es keine anderweitigen Reize. In der Psychologie kann man die Dinge aber schlecht in einem Vakuum beobachten. Und wenn wir jetzt, während der Pandemie, von Langeweile sprechen, ist hoffentlich niemand in einem reizfreien Raum gefangen. Es gibt Bücher, Netflix, Familienmitglieder, ein Fenster.

Solche Unterschiede gibt es auch in der Forschung, von Studie zu Studie. Einig ist man sich, dass Langeweile als wirklich sehr unangenehm empfunden wird. Sie kann sogar in Verbindung mit einer Depression stehen, wenn sie zu intensiv und zu lange auftritt. Problematisch wird es immer dann, wenn sie an das Gefühl empfundener Sinnlosigkeit grenzt, also wenn man nicht mehr weiß, warum und wofür man lebt. Dann wird es kritisch. Dann benötigt man professionelle Unterstützung und sollte einen Arzt oder eine Beratungsstelle aufsuchen. Aber: Die ganz normale Langeweile, als Zustand zwischendurch, die ist absolut in Ordnung. Sie kann, wie bereits gesagt, einen ausgesprochen positiven Effekt auf unser Gehirn haben.

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Sogar die erwähnte Arbeitswelt ist selten ohne Reize. Wenn Sie den ganzen Tag etwas sehr Monotones machen, fangen Ihre Gedanken irgendwann an, zu wandern. Bei automatisierten Tätigkeiten, beispielsweise am Fließband, ist das bestimmt unkritisch. Etwas anderes ist es, wenn Sie sensible Daten einer Bank oder Versicherung kolonnenweise in den PC tippen. Es hängt also einerseits von der konkreten Tätigkeit ab, andererseits aber natürlich von der jeweiligen Person. Manche Leute kommen damit besser zurecht als andere. Langeweile wird von daher auch als Persönlichkeitsmerkmal diskutiert. Das ist aber noch nicht abschließend geklärt. Angenommen, ich gehöre zu den Leuten, die sehr unter Langeweile leiden. Gibt es für mich Möglichkeiten, vorbeugend aktiv zu werden? Ja, Sie können vorbeugen. Strukturieren Sie ihren Tag. Überlegen Sie, was Sie essen möchten, wann Sie zum Einkaufen gehen, wann Sie kochen. Dann sind Sie nicht so lost. Es kann nämlich durchaus Glücksgefühle auslösen, eine To-do-Liste abzuarbeiten. Natürlich kann es trotzdem passieren, dass sich Langeweile einstellt. Das darf sie auch. Aufpassen müssen wir nur an der Grenze von Langeweile zu empfundener Sinnlosigkeit. Das Thema Langeweile ist also alles andere als langweilig. Gibt es einen Aspekt, den Sie besonders spannend finden? Sich einfach mal hinsetzen und rein gar nichts machen. Im Grunde ist das eine Art Meditation, weder spirituell noch religiös motiviert, wo man wirklich und einfach einmal nur ist. In diversen Therapiesituationen gibt es Hinweise darauf, dass ein solches achtsamkeitbasiertes Training den Menschen im Alltag helfen kann. Diese Option ist in der Leistungsgesellschaft untergegangen. Noch wird diskutiert, ob man das tatsächlich Langeweile nennen soll. Aber unabhängig davon würde ich den Menschen den Tipp mitgeben wollen, solche Momente zuzulassen. Sie können den Geist und den ganzen Organismus beruhigen. Man muss zwar wieder lernen, einen solchen Zustand zu ertragen, doch wenn man das schafft, ist es am Ende rundum schön.


BÜCHER

Gelesen von Bastian Pütter

Abliefern Petra fährt Zug. Brigitte braucht Komfort. Verena liegt in der Sonne. Laura telefoniert. Lisa geht joggen. Tina geht zum Imbiss. Barbara ist einsam. Sie heißen wie Frauenzeitschriften, die Protagonistinnen des zweiten Romans der Schriftstellerin, Filmemacherin und Künstlerin Jovana Reisinger. Und es ist ja auch eine Frauenzeitschriftenwelt, insofern dort das Regelset der Rolle Frau und die Ansprüche festgehalten werden. Und wenn frau kann, performt sie angemessen. Von den internalisierten Choreografien über das sichtbar Lächeln und unsichtbar Menstruieren bis zum Umgang mit der unterschwelligen und dann plötzlich auch sehr manifesten Gewalt. Wie in ihrer Videokunst dekonstruiert Jovana Reisinger die Objektivierungen, die Zurichtungen in Patriarchat und Neoliberalismus, und wer nun glaubt, ihr Roman sei eigentlich eins dieser drögeakademischen Manifeste, liegt falsch. Spitzenreiterinnen ist wunderbar beobachtet, durchzogen von solidarischer Wärme und pulsierender Wut gleichermaßen, und das mit einem schneidenden Humor, der einfach Spaß macht. Auf einen einzigen Satz gebracht hat den Kern dieses großartigen Textes Marie Schmidt in der Süddeutschen: „Dieses Buch ist die denkbar lustigste Version des sonst zwingend humorlosen Satzes: Sexismus ist ein strukturelles Problem.“ Jovana Reisinger | Spitzenreiterinnen ISBN: 978-3-95732-472-6 Verbrecher | 264 S. | 22 Euro

Aber der Sportteil Arbeit, abgehängt Die Journalistin Julia Friedrichs begann ihre Karriere mit einer Bewerbung bei der Unternehmensberatung McKinsey. Statt mit einem Einstiegsgehalt von 60.000 Euro plus Dienstwagen Teil der Beratungsbranche zu werden, schrieb Sie darüber. Seitdem interessieren sie die Reichen und Mächtigen – und die, die es niemals werden. Ihr neues Buch widmet sich den Millionen, die es nicht mehr „zu etwas bringen werden“, die nichts sparen und für die sich Aufstiegsversprechen nicht erfüllen. Es geht um rund die Hälfte der Menschen, die in Deutschland arbeiten. Vielen geht es kaufkraftbereinigt schlechter als ihren Eltern. Die neue „working class“ hat mit der alten „Arbeiterklasse“ der Industrialisierungsepoche gemein, dass sie arbeitet, um Geld für den Monat zu haben. Kein Eigentum, keine Aktiendepots, keine Rücklagen, nichts zu erben. Was das arbeitende Prekariat von seinen malochenden VorgängerInnen trennt, ist die fehlende Aussicht auf „Organisierung“. In der fragmentierten Dienstleistungsgesellschaft haben die Musiklehrerin Alexandra und der U-Bahn-Reiniger Sait dann doch nicht mehr gemeinsam als die Erfahrung, dass was vor 30 Jahren zum Leben reichte, das heute eben nicht mehr tut. Julia Friedrich | Working Class Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können ISBN: 978-3-8270-1426-9 Berlin Verlag | 320 S. | 22 Euro

Es hatte etwas Absurdes: Im Mai erließ das Landgericht Hamburg eine einstweilige Verfügung gegen einen „Spiegel“Artikel. Unter dem Titel „Feiern, vögeln, feuern“ hatte das Magazin über das „System Reichelt“ und Machtmissbrauch des „Bild“-Chefredakteurs berichtet. Und nun klagte ausgerechnet der Mann, für den der Bruch journalistischer Regeln Geschäftsmodell ist. Seit 2004 dokumentieren und analysieren MedienjournalistInnen mit dem „Bildblog“ Fehler und Regelverstöße u.a. der „Bild“. „Bildblog“-Chef Moritz Tschermak und sein Vorgänger Mats Schönauer haben nun in einem Buch die Verheerungen dokumentiert, die das Über-Leichen-Gehen und das politische Brandstiften hinterlassen. Sie zeigen die relevantere Seite des Systems Reichelt: Noch immer ist „Bild“ eine Angstmaschine, die Wut erzeugt und vor allem auf Minderheiten lenkt; mehr als sein Vorgänger Kai Diekmann setzt Reichelt aber auf gesellschaftliche Spaltung, oft nah an der AfD, die massiv von „Bild“ profitiert habe. Aus politischer Überzeugung? Als Antwort enden die Autoren mit einem Zitat aus Christopher Nolans Batman-Verfilmung „The Dark Knight“: „Einige Menschen wollen die Welt einfach nur brennen sehen.“ Moritz Tschermak, Mats Schönauer Ohne Rücksicht auf Verluste. Wie BILD mit Angst und Hass die Gesellschaft spaltet ISBN: 978-3-462-05354-8 Kiepenheuer & Witsch | 336 S. | 18 Euro

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Interview der Straßenzeitungen zur Bundestagswahl 2021

„Herr Lindner, was versprechen Sie prekär Beschäftigten?“ Herr Lindner, Sie besitzen einen Porsche, eine Rennfahrerlizenz und einen Jagdschein, sind also ein gemachter Mann. Wir Straßenzeitungen glauben, dass Sie trotzdem etwas mit obdachlosen Menschen gemein haben. Raten Sie mal, was. Das Wort „gemachter Mann“ finde ich rätselhaft, denn es klingt für mich nach dem Zutun von anderen. Tatsächlich bestreite ich seit meinem 18. Geburtstag meinen Lebensunterhalt selbst, geschenkt hat mir niemand etwas.

Viel wichtiger ist es mir, den Menschen zu erleichtern, sich durch eigenen Einsatz, Schritt für Schritt, aus einer Bedürftigkeit herauszuarbeiten. Wir dachten an Folgendes: Viele wohnungslose Menschen beziehen staatliche Grundsicherung, Sie leben seit Ihrem 22. Lebensjahr von staatlichen Diäten. Allerdings reichen die Ihnen nicht: Sie haben allein in dieser Legislaturperiode mehr als 400.000 Euro dazu verdient. Wohlfahrtsverbände finden den Hartz-IVRegelsatz auch zu niedrig und fordern eine Aufstockung auf 600 Euro. Gehen Sie da mit? Mir können Sie solche zugespitzten Fragen gerne stellen. Aber auch eine Polizistin oder ein Krankenpf leger beziehen ihre Gehälter aus öffentlichen Mitteln. Es führt nicht weiter, wenn jede Tätigkeit, die sich aus Steuergeldern finanziert, mit Sozialleistungen verglichen wird. In der Sache bin ich dafür, dass sich die Höhe der Grundsicherung daran orientiert, welche Bedürfnisse bestehen und wie die Preise sich entwickeln. Das sollten Fachleute festlegen, das ist nichts für Wahlkampfversprechen. Viel wichtiger ist es mir, den Menschen zu erleichtern, sich durch eigenen Einsatz, Schritt für Schritt, aus einer Bedürftigkeit herauszuarbeiten. Ganz konkret halte ich die Hinzuverdienstgrenzen beim Arbeitslosengeld II für skandalös ungerecht.

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Das wird die Straßenzeitungsverkäufer freuen, die Hartz IV beziehen. Wie stehen Sie zur Forderung, den Freibetrag beim Zuverdienst von jetzt 100 Euro auf 400 Euro anzuheben? Genau das ist unsere Forderung. Jeder, der einen Euro hinzuverdient, muss mehr als die Hälfte davon behalten können. Übrigens muss auch die Höhe des Minijobs angepasst werden. Denn wenn der Mindestlohn steigt, haben viele Betroffene dennoch nicht mehr Geld, wenn es bei 450 Euro bleibt. Die müssen stattdessen die Arbeitszeit reduzieren, das bremst Aufstiegschancen. Deshalb sollte die Höhe des Minijobs immer das 60-fache des jeweiligen Mindeststundenlohns betragen. Die SPD Nordrhein-Westfalen nannte 2009 Ihre Landes-FDP die „Partei der sozialen Kälte“. Grund: Die schwarz-gelbe Regierungskoalition kürzte die Landesgelder für Obdachlosenhilfe damals um 1,12 Millionen Euro. Sie sagten damals, die Kommunen seien alleine für die Obachlosenhilfe zuständig. Sehen Sie das heute noch so?

Oberstes Ziel: So lange es geht, müssen Menschen ihre Wohnung behalten können, sei es mittels Grundsicherung, Schuldnerberatung, gesundheitlicher Hilfestellung. Der Ausflug in die Geschichte ist noch nicht vollständig. Denn zeitgleich hat die von der FDP mitgetragene Bundesregierung die Kommunen von den Kosten der Grundsicherung im Alter entlastet. Das machte für die Städte und Gemeinden seitdem Hunderte von Millionen Euro an Einsparungen aus, die zum Beispiel für soziale Vorhaben oder Investitionen genutzt werden könnten. Oberstes Ziel: So lange es geht, müssen Menschen ihre Wohnung behalten können, sei es mittels Grundsicherung, Schuldnerberatung, gesundheitlicher Hilfestellung. Das muss nah am Menschen geschehen, also auf der kommunalen Ebene. Genauso vielschichtig wie die Problemlage muss das Hilfesystem sein.


Dritter Teil: Christian Lindner

Im nächsten Heft: Armin Laschet

Vor der Bundestagswahl am 26. September haben die deutschen Straßenzeitungen Fragen. Mit Partei- und Fraktionsspitzen demokratischer Parteien im Bundestag führen sie deshalb Interviews zu Sozialpolitik, Wohnungspolitik und Armutsbekämpfung. In diesem Monat stellt sich der Bundesvorsitzende und Spitzenkandidat der FDP, Christian Lindner den Fragen zu Minijobs und Mindestlohn, zu Obdachlosigkeit und Housing First sowie zu Nähe und Distanz zur AfD. Von Annette Bruhns | Foto: Thomas Meyer

Obdachlosigkeit ist heutzutage vorwiegend ein Ergebnis von Migration: Immer mehr Menschen aus armen EU-Ländern landen in prekären Arbeitsverhältnissen, sei es auf Schlachthöfen oder auf Baustellen oder als Putzkräfte, und im Winter dann oft auf der Straße. Was würde die FDP in einer Regierungskoalition tun, um dieses Elend zu stoppen? Wir müssen über die Qualität der Arbeitsverhältnisse nachdenken, zum Beispiel im Bereich der fleischverarbeitenden Industrie. Und wir müssen die Verantwortung der Herkunftsländer stärken. Das ist eine Frage, die man hinsichtlich der Migration in Europa stellen muss: Was ist mit der sozialen Verantwortung jedes einzelnen EU-Mitgliedsstaats? Zum Arbeiten nach Deutschland zu kommen, darf nicht zu Verelendung führen. Es geht um eine unbearbeitete Aufgabe, die sich durch die Freizügigkeit innerhalb der EU stellt.

Unsere Hauptanstrengung muss darin liegen, dass niemand dauerhaft zu den Bedingungen eines Mindestlohns oder generell prekär arbeiten muss. Die Mindestlöhne für Saisonkräfte liegen häufig unter dem gesetzlichen Mindestlohn von 9,50 Euro. Die SPD will den Mindestlohn auf 12 Euro anheben. Was versprechen Sie prekär Beschäftigten? Eine Aufstiegsperspektive. Unsere Hauptanstrengung muss darin liegen, dass niemand dauerhaft zu den Bedingungen eines Mindestlohns oder generell prekär arbeiten muss. Die Perspektive sollte sein, immer wieder neue Qualifikationsangebote zu unterbreiten, und zwar maßgeschneiderte. Was die Untergrenze des Mindestlohns angeht: Wir haben gute Erfahrung damit, dies in die Hände einer unabhängigen Kommission zu legen, die dafür sorgt, dass der Mindestlohn regelmäßig angepasst wird, und dass die Lohnfindung nicht politisiert wird. Nicht parteipolitische Interessen dürfen eine Rolle spielen, sondern arbeitsmarkt- und sozialpolitische Erwägungen.

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Interview der Straßenzeitungen zur Bundestagswahl 2021

Die FDP spricht sich aus für „Housing First“, also dass Obdachlose erstmal eine Wohnung bekommen, ohne groß nachweisen zu müssen, dass sie dafür geeignet sind. Wie sollen die Kommunen das finanzieren? Ich bin dezidiert der Meinung, dass wir die kommunale Ebene stärken müssen. Weil sich die Aufgaben der unterschiedlichen öffentlichen Ebenen verändern. Aufgaben, die der Staat den Gemeinden überträgt, muss er immer mitfinanzieren. Die Kommunen sind unser erstes Auffangnetz bei Notlagen. Wie steht es mit dem Bau von Sozialwohnungen? Die SPD verspricht 100.000 pro Jahr. Gehen Sie da mit, und wenn ja, soll die der private Sektor bauen oder die öffentliche Hand? Ich würde immer die Förderung von Menschen der Förderung von Steinen vorziehen. In die Sozialwohnung ist vielleicht der studentische BafögEmpfänger eingezogen und hat sie noch als Professor bewohnt. Ich bin ein Befürworter individueller Wohnkostenzuschüsse, für die individuelle Bedarfslage. Privaten Bauträgern bestimmte Auflagen zu unterbreiten, halte ich für denkbar. Also zum Beispiel: Wenn jemand ein Haus mit acht Wohneinheiten baut, kann sie oder er die beiden Penthouse-Wohnungen zu hohen Quadratmeterpreisen anbieten, solange in tieferen Etagen günstige Wohnungen entstehen. Diese Mischung hätte zugleich eine gesellschaftspolitisch wünschenswerte Pluralität zur Folge. Sie haben vor einem Jahr zugelassen, dass ein FDP-Politiker mit Stimmen der AfD thüringischer Ministerpräsident wurde. Ein Fehler, haben Sie hinterher gesagt. Mit Ihren Positionen zu Corona sind Sie wieder

nahe an der AfD: Sie fordern Öffnungen, für Läden, für Hotels – freilich bei mehr Schutz von Risikogruppen. Sie sagen dabei nicht, dass Corona ein Virus ist, das Ärmere viel häufiger trifft, weil sie beengt wohnen und nicht im Homeoffice arbeiten können. Ist Ihnen deren Gesundheit egal? Sie haben eine Frage gestellt, die der Sortierung bedarf. Ich habe auf gar keinen Fall zugelassen, dass jemand mit den Stimmen der AfD gewählt worden ist. Sondern ein aufrechter Demokrat ist in eine Falle der AfD gelaufen. So hat es Ministerpräsident Bodo Ramelow von der Linkspartei formuliert. Zweitens ist die Pandemiepolitik der FDP nicht vergleichbar mit der der AfD. Wir wollen durch innovative Maßnahmen mehr gesellschaftliches und wirtschaftliches Leben erlauben, aber sehen das Risiko, das in der Erkrankung liegt und leugnen es nicht. Man tut der AfD einen Gefallen, wenn man sie in einem Atemzug mit der FDP nennt und verharmlost die politische Gefahr, die von ihr ausgeht. Dritter Punkt: Gesundheitsschutz darf nicht abhängig sein von Lebensverhältnissen. Masken oder Schnelltests müssen an Menschen abgegeben werden, die sich das nicht selbst leisten können, damit wirkungsvolle Hygiene keine Frage des Einkommens ist. Und wenn Sie Vizekanzler wären: Was würden Sie als erstes versuchen zu ändern? Für Aufstiegsgerechtigkeit sorgen! Meine Leidenschaft gehört denen, die ihren Weg gehen wollen. Keinem geht es besser, wenn wir „denen da oben“ etwas wegnehmen, etwa durch eine Vermögensteuer. Sondern die Frage ist: Wie ändern wir das Leben derer, die aufsteigen wollen? Da will ich für neue Chancen sorgen.

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Peter Bentele

Wald und Mensch im Dialog Theorie und Praxis der Waldpädagogik

Die Begegnung und Aufenthalt in der Natur rücken immer mehr in den Vordergrund und bilden damit ein Gegenpol zur digitalen Welt. Mit der Gründung der Waldkindergärten in den 90er Jahren, entwickelte sich der Bildungsraum Wald und gewinnt seit dieser Zeit deutlich an Bedeutung für Kinder jeden Alters. In diesem Buch wird der Bildungsraum dargestellt und erläutert. Lerntheorien sowie curriculare Überlegungen und methodische Aspekte zur pädagogischen Arbeit im Wald bildet das Fundament dieses Buches. Darüber hinaus werden Bezüge zur Entwicklung des Menschen im Dialog mit dem Wald erstellt, sowie deren Auswirkungen auf die weitere schulische Entwicklung. Weitere positive Auswirkungen auf die Gesundheit werden thematisiert und neueste wissenschaftliche Erkenntnisse verständlich dargestellt. Der praxisorientierte Teil des Buches geht detailliert auf die Darstellung rechtlicher, sicherheitsrelvanter und organisatorischer Aspekte ein und bietet somit dem Leser Handlungsicherheit in der pädagogischen Arbeit. Eine Übersicht über Bewegungs- und Wahrnehmungsspiele, verschiedene Aufbauten und den Umgang mit Werkzeugen runden den praktischen Teil ab. Generell regt das Buch den Leser zum Dialog mit dem Wald an, denn das eigene Erleben und Handeln ist das beste Fundament für das weitere Wirken. vml

Schleefstr. 14 • D-44287 Dortmund • Tel. 02 31 - 12 80 08 • FAX 02 31 12 56 40 Ausführliche Buch-Informationen (Leseproben) und Bestellen im Internet: www.verlag-modernes-lernen.de Oder besuchen Sie uns in der Schleefstraße 14: Mo - Do von 8 bis 16 Uhr, Fr von 8 bis 15 Uhr

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Eine Frage, Herr Dr. habil. Maik Behrens:

Wird vererbt, was uns schmeckt?

Dr. habil. Maik Behrens vom Leibniz-Institut für Lebensmittel-Systembiologie

Wenn es darum geht, welche Speisen und Gerichte wir mögen, dann gehen die Geschmäcker im wahrsten Sinne weit auseinander. Bei manchen Lebensmitteln sind die Gräben aber besonders tief, bei Lakritz etwa oder der Gewürz- und Heilpflanze Koriander. Ein großer deutscher Süßwarenhersteller macht 80 Prozent seines Umsatzes mit Lakritz-Süßigkeiten in Norddeutschland. Über 285.000 Fans hat die Facebook-Seite „Ich hasse Koriander“. Doch wie entstehen solche Zu- oder Abneigungen und können sie vererbt werden? „Wenn wir in der Wissenschaft von Geschmack reden, dann meinen wir eigentlich erst einmal nur die fünf Geschmacksqualitäten süß, sauer, umami, salzig und bitter. Alles andere ist in engerem Sinne kein Geschmack“, so Dr. habil. Maik Behrens vom Leibniz-Institut für Lebensmittel-Systembiologie. (Das aus dem Japanischen stammende „umami“ bezeichnet als „fleischig“ oder „würzig“ wahrgenommene Geschmacksqualitäten.) Das, was umgangssprachlich gemeint ist, wenn von „Geschmack“ die Rede ist, wird erst im Gehirn aus unterschiedlichen Sinneseindrücken zusammengesetzt. Der für viele seifige Eindruck von Koriander entstehe dabei vor allem durch den Duft bestimmter Aldehyde. Einzelne Geruchsrezeptoren können zwar durch erbliche Faktoren unterschiedlich empfindlich sein, genetisch vererbt ist

die Bewertung von Gerüchen allerdings nicht. „Ob wir einen Geruch bzw. Geschmack dann als eher positiv oder negativ empfinden, entscheiden wir erst im Gehirn, wo Geschmacks- und Geruchsinformationen verarbeitet und mit früheren Erfahrungen und Gefühlen abgeglichen werden“, so Behrens. Die geografische auffällige Verteilung von Lakritz-Fans müsse kulturelle Gründe haben, denn genetische Unterschiede zwischen

Die Facebook-Seite „Ich hasse Koriander“ hat über 285.000 Fans. Nord- und Süddeutschland sind nicht bekannt. Die für die Lakritzproduktion benötigte Süßholzpflanze kam überwiegend auf dem Seeweg aus dem Orient nach Europa und war daher fernab von Seehandelswegen sehr viel seltener zu bekommen. Im Fall Lakritz könne man also eher von einer positiven Gewöhnung sprechen. „Die Chancen, dass Eltern ihre Kinder auf positive Art und Weise an Geschmäcker heranführen, ist bei Speisen, die sie selbst gerne mögen, natürlich sehr viel höher als bei Dingen, die ihnen selbst nicht schmecken”, so Behrens.

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RÄTSEL

LESERPOST & MEINUNGEN

Der 20-Euro-Schein Hallo, gerade komme ich von meinem Getränkeeinkauf zurück und bemerke, wie die zwischenmenschlichen Kleinigkeiten die etwas deprimierende Zeit in ein helleres Licht setzen. Zur Geschichte: Nachdem ich die Getränkekisten ins Auto geladen habe, bringe ich den Einkaufswagen zurück. Dort steht eine junge Frau mit den bodo-Zeitschriften. Ich schaue auf das neue Titelblatt und greife zu meiner Geldbörse, stelle aber fest, dass kein passendes Kleingeld darin ist und als kleinster Geldschein „nur“ ein 20-Euro-Schein. Ich frage die Verkäuferin, ob ich eine Zeitschrift damit bezahlen kann. Die junge Frau verneint dies. Ich sage Ihr, dass ich in meiner Parkgelddose im Auto nach passendem „Kleingeld“ nachschauen werde. Die Parkgelddose ist aber schon bis auf wenige Cent durch Parkgelage geplündert. Also entscheide ich mich, zurück in den Getränkemarkt zu gehen und dort zu wechseln. Dort aber schreckt mich die lange Schlange vor der Kasse. Ich gehe unverrichteter Dinge zum Auto und will schon losfahren, als die junge Frau an die Seitenscheibe klopft. Sie hatte mich wohl beobachtet und sich entschieden, mir diese Zeitschrift zu schenken. Dankend nehme ich die Zeitschrift an. Einen Augenblick sitze ich noch im Auto und gehe dann wieder zur jungen Frau zurück. Ich bedanke mich noch einmal und möchte ihr den 20-Euro-Schein ohne Rückgeld geben, aber sie will das Geld nicht annehmen. Auch nach ein paar gutgemeinten Erklärungen meinerseits schlagen meine Bemühungen, den Schein in ihre Geldbörse zu bekommen, fehl. Nun sitze ich hier mit der Zeitschrift, meinen 20 Euro und einer schönen Erinnerung. Viele Grüße an alle bodo-Verkäufer, A. G.

Gewalt gegen Obdachlose

AUFLÖSUNG HEFT 05.21

In den Ruhr Nachrichten las ich erst von dem Schlafplatz einer obdachlosen Frau in Dortmund, der gebrannt hat. Wenige Tage später dann von einer Gruppe, die schlafende Obdachlose nachts überfallen und dabei gefilmt hat. Beim Googeln dazu stoße ich auf Berichte, auch von bodo, von weiteren furchterregenden Taten.

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Schreiben Sie uns: redaktion@bodoev.de Telefon: 0231 – 950 978 0


Noch wird am Schauspielhaus Bochum ausschließlich digital gespielt. Das Straßenmagazin gibt es dank Chris in analoger Form. Unsere VerkäuferInnen freuen sich darauf, wenn Fußgängerzonen und Kulturorte wieder lebendige Verkaufsplätze des Straßenmagazins werden. Foto: Sebastian Sellhorst

Bücher schaffen Stellen

Immer Angst haben zu müssen, dass jemand nach einem tritt, kann man sich gar nicht ausmalen. Dass es trinkende oder psychisch kranke andere Obdachlose sein können, ist schlimm. Dass es aber auch „normale Leute“ sein können, die sich einen Spaß daraus machen, lässt einen fast verzweifeln. Ich hoffe, dass die Dortmunder Polizei die Täter fasst und dabei auch Ehrgeiz hat. Und ich hoffe für jeden, dass er es runter schafft von der Straße. Es ist gefährlich, ohne Wohnung zu sein. Danke für eure Arbeit, S. W.

bodo 05.21

Olaf Scholz im Interview Ich finde es gut, dass Ihr die Kanzlerkandidaten interviewt (Ihr hattet ja noch auf Habeck gesetzt, tja), und dass die sich von Straßenzeitungen kritische Fragen stellen lassen. Herr Scholz zeigt die bekannte Arroganz, das Desinteresse für Wohnungslose und das erwartbare Menschenbild, wenn sein wichtigstes Argument gegen das bedingungslose Grundeinkommen die angebliche Faulheit der Menschen ist. Schade ist, dass Ihr ihn durchkommen lasst mit der gespielten Empörung über die Ausbeutung von Saisonarbeitskräften. Noch zwei Wochen bevor Euer Heft erschien, entschied seine SPD mit dem Regierungspartner CDU/CSU und der AfD, dass SaisonarbeiterInnen 102 Tage (!) ohne Sozialversicherung arbeiten dürfen statt bisher 70. Es lebe die „Arbeiterpartei“ und der deutsche Spargel. Solidarische Grüße, S. G.

Buchladen Dortmund Schwanenwall 36 – 38 44135 Dortmund Mo. – Fr. 10 bis 18 Uhr Sa. 10 bis 14 Uhr Buchladen Bochum Königsallee 12 44789 Bochum Mo. – Fr. 14 bis 18 Uhr Sa. 10 bis 14 Uhr Online stöbern: bodoev.shopnetzwerk.com

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VERKÄUFERGESCHICHTEN

Als wir Kudlip das erste Mal in unserer Bochumer Anlaufstelle trafen, war der gebürtige Inder wohnungslos und frustriert von seiner erfolglosen Wohnungssuche. Seitdem ist viel passiert. Nun hat uns der bodo-Verkäufer auf einen Tee in seine neue Wohnung in Wiemelhausen eingeladen. Text und Fotos: Sebastian Sellhorst

„Endlich wieder selber kochen“ Als wir bei Kudlip ankommen, winkt er uns schon aus dem Fenster entgegen. Seit vier Monaten wohnt er jetzt in der kleinen Wohnung im Erdgeschoss, die ihm eine bodo-Leserin vermittelt hat: Ein kleines Schlafzimmer, eine große Küche und sogar ein direkter Zugang zum Garten. Während Kudlip uns auf einer kleinen elektrischen Herdplatte einen Tee aus schwarzem und grünem Tee, Ingwer und Fenchelsamen zubereitet, erzählt er davon, wie sehr ihm die eigenen vier Wände gefehlt haben. Das eigene Bett und die Tür, die man hinter sich abschließen kann, seien natürlich das Wichtigste, aber es gehöre viel mehr zur eigenen Wohnung. „Wenn du keine eigene Wohnung hast, dann hast du meist kein Internet, kannst kein Fernsehen schauen und bekommst einfach nicht mit, was in der Welt passiert“, erzählt er. Der Nachrichtensender aus seiner indischen Heimat laufe jetzt fast durchgehend, wenn er zu Hause ist. Natürlich könne man sich auch eine Zeitung kaufen. „Aber das macht man dann meist doch nicht, wenn das Geld knapp ist.“

bist, wann du isst. Es gibt einen festen Zeitpunkt, an dem du Essen bekommst. Wenn du dann nichts isst, hast du abends Hunger oder musst dir was in der Stadt kaufen, also schlägst du dir mittags den Magen voll, egal ob du hungrig bist oder nicht“, erinnert er sich. Jetzt kocht Kudlip wieder, was und wann er will.

Am meisten genieße er aber die Möglichkeit, endlich wieder für sich zu kochen. Seit einer schweren Herzoperation achtet er sehr auf seine Gesundheit und die Ernährung. „Das Essen, das man in der Suppenküche bekommt, ist an den meisten Tagen wirklich in Ordnung. Das Problem ist aber, dass du total unflexibel

„Einen richtigen Herd habe ich noch nicht. Aber wenn man ein bisschen trickst, kommt man auch mit einer Herdplatte schon gut zurecht“, erzählt er. Viele Zutaten, die er für traditionelle indische Gerichte brauche, bekomme man mittlerweile sogar in Drogeriemärkten. „Das meiste kaufe ich aber im indischen Supermarkt in der Bochumer Innenstadt, weil es dort billiger ist.“ Kochen hat er bei seiner Großmutter gelernt. „Nicht, dass sie mir das beigebracht hat, aber ich habe als Kind die meiste Zeit bei ihr verbracht und immer in der Küche gespielt, wenn sie gekocht hat. Und dann schaut man halt zu und lernt automatisch.“ Aus der Zeit stamme auch sein Lieblingsgericht. Selbstgebackenes Maisbrot mit „Punchmail Bhaji“, einer Art Gemüsegulasch. „Wenn man in Deutschland Curry oder andere indische Gerichte isst, dann ist es meist einfach nur scharf, aber schmeckt nach nichts“, beklagt er. „Meine Oma hat immer gesagt: ,Jedes Gewürz muss einzeln mit dir sprechen.‘“ Ganz wichtig sei darum, eher weniger Gewürze als zu viele zu verwenden und nicht mit Gewürzmischungen zu arbeiten. Ghee statt Erdnuss- oder Kokosöl lasse den Gewürzen mehr Raum, empfiehlt er. Was alles ein gutes Curry ausmacht? „Das kann man aber nicht an einem Tag erklären“, lacht er. „Das nächste Mal, wenn Ihr vorbei kommt, hab ich einen Herd und koche für euch“, verabschiedet er uns.

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Anzeige Arbeiterwohlfahrt Bezirksverband Westliches Westfalen e.V.

Martin Kaysh schreibt für die Arbeiterwohlfahrt

Meine Universitätskarriere, als Student, begann mit einem Übergriff. Der Dozent, er würde sich immer als linksliberal bezeichnen, verteilte einen Fragebogen an uns angehende Germanist*innen. Wofür man monatlich mehr ausgebe? Für a. Schallplatten (ja, länger her), b. Kino oder c. Bücher. Mein Tag war gelaufen, der Mann für mich und für immer erledigt. Spontan strich ich seine Auswahl durch und schrieb fett daneben: a. Miete b. Lebensmittel c. Auto. Ja, länger her, das Studiticket war noch nicht erfunden. Das Fressen kommt bekanntlich vor der Moral, Wohnen auch. Da denke ich nicht nach, da drehe ich durch, immer, wenn etwas so von oben herab kommt, gleich wo ich selbst stehe. Solch halbspöttische, vermeintlich besser gestellte Grundhaltung nervt gerade auch in der Politik. „Klassismus“ ist das Stichwort. „Diskriminierung gegenüber einer Person aufgrund ihrer Herkunft aus einer bestimmten sozialen Klasse“, sagt die Definition. Die Klasse der oberen Zehntausend ist dabei nie gemeint. Wer da so öffentlich, achtsam gegenüber Mensch und Natur, publiziert, facebookt und politisiert, grün und auch gerecht, zeigt nicht mehr mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die Klasse der „die da“. Man hat halt Stil oder zumindest Style. Die da Martin Kaysh (Geierabend) schreibt jeden Monat in bodo für die AWO.

sind dabei die Schweineschnitzelesser, KiK-Käufer und Genitivnichtnutzer. Man braucht sie, auch um sich selbst in seinem sozioökonomischen Niemandsland zu unterscheiden. Motto:

Sie Mitglied Werden auch in der AWO! eder die AWO li g it M r h e m Je hr kann sie in hat, desto me ft bewirken. der Gesellscha en nn sie Mensch Desto eher ka fe brauchen. helfen, die Hil ww.de e • www.awo.d w w oaw info@

Mein Geschmack, denn mehr ist meine Weltanschauung nicht, mein Geschmack ist allein der Unterschied zum schlechteren der Anderen. Kurz vor Beantwortung der berühmten Sonntagsfrage appelliert man noch mal (zwinker, zwinker) an die moralische Pflicht zur Wahlbeteiligung. Abends, nach 18 Uhr, wundert man sich dann, wenn die Angesprochenen zwar brav ihr Kreuzchen gemacht haben, aber leider bei einer Partei, die Schnitzel lobt und Diesel preist und Fremde hasst.

Unterbezirk Dortmund

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Klosterstraße 8-10 • 44135 Dortmund 0231 - 99 340

Bleichstraße 8 • 44787 Bochum 0234 - 96 47 70

Unnaer Straße 29a • 59174 Kamen 02307 - 91 22 10 47


Dr. Ute Kaufmann Pädagogische Leitung

Wiebke Dahlhaus Koordination & Kundenbetreu ung für Bochum

Annika Seebach Koordination & Kundenbetreuung für Dortmund

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