Konferenz

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Mit dem Wissen von heute über die Brücke der Vergangenheit Zukunft gestalten

Tudományos konferencia előadásai

Bleyer Jakab Helytörténeti Gyűjtemény

ISBN

978-615-80542-9-4
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Dr. Kathi Gajdos-Frank

Direktorin, Jakob Bleyer Heimatmuseum

Zum Geleit

Mit dem Wissen von heute über die Brücke der Vergangenheit Zukunft gestalten

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Die wissenschaftliche Tagung zu 300-Jahre-Ansiedlung am 21-22. September in Wudersch – organisiert vom Jakob Bleyer Heimatmuseum und von der LdU – hat Frau Botschafterin der Bundesrepublik Deutschland, Ihre Exzellenz Julia Gross eröffnet, Grußworte hielten Frau Vorsitzende der LdU Ibolya Hock-Englender und Bürgermeister der Stadt Wudersch, Tamás Wittinghoff. Die Grußworte von Frau Hock-Englender hat wegen ihrer Covid-Erkrankung Frau Olivia Schubert, stellvertretende Vorsitzende der LdU, Vizepräsidentin der FUEN überreicht. Wir hörten dann spannende Vorträge von hochkarätigen Experten: die Vortragenden - am 21. September Prof. Dr. Marta Fata, Dr. habil Maria Erb, Dr. habil Zsolt Vitári, Tamás Szalay, Klaus J. Loderer und Dr. Peter Schweininger, am 22. September Katalin Bachmann, Gabriella Jaszmann, Vachajáné Szilvia Kisgyőri und Zsófia Herz-Topál - konnten verschiedene Aspekte und neue, spannende Erkenntnisse um den Themenkomplex der Ansiedlung der Deutschen in Ungarn vor über 300 Jahren beleuchten. Die Veranstaltung – am 21. September im Matthias-Schmidt-Saal (Rathaus), am 22. September im Jakob Bleyer Heimatmuseum - war gut besucht, registriert haben sich mehr als 115 Gäste, darunter auch Jugendliche und auf der Facebook-Seite des Heimatmuseums besuchten mehr als 300 Personen die Veranstaltung online. Hiermit möchte ich mich bei der LdU für ihre Unterstützung, bei den Vortragenden für ihre wertvolle Arbeit, bei Frau Erika Hambuch für das Dolmetschen und bei dem Heimatmuseum-Team für ihren ganzen Einsatz von Herzen bedanken!

Die Herausgabe der Referate in diesem virtuellen Tagungsband bereichert uns mit authentischen Kenntnissen über die Geschichte der deutschen Volksgruppe in Ungarn. „Es liegt an uns allen, wie es weitergeht” (Zitat von Frau Dr. habil Maria Erb)

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Prof. Dr. Márta Fata

Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde, Tübingen

Alte und neue Paradigmen der Migrationsforschung am Beispiel der deutschen Einwanderer in Ungarn

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Wenn man über die Deutschen in Ungarn forscht, darf man eines der wesentlichsten Merkmale dieser ethnisch-sprachlichen Gruppe nicht außer Acht lassen, nämlich dass sie durch Migration entstanden ist. Im 19. Jahrhundert, als die weltweite Migration unter anderem von deutschen Nationalökonomen wie Friedrich List oder später von Gustav Schmoller nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in politischer und kultureller Hinsicht als bedeutsam eingestuft wurde, rückten auch die Ungarndeutschen in den Mittelpunkt der Betrachtungen. Die Bewertung der Aus- und Einwanderung stand in den deutschsprachigen Schriften unter der Dichotomie von Verlust und Gewinn für die Entwicklung des eigenen Landes. Dabei handelte es sich keineswegs um eine neue Betrachtungsweise von Migrationsbewegungen, denn die Gewinn- und Verlustrechnung war bereits im Sinne des in der Frühen Neuzeit vorherrschenden Merkantilismus integraler Bestandteil der Politik der Landesfürsten wie auch der Auswanderer. Im Zusammenhang mit den nationalökonomischen Überlegungen kam im späten 19. Jahrhundert jedoch auch eine stark nationalchauvinistische Sichtweise der Aus- und Einwanderung auf. Diese hielt sich und verstärkte sich nach dem Ersten Weltkrieg als Folge der territorialen Neuordnung Europas, die in gewisser Weise selbst von einer politischen Dichotomie von Verlust und Gewinn beherrscht war.

In Ungarn wurde die deutsche Einwanderung seit dem Ende des 19. Jahrhunderts sowohl als wichtiger Beitrag zur Entwicklung Ungarns als auch als gegen die Ungarn gerichtete Germanisierungspolitik der Habsburger dargestellt. Diese beiden grundlegend gegensätzlichen Ansätze der ungarischen Geschichtswissenschaft blieben bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts bezeichnend.

Im Gegensatz dazu verfolgten die Deutschen in Ungarn vor und nach dem Ersten Weltkrieg ein Narrativ, das sowohl ihren wirtschaftlichen als auch ihren kulturellen Beitrag für die Aufnahmegebiete betonte. Dieses Narrativ variierte zwischen der zivilisatorischen Vorreiterrolle der Deutschen, wie sie der Schriftsteller Adam Müller-Guttenbrunn um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert beschrieb, und einer Art Verflechtungsgeschichte, wie sie der Germanist Jakob Bleyer in der Zwischenkriegszeit entwarf. Bleyers wegweisender migrationsgeschichtlicher Ansatz, der deutsche, ungarndeutsche und ungarische Historiker sowie Heimatforscher zu integrieren suchte, wurde nach seinem Tod 1933 nicht weiter verfolgt.

Die wirtschaftliche Rolle der deutschen Siedler wurde erst in den 1970er Jahren im Rahmen der Forschungen über die Entwicklung der ungarischen Landwirtschaft im 18. Jahrhundert wieder thematisiert. Obwohl diese Rolle durchaus positiv bewertet wurde, konnte die Einwanderung und Ansiedlung der Deutschen nicht zu einem eigenständigen Forschungsthema innerhalb der ungarischen Geschichtsforschung werden. Migrationsfragen des 18. Jahrhunderts blieben auch nach dem Systemwechsel am Rande des Forschungsinteresses. So ist es nicht verwunderlich, dass viele Fragen zur Rolle der Deutschen bis heute nur unzureichend beantwortet werden können. Und dies ist zugleich ein Grund dafür, warum im Geschichtsbewusstsein der deutschen Minderheitengruppe

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ein sehr schematisches Bild von Einwanderung und Ansiedlung vorherrscht.

Im Folgenden möchte ich anhand von drei Beispielen drei mögliche Zugänge zum Thema Zuwanderung und Ansiedlung aufzeigen, die der Forschung methodisch und thematisch neue Wege eröffnen können.

I. Die deutsche Einwanderung im globalhistorischen Kontext

Die Einwanderung der Deutschen in Ungarn wurde bisher als eine von den frühneuzeitlichen Wanderungsbewegungen losgelöste Geschichte dargestellt. Eine europäische oder gar globalgeschichtliche Perspektive, die das Migrationsgeschehen in einen größeren zeitlichen und territorialen Kontext stellt, kann diese Darstellung relativieren und den Stellenwert der Migration nach Ungarn besser beleuchten.

Bekanntlich legten die ungarischen Stände dem König auf dem Landtag von 1722/23 unter anderem zwei Gesetzesvorschläge zur Erhöhung der Zahl der landwirtschaftlichen und handwerklichen Arbeitskräfte vor. Zum einen baten die Stände König Karl III. um die Erlaubnis, Menschen ins Land zu rufen und sie durch Privilegien wie die Befreiung von öffentlichen Abgaben zu fördern. Gleichzeitig wünschten die Stände, dass der König als römisch-deutscher Kaiser diese Einladung mit Zustimmung der Reichsstände auch im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation bekannt mache.

Mit den von Karl III. sanktionierten Gesetzesartikeln wurde eine bereits seit Ende des 17. Jahrhunderts praktizierte Vorgehensweise festgeschrieben, dem Arbeitskräftemangel durch Zuwanderung aus dem Ausland zu beheben. Die Nachricht von der Befreiung Ofens von den Osmanen im Jahre 1686 löste eine spontane Einwanderungswelle aus den deutschen Erblanden der Habsburger und anderen Fürstentümern des römisch-deutschen Reiches aus. Diese Migration lenkte die Aufmerksamkeit der geistlichen und weltlichen Grundherren auf die Vorteile der Einwanderung, und einige von ihnen begannen durch ihre Agenten gezielte Anwerbungen in Schwaben.

Unter den Grundbesitzern ist der einflussreiche Politiker Sándor Károlyi aus Szatmár hervorzuheben. Als Vorsitzender von zwei Unterkommissionen der 1715 zur Neuordnung des Landes eingesetzten Systematica Commissio war er maßgeblich an der Ausarbeitung des Entwurfs für die Verwaltungs-, Wirtschafts- und Militärreform beteiligt, den die Kommission 1722 dem Landtag vorlegte. Ausgehend vom Einrichtungswerk, einem zwischen 1688 und 1690 unter der Leitung von Leopold Kollonich, dem Präsidenten der ungarischen Hofkammer und Bischof von Raab, erarbeiteten Plan, der umfassende Vorschläge zur Neuordnung des Königreichs Ungarn enthielt, sah Károlyi zwei Wege zur Wiederbelebung der Wirtschaft: die Binnenwanderung der eigenen Untertanen innerhalb des Landes und die Einwanderung von Fremden. Károlyi wie auch die Stände waren allerdings der Ansicht, dass die beste Lösung die Zuwanderung sei, die dem Land neue und qualifizierte Arbeitskräfte zuführe.

Die organisierte Form von Gruppeneinwanderungen war im Europa der Frühen Neuzeit

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eine gängige Praxis. Die theoretischen Grundlagen dafür legte bereits der italienische Autor Giovanni Botero im 16. Jahrhundert, der in der Bevölkerungszahl die Basis für fürstliche Macht sah, da das Bevölkerungswachstum dem Staat militärische Stärke und Steuereinnahmen verschaffte.

Dieses staatstheoretische Konzept fand im von Religionskriegen zerrissenen Europa schnell Anklang. Im römisch-deutschen Reich nahmen die Fürsten seit dem 16. Jahrhundert regelmäßig Flüchtlinge der eigenen Konfession auf und stärkten damit einerseits die konfessionelle Einheit und andererseits die Wirtschaftskraft des Staates. Als jedoch der Dreißigjährige Krieg (1618-1648) in Teilen des Reiches zu einer demographischen Krise führte, entsprach die Ausgrenzung andersgläubiger Zuwanderer nicht mehr den wirtschaftlichen Erfordernissen. Vor allem in den protestantischen Fürstentümern verbanden sich wirtschaftliche Interessen des Staates zunehmend mit Toleranz. Im lutherischen Brandenburg-Preußen etwa nahm der reformierte Kurfürst Friedrich Wilhelm zwischen 1685 und 1688 rund 20.000 Hugenotten (aus Frankreich geflohene Calvinisten) auf, um Manufakturen zu gründen und die Landwirtschaft zu heben.

In den meisten Ländern diente die organisierte Einwanderung bis zum Ende des 18. Jahrhunderts der Stärkung der herrschenden Staatsreligion. Im Königreich Ungarn war die Religionszugehörigkeit der Einwanderer für die meisten weltlichen Grundbesitzer angesichts des großen Arbeitskräftemangels allerdings nicht von vorrangiger Bedeutung. Selbst Kollonich, der die gewaltsame Ausbreitung der römisch-katholischen Religion befürwortete,schlug im Einrichtungswerk vor,neben katholischen auch evangelische Deutsche einwandern zu lassen. Im Interesse der inneren Sicherheit der Habsburgermonarchie und der Selbstbestimmung des Herrscherhauses siedelte die Wiener Regierung jedoch bis zum Toleranzpatent von 1781 nur katholische Deutsche in den ungarischen Staats- und Kameralgütern an.

Neben dem staatstheoretischen Konzept entwickelte sich seit Beginn des 18. Jahrhunderts ein merkantilistisches Verständnis von Bevölkerungspolitik. Der Merkantilismus als ein handelsorientiertes Wirtschaftskonzept basierte auf der Annahme der Begrenztheit monetärer und natürlicher Ressourcen. Weder Geld noch Rohstoffe sollten demnach das eigene Land verlassen, sondern auf Kosten anderer Mächte vermehrt werden. Im römisch-deutschen Reich und damit auch in der Habsburgermonarchie, aber auch in anderen europäischen Ländern wie etwa Schweden, Dänemark oder Russland bildete sich der Kameralismus als eine Variante des Merkantilismus heraus, der neben der Steuer-, Gewerbe- und Handelspolitik auch die Verwaltungs- und Bevölkerungspolitik umfasste. Führende Kameralisten wie Johann Heinrich Gottlob von Justi definierten in der zweiten Jahrhunderthälfte die gemeinsame „Glückseligkeit” von Staat und Untertanen als oberstes Ziel. Die Maximierung dieses Wohlstands im weitesten Sinne war neben einer guten Regierung vor allem durch Bevölkerungswachstum zu erreichen: Die Maxime lautete: Je dichter ein Land besiedelt ist, desto reicher ist es, denn Bevölkerungswachstum regt den Konsum und damit die Produktion an, was letztlich die Macht des Staates erhöht.

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Vor allem nach dem Siebenjährigen Krieg (1756-1763), der wegen seiner territorialen Ausdehnung auch als Erster Weltkrieg bezeichnet wird, wurde die Bevölkerungsdichte zu einem wichtigen Kriterium für den allgemeinen Zustand von Staaten. Da der Krieg in Europa erhebliche materielle und personelle Ressourcen vernichtet hatte, reagierten die Staaten vor allem dort, wo es noch viel ungenutztes Ackerland und keine intensive Landwirtschaft gab, mit der Ansiedlung von Ausländern. Insbesondere Brandenburg-Preußen und die Habsburgermonarchie verfolgten diese Politik konsequent und konkurrierten miteinander um die Ansiedlung von Kolonisten. Einer der Schauplätze dieser Konkurrenz war Ulm, wo zeitweise habsburgische, preußische und russische Anwerber gleichzeitig tätig waren. In Brandenburg-Preußen setzte Friedrich II. nach dem Siebenjährigen Krieg die groß angelegten Arbeiten seiner Regierung und die seiner Vorfahren zur Flussregulierung und Moorentwässerung und die damit verbundene Ansiedlung von Kolonisten fort. Man schätzt, dass Brandenburg-Preußen zwischen 1640 und 1786 durch mindestens 500.000 Einwanderer bereichert wurde. In Ungarn siedelten sowohl der Staat (die Wiener und die Ungarische Hofkammer) als auch private Grundbesitzer Einwanderer an. Im Vergleich zu den privaten Ansiedlungen waren die staatlichen Ansiedlungen freilich immer besser organisiert und großzügiger, insbesondere ab den 1760er Jahren. Die von Maria Theresia 1772 in Auftrag gegebene Ansiedlungsinstruktion fasste in nicht weniger als 103 Punkten nicht nur die gesammelten Erfahrungen der Verwaltung zusammen, sondern bildete auch die Grundlage für die großzügige und damit auch kostspielige, in Europa nahezu einzigartige Ansiedlungsmethode Josephs II. In der Forschung wird die Gesamtzahl der im 18. Jahrhundert nach Ungarn eingewanderten Siedler auf etwa 400.000 Personen geschätzt.

In den 1760er Jahren begannen neben Brandenburg-Preußen und der Habsburgermonarchie auch andere Staaten fast zeitgleich mit der Kolonisation, und überall wurde mit deutschen Einwanderern gerechnet. In Russland erließ Zarin Katharina II. 1763 ein Einwanderungsmanifest, und bis 1774 wanderten über 30.000 Deutsche nach Russland ein. In Dänemark versuchte Friedrich V. 1759/60 mit 4.000 deutschen Siedlern Ödland und Moor in Jütland in fruchtbares Ackerland zu verwandeln. Karl III. von Spanien siedelte 1767/68 über 7.000 katholische deutsche Einwanderer in den Tälern der Sierra Morena in Spanien an, um in dem fast unbewohnten Gebiet Ackerbau, Viehzucht und Handwerk zu betreiben. Auch Frankreich warb 1763/64 deutsche Siedler für seine südamerikanische Kolonie Guyana an. Die Deutschen entschieden sich jedoch eher für die englischen Kolonien in Nordamerika, wo die Zahl der deutschen Einwanderer 1776 etwa 100.000 erreichte.

Im Spiegel dieser Zahlen kann festgestellt werden, dass Ungarn im 18. Jahrhundert wahrscheinlich das zahlenmäßig bedeutendste Ziel deutscher Auswanderer war. Dies lag nicht nur an der geographischen Nähe, sondern auch daran, dass die habsburgischen Herrscher als ungarische Könige und (mit kurzer Unterbrechung) römisch-deutsche Kaiser das personelle Bindeglied zwischen den beiden Territorien darstellten.

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Ein wichtiger Gesichtspunkt für die Einwanderungsgebiete war, dass die Migranten über die gewünschten wirtschaftlichen und kulturellen Fähigkeiten verfügten und offen für die neuen Lebensumstände waren. Die wichtigsten Auswanderungsgebiete waren die westund süddeutschen Territorialstaaten, in denen die europäischen Länder im 18. Jahrhundert über ihre Agenten um Arbeitskräfte konkurrierten. Die Agenten zogen durch die Dörfer und Kleinstädte und versuchten in Zusammenarbeit mit den örtlichen Gastwirten und Bürgern, sich gegenseitig zu überbieten, um die Auswanderung in ihre Heimatländer zu fördern. Die deutschen Landesfürsten konnten die Auswanderung nicht wirksam bekämpfen. Obwohl sie den Verkauf von Grundstücken untersagten, das Vermögen illegaler Auswanderer beschlagnahmten und die Auswanderungssteuern erhöhten, war die Auswanderung nicht aufzuhalten. Nicht nur die stellenweise Zersplitterung der bäuerlichen Betriebe oder fehlende Arbeitsmöglichkeiten trieben viele Menschen zur Auswanderung, sondern auch die Hoffnung, im Ausland ein besseres Auskommen zu finden.

Eine weiterführende Forschungsfrage wäre: Wie gingen die Auswanderer bei der Auswahl ihrer Auswanderungsziele vor? Was wussten sie über das eine oder andere Auswanderungsgebiet?

II. Auswanderer und Zuhausegebliebene

Die Forschung hat sich bisher fast ausschließlich mit den Auswirkungen von Migration im Zuwanderungsgebiet beschäftigt. Die Folgen im Abwanderungsgebiet blieben dagegen weitgehend unberücksichtigt. Im Folgenden soll daher die Perspektive der Zurückgebliebenen betrachtet werden.

Die Auswanderung bedeutete sowohl für die Auswanderer als auch für die Daheimgebliebenen einen radikalen Einschnitt in ihr Leben. Aus den Kirchenbüchern geht hervor, dass die Auswanderer oft in einem feierlichen Gottesdienst in die Fremde verabschiedet wurden. Im Jahr 1737 nahm der katholische Pfarrer Josef Frei in Untermettingen im Kreis Stühlingen Abschied von 66 Auswanderern mit den Worten: „Civili morte obierunt et abierunt”. Sein Eintrag im Kirchenbuch, dass die Auswanderer nun für die Heimat gestorben seien, ist gelegentlich auch in Auswandererbriefen dokumentiert. Die Daheimgebliebenen schlossen die Auswanderer wie ihre Verstorbenen in ihre Gebete ein. So schrieb Magnus Braun aus Herbertingen im Kreis Friedberg-Scheer an seinen Bruder Lorenz Braun, der 1785 nach Frauenbach ausgewandert war: „Wir wollen füreinander beten“, schrieb er, „dass wir zusammenkommen in dem Him[m]el, unserm gemeinsamen Vaterlande“. Andere Quellen belegen jedoch, dass die Beziehungen zwischen den Ausgewanderten und Zuhausegebliebenen in vielen Fällen keineswegs abrupt endeten. Die meisten Auswanderer führten mit ihren zurückgebliebenen Familienmitgliedern und Verwandten noch eine Zeit lang eine rege Korrespondenz. Grund dafür war die Regelung der Vermögensund Erbschaftsangelegenheit. Der Erlös aus den Immobilien der Auswanderer und

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die Auszahlung des ihnen zustehenden Erbes sollten die schwierige Anfangsphase der Ansiedlung überbrücken helfen oder in den Erwerb von Ackerland, Zug- und Nutztieren am Einwanderungsort investiert werden. Die Daheimgebliebenen erschwerten häufiger die Auszahlungen, so kam es oft zu langwierigen Verhandlungen. Dabei spielten nicht nur die individuellen Familienverhältnisse, sondern auch die Umstände der Auswanderung eine Rolle. Und da der Geldabfluss ins Ausland in den kameralistischen Staaten in der Regel als Verlust angesehen wurde, unterlag der Transfer einer strengen Kontrolle und Regulierung auch durch die Obrigkeit.

Wie die überlieferten Quellen belegen, gehörte ein nicht unerheblicher Teil der Auswanderer den besser gestellten Bevölkerungsschichten an, zumal im Einwanderungsgebiet häufig ein Mindestvermögen vorgeschrieben war. Konnte oder durfte Grundbesitz vor der Auswanderung nicht veräußert werden, so wurde das Land entweder verpachtet oder erst später verkauft bzw. versteigert. Nicht selten wurde nur ein Teil des Kaufpreises bar ausbezahlt, während der andere Teil vom Käufer in Raten mit Zinsen bis zu einem festgelegten Termin abgezahlt werden musste. Auch im Erbfall kam es häufig vor, dass der Erlös dem Auswanderer, wenn sein Aufenthaltsort nicht sofort ausfindig gemacht werden konnte, für eine bestimmte Zeit gegen Zins in der Heimat geliehen wurde. Pacht und Erlös wurden von Verwandten oder von Amts wegen bestellten Personen verwaltet, bis der Auswanderer seinen Anspruch durch Urkunden nachwies oder auf sein Bürgerrecht verzichtete und die Entlassungs- und Verwaltungsgebühr entrichtete. Nicht selten kam es auch vor, dass Verwandte versuchten, den Erbteil für sich zu behalten, oder dass die Raten von den Schuldnern nicht eingetrieben werden konnten. Joseph Steib, der aus Immendingen der Herren von Schreckenstein nach Kakasd im Komitat Tolnau ausgewandert war, erbte 1764 von seinem Vater 37 Gulden, die bis 1793 verliehen und in Raten ausgezahlt werden sollten. Dies konnte er jedoch nur unter großen Schwierigkeiten in Erfahrung bringen, da seine Geschwister ihn darüber nicht informierten. Steib schrieb: „Ich glaube, daß sie der Meinung [sind], ich seye weit von ihnen entfernet, ich werde nimermehr zu ihnen kom[m]en etwas zu fordern“. Doch Steib hörte nicht auf, den ihm zustehenden rechtmäßigen Erbteil einzufordern. Allerdings war er schon wegen der dreißigjährigen Laufzeit der Auszahlung seines Erbteils der Meinung, dass „vieleicht ich undt meine Kinder die Zeit [der Auszahlung] nicht erleben kön[n]en“. Deshalb versuchte er, sich mit seiner am Auswanderungsort verbliebenen Schwester zu einigen. Er bot ihr an, auf 15 Gulden seines Erbteils zu verzichten, wenn sie bereit sei, ihm seinen Erbteil abzukaufen und ihm 22 Gulden in bar auszuzahlen. Im Laufe der Zeit ging Steib sogar so weit, auf die Hälfte seines Erbes gegen sofortige Auszahlung zu verzichten. Der Ausgang der Angelegenheit ist nicht bekannt.

Weitere Quellen aus dem Kurfürstentum Mainz belegen die Dynamik zwischen Gewinn und Verlust aus Sicht der Kirchengemeinden. Auf Ersuchen Kaiser Karls VI. erlaubte

Kurfürst Lothar Franz von Schönborn 1722 die Auswanderung nach Ungarn, zunächst für Untertanen mit einem Vermögen bis zu 100 Gulden. 1724 erging ein weiteres

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kurfürstliches Dekret, wonach Vermögen und Erbschaft der illegal Ausgewanderten eingezogen werden sollten. Das eingezogene Vermögen konnte bis zu einem Betrag von 100 Gulden für Zwecke der Pfarreien verwendet werden. Bereits 1724 baten die Dieburger Bürger darum, 100 Gulden aus dem konfiszierten Vermögen des illegalen Auswanderers

Johann Wöll verwenden zu dürfen. Sie benötigten das Geld dringend zur Reparatur ihrer „armen ruinösen Kirche“. In Vilbel dagegen brauchten die Einwohner die 80 Gulden des nach Ungarn ausgewanderten, aber bald wieder zurückgekehrten Nicolai Jakobi für den Bau ihrer Kirche. Jakobi hatte das Pech, dass er und seine Tochter ihre Mobilien vor dem Auswanderungsverbot, Haus und Äcker aber erst danach verkauften. Der Erlös von 236 Gulden aus Haus und Hof wurde daher konfisziert. Als Jakobi offenbar allein in die Heimat zurückkehrte, wurden ihm wegen seines hohen Alters nur 100 Gulden ex gratia ausgehändigt.

Für die Untersuchung der Auswirkungen von Auswanderung eignen sich besonders Orte, aus denen in kurzer Zeit eine größere Zahl von Menschen abgewandert ist. Als Beispiel soll die fürstenbergische Markstadt Trochtelfingen vorgestellt werden. Dort verließen im April und Mai 1786 insgesamt 28 Familien und drei ledige Männer ihre Heimat und wanderten nach Kirwa/Máriahalom im heutigen Komitat Komorn-Gran aus.

Trochtelfingen ein dem Fürsten von Fürstenberg gehörendes Städtchen war Sitz eines Obervogteiamts, zu dem neben Trochtelfingen und dem benachbarten Steinhilben auch die weiter entfernten Dörfer Melchingen, Salmendingen und Ringingen gehörten. In Trochtelfingen waren in den 1780er Jahren wie fast überall im südwestdeutschen Raum die meisten Grundstücke längst in bäuerliches Eigentum und die Frondienste in Abgaben umgewandelt – Tatsachen, die die Auswanderung erleichterten. Typisch war auch die gleichzeitige Beschäftigung der Einwohner in der Landwirtschaft und im Gewerbe. Wie der Pfarrer der Gemeinde notierte: „Die Professionen sind meist weiter nichts als eine kleine Nebenerwerbung.“ Doch dieser Nebenerwerb war zur Beschreitung des Lebensunterhaltes notwendig. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass unter den Auswanderungswilligen zwölf auch einen zusätzlichen Beruf hatten.

Betrachtet man die verkauften Immobilien, so wird sogar deutlich, dass nur zwei der Auswanderer ihren Lebensunterhalt ausschließlich als Bauern bestritten hatten: Joseph Freudemann verkaufte seinen Hof, der aus 12 ½ Jauchert (Joch) Acker und ¾ Jauchert Wiese bestand. Und als er schließlich auch sein Haus veräußerte, wurde auch ein Pferd mit Wagen verkauft. Der zweite Vollbauer Sebastian Braun verkaufte über 15 Jauchert Acker, mehrere Wiesen und ebenfalls ein für den Betrieb notwendiges Pferd. Johann Martin Hennes, der dritte Bauer mit über 10 Jauchert Acker, war gleichzeitig auch Leineweber. Beide Berufe konnte er aber anscheinend nicht mit Gewinn betreiben, denn als Grund für seine Auswanderung gab er seine Verschuldung an. Die meisten Auswanderer, die nur ein bis zwei Jauchert Acker und kleinere Wiesen- und Gartenstücke verkauften, erzielten den größten Teil ihres Einkommens durch den Verkauf ihrer Häuser oder Hausteile.

Den 19 ausgewanderten Verkäufern, die zwischen 1785 und 1787 in den Kauf- und

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Tauschbüchern verzeichnet sind, stehen 77 Käufer gegenüber, die mit einer Ausnahme alle ortsansässig waren. Die viermal so hohe Zahl der Käufer ist ein Indiz dafür, dass die Daheimgebliebenen bei einem Angebot von insgesamt etwa 50 Jauchert Ackern nicht groß zuschlagen konnten. Kleine und kleinste Teile von Äckern, Wiesen oder Gärten wurden gekauft, um den eigenen Besitz zu ergänzen, nicht um ihn wesentlich zu vergrößern. Nur in sechs Fällen waren direkte Nachbarn an den veräußerten Flächen interessiert, was wiederum darauf hindeutet, dass man sich mit der Besitzstruktur abgefunden hatte und nichts ändern wollte oder konnte. Die Aufnahme eines größeren Kredites für den Landkauf kam offenbar nicht in Frage. Ein größeres Risiko wollte oder konnte man nicht eingehen, da man bereits anderweitig Zinsen für Kredite zu zahlen hatte. In den meisten Fällen war man daher auch nicht in der Lage, den vollen Kaufpreis bar zu bezahlen. In den allermeisten Fällen wurde eine Ratenzahlung von zwei bis drei Jahren mit 30 bis 50 Gulden Zinsen vereinbart. Es gibt auch Fälle, in denen Garten und Wiese erst von Kirwa aus verkauft wurden. Über die Gründe schweigen sich die Akten aus. Nachdem aber in den Jahren 1786/87 Familien auch aus den Dörfern des Obervogtamtes sowie aus den hohenzollerischen Nachbargemeinden Hörschwang und Mägerkingen ausgewandert waren, dürfte das plötzlich größere Angebot auf die Preise gedrückt haben, weshalb man vielleicht mit dem Verkauf noch etwas warten wollte.

In Trochtelfingen scheint das Interesse an den angebotenen Gärten, Häusern und Hausteilen in der Vorstadt größer gewesen zu sein als an den Ackerflächen. Am Hauskauf waren Verwandte, Miteigentümer und andere Ortsbewohner gleichermaßen beteiligt. Beim Verkauf wurden in mehreren Fällen auch Bedingungen ausgehandelt. So kam es mehrfach vor, dass den im Haus verbliebenen alten Eltern ein lebenslanges Wohnrecht in einer der für sie bestimmten Stuben und eine ebenfalls lebenslange Versorgung mit Holz vertraglich zugesichert wurde. Ob die Käufer das Haus oder Teile davon selbst nutzen oder für ihre Kinder vorsorgen wollten, geht aus den Quellen nicht hervor. Nur in einem Fall ist belegt, dass ein lediger Weißgerber ein Haus erwarb, um eine eigene Familie gründen zu können. Nach den überlieferten Quellen wurden in Trochtelfingen Höfe, Häuser und Grundstücke im Wert von rund 9.354 Gulden erworben. Dem standen nach eigenen Angaben 7.300 Gulden gegenüber, die die Auswanderer nach Begleichung ihrer Schulden und Abgaben ausführten, und mehrere hundert Gulden, die sie den Daheimgebliebenen schuldeten. Setzt man das durch die Auswanderung in Bewegung gesetzte Kapital und die Menge an Grund und Boden ins Verhältnis, so muss festgestellt werden, dass hier sowohl auf Seiten der Auswanderer als auch auf Seiten der Daheimgebliebenen Klein- und Kleinstbesitzer miteinander Geschäfte machten.

Aus Sicht der Forschung wäre es wichtig, die wirtschaftlichen Faktoren der Auswanderung stärker in den Vordergrund zu rücken und die Rolle der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Auswanderern und den Zurückbleibenden zu untersuchen.

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III. Die Landschaftsnutzung der Kolonisten am Beispiel des Banats

Als Teil des Osmanischen Reiches erfuhr das Temeswarer Banat zwischen 1552 und 1717 bedeutende Veränderungen. Mit der Abwanderung der ungarischen Bevölkerung veränderte sich nicht nur die Bevölkerungszahl, sondern auch die ethnische Zusammensetzung der Region. Mit einer deutlichen Abnahme der Zahl der Städte und Dörfer veränderte sich auch die Siedlungsstruktur. Damit war auch ein starker Rückgang des Produktionsniveaus verbunden. Die habsburgische Verwaltung, die zwischen 1718 und 1778 die alleinige politische und wirtschaftliche Kontrolle über das Gebiet ausübte, leitete nach dem Herrschaftswechsel einen umfassenden Transformationsprozess ein. Sowohl in der ungarischen Geschichtsschreibung als auch in der deutschen Landeskunde wird das habsburgische Banat als ein sozio-naturaler Raum interpretiert, in dem sich die Nutzung der Landschaft und damit auch das Landschaftsbild als Folge der neuen staatlichen Einrichtung radikal veränderte. Dieser Wandel wird meist linear beschrieben; die Eingriffe in die Natur verliefen geradlinig von der Wildnis zur kultivierten, wirtschaftlich rentablen Kameraldomäne. Die Umweltgeschichte hingegen betrachtet sozio-natürliche Räume als Orte des ständigen Wandels und der Interaktion, die durch die Dynamik der Natur und den gesellschaftlich-sozialen Wandel geformt werden. Der Eingriff des Menschen in die Natur wird als kolonisierende Aktivität verstanden, als Input-Output-Prozess, bei dem die Veränderung durch den Einsatz von (gesellschaftlicher) Energie erfolgt. Die Verwendung des Kolonisierungsbegriffs ist für die Analyse der Verhältnisse im 18. Jahrhundert besonders geeignet, da Kolonisierung gleichzeitig drei Bedeutungen hat, die eng miteinander verknüpft sind.

Neben der ersten Bedeutung von Kolonisierung als einem gezielten und auf Dauer angelegten Eingriff des Menschen in das natürliche System spielt auch die zweite Bedeutung von Kolonisierung im Sinne eines Herrschaftsverhältnisses eine wichtige Rolle. Die Wiener Regierung war im Banat bestrebt, ihre kameralistischen Staatsund Wirtschaftsvorstellungen umzusetzen, nicht zuletzt um die Staatsmacht in den zurückeroberten Gebiet zu festigen und ökonomisch möglichst rentabel zu gestalten. Gleichzeitig kam der aufklärerische Glaube an den menschlichen Fortschritt zum Tragen. Im 18. Jahrhundert, als der Untertan als eine der wichtigsten Ressourcen des Staates angesehen wurde, zielten die staatlichen Maßnahmen nicht nur auf die Vermehrung der Bevölkerung, vor allem durch die Ansiedlung, also die dritte Form der Kolonisierung, sondern auch auf die Konditionierung ihrer Fähigkeiten und Kenntnisse. Das Temeswarer Banat - vor allem sein nördlicher und westlicher Teil - war infolge der hier fließenden Flüsse schon immer ein wasserreiches Gebiet. Aus Aufzeichnungen aus dem frühen 18. Jahrhundert geht hervor, dass die rumänischen und serbischen Bewohner entlang der Flüsse Auenwirtschaft betrieben. Während in der Flussaue Fischfang betrieben wurde, diente das höher gelegene Gebiet vor allem der Viehzucht. Das Schilf, mit dem die Häuser gedeckt und geheizt wurden, stammte ebenfalls aus der Flussaue. Dörfer und

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Ackerfelder lagen oft in der Nähe von Gewässern, so dass die Menschen ständig zwischen ihrem Dorf und dem Augebiet unterwegs waren. Diese Lebensweise wurde von der Verwaltung als „falsch” angesehen. In der Kameralaufnahme von 1734 heißt es dazu, dass die Überschwemmungen „viel Schaden an der Ernte, den Wiesen und den Brücken der Bauern anrichten, was sie natürlich gut wissen. Da aber der Ackerbau an den Flüssen oder an feuchteren Stellen wegen der Fruchtbarkeit des Bodens vorteilhafter ist, besonders in den trockeneren Jahreszeiten, so hazardieren sie”. Neben den regelmäßigen Überschwemmungen nannten die Beamten den Holzmangel und die schlechte Luft aufgrund der ausgedehnten Sümpfe in der Westbanater Tiefebene als „Defizite” der Landschaft. Auch hier machte die Verwaltung die traditionelle Lebens- und Denkweise der Bewohner mitverantwortlich. Die Lebensweise der rumänischen und serbischen Untertanen war aufgrund der Auenwirtschaft und der halbnomaden Viehhaltung mobil und damit für die Verwaltung schwer kontrollierbar und somit unerwünscht. Bereits 1718 hatte General Claude Florimond Mercy, der erste Gouverneur des Temeswarer Banats, in seinem Ansiedlungsplan festgehalten, dass die Einwohner „mit einer gewissen Milde behandelt werden sollen, um sie an unsere Manieren zu gewöhnen”. Tatsächlich verging bis in die 1730er Jahre kaum ein Monat, in dem die Temeswarer Verwaltung nicht ein Dekret über die sesshafte Lebensweise erließ. Die unter dem Begriff „deutsch” zusammengefassten Manieren beinhalteten die Aufgabe der traditionellen Wirtschaft und die Umstellung auf den Ackerbau einschließlich der Einführung der Dreifelderwirtschaft, was auch einen neuen Tages- und Jahresrhythmus der Arbeit mit sich bringen sollte. Die Verwaltung betrachtete die extensive Wirtschaftsweise der einheimischen Bevölkerung als Verschwendung des fruchtbaren Bodens, die in Verbindung mit der mobilen Lebensweise im damaligen Sprachgebrauch als unzivilisiert, d.h. unzeitgemäß galt.

Die Lebensweise der Einheimischen stand im krassen Gegensatz zur Landschaftsnutzung durch die deutschen Siedler. Die Urbarmachung von Ödland, die Kultivierung von Viehweiden und die Bestellung von Ackerland erforderten große Entschlossenheit und Anstrengung. Wegen der hohen Anfälligkeit gegenüber Witterungs- und Naturereignissen war sie zudem auch mit wesentlich mehr Risiken verbunden als die Auen- und Viehwirtschaft. Um ihnen die Arbeit zu erleichtern, wurden die Kolonistendörfer zum offenen/offensiven Schauplatz für die Umsetzung der neuesten kameralistischen Ideen. Das bedeutete nicht nur zahlreiche Vergünstigungen und eine mehrjährige Steuerbefreiung für die Gemeinden, sondern auch Dörfer neuen Typs, die mit Michel Foucault gesprochen, Heterotopien, d.h. verwirklichte Utopien waren. Sie unterschieden sich von anderen Dörfern dadurch, dass sie rechtlichen, wirtschaftlichen, sozialen und religiösen Vorstellungen unterworfen waren, mit denen ihre Erbauer die bestehenden Verhältnisse verbessern wollten.

Die Dörfer waren „geometrisch” (d.h. nach einer bestimmten Ordnung) geplante und gebaute Siedlungen. Größe und Form des Dorfes sowie Lage, Größe und Gestaltung der Wohn- und Wirtschaftsgebäude waren streng geregelt. Die Pläne der neuen Dörfer zeigen die strenge Ordnung der Grundstücke und die klare räumliche Trennung von Äckern,

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Wiesen und Weiden. Die rationelle Landwirtschaft zeichnete sich nicht nur durch die vorgeschriebene Dreifelderwirtschaft und den Fruchtwechsel aus, sondern auch durch die streng regelmäßige, längliche Form der Felder. Diese wurde bekanntlich vor allem durch den Einsatz des Beetpflugs erreicht. Auch in anderen Bereichen sollte die „Geometrie” der rationellen Verbindung von bäuerlichem Leben und Arbeiten dienen, z.B. durch die geringen Abstände zwischen Feldern und Wohnhäusern.

Die bäuerlichen Betriebe bestanden aus ganzen, halben und viertel Sessionen. Im Banat bestand eine ganze Session aus 37 Kastraljoch, die sich aus 24 Katastraljoch Ackerland, sechs Katastraljoch Wiesen und Weiden und einem Katastraljoch Hausgrund zusammensetzten. Die Größe der Zuteilung richtete sich nach der Zahl der Erwerbstätigen in der Familie, die Verwaltung achtete aber auch darauf, dass die Größe des Grundbesitzes innerhalb einer Siedlung optimal verteilt war. Auf diese Weise wurde die „Geometrie” des Raumes mit der „sozialen Arithmetik” der Bevölkerung verbunden.

Die Dreifelderwirtschaft und die obligatorische Fruchtfolge verhinderten nicht die agrarindividualistische Entwicklung der Betriebe der Kolonistenfamilien. Ein vollwertiger Landwirt zu sein, bedeutete, auch eine breite Palette von Kulturen anzubauen, wobei sich Ackerbau, Viehzucht und Weinbau einander rational ergänzten. Dabei wurde auf eine möglichst effiziente Nutzung der zur Verfügung stehenden Flächen und deren Qualität geachtet.

Bei der Vermessung der Grundstücke wurden die Ingenieure angewiesen, die Lage der Grundstücke festzuhalten und die landwirtschaftlich nutzbaren und die nicht nutzbaren Flächen zu kennzeichnen. Während das Ackerland vermessen und die Bodenqualität bewertet wurde, wurden die nicht nutzbaren Flächen in der Regel als Ödland erfasst. Damit war eine klare Grenze zwischen Kulturlandschaft und Wildnis, zu der auch Sümpfe und Auen gehörten, gezogen. Unter Joseph II. wurde auch diesen Gebieten eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt, da er im Sinne seiner utilitaristischen Politik und Wirtschaft auch die Urbarmachung der Wildnis zum Ziel hatte.

Die „Kolonisierung” der Natur und die Ökonomisierung der Gesellschaft gingen Hand in Hand. Die traditionelle Lebensweise der autochtonen Bewohner des Banats, die mit der Natur gewissermaßen in einer Symbiose lebten, entsprach nicht mehr den Anforderungen der neuen Gesellschaftsordnung, die versuchte, die natürlichen Ressourcen abzuschöpfen.

Mit Hilfe der deutschen Siedler wurde der neue Weg beschritten. Wie die Siedler selbst auf die vorgefundene Umwelt reagierten, wie sie sich mit den natürlichen Gegebenheiten auseinandersetzten und dabei die Landschaft veränderten, ist allerdings in der Forschung bisher kaum beachtet worden.

Für die Forschung könnte eine Betrachtung der Siedlungsgeschichte aus umwelthistorischer Sicht neue Perspektiven eröffnen und Antworten auf die Frage geben, welchen Herausforderungen sich die Siedler stellen mussten und wie sie ihre Umwelt gestalteten und veränderten.

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Dr. Zsolt Vitári

Institutsleiter, PTE BTK Fünfkirchen/Pécs

Umgang mit der Ansiedlungszeit und dem multiethnischen Erbe in der ungarischen und ungarndeutschen Geschichtsschreibung bis 1945

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Erstellte man eine Meinungsumfrage unter den Ungarn darüber, welche Ethnien im Land leben, wäre das Ergebnis ernüchternd. Die Bevölkerung ist nämlich über die bis heute vorhandene multiethnische Vielfalt des Landes nicht im Klaren und wenn der Begriff Minderheit oder Nationalität zur Sprache kommt, werden damit zumeist die im Land

lebenden Zigeuner oder aber die jenseits der Grenzen lebenden Ungarn verbunden. Die Kenntnis von den dreizehn, in der ungarischen Verfassung anerkannten, historischen Nationalitäten ist somit sehr bescheiden und in erster Linie unter den Angehörigen dieser Gruppen bzw. in deren Umgebung ausgeprägt.

Zu dieser Unkenntnis trägt sehr maßgebend bei, dass bis in die 2000-er Jahre diese Problematik selbst in den Schulen und Schulbüchern nicht thematisiert wurde und die nicht ungarischen Völker des Landes höchstens eine reizlose Marginalität „genießen“ konnten. Seitdem hat sich vieles verändert, Nationalitäten bekommen nun einen größeren Umfang im schulischen Bereich, doch die nationalungarische Perspektive mit ihrer ereignis- und politikgeschichtlichen Orientierung bildet weiterhin die Grundlage. Ein Beispiel dafür: „In der Geschichtsschreibung der mitteleuropäischen Nationen dauert schon seit einem Jahrhundert die Diskussion über die Nationalitätenpolitik in den letzten Jahrzehnten des historischen Ungarn an. Die Bewertungen nichtungarischer Historiker legen das Gewicht auf die staatliche Unterdrückung, auf die gewaltsame Assimilation des dualistischen Zeitalters. Die maßgebenden ungarischen Analysen betrachten diesen Problemkreis viel differenzierter. Auf die Überwindung der Gegensätze zeigt sich vorläufig wenig Chance, die nüchternen Bewertungen werden durch gegenseitige Torte und Anschuldigungen gehindert.” (Történelem 11. Tankönyv. Budapest 2015, 80., Hervorhebungen von Zs. V.) Eine andere Annäherung wurzelt im Trianon-Syndrom des Landes. Die neulich erstellten Meinungsumfragen, die von der Forschungsgruppe Trianon 100 in Auftrag gegeben worden sind, zeigen zwar, dass einerseits nur 7% der Bevölkerung mit den Tatsachen um den Friedensvertrag im Klaren ist, andererseits für die Hälfte der Bevölkerung ist es nur noch Geschichte und somit der emotionale Hang kontinuierlich schwindet. Doch die emotionalisierte Sichtweise ist auch noch bis heute präsent. Auch wenn das nächste Beispiel als Extremfall bewertet werden kann, zeigt es doch typisch diesen Standpunkt: „Das Ungartum ist eines der offensten Völker Europas, gastfreundlich, freundlich. Es ging seit Stefan dem Heiligen, tausend Jahre lang so, bis am Anfang des 20. Jahrhunderts ein verlorener Krieg und die vielen aufgenommenen Völker das Land zersetzten. Unser Volk ist weiterhin offen und gastfreundlich, doch die tiefe Wunde, die uns Trianon beibrachte, ist bis heute nicht geheilt.” (Erkölcstan. V. osztály, Budapest 2013, 34., Hervorhebung von Zs. V.)

Damit sind die zwei wichtigsten, allerdings teilweise auch generationsabhängigen Grundmuster der Wahrnehmung der multiethnischen Geschichte und Erbe des Landes angesprochen. Daraus folgt, dass die deutsche Bevölkerung entweder ebenfalls der Marginalisierung oder Beschuldigung der Zersetzung des Landes zum Opfer fällt und dementsprechend auch der Ursprung und Leben jener ländlichen deutschen Bevölkerung

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keine Ausnahme bleibt, die als Vorfahr des heutigen Ungarndeutschtums – als größte Minderheit des Landes – angesehen werden kann. Im Falle der Ungarndeutschen spielt desweiteren eine erodierende Rolle, dass sie als größte Minderheit nach 1920 die ungarischen nationalen Absichten teilweise hinderten, ihre Loyalität zu Ungarn für Hitler aufgaben und letztendlich zur Hälfte aus dem Land vertrieben und zu anderer Hälfte als zweitrangige Bürger des Landes behandelt wurden.

Dieses schwere Erbe von Annäherungen dieser Art, die bis heute virulent sind, wurzelt in erster Linie in der nationalungarischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. So ist es aufschlussreich zu beobachten, wie diese multiethnische Vergangenheit thematisiert wird. Exemplarisch dafür lohnt sich die Ansiedlungszeit, deren Akteure und Folgen in dieser historiographischen Tradition aufzuzeigen. Die Grundlage der Untersuchung bilden die wichtigsten, meistgelesenen und bis heute bekannten Meistererzählungen aus Ungarn sowie historische Abhandlungen ungarndeutscher Autoren.

Betrachtung der Ansiedlungszeit in historischen Werken des 19. Jahrhunderts

Nachdem bereits Arbeiten zu einer ruhmreichen Ursprungsgeschichte entstanden waren, meldet sich István Horvát mit einer, die jüngere Intelligenz der ungarischen Nationalbewegung prägende, die Omnipotenz und Allgegenwärtigkeit der Ungarn als Topi einführende Geschichtsschreibung. (István Horvát: Rajzolatok a magyar nemzet legrégibb történeteiből. Pest 1825.) Das eine wissenschaftliche Fundierung entbehrende Werk sieht die wichtigsten Völker von Europa, Asien und Afrika als ungarisch an, entdeckt die Ungarn auch in der Bibel, aber auch die Römer, Griechen etc. führt er auf eine ungarische Abstammung zurück. Nach ihm wurde sowohl das alte Ägypten als auch Lissabon von Ungarn aufgebaut. Auf dieser Grundlage versteht sich von selbst, dass die Ungarn auch im historischen Ungarn das determinierende, allen anderen übergeordnete Volk sein müssen. Horvát, der mit seiner romantischem Narrativ, das mit dem anderer Völker zu vergleichen war, sah sich mit seiner Heroisierung des ungarischen Volkes dazu verpflichtet, die Aufmerksamkeit dessen auf seine eigene ruhmreiche Geschichte zu lenken. Obwohl später diese Koloratur nachließ, blieb jedoch auch in den später erscheinenden, mehr professionellen Meistererzählungen beibehalten. In der Geschichte der Ungarn von Mihály Horváth aus dem Jahre 1844 (Mihály Horváth: A magyarok története, Band 3: A magyarok története a Habsburgi Házból származott királyok alatt, 1526-1780. Pest 1844), in der als Teil der positivistischen Ereignisgeschichte das Ende der Osmanenzeit als großartige Befreiung bezeichnet wird, wird die Etablierung der Habsburgischen Herrschaft bereits negativ bewertet, wobei von dem Impopulationspatent, dem Einrichtungswerk überhaupt nicht, dem Ansiedlungsgesetz von 1723 nur in drei Zeilen die Rede ist. Die

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nationalungarische Perspektive offenbart sich gänzlich in der Betitelung des Kapitels über das 18. Jahrhundert: Zeitalter der Versöhnung zwischen Nation und König, des Anfangs der neuen Ordnung und der Abschwächung der Nationalität.

Die sich nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich institutionalisierende Geschichtswissenschaft, die angesichts der zeitlichen Nähe für das 18. Jahrhundert über eine Quellenfülle verfügte und so die Möglichkeit hatte, die Ansiedlungszeit in ihrer Breite zu untersuchen, konnte sich aus der nationalen Sichtweise noch weniger herauslösen, was so weiterhin den Grundtenor der Darstellung der nichtungarischen Völker bestimmte. Allerdings wurde dies auch dadurch begünstigt, dass seit Mitte der 1870-er Jahren die Idee der einen ungeteilten, alle Völker des Landes umfassenden Nation langsam den Platz für eine ungarisch-ethnozentrische Nationsauffassung räumen musste, in der zwar die nicht Ungarn weiterhin ihren Platz fanden, doch ihr Verblieb mit ihrer Assimilierung verbunden wurde.

Die in dieser Zeit entstandenen Werke setzten Klischees in die Welt, die teilweise bis heute virulent sind. Mihály Horváth beschreibt die Einwanderungsgebiete in seiner 30 Jahre später erschienen Geschichte Ungarns (Mihály Horváth: Magyarország történelme. Band 7, Budapest 1873) als durchweg bevölkerungslose Gebiete, was sich infolge der anlaufenden serbischen, deutschen und oberungarischen Einwanderung nicht wesentlich besserte. Die noch neutral beschriebenen Serben und kaum erwähnten Deutschen kommen im Schatten der Ereignis- und Politikgeschichte kaum zum Wort.

Ein direkt abwertendes, die angesiedelten Völker als minderwertig behandelndes Narrativ setzt zuerst Henrik Marczali in seinem dreibändigen, auf Aufruf der Ungarischen Akademie der Wissenschaften verfasstes Werk Geschichte Ungarns zur Zeit von Joseph II (18811888) in die Welt (Henrik Marczali: Magyarország története II. József korában. Band 1, Budapest 1881). Über den Titel hinaus behandelt er jedoch das ganze 18. Jahrhundert, was überwiegend als die Zeit der Entwicklung beschrieben wird. Da die Wirtschaft im Mittelpunkt steht und nicht die gewohnte Politikgeschichte, nimmt er sich Zeit die Ansiedlungen zu beobachten und zu analysieren. In dem „vor den Füßen von Wien im Blut liegenden“ Ungarn, das jetzt an der Schwelle einer neuen Zeit stünde, hätten sich zu den Kriegszeiten aus dem Süden „halbnomade Raitzen“ „eingenistet“. Ebenfalls als Halbnomaden und „Halbsklaven“ werden die Walachen bezeichnet, während mit den Slowaken und Deutschen wegen der gemeinsamen historischen Erinnerungen und Bildung mehr Verbundenheit festgestellt wird.

Während er 1881 den von anderen vertretenen Standpunkt über den Verfall der Nationalität bereits als allgemein verbreitet bezeichnet, widmet er der Nationalitätenfrage ein umfassendes, umfangreiches Kapitel. Das verspricht scheinbar eine tiefere, fachlich mehr ausgereifte Herangehensweise, doch im Endergebnis schließt er sich ebenfalls diesem Topos an. Er geht sogar noch ein Stück weiter, wenn er das nationale Problem in die Vergangenheit zurückprojiziert, indem er über die Kumanen feststellt, dass sie „ein Jahrhundert lang Schwächer und Unruhestifter“ der Nation gewesen seien, danach seien

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sie jedoch eine Stütze gewesen, da sie praktisch integriert und assimiliert wurden – eine verwertbare Konklusion für das Ende des 19. Jahrhunderts.

Während die Serben durchweg als negativ betrachtet werden, die für die Ungarn immer „fremd und gehasst“ waren, werden die deutschen Ansiedler ambivalent beurteilt. Sie „überschwemmten zwar sofort nach Abzug der Türken und in Folge der kaiserlichen Truppen Buda und Pest, das Umland der Hauptstädte, und drangen immer tiefer ins Land hinein“ und strömten als „Gesindel der bairischen, schwäbischen, fränkischen und rheinischen Reichskreise“ ein, okkupierten nicht nur die ungarischen Dörfer, sondern saßen auch in den Städten fest und als „bessere Bauern mit ihrer Ausdauer auch die Felder der Ungarn gewinnen konnten“. Die vielen Beispiele für die Präsenz der Deutschen entfalten ein Gefühl ihrer Allgegenwärtigkeit.

Die auf die Vernichtung der ungarischen Verfassung abzielende aber in der Tat auch Wirtschaftsgründe berücksichtigende Siedlungspolitik wird als Kolonisierung (im Sinne der außereuropäischen Kolonien im 19. Jahrhundert) betrachtet, wo viele als Glücksritter dachten, dass man ohne Arbeit und Schweiß leben könne. „Die Siedler suchen keine neue Heimat, sondern versuchen, das neue Land für ihre alten nationalen Ziele umzugestalten“. Diese Expansion gefährdete auch schon die „rein ungarische“ große Tiefebene.

Die zum Millennium der ungarischen Landnahme im Karpatenbecken (1896) erschienene (1894-1898) zehnbändige Geschichte der ungarischen Nation wurde von unterschiedlichen Autoren verfasst und stellte damals die Spitze der akademischen Geschichtsschreibung dar. Im von Ignácz Acsády verfassten siebten Band (Ignácz Acsády: Magyarország története I. Lipót és I. József korában. Sándor Szilágyi (Hg.), Budapest 1898) werden die Geschehnisse des ausgehenden 17. und des angehenden 18. Jahrhunderts beschrieben, also die Zeit der Vertreibung der Osmanen und das Zeitalter des Neuanfangs. Indem Acsády die fremde Herrschaft beschreibt und die Schändung der Habsburger auf ein hohes Niveau hebt, enthüllt er die wirtschaftliche Larve der Germanisierungsbestrebungen, die als wichtiges Anliegen des Hofs und des Leiters der Einrichtungskommission, Erzbischof und Kardinal Leopold Kollonics nichts anderes vorhatten als das Land von seinem ungarischen Gepräge zu befreien. „So ging das Land in großem Umfang in die Hände von Ausländern oder im Ausland lebenden Leute über, und der neue Grundherr vertraute die Bewirtschaftung des Landes ausländischen Bauern an. Sie waren mit den einheimischen Verhältnissen nicht vertraut und erpressten und quälten die unglücklichen Leibeigenen grausam, vor allem die Ungarn, mit denen sie nicht sprechen konnten.“ Selbst die Städte wurden von Deutschen „besetzt“. Damit war Ignácz Acsády der erste, der einen Gegensatz zwischen den Deutschen und der Mehrheitsnation feststellte, wodurch das eigentlich noch bei weitem friedliche Zusammenleben eine negative Konnotation bekam und emotionalisiert wurde. Der darauffolgende Band mit der Geschichte Ungarns von 1711 bis 1815 von Henrik Marczali (Henrik Marczali: Magyarország története a szatmári békétől a bécsi congressusig (1711-1915). Sándor Szilágyi (Hg.), Budapest 1898) führte diese Betrachtungsweise weiter. Obwohl er in der Einführung die früheren Werturteile über das 18. Jahrhundert

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als Zeitalter der „Erschlaffung“ und des „Verfalls“ ablehnt und die Entnationalisierung als Verspottung verwirft und über quantitative und qualitative Entwicklung und Gedeihen der Nation spricht, die historische Abhandlung entbehrt die sich verfestigenden Ressentiments über die nicht ungarischen Völker nicht. Außer den an Fremden vergebenen Gütern mit der Ansiedlung fremder Bevölkerungsteile schürt er die negative Bewertung dieser Lage damit weiter, dass das Klischee der sehr arm mit vielen Kindern einwandernden, die ungarischen Dörfer erobernden Deutschen in die Welt setzt, die für wenig Investition nach Ungarn geholt wurden, bald darauf aber auch oft starben.

Insgesamt lässt sich feststellen, dass im Vergleich dazu, dass der in der Einführung genannte Wiederaufstieg des Landes ohne die Ansiedlung ausländischer Bevölkerung darunter der Deutschen nicht möglich gewesen wäre und doch der bestimmende Faktor des 18. Jahrhunderts bildete, widmet der Autor von den 720 Seiten nur gut zwei Dutzend Seiten dieser Problematik. D.h. die in den früheren Werken dominierende negative Beurteilung der „Entnationalisierung“ und der nicht ungarischen Eindringlinge eher einer Marginalisierung Platz macht.

Indem in den Meistererzählungen um die Jahrhundertwende (z. B. Márki Sándor –Beksics Gusztáv: A modern Magyarország (1848-1896). Szilágyi Sándor (Hg.), Budapest 1898) auch die Forderungen der nicht ungarischen Völker und ihre Unzufriedenheit thematisiert werden, wird die Zeit nach 1867 als Pendent zum 18. Jahrhundert eingestellt, als eine glorreiche Epoche, in der die ungarische Suprematie in ihrer Natürlichkeit nicht angezweifelt werden konnte, in der im Gegensatz zum 18. Jahrhundert die ungarische Kraft verzehnfacht wurde und die nicht ungarischen Völker keine Chance hatten, den ungarischen Staat und die ungarische Nationalität zu „besiegen“. Dieser Prozess sei jedoch noch nicht ans Ende gelangt und so kann die Konklusion nur sein, dass ein einheitlicher Staat ohne feste, homogene nationale Einheit nicht lange bestehen könne.

Daneben entfaltete sich eine weitere alternative historische Annäherung, die der „amtlichen” ungarischen Nationalgeschichtsschreibung entgegentretend – trotz einer allgemeinen politikgeschichtlichen Ausprägung – ihr Augenmerk der Multiethnizität widmete und die nichtungarischen Völker als einen wichtigen Bestandteil des Königreichs ansah, die auch bei dessen Aufbau behilflich waren. Da diese Werke keinen Beitrag zum ungarischen Nationbuilding leisten mussten und nicht einer politischen Maxime entsprechen mussten, lieferten ein anderes Narrativ auch über die Ansiedlungszeit. Herausgelöst aus der nationalen Perspektive wurden diese Geschehnisse sinngemäß nicht als eine nationale Katastrophe dargestellt, sondern die damals herrschenden Sichtweisen und Erkenntnisse werden wiedergegeben, die letztendlich eine Entscheidung für die Ansiedlung herbeiführten. Ein auffallender Charakter dieser Werke zeigt sich darin, dass der mit deutscher Hilfe (deutsche Grundbesitzer und Kolonisten) erfolgte Neuaufbau als eine Erfolgsgeschichte dargestellt wird, wodurch das Land wiederaufblühte, was sich jedoch nicht mit einer negativen Verurteilung der Ungarn einherging. Autoren deutscher Abstammung waren auf diesem Feld besonders aktiv.

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Diese Werke konnten auf Vorarbeiten aus der prenationalen Zeit zurückgreifen. So beispielsweise auf Johann Eimanns deutscher Kolonist. (Johann Eimann: Der deutsche Kolonist, oder die deutsche Ansiedlung unter Kaiser Joseph dem Zweyten in den Jahren 1783 bis 1787, absonderlich im Königreich Ungarn in dem Bácser Comitat. Pesth 1822) Eimann, der als Zeitgenosse der großen Ansiedlungsleistung ein Denkmal setzen wollte, beschrieb ziemlich ausführlich die Motive, Ablauf und Erfolg der josephinischen Ansiedlungspolitik. Noch relevanter ist jedoch sein Urteil über den Gewinn durch diese Ansiedlung. Da mit den Deutschen „muntere, friedfertige und fleißige” Kolonisten ins Land strömten, die die gewährten Freijahre zu einer erfolgreichen Integration und Überwindung der Ausgangsschwierigkeiten benutzen konnten, blühten die neuen Wirtschaften immer mehr auf, was ihnen weitab eine „Berühmtheit” und ein Wohlhaben einbrachte, auch so, dass sie stets all ihren Verpflichtungen sorgfältig nachgekommen waren. So habe die Ansiedlung sein Zweck vollkommen erreicht.

Johann Heinrich Schwicker beschreibt zwar in seinem 1886 erschienen „Das Königreich Ungarn“ (Johann Heinrich Schwicker: Die Länder Österreich- Ungarns. Band 2: Das Königreich Ungarn. Wien 1886) akkurat die unterschiedlichen Bevölkerungsteile und im historischen Überblick der Geschichte Ungarns den desolaten Zustand des Landes nach der Osmanenzeit, sowie den Bevölkerungsmangel, verliert jedoch kein Wort über die Ansiedlung und Verbleib der Deutschen in Ungarn. In seinen Werken über die nicht ungarischen Völker, unter anderen die Deutschen leistet er dagegen eine genaue Analyse. (Johann Heinrich Schwicker: Die deustchen in Ungarn und Siebenbürgen, Wien 1881) So wird der Wiederaufbau nach der Vertreibung der Türken als ein großes Werk dargestellt, das „von deutschen Händen im wiederbefreiten Ungarn vollbracht wurde”. Da die Wiederbevölkerung „aus eigener Volkskraft” nicht möglich war, war die Ansiedlung ausländischer Personen eine logische Folge. Außerdem war die Bevölkerung Ungarns von der Türkennot, den Parteikriegen und der Gegenreformation geplagt. Indem Schwicker seine Ausführungen klar gegen die ungarische Geschichtsschreibung richtet, versucht er mit einer leichten Betonung der deutschen Verdienste eine sachliche Schilderung zu liefern. „Man muss angesichts der heute wiederholt aufgetauchten Behauptung einzelner magyarischer Chauvinisten, welche die Eingewanderten Deutschen als ‚Eindringlinge‘, als ‚hungrige Fremde‘ betrachten, diese gesetzliche Basis der Berufung deutscher Colonisten nach Ungarn besonders hervorheben.“

Ignaz Aurelius Fessler, der in seiner zehnbändigen Ungarngeschichte ebenfalls eine sehr ausführliche Ereignisgeschichte liefert, aber auch gesellschaftliche und wirtschaftliche Verhältnisse schildert, verliert kein Wort über die Ansiedlungswellen des 18. Jahrhunderts. (Ignaz Aurelius Fessler: Die Geschichte der Ungern und ihrer Landsassen. Band 10: Die Ungern unter Königen aus der Österreich-ernestinischen Linie. Leipzig 1825)

In der zweiten, fünfzig Jahre nach seinem Tode erschienenen, von Ernst Klein, einem lutherischen Pfarrer aus Bartfeld bearbeiteten und mit dem Vorwort von Mihály Horváth versehenen Auflage (Ignaz Aurelius Fessler, Geschichte von Ungarn Band 5: Die Zeit

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der Könige von Joseph I. bis Leopold II., 1705-1792) erschien bereits ein kurzes Kapitel mit dem Titel „Colonisation, Industrie und Handel“, in dem festgestellt wird, dass nach der Vertreibung der Türken die dringendste Aufgabe die Wiederbevölkerung war, wobei die verödeten Gebiete ein sehr niedrigen Wert hatten. „Durch solche Vergünstigungen wurden Colonisten aus den bevölkerten nördlichen Gegenden Ungarns und dem Auslande angelockt und schon damals einige Ortschaften angelegt, die mit der Zeit volkreich und blühend wurden.“ Ähnlich wird die Tätigkeit von Florimund Mercy im Rahmen der Kamerialansiedlungen im Banat beurteilt: „Auf diese Weise entstanden üppige Gefilde und aufblühende Ortschaften, wo früher stehende Gewässer die Luft verpesteten“. Diese kurze und skizzenhafte, jedoch positive Schilderung wird noch mit einer Entlastung der Ungarn ergänzt: „Das ungarische Volk hatte in den vorhergehenden zwei Jahrhunderten, während welcher es beständig um seine Existenz kämpfte, nicht Muße gefunden, an der Förderung seines materiellen Wohlstandes zu arbeiten und war daher hinter den andern, vom Schicksal mehr begünstigten Nationen zurückgeblieben.“

Diese Beispiele wiederspiegeln die komplexe Identität des deutschen Bildungsbürgertums aber auch deren Facetten und Schwankungen bezüglich der Bindungen zur ungarischen Elite und deutscher Abstammung. Sie möchten vor allen Dingen das eigene Volk in der historischen Erinnerung verankern, seine Geschichte in die ungarische Geschichte einbinden, die beiden Narrative miteinander versöhnen. Deswegen bildet der versöhnerische Tenor die Grundlage ihrer Schilderung und nicht die Absicht eine parallele Interpretation zu bieten, noch weniger letztere zur Degradierung der Ungarn zu verwenden.

Der neue-alte Ton der ungarischen Geschichtsbetrachtung nach Trianon

Die im 19. Jahrhundert etablierten Ansichten über Ungarn, über die ungarische Nation, die nicht ungarisch werdenden nichtungarischen Völker bildeten auch in der Nachkriegszeit die Grundlage der Geschichtsschreibung, zu einer Zeit, in der die Kriegsniederlage und der Untergang des historischen Ungarn aber auch eine Reinterpretation der Vorzeit mit sich brachten. Die Geschehnisse mussten auf der einen Seite historisch erklärt werden, auf der anderen Seite musste die Vergangenheit zugleich die Hoffnung für die nächste Zeit bieten.

Die führende Gestalt dieser Reinterpretation wurde Gyula Szekfű, der in einer Schrift bereits vor dem Krieg für die Einheit von Staat und Nation aussprach, das Dasein einer Nation nur in einem eigenen Nationalstaat für möglich hielt und den Staat als höchstes Produkt einer Nation ansah. (Gyula Szekfű: Der Staat Ungarn. Eine Geschichtsstudie. Berlin 1918. Auf Ungarisch: A magyar állam életrajza. Budapest 1917) Damit nahm er klar Stellung für die Madjarisierungspolitik der Dualismuszeit und sprach zugleich die Möglichkeit nicht ungarischer Nationalismen ab. Im Karpatenbecken sah er nämlich

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nur bei den Ungarn die Fähigkeit für den Aufbau eines Nationalstaates, den sie mit einer kulturell-geistigen Überlegenheit verwirklichen konnten. Indem letzterer Umstand vor 1920 die laufenden Assimilationsbestrebungen und -prozesse legitimierte, bildete er danach die geistige Grundlage für die Verantwortungsverschiebung, für die Propagierung der Unhaltbarkeit der Friedensordnung zugleich für die seelische Stärkung der Ungarn und die Etablierung einer christlich-konservativ-neonationalistischen Weltanschauung. Das neue Ungarn führte daneben einen ideologischen Krieg, die Wissenschaft und so auch die Geschichtsschreibung wurde hierfür instrumentalisiert. Sie ist nicht mehr nur nach innen adressiert, sondern für die Außenwelt, die den ungarischen Schmerz und Opferrolle verstehen sollte.

In dem 1920 erschienenen Werk Drei Generationen (Gyula Szekfű: Három nemzedék. Egy hanyatló kor története. Budapest 1920) – die als eine allgemeine Verfallsgeschichte die Zeit seit Anfang der Reformzeit behandelt – stellt Szekfű fest, dass der Adel aufhörte „ein starkes Rückgrat der Nation“ zu sein und die neuen Schichten, der Zustrom von Ethnien (darunter auch die Juden) und die sündhafte urbane Welt die alte Zeit mit dem alten Adelsideal ablösten.

Szekfű wurde mit seinen Ausführungen und seiner Erklärung der seit 1848 durchgemachten Entwicklung der Bezugspunkt für die ganze Epoche und seine Drei Generationen die Bibel der historischen Retrospektive. Obwohl er kein Antisemit und auch nicht deutschfeindlich war, lieferte er mit seiner Sichtweise doch auch für die Rechtsextremisten einen Nährboden.

Die neue Epoche, deren wichtigster Bezugspunkt der Trianon-Schock und der Neuanfang, sowie die dauerhafte Präsenz des Revisionismus wurden, benötigte eine neue Meistererzählung, die sich von der Sichtweise des dualistischen Zeitalters loslöste, die Grenzen des neuen Nationalstaates „überschritt“, eine Erklärung für das Geschehene und zugleich Unfassbare lieferte, aber noch mehr die Möglichkeit einer neuen Identifikation bot.

Die Ungarische Geschichte von Bálint Hóman und Gyula Szekfű (Bálint Hóman – Gyula Szekfű: Magyar történet, Band 4. Budapest 1935), die populäre Meistererzählung der Zwischenkriegszeit (1928-1934, danach jährlich – teilweise erweitert – neuaufgelegt), ein geistesgeschichtlicher Klassiker, dessen großes Verdienst die Zurückdrängung der Politikund Ereignisgeschichte der Vorkriegszeit und so eine klare und bewusste Distanz zur zehnbändigen Millenniumsgeschichte schaffen sollte. Die neue Sichtweise zeigte sich auch darin, dass die früheren Epochen nicht durch die Brille der Gegenwart betrachtet werden sollten, sondern in ihren zeitgenössischen und zudem europäischen Zusammenhängen und Entwicklung gesehen werden sollten. Gegenüber der früheren, von mehreren Autoren verfassten Meistererzählung wollten Hóman und Szekfű ein kohärentes, nach einheitlichen Gesichtspunkten geschriebenes Werk auf den Tisch legen, das mit einer realen Selbstkenntnis die Nation in der schweren Zeit weiterhilft.

Die Berücksichtigung sozial-, wirtschafts- und kulturgeschichtlicher Themen bot zugleich

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auch die Möglichkeit zur Beachtung der nicht ungarischen Völker, deren Schilderung sich trotzdem aus der Tradition der Vorkriegszeit ernährte und so genügte auch diese Meistererzählung dem politisch- sozialen Milieu ihrer Zeit. Während Bálint Hóman –Kultusminister der Epoche und bekannter Historiker – in der Frühgeschichte Ungarns das multiethnische Zusammenleben mit einer ungarischen Suprematie verbindet, die alte Größe und den alten Ruhm des „ungarischen Reiches“ in den Mittelpunkt stellt, bezeichnet Szekfű den Anfang des 18. Jahrhunderts als die „traurigste Wirklichkeit“ im Leben des Landes, was er im kapitalen Menschenverlust während der nationsmörderischen Osmanenzeit, in erster Linie im Verlust der Ungarn sieht. „Im 18. Jahrhundert wird unsere Geschichte zur Geschichte eines kleinen Landes und eines kleinen Volkes“ – während andere gedeihen und sich auf die neuen Herausforderungen, die Industrialisierung und Kolonisierung vorbereiteten.

Szekfű zeigt zwar Verständnis für die wirtschaftliche Notlage auf den entvölkerten Gütern, zieht jedoch einen Gegensatz zwischen den fremden und ungarischen Großgrundbesitzern und dem Kleinadel in den von den Osmanen nicht besetzten Gebieten, die nicht ansiedeln, sondern die eigenen Leibeigenen behalten wollten. Es gab kaum einen Feldherrn, der nicht etwas vom ungarischen Land abbekommen hätte. Viele hätten nicht einmal ihre Grundbesitze gesehen und schnell verkauft, auch zu niedrigem Preis, wenn nötig. In dieser schweren Zeit komme jedoch eine neue Generation von ungarischen Adeligen auf, die als Beweis für die unglaublichen Energien der ungarischen Rasse den Besitz von den Fremden erwerbe.

Durch die Gebundenheit der ungarischen Leibeigenen – trotz bescheidener innerer Siedlungstätigkeit – sei keine andere Wahl geblieben, als deutsche Siedler in das Land zu holen, die auch ungarnfeindlich gegen die rebellischen Ungarn zu benutzen waren. Indem er die Push- und Pull-Faktoren der Ansiedlung hervorhebt, prangert er – ziemlich widersprüchlich – die Grundbesitzer an, die das Geld nicht gerne für die Kosten der Werbung ausgaben. Als neuer Aspekt taucht auf, dass nachdem die sog. manumisson verlangt wurde, es nicht möglich war, dass Arme kamen und so das Niveau der Ansiedler sich wesentlich verbesserte, auf diese Weise „ordentliche, arbeitssame Leute kamen“. Das generierte weitere Ansiedlungen, so dass Hunderte von deutschen Dörfern entstanden (die wichtigsten Grundherren ob Ungarn oder nicht, werden aufgezählt mit den wichtigsten Dörfern). Nach Überwindung der Anfangsschwierigkeiten (anderes Klima, Säuchen, Angewöhnung etc.) sei es doch möglich gewesen, dass der Wert der einzelnen Wirtschaften kräftig anstieg. Die Kamerialansiedlungen erhöhten die deutsche Präsenz auch um das mehrfache, so können diese insgesamt als durchschlagender Erfolg und die gesamte Ansiedlung der Deutschen als unausweichlich und logisch interpretiert werden. Interessant ist die Annäherung – sowohl bei den einzelnen Bauern als auch bei dem Banatansiedler Graf Mercy – dass bei solider Anerkennung ihrer Leistungen eine ähnliche Fähigkeit den ungarischen Bauern zugeschrieben wird oder einem hypothetischen kaiserlichen Verwalter, wenn ein Ungar dazu die Möglichkeit bekommen hätte. Die

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Zurückdrängung der halbnomadischen Räuber, also der Raitzen und Rumänen begrüßt er dabei jedoch und hebt damit die Integrierungsfähigkeit deutscher Seidler hervor. Ihre Anpassung war deswegen erfolgreicher, weil sie eine „ähnlich christliche Religion“ hatten und „relativ kultiviert waren“. Im Gegensatz dazu verhielten sich die halbwilden Völker, die zu gleicher Zeit nach Ungarn, also ins verheißene Land wollten, ganz anders, wobei man auch nicht dachte, dass sie sich später nach der – eigentlich primitiven – Herrschaft (Rumänien, Serbien) sehnen, für die sie Ungarn verließen.

Die Streulage infolge von Ansiedlungen und die Tatsache, dass die Deutschen soweit von der Urheimat gelangten, dass man keine Angst vor deren Saugkraft haben musste, hinderten die Etablierung einer deutschen Nationalität – somit ist die deutsche Ansiedlung aus einer nationalen Perspektive doch mit einer großen Erleichterung zur Kenntnis zu nehmen. Nach der neuartigen, bahnbrechenden, doch teilweise auch in der alten Tradition verfangene Geschichtsschreibung, die mir der Ungarischen Geschichte von Hóman-Szekfű eine große Resonanz auslösende und die Öffentlichkeit breitschichtig erreichende Schule schuf, bedeutete bei weitem nicht, dass die ältere, völlig traditionelle Linie aufgehört hätte. Jenő Zoványi, Jenő Csuday, István R. Kiss, Árpád Gálócsy, Aurél Pompéry, Dezső Szabó, Endre Bajcsy-Zsilinszky attackieren Szekfű wegen der Degradierung von Nationalhelden, der Revision des romantischen Geschichtsbildes und plädierten dafür, dass die Geschichtsschreibung weiterhin die großen Persönlichkeiten, die ruhmreiche nationale Vergangenheit, die nationale Freiheit und den Kampf für die nationalen Unabhängigkeit in den Mittelpunkt stellen solle.

In dieser Epoche erscheinen die ersten Werke, die bereits spezialisiert die Nationalitätenfrage behandelten und ebenfalls die historischen Gründe für den „Untergang“ erarbeiteten. Was im 19. Jahrhundert noch als allgemeines Problem angesprochen wird, wird jetzt zum Auslöser des Zerfalls. Während für die frühe Zeit (Landnahme, Staatsgründung) von einer Abwesenheit der Nationalitäten einer Nationslosigkeit des Karpathenbeckens bei der „Einwanderung der ungarischen Nation“ (Sic!) im 9. Jahrhundert ausgegangen wird, konnte das Land die Herausforderungen des nationalen Zeitalters nicht bewältigen. Eine Unfähigkeit der Umwandlung des Habsburgerreiches zu einem Nationalstaat, die Parallelnationalismen und der ergebnislose Kampf für die Suprematie werden als markante Fehlleistungen festgehalten.

Bei Miklós Asztalos (Miklós Asztalos: A nemzetiségek története Magyarországon. Betelepülésüktől máig. Budapest 1934) wird die Angleichungsfähigkeit der Ungarn hochgepriesen – darunter versteht er, dass die Ungarn fähig waren die Elemente niederer Kultur zu sich emporzuheben –, wodurch bis zum 18. Jahrhundert die Assimilation unterschiedlicher Völker ununterbrochen blieb. Die noch im 9. Jahrhundert einwandernden Ungarn erkämpften „diese Heimat“ den Ungarn und bauten ein Land auf, in dem es keine Nationalitäten gab. Rückprojizierend aus dem 20. Jahrhundert stellt er fest, dass es bei der Landnahme keine andere Nation vorzufinden war.

Die seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert einsetzende, massenhafte Einwanderung

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konnte die ungarische Assimilierungsfähigkeit jedoch nicht mehr bewältigen: „Diese Masseneinwanderung, die unabhängig vom Willen des ungarischen Volkes war, konnte nicht durch ungarische Assimilation überwunden werden. Es hätte länger gedauert, die kulturellen Unterschiede zu überbrücken, aber die türkische Bedrohung hatte es völlig gelähmt, und dann, in ein Reich gezwungen, das fremden Interessen folgte, war es nicht in der Lage, zu assimilieren, weil es daran arbeiten musste, Fragmente seiner selbst zu erhalten.“

Indem Asztalos eine komplette Opfernarrative entwickelt, summiert er die Faktoren, warum die diese Leistung in der Vergangenheit vollbringende Ungarn diesmal scheiterten: die zentralistischen Tendenzen des Wiener Hofes, das sich etablierende nationale Bewusstsein, als leichte Kritik die Enthaltung der ungarischen Elite von jedweder Rechtserweiterung sowie eine fehlende soziale Empfindlichkeit.

Szekfű meldete sich am Anfang der 1940-er Jahre auch mit einem längeren Beitrag über die Geschichte der Nationalitäten in Ungarn (Gyula Szekfű: A nemzetiségi kérdés rövid története. In: ders.: Állam és nemzet. Budapest 1942), die er als Synthese dieser Frage ansah aber zugleich feststellte, dass dieses Thema bis dahin wenig Beachtung in der ungarischen Wissenschaft fand. In dieser Schrift distanzierte er sich bereits von seiner eigenen Auffassung, die er noch in der Ungarischen Geschichte vertrat und verfasste mit der Kurzen Geschichte der Nationalitätenfrage eine tolerante Zusammenfassung. Mit Trianon sah er unumgänglich, dass man sich mit den Nationalitäten befassen muss und mit einer leichten Selbstkritik reflektiert er auf die Unlösbarkeit dieser Frage im 19. Jahrhundert, wobei er doch eigentlich nur winzige Fehler und Unverständnis sieht, die von den nicht ungarischen Völker zu „tödlichen Sünden“ und „Böswilligkeit“ vergrößert wurden.

Szekfű würdigte die Toleranz des mittelalterlichen Königreichs gegenüber der nichtungarischen Siedler und erkannte ihre Leistung für das Land an, sei es die Besiedlung bis dahin unbewohnter Gebiete, die Verteidigung des Landesgebiets oder eine wirtschaftliche Entwicklung. Er beanstandete auch die gewährten Autonomien nicht, die letztendlich zum Erhalt der eigenen mitgebrachten Kultur und Sprache beitrugen und die Assimilation dieser Bevölkerungsteile verhinderten.

Zwar sah Szekfű des weiteren die Osmanenzeit und in deren Folge der riesige Verlust ungarischer Bevölkerungsteile als Katastrophe an, sprach nicht mehr über primitive Völker, da die vorher vorhandene Toleranz auch in diesen beiden Jahrhunderten weiterlebte: „In dieser Zeit verloren die Ungarn nicht ihre seit langem bewährte Fähigkeit, mit anderen ethnischen Elementen gut umzugehen.“ Daraus folgte dass sie sich überall von einer bewussten Madjarisierung enthielten. Die vermehrte Präsenz nicht ungarischer Völker sei ein natürlicher Vorgang gewesen, sie erschienen auf den ungarischen Territorien planlos wie zur Zeit der Völkerwanderung. Sie hofften auf bessere Lebensbedingungen und füllten die entvölkerten Gebiete wieder auf.

Szekfű zeigt auch gegenüber der geplanten Widerbevölkerung im 18. Jahrhundert großes

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Verständnis, stellt fest, dass die Ungarn für die Vertreibung der Osmanen aus eigener Kraft wenig getan hätten und deswegen die klischeehaft von Buda bis Esseg als menschenleer und komplett verwildert dargestellten Gebiete als Neoaquistica behandelt worden seien. Weniger begrüßenswert sieht er jedoch, dass der Wiener Hof diese Güter für teures Geld an die ursprünglichen Eigentümer zurückgab und noch negativer, dass viele Güter an ausländische Grundbesitzer gekommen waren. Zwar bleibt die berüchtigt gewordene Germanisierungsthese von Ezrbischof Kollonich auch nicht unerwähnt und wenn er auch dies nicht interpretiert, doch aus dem Kontext lässt sich herauslesen, dass er es wörtlich versteht. Bei der angesiedelten deutschen Bevölkerung sieht er kein Zeichen dafür, dass sie diese Aufgabe erfüllt hätte und Rammbock der Wiener Politik zuungunsten der Ungarn gewesen wäre. So bestritt er auch den Willen, mit der Verwurzelung deutscher Bauern, den deutschen „Volksboden“ zuungunsten der Ungarn zu erweitern und räumt mit Klischees auf, dass das Banat Strafvollzugskolonie gewesen wäre.

Zwar verbreitet Szekfű mit dieser Abhandlung eine von seiner früheren Sichtweise abweichende Annäherung, die eigentlich in der toleranten Staatsidee von Stephen dem Heiligen ihre Wurzeln hat, die Bilanz über das Jahrhundert der Ansiedlung zieht er bereits aus der nationalen Perpsektive: „Als Folge der türkischen Zerstörung der Nation wurde der alte Nationalstaat durch einen Nationalitätenstaat mit einer ungarischen Minderheit und einer ausländischen Mehrheit ersetzt. Aus diesem Tiefpunkt musste sich die ungarische Nation im folgenden Jahrhundert erheben.“

Doch diese politik- und geistesgeschichtlich orientierten Abhandlungen widmeten sich eher der Makrogeschichte und die Suprematie der Ungarn war auch dadurch zu zeigen, dass insbesondere die Politik und der Staat im Mittelpunkt standen. Dagegen formte sich um Elemér Mályusz eine volksorientierte Geschichtsschreibung. (Elemér Mályusz: A népiség története. In: Bálint Hóman (Hg.): A magyar történetírás új útjai, Budapest 1932).

Mályusz lehnte die separate und kontextfreie Untersuchung der in den mittel- und südosteuropäischen Ländern lebenden Deutschen ab, da er in diesen Werken den Mangel der Schilderung von Wechselwirkungen unter den einzelnen Völkern beanstandete. Mályusz verwarf auch die Auffassung Szekfűs über die Nationalitäten. Während letzterer trotz seiner früher zitierten Ausführung theoretisch für die Idee von inklusivem Staat Stephans des Heiligen und in der Toleranz den Garant des Fortbestandes des historischen Ungarn sieht und darauf aufbauend den Gedanken der einheitlichen ungarischen, alle Völker des Landes umfassenden politischen Nation vertritt, Mályusz bestritt diese Toleranz und sah bereits während der Herrschaft Stephans eine klare – eigentlich begrüßenswerte – Assimilierungspolitik und sich auch später nur im Falle zusammenhängender Siedlungsgebiete (in Siebenbürgen und in der Zips) ein Entgegenkommen zeigte. Diese unterschiedliche Sichtweise bestimmte die Auffassung der beiden über die Mittel der Politik nach einer erfolgreichen Revision.

Zumindest wurde durch die Mályusz-Schule die Beziehung der Ungarn zu den

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Nationalitäten, insbesondere die Behandlung der früher rein ungarischen nun aber gemischten Gebiete in den Mittelpunkt gestellt, zeitlich überwogen jedoch Arbeiten –die in den Reihen Magyaren und Nationalitäten und Siedlungs- und Volksgeschichte erschienen – zum Mittelalter und Frühneuzeit und kaum zur Ansiedlungszeit. Mályusz selbst stellte die Probleme der Nationalitäten, die ethnische Zusammensetzung der ungarischen Nation, die Erscheinungsformen der Migration und der darauffolgenden Assimilation sowie Siedlungsgeschichte in den Vordergrund seiner Forschungen. Aufgrund dieser kam er zur Erkenntnis, dass vor der Türkenzeit die Ungarn mit einem Anteil von ca. 80 Prozent vertreten waren und „der ungarische Charakter” des Staates auf dieser zahlenmäßigen Überlegenheit beruhte. Das zusammenfassende Werk von Mályusz – Ungarns Geschichte zur Zeit der Aufklärung (Elemér Mályusz: Magyarország története a felvilágosodás korában. Szeged 1931) – widmete sich in erster Linie der Kultur- und Religionsgeschichte und behandelte die Frage der Ansiedlung marginal, vor allem im Kontext der Rekatholisierung und brachte Beispiele dafür, dass aufgrund dieses Zwecks katholische Bischöfe reformierte ungarische Bauern von ihren Gütern vertrieben und katholische Deutsche auf ihren Platz holten. Indem er diese Tatsache an sich als negativ beurteilt, sieht er in diesem Vorgang auch für die Zukunft eine sehr gefährliche Entwicklung. Die im Komitat Veszprém angesiedelten deutschen Bauern, die dort bis ins 20. Jahrhundert verblieben sind, ihre Kultur und Sprache wahrten, wurden allein durch ihre Präsenz Grundlage für den reichsdeutschen Kulturnationalismus und der Forderungen zur Etablierung eines separaten, vom Komitatsgebiet losgelösten deutschen Kantons. Die Früchte des auf diese Weise verwirklichten Bevölkerungsaustausches reiften binnen 200 Jahre also soweit aus, dass dadurch wieder einmal die Integrität des Landes gefährdet wurde. Durch diese Tatsache war der Ertrag dieser Siedlungstätigkeit bereits anzuzweifeln, Mályusz stellt jedoch auch den wirtschaftlichen Nutzen in Frage: „Die vertriebenen ungarischen Leibeigenen waren sesshafte, fleißige, wohlhabende, ehrgeizige Menschen, von denen der Bischof als ihr Grundherr großen Nutzen hatte. Die Deutschen hingegen waren arm, mit einer primitiven Wirtschaftskultur, die nicht so viele Dienstleistungen erbringen konnten wie die alten.“ Die Folge war die Verarmung der ungarischen Bevölkerung und die Verstärkung des deutschen Elements, das mit den gewährten Begünstigungen einen zweiten Vorteil verbuchen konnte. „Wenn sich der Unterschied zwischen den Ungarn und den Schwaben später zum Vorteil der letzteren entwickelte, so lag das nicht am schwäbischen Fleiß oder an der ungarischen Bequemlichkeitsliebe, sondern an der ungleichen Behandlung durch die Grundherren. Diese Grundherren können natürlich nicht individuell für ihr Handeln verantwortlich gemacht werden. Sie handelten nur in Übereinstimmung mit dem anachronistischen barocken Geist, der in Ungarn herrschte und dem sie nicht entkommen konnten.“

Die eigentliche Synthese der ungarischen Volksgeschichte legte István Szabó 1941 vor. (István Szabó: A magyarság életrajza. Budapest 1941) In seinem, zum Buch „Der Staat

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Ungarn“ von Gyula Szekfű als Pendent geschriebenen Werk „Ungarisches Volk“ stellte ähnliche Fragen über das Mittelalter wie Mályusz, aber eine umfassende Synthese erreichte er dadurch, dass er seine Darstellung bis ins 20. Jahrhundert fortführte.

Zwar geht Szabó bereits davon aus, dass es im 16. Jahrhundert eine Vermehrung der ungarischen Bevölkerung festzustellen ist, spricht er im Allgemeinen jedoch über den Verfall des ungarischen Volkes, über Verödung, über einen anderthalbjahrhundert währenden Volksuntergang. Und während die Ungarn unter den Umständen litten, andere Völker, die geschützter lebten, gediehen, und damit eine ethnische Verschiebung ihren Anfang nahm, was einer bewussten Politik des Weiner Hofes zu Last gelegt werden kann.

Während vor dem Ersten Weltkrieg die nationalungarische Geschichtsschreibung durch Werke von Historikern deutscher Abstammung abgemildert werden konnte und dadurch eine alternative Geschichtsbetrachtung präsent war, auch wenn sie nicht als verbreitet betrachtet werden kann, musste man dieses Pendent in der Zwischenkriegszeit neu erschaffen. Der Druck vergrößerte sich auch dadurch, dass sich in Deutschland, wo früher noch diese Belange aus ungarischer Sicht mit wohlwollender Marginalität behandelt worden sind, sich eine neue und umfangreiche Südostforschung etablierte, deren die Staaten und Staatsgrenzen übergehende Volksauffassung eindeutig signalisierte, dass Vergangenheit und Gegenwart der Deutschen in Ungarn als Teil des Gesamtdeutschtums zu interpretieren sind. Diese Tatsache war nicht nur für die ungarische Geschichtsschreibung eine Herausforderung, sondern auch für die Ungarndeutschen selbst. Gusztáv Gratz erwiderte jedoch nur die deutsche Sichtweise, indem er betonte, dass zwar eine sprach-kulturelle Verbindung nach Deutschland vorhanden wäre, doch die Bindung an Ungarn, die Zugehörigkeit zur gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und konfessionellen Gemeinschaft wesentlich schwerer wiege. Bleyer dagegen prangerte auch die ungarische Geschichtswissenschaft an, weil sie wenig Verdienst zeigte, sich auch in der ungarndeutschen Geschichte zu vertiefen, so sah er eigentlich natürlich an, dass reichsdeutsche Historiker dieses ungenutzte Terrain betraten. Nicht zufällig veranlasste Jakob Bleyer bereits einige Jahre früher neue Forschungen über die eigene Volksgruppe. Die Ungarndeutschen mit ihrer Geschichte erkannten sich aufgrund der bislang geschilderten Zustände in den wichtigsten historischen Werken kaum, wollten aber auch von der reichsdeutschen Geschichtsinterpretation nicht verschlungen werden. Mit den Deutsch-Ungarischen Heimatsblättern wollte Bleyer gerade einen dritten Weg gehen, der sich mit seiner ganzen Nations- und Nationalitätenauffassung deckte. D.h. die Deutschen in Ungarn als Teil der ungarischen Geschichte erscheinen zu lassen, die mit all ihrer Arbeit, Leistung und Kultur zum gemeinsamen Aufbau dieses Landes beigetragen haben. Da jedoch auf Historiker – ob ungarische oder ungarndeutsche –nicht zurückzugreifen war, die Akzeptierung der reichsdeutschen Volkstumsforschung jedoch auch sein eigenes Gruppenbildungsprojekt gefährdet hätte, blieb diese Arbeit den Germanisten übrig.

Diese Forschungen liefen bereits vor dem Krieg an, zuerst mit Mundartforschungen um Gideon Petz, der jedoch über die sprachwissenschaftliche Forschung hinaus „die

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detaillierte Erschließung von Geschichte und Geistesleben, Sprache und Brauchtum“ plante, wie er dies in der Zielsetzung der neugegründeten Schriftenreihe Deutsche Mundarten in Ungarn nannte. Nachdem dieser Versuch nach der Veröffentlichung einiger Arbeiten zur Mundartgeschichte endete, gründete Petz die ungarischsprachige Schriftenreihe „Német Filológiai Dolgozatok“ (Arbeiten zur deutschen Philologie), die er als gemeinsame Sprachrohr der Germanistischen Institute in Pécs, Szeged, Budapest und Debrecen konzipierte. Jakob Bleyer, sein Schüler, der 1908 zur Germanistikprofessor an der Universität Klausenburg, 1911 an der Budapester Universität ernannt wurde, war an diesem Projekt bereits maßgeblich beteiligt, übernahm nach dem Krieg auch dessen Leitung. Die 62 Bände, die bis 1935 erschienen, behandelten ethnographische, sprachund literaturwissenschaftliche, sowie theatergeschichtliche und geisteswissenschaftliche Themen. Nur eine unter diesen widmete sich geschichtlichen Themen.

Die 1927 bereits von Bleyer gegründete Zeitschrift „Deutsch-ungarische Heimatsblätter“ strebte nach einem breiteren Spektrum, wollte sich mit dem „geschichtlichen und volklichen Wesensart des Deutschtums in Ungarn“ befassen. Bleyer behandelte dabei die Geschichte der Ansiedlung, die deutsche Siedlungsgeschichte in Ungarn mit Priorität aber auch die Erforschung der deutsch-ungarischen Beziehungen, „den ganzen geistesund kulturgeschichtlichen Zusammenhang zwischen Ungarntum und Deutschtum“ wollte er vorantreiben. Sein Augenmerk galt jedoch nicht nur Trianon-Ungarn, sondern dem historischen Ungarn und all seinen Nachfolgestaaten. Damit einherging, dass Bleyer Autoren aus diesen Ländern – egal welcher Nationalität – erwartete, aber eigentlich aus aller Welt, wenn sie sich den Themenschwerpunkten genügten. Für Bleyer war von besonderem Belang, dass Autoren aus der Batschka und Banat mitwirken, um den Zusammenhalt der nahe lebenden deutschen Gruppen auf diese Weise auch zu stärken. Da die Forschungen zur Kolonisations- und Siedlungsgeschichte von Germanisten ausgeführt wurden, versuchten sie von vornherein ihre sprach- und literaturgeschichtliche Veranlagung einzubringen, was ohnehin eine Interdisziplinarität vorwegnahm, aber volkskundliche, geographische und konfessionelle Annährungen wurden ebenfalls berücksichtigt. Beiträge wurden aus aller Welt erwartet, und Bleyer sorgte auch dafür, dass die Zeitschrift durch seine Beziehungen in Deutschland und Österreich, also auch außerhalb Ungarns zugänglich wird. Als jedoch die radikalere Richtung um Franz Basch die Zeitschrift übernahm, engte sich der Fokus ein, da Basch nur noch Texte veröffentlichen wollte, die sich „vom deutschen Volkstum nicht entfremdeten“ und ein „bewusstes Volkstum“ vorantrieben. Damit zeichnete sich klar ab, dass Bleyer auch mit den Heimatsblättern die Loyalität zu Ungarn stärken wollte aber zugleich auch durch Bindungen nach Deutschland und zu den anderen deutschen Siedlungsgebieten in den Nachfolgestaaten die deutsche Kultur und Sprache verstärken wollte, setzte Basch – der zwar auch die „Volks- und Staatstreue“ betonte – die Priorität eigentlich für die von dieser doppelten Bindung befreite Forschung, die politisch instrumentalisiert ohne Zweifel den Volkstumskampf unterstützen sollte.

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Die Heimatsblätter – zwar zweimal umbenannt – blieben fast bis zum Kriegsende das wichtigste Forum für ungarndeutsche Geschichte, Sprache, Kultur und Volkskunde. In den 14 Jahren ihres Bestandes veröffentlichte die Zeitschrift über 400 – zumeist –wissenschaftliche Texte, über die Hälfte in den ersten sechs Jahren. In den Jahren nach 1935 verminderte sich die Anzahl der veröffentlichten Beiträge infolge des Kurswechsels und damit der Aufopferung der Weltoffenheit und des Krieges.

Von den vielen Beiträgen, die in den Heimatsblättern erschienen, thematisierten über ein Drittel die Ansiedlungszeit und erfüllten damit die Erwartungen von Bleyer in einem hohen Maße. Da man mit der Geschichte der Einwanderung und des Festwurzeln der deutschen Bevölkerung die Geschichte der „kleinen Leute“ beleuchten wollte, die in den gewöhnlichen historischen Quellen wenig Spuren hinterließen, entstand auf den Seiten der Heimatsblätter eine sehr komplexe wissenschaftliche Methodik, die auf Genealogie, Mundarten, Onomastik, Siedlungsgeschichte, Sippenkunde zurückgriff und jedwede Art von Quellen wie staatliche und kirchliche Unterlagen sowie Matrikeln, Werbepatente, Ansiedlungsverträge, Entlassungsscheine, Ratsprotokolle, Briefwechsel und vieles mehr berücksichtigte.

Bleyer wollte das in Entstehung befindliche Netzwerk mit einer rationalen Arbeitsteilung dazu bringen, dass er deutsche Wissenschaftler gewann, die mit ihrer Orts- und Quellenkenntnis die Auswanderungsgebiete erforschten, während die Akademiker der Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns die Ansiedlungsgebiete. Durch diese Arbeiten entstand eine tatsächliche Alternative zur ungarischen Nationalgeschichtsschreibung, die quellenfundiert und von der nationalen perspektive befreit in erster Linie wirtschaftliche und soziale Gründe der Ansiedlungszeit hervorhob und nach der Ansiedlung klar die Vorteile dieses großen Sozial- und Wirtschaftsexperiments darstellte. Inwieweit jedoch Bleyer sein doppeltes Ziel erreichte, sowohl die ungarische Wissenschaft und Öffentlichkeit als auch das ungarndeutsche Publikum zu sensibilisieren, bleibt fraglich. Die bereits erwähnten ungarischen Werke, die zu den Beiträgen der Heimatsblätter parallel erschienen, schenkten den Ergebnissen letzeterer sehr wenig Beachtung. Die Wirkung bei dem ungarndeutschen Publikum kann kaum gemessen werden, da keine diesbezüglichen Angaben zur Verfügung stehen. Das Volk las – wenn überhaupt – eher das Sonntagsblatt. Zu erahnen ist jedoch, dass in den von Anfang der 1930-er Jahre sich mehrenden Veranstaltungen des UDV und dann des Volksbundes, in deren Mittelpunkt oft eine Ansprache, bzw. Rede stand, diese Themen in einer vereinfachten und verständlichen Form kontinuierlich thematisiert wurden.

Auf jeden Fall haben die Heimatsblätter ganz wesentlich dazu beigetragen, dass einzelne Themen über die Zeitschrift hinaus auch als Monographie herausgearbeitet wurden, die viel mehr klar machen konnten was für eine Anstrengung und eine gründliche Quellenerschließung vonnöten war, wollte man den ganzen Ansiedlungs- und Integrationsprozess eines bestimmten Gebietes aufarbeiten. Hier für wäre István Vonház und Roger Schilling ein Beispiel, die in Kenntnis und Anwendung des bevölkerungshistorischen Ansatzes vom

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Kieler Universitätsprofessor Karl Schünemann die Ansiedlung im Sathmargebiet, sowie in den transdanubischen Donaudörfern Dunakömlőd und Németkér in Monographien behandelten.

* * *

Die Darstellung der Ansiedlungszeit in den ausgewählten, oben ausführlich behandelten historischen Werken aus Ungarn liefert ein Paradebeispiel für die These von Michael Foucault, nach der „die Geschichte der einen, nicht die Geschichte der anderen ist“. Während die Ungarn in ihrer ereignis- und politikgeschichtlich angelegten Geschichtsschreibung gerade ein Mittel erblickten, die Ungarn als Hauptakteure des Landes darzustellen, da diese Bereiche zumeist von den Eliten beherrscht wurden, die trotz unterschiedlicher ethnischer Abstammung als ungarisch galten und so das ungarische Gepräge des Landes, in dem die Ungarn lange Zeit und gerade infolge der großen Ansiedlungswellen des 18. Jahrhunderts in zahlenmäßiger Minderheit waren (wobei sie stets die größte ethnische Gruppe darstellten), konnten sich die nicht ungarischen Völker – so auch die Deutschen – in dieser Geschichtsbetrachtung nicht wiederfinden. Wie denn auch, wenn sie lange Zeit in diesen Narrativen degradiert, als marginale oft schädliche Elemente eingestellt wurden. Da sie während des 19. Jahrhunderts – katalysiert von der immer mehr exkludierenden ungarischen Nationalbewegung – Parallelnationalismen entwickelten, wuchs dieser Wunsch auch noch an, was zu einer immer heftigeren Kritik der ungarischen Nationalbewegung und deren Geschichtsbetrachtung und dazu führte, dass sie ihre eigenen Geschichten zu schreiben begannen.

Die damalige Geschichtsschreibung, die sich gerade im 19. Jahrhundert entfaltete und die unterschiedlichen Nationsbildungen unterstützen sollte, kann für die oben lang geschilderten Sichtweise nicht zu Rechenschaft gezogen werden, da sie die damaligen Denkmuster widerspiegelt und daher ein Abdruck ihrer Epoche liefert. Ihre Analyse ist in erster Linie deswegen gerechtfertigt, weil die Traditionen dieser frühen Geschichtsschreibung bis ins 21. Jahrhundert weiterleben. Wir können uns bereits leisten, auf das 18. Jahrhundert und sein Ansiedlungswerk nicht mehr aus der nationalen Perspektive zu blicken, sondern die Zeit anhand der für sie charakteristischen Aspekte zu betrachten, ohne die eine oder andere Nation zu „gefährden“. Indem wir zeigen, dass die nationale Sichtweise das „wahre“ Bild des 18. Jahrhunderts verzerrte und für die nationalstaatlichen Bestrebungen aufopferte und so das Zusammenleben in den multiethnischen Staaten erschwerte, ziehen wir zugleich den Schluss, dass 200 Jahre danach bereits die Möglichkeit besteht, diese unterschiedlichen Geschichten miteinander verflechten zu können. Dies machen zu können, setzt die Aufdeckung der diese Absicht störenden Faktoren voraus.

Welch mitreißende Wirkung die Idee der Nationen und Nationalstaaten hatte, zeigt sich auch darin, dass die vielen Autoren – jedoch insbesondere Gyula Szekfű und Elemér Mályusz –, die vielschichtige, multiperspektivische, nach einiger Zeit die politikgeschichtliche

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Annährung in den Hintergrund drückende, mit dem früheren Romantizismus abzählende, moderne, international integrierte Geschichtsschreibung betrieben, sich vom Zeitgeist nicht oder nur sehr bescheiden loslösen konnten.

Da in Mitteleuropa Nationalstaaten später entstanden und die Neuordnung dieses Raumes nach dem Ersten Weltkrieg nationale Katastrophen hervorrief, die die Nationalismen weiter verstärkten, während diese im staatsozialistischen Zeitalter zurückgedrängt waren –zumindest in Ungarn – und deswegen nach 1989/1990 neu auflebten, bleibt auch das Erbe der nationalen Geschichtsschreibung virulent. Das zeigen nicht nur die anfangs zitierten Schulbucheinträge, sondern auch Äußerungen in der politischen und gesellschaftlichen Öffentlichkeit.

So ist mit der schweren Last der nationalen Geschichtsschreibung bestimmt schwer umzugehen, da sie mit all ihren Verdiensten Sichtweisen weitertradierte, die heute bereits überholt gelten oder gelten sollten. Gerade die Ansiedlungszeit ist eines der besten Beispiele dafür, wie engagiert Ungarn mit ihren vielen Völkern für einen Neuaufbau arbeitete, der die Zeit danach – eigentlich bis heute – mitprägte. Diese gemeinsame Leistung war in vielen Hinsichten – so sozial, wirtschaftlich, kulturell etc. – eine klare Erfolgsgeschichte, deren Wahrnehmung wegen eines Aspektes – des nationalen – verstellt wurde. Solange diese Klassiker der ungarischen Nationalgeschichtsschreibung weiterhin als unumgehbare Grundlage betrachtet werden und die Fähigkeit für deren Historisierung nicht ausreichlich ausgeprägt ist, ist die Anpassung des historischen Kanons für die heutige Verhältnisse, die Aufnahme der seitdem entstandenen Ergebnisse der Geschichtswissenschaft sowie die Integrierung der Geschichtsbetrachtung der Jahrhunderte lang zusammenlebenden Völker unmöglich. Zwar sind die ersten Schritte bereits getan, der Weg ist aber noch lang.

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Tamás Szalay

Direktor, DZM - Donauschwäbisches Zentralmuseum, Ulm

Donau.Schwaben – Notizen zum Vortrag

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Die Erweiterung des DZM – eine neue Perspektive

Das DZM wurde im Jahr 2000 eröffnet, direkt an der Donau, in der oberen Donaubastion; Gesamtfläche ca. 2000 m2 (Dauerausstellungen + Sonderausstellungen)

Gründer: 4 Landsmannschaften (Landsmannschaft der Banater Schwaben, Landsmannschaft der Deutschen aus Ungarn, Landsmannschaft der Donauschwaben und Landsmannschaft der Sathmarer Schwaben), Stadt Ulm, Land Baden-Württemberg, Bundesrepublik Deutschland.

DZM: nicht aus einer Sammlung entstanden - von Anfang an: biografisches Sammeln von Anfang an: biografisches Sammeln (zu jedem Objekt gehört auch eine persönliche Geschichte)

Die Dauerausstellung wurde nach mehr als 20 Jahren aufgefrischt und eine zweite Dauerausstellung eröffnet. Zwei parallele Ausstellungen in der oberen Donaubastion: „Aufbruch und Begegnung“ (Geschichte und Kulturgeschichte der Donauschwaben) und „Donau. Flussgeschichten“ (22 Geschichten aus dem Donauraum).

Die neue Ausstellung kontextualisiert die Geschichte der Donauschwaben und eröffnet zugleich neue Perspektiven: Das bisher dominierende Narrativ, die Geschichte und Kulturgeschichte der Donauschwaben, wird durch ein raumbezogenes ergänzt und das Gesamtnarrativ paradigmatisch verändert. Der Fokus liegt nicht mehr ausschließlich auf den Donauschwaben, sondern auch auf dem Donauraum selbst; daher der Titel: Donau. Schwaben.

Die Schwerpunkte der Ausstellung „Aufbruch und Begegnung“

Aufbruch und Begegnung

Die Ausstellung erzählt die 300-jährige Siedlungsgeschichte der Donauschwaben vom 18. Jh bis heute. Die ursprüngliche Ausstellung wurde im Jahr 2000 eröffnet und jetzt überarbeitet.

Die Vorgeschichte: Deutsche Sprache, deutsche Kultur im mittelalterlichen Ungarn seit der Gründung des Staates durch István den Heiligen (Zipser, Siebenbürger Sachsen usw.) Beginn unserer Geschichte: Ende der Kriege gegen die Osmanen; Aufgabe: Wiederaufbau des Landes. Staatliches Programm der Habsburger: Anwerbung von deutschen Siedlern aus dem südlichen und südwestlichen Teil des Deutschen Reiches. Private Ansiedlungen auch durch bedeutenden adeligen Familien (Károlyi, Esterházy etc.)

Wichtige Meilensteine:

1689: Impopulationspatent (Leopold I);

1699 Frieden von Karlowitz (Ungarn, Syrmien, Slawonien, Batschka an den Kaiser);

1718: Frieden von Passerowitz (Banat, Nordserbien, Belgrad zu Österreich);

1722-1726: 1. Schwabenzug;

1763-1773: 2. Schwabenzug;

1781: Toleranzpatent

1782-1787: 3. Schwabenzug – auch Protestanten!

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Kultureller Austausch, Verflechtungen

Die Ausstellung räumt dezent mit einem Mythos auf: Die Siedler kamen meist nicht in unbewohnte, sondern in dünn besiedelte Regionen (durch Ungarn, Serben). Es entstand eine multiethnische Region, zu der die deutsche Kultur einen wesentlichen Beitrag leistete.

Beispiele für kulturellen Austausch und Wissenstransfer in der Ausstellung:

• Landwirtschaft; neue Methoden durch die deutschen Siedler (z.B. Dreifelderwirtschaft), höhere Erträge - wiederum: Übernahme neuer Anbaumethoden, Werkzeuge, Kleidung usw.

• Stadt: nicht nur bäuerliche, sondern auch städtische, bürgerliche Kultur: im 17. bis 18. Jahrhundert deutsche Kultur und Sprache in den Großstädten; im 19. Jahrhundert: eine verflochtene, vielschichtige Kultur, mit verschiedenen Schichten deutschsprachiger Bewohner.

• Industrialisierung: wichtige Industriezentren in der österreichisch-ungarischen Monarchie mit deutschem Beitrag (Beispiel in der Ausstellung: Reschitza, Banater Bergland).

• Immigration: Nicht nur Einwanderung, sondern auch Auswanderung nach Übersee im frühen 20. Jahrhundert: persönliche Geschichten (z.B. der Familie Weißmüller), Austausch mit Amerika.

Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts: Nationalismus und 1. Weltkrieg

Ein Meilenstein in der Geschichte der Donauschwaben und der Völker der Habsburgermonarchie insgesamt: Die nationalistischen Tendenzen im 19. Jahrhundert und der Erste Weltkrieg

Durch das Entstehen von Nationalstaaten: Deutsche: von einer Nationalität des Vielvölkerstaates zu einer Minderheit, mit weitreichenden negativen Folgen. Ehemals zusammenhängende Siedlungsgebiete durch Grenzen getrennt; Zeichen der Zugehörigkeit: neuer Begriff „Donauschwaben“

Neuorientierung der deutschen Minderheiten Richtung Berlin, mit allen historischen Konsequenzen

Ende einer 300jährigen Geschichte und Neuanfang

Kollektivschuld: Retorsionen (unterschiedlich in verschiedenen Staaten); Ende einer 300-jährigen Geschichte

Zwangsumsiedlung, Vertreibung, Internierungs- und Arbeitslager, Deportation in die Sowjetunion (Malenkij robot)

Neubeginn in Deutschland: meist nicht willkommen, teilweise als Fremde betrachtet; unterschiedliche Wege und Schwierigkeiten der Integration

Das Leben der Donauschwaben hinter dem Eisernen Vorhang; Donauschwaben heute in der Welt.

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Donau. Flussgeschichten

Die 2022 eröffnete Dauerausstellung erzählt keine kohärente Geschichte, sondern beleuchtet die Vielfalt der Region mit 22 verschiedenen Geschichten aus dem Donauraum. Definitionsschwierigkeiten, „Problembegriff“ von Mitteleuropa (siehe die Unmöglichkeit der Definition z.B. bei Kundera oder Prof. Moritz Csáky). Kundera: „Mitteleuropa ist niemals intentional eine gewollte Einheit gewesen. (…) Die Kulturen der einzelnen Völker hatten zentrifugale, separatistische Tendenzen“. Csáky sieht Heterogenität und Widersprüchlichkeit als Merkmale. Dennoch ist es selbstverständlich, dass es sich um eine Region handelt. Es ist eine multiethnische, vielschichtige, komplexe Region, zu deren Entstehung die deutsche Nationalität maßgeblich beigetragen hat, die ohne deutsche Kultur nicht zu definieren ist (ebenso wenig wie ohne rumänische, serbische, jüdische, ungarische usw.). Ein einheitliches Narrativ ist schwierig. Viel mehr lässt sich über das Wesentliche sagen, wenn man Fragmente, selektive Stichproben präsentiert, die - pars pro toto - dennoch über sich hinausweisen.

Mit den 22 Geschichten zeigen wir diese Heterogenität, aber auch die Zusammenhänge. Korrespondenz mit der Donauraumstrategie: 10 Donauländer als Kulturraum.

Am Eingang zur Ausstellung: eine Karte des Donauraums ohne Grenzen.

Die 22 Geschichten sind in 4 große Themenbereiche gegliedert: „Der Donauraum“; Fluss im Leben“; „Unterwegs“; „An den Ufern“. Design: anders als in der Ausstellung „Aufbruch und Begegnung”: frischer, familienfreundlicher, viel interaktiver. Auch viele persönliche Geschichten, wie in „Aufbruch und Begegnung“.

Einige Schwerpunktthemen in dieser Ausstellung:

Sagen, Mythen aus dem Donauraum + die Donau selbst als Mythos

Die wirtschaftliche Nutzung des Flusses (z.B. Schiffsmühlen, Fischerei, konkretes Beispiel: Apatin), Technologietransfer und Transport von Waren und Gütern auf der Donau Schiffbau; die Ulmer Schachtel Kraftwerke an der Donau, auch die dunkle Seite; erfolgreicher Protest gegen den Kraftwerksbau in Hainburg Wasserverschmutzung, Wasserproben, Treibgut (wissenschaftliche und künstlerische Darstellungen)

Beispiele für Verflechtungen, Grenzüberschreitungen in beiden Ausstellungen

• Das Tauschkind: Dokumentiert seit dem 16. Jahrhundert, vor allem zwischen Deutschen und Ungarn. Konkretes Beispiel: die Familien Dillinger und Vörös (Stiefel als Hochzeitsgeschenk von György Vörös an Hieronymus Dillinger). Ein Beispiel für die Funktion der Grenzen: die trennt, die ist eindeutig, ist aber überwindbar, und das ist auch gewollt.

• Die Sprachwand: zeigt die Verflechtung und das Wechseln der Sprachen. Eine

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andere Funktion der Grenze nach der Theorie der Kulturwissenschaften von Edward Soja: Dritter Ort (Thirdplace): An den Schwellenbereichen entsteht aus dem Dialog zwischen zwei Entitäten eine neue Qualität, die mehr ist als die Summe der beiden.

• Die Reise: Ab dem 19. Jahrhundert (Flussregulierung, Erfindung der Dampfmaschine) wird die Donau zunehmend als Wasserstraße genutzt. Die Geburt des Massentourismus. Vor dem 19. Jahrhundert: Es gab Meinungen, dass hinter dem Eisernen Vorhang ein neuer Fluss begann (siehe Danubius / Ister in der Antike), und dass die untere Donau mit dem Bosporus verbunden war - Konstantinopel als Stadt an der Donau? Mit dem Ausbau der Wasserstraße: Verbindung des Orients mit dem Okzident (mythologische Grenzüberschreitung).

• Ada Kaleh: Eine Insel in der Donau, die sich von der Realität gelöst hat. Während des Krieges zwischen dem Osmanischen Reich und der K.u.K-Monarchie wechselte mehrmals den Besitzer. Während des Berliner Kongresses wurde sie einfach vergessen und wurde zum romantischen Niemandsland, zur Verflechtung von Orient und Okzident. In den 1970er Jahren: Überflutung wegen des Kraftwerks am Eisernen Tor.

• Die Buschos: Eine Verflechtung der europäischen Tradition des Karnevalszuges, der Winteraustreibungsriten und historischer Mythen aus der osmanischen Zeit in Mohács.

• Die Wand „Treibgut“: Einzelne Beispiele für die Vielfalt und den kulturellen Reichtum des Donauraums.

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Dr. Peter Schweininger

Lehrassistent, ELTE BTK

Lehrstuhl für Historische Hilfswissenschaften

Budapest

Deutsche in der Gemeinde Saar Mentalitätselemente einer lokalen Gesellschaft, 1729–1848

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Meine Forschung

Der Fokus meiner Forschung war zwölf Jahre lang die Bevölkerungsgeschichte meines Heimatsdorfes. Mein wichtigstes Ziel war zu erkunden, wie die ersten Saarer eigentlich gedacht haben. Es ist eine ziemlich schwierige Aufgabe, sogar fast unmöglich, die Denkweise der Mitglieder einer Gemeinschaft zu erforschen, die vor 200-250 Jahren gelebt haben.

Denn es gibt sehr große Quellenlücken in einer Gesellschaft, in der recht Wenige die Fähigkeit zum Lesen oder Schreiben beherrschten.

Während meiner Forschung war mir jedoch ein Quellentyp von besonderer Hilfe, der im Großen und Ganzen konstant, in ausreichender Menge zur Verfügung stand: die Matrikeln. (also Geburts-, Heirats- und Todesurkunde) Und dazu kamen die örtlichen Seelenbeschreibungen der Pfarrgemeinde und des Gutes, die ebenfalls eine Stütze für meine Arbeit bedeuteten. Anhand der auf dieser Art und Weise gewonnenen Daten habe ich eine Datenbank mit einhundertzwanzigtausend Elementen erstellt. Die Verarbeitung der genannten Quellen gab meiner Forschung eine bevölkerungsgeschichtliche Richtung. So habe ich die Methoden der historischen Demographie angewendet, mit den es mir gelungen ist, auch einige Elemente des Denkens von den damaligen Saarern zu ergreifen. Der Zeitraum der Untersuchung war von dem Anfang der Besiedlung bis zur Hörigenbefreiung 1848. Im Folgenden möchte ich einen Einblick in die von mir erkannten Mentalitätselemente geben.

Beziehung zu Werischwar

Die Erinnerung in Saar hält, dass das Dorf ganz eigenartig nicht von den direkt aus dem Deutschen Reich stammenden Schwaben, sondern von einer Gruppe deutscher Leibeigener aus Vörösvár (heute Pilisvörösvár) neu besiedelt wurde. Ein AmateurLokalhistoriker hat dies bestritten und in seinem lokal veröffentlichten Buch festgestellt, dass der Anteil ehemaliger „Vörösvárer“ in der Saarer Gesellschaft etwa 10% betrug. Im Laufe unserer Arbeit gelang es uns jedoch, Quellen zu finden, aus denen wir nach Analyse unter einem anderen Gesichtspunkt feststellen konnten, dass die Besiedelung von Saar systematisch aus zwei Richtungen geschah. Zunächst kamen ab 1729 die Deutschen aus Vörösvár aus dem Osten, später, ab 1732, aus dem Westen aus verschiedenen Orten des Heiliges Römisches Reiches. Ende der 1730er Jahre dürfte die Größe der beiden Gruppen in der Gesellschaft von Saar ungefähr gleich gewesen sein.

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Gewohnheiten im Schatten der Pest

Der Einfluss der Werischwarer Tradition war jedoch wahrscheinlich ganz stark in Saar. Über die persönlichen Beziehungen hinaus holten die ersten Saarer Siedler manche Elemente ihrer Kultur auch aus Werischwar nach Saar. Im Eintrag beim Jahr 1736 schrieb der Pfarrer 1758 ins Saarer Historia Domus, dass „die Gemeinschaft auch in Saar die Feste feierte, die in Werischwar sorgfältig eingehalten wurden und üblich geworden waren“. Über diese Feste wissen wir nicht viel Genaues, aber ein paar Merkmale können wir aus dem Text des Historia Domus entschlüsseln. Zum Beispiel der Verzicht auf komplizierte Arbeiten Samstagnachmittags. Es gibt heutzutage auch mehrere alte Einwohner, die am Samstagnachmittag nur ihren Hof und die Straße gründlich fegen, und sie machen andere Arbeiten ganz bewusst nicht. Es ist möglich, dass man das Weiterleben eines zweihundertjährigen Brauches heute in Saar noch finden kann. Ein anderes Kulturelement, das wir aus dem Text des Historia Domus lesen können, ist die besondere Ehre des Heiligen Rochus und des Heiligen Sebastian. Beide sind Schutzheilige gegen die Pest. Diese Bräuche zeigen Parallele auf. Die ersten Saarer hatten vermutlich große Angst vor der Pest. Deswegen haben sie zu Rochus und Sebastian oft gebetet, und haben auf die Sauberkeit ihrer unmittelbaren Umgebung geachtet. Wir kennen natürlich nicht den genauen Grund, aber es ist eine Tatsache, dass das Dorf von der großen, landesweiten Pestepidemie im Jahr 1739 verschont blieb.

Starke christliche Normen

Es ist freilich aber keine Überraschung, dass die Alltage der Saarer im geforschten Zeitraum von der Religion und der landwirtschaftlichen Arbeit stark geprägt waren. Die ersten Siedler kamen jeden Tag zusammen, und sie beteten abends in einem Kreis unter dem freien Himmel bei den Ruinen einer vorigen, mittelalterlichen Kirche bis zum Aufbau ihrer neuen Kirche. Und die Einhaltung der christlichen Normen zeigen auch die Zeitpunkte der Saarer Hochzeiten. Die meisten Eheschließungen fanden im Januar und Februar statt, wenn es nicht so viel landwirtschaftliche Arbeit gab, und es gab natürlich bis Ende der Faschingszeit keine Fastenzeit. Denn in der Fastenzeit war es verboten eine Feierlichkeit zu veranstalten. November war der drittbeliebteste Monat, weil viele noch vor der Adventszeit ihre Ehe schließen wollten. Also es zeigt uns, dass die Saarer wie im Allgemeinen alle Dorfgesellschaften in Ungarn meistens nach den Religionsregeln lebten. Der Prozess der kulturellen Homogenisierung

Deutsche Siedler aus verschiedenen Orten haben in Saar einen vielfältigen Kulturraum aufgebaut. Dies zeigt sich zum Beispiel in der Vielfalt ihrer Vornamen. Der Trend ging dann hin zu einem gemeinsamen kulturellen Nenner, mit vereinfachten Vornamen. Dies ist ein Zeichen dafür, dass die Entwicklung der lokalen, sogenannten „schwäbischen”, also ungarndeutschen Kultur auch Akkulturationsprozesse auf der Ebene der Individuen bedeutet hat. Dabei war die Übernahme der bereits in Vörösvár etablierten Traditionen eine wichtige Grundlage. Auch Jahrzehnte nach der Ankunft der ersten Siedler hatten

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Dr. Peter Schweininger

mehrere Saarer Familien intensiven Kontakt mit der Siedlung in Pilis.

Kulturelle Integration

Die Gesellschaft des Dorfes Saar zeigte während mehr als anderthalb Jahrhunderten ein sehr homogenes ethnisches und religiöses Bild. Das Dorf wurde fast ausschließlich von katholischen deutschen Hörigen bewohnt. Bunter wurde dieses ethnische Bild durch Familienmitglieder jüdischer Kaufleute, die sich im Ort niedergelassen hatten. Allen Anzeichen nach wurden sie von der Gemeinschaft in Saar angenommen, sowie auch andere nichtdeutsche und nichtkatholische Einwohner, die zeitweise erschienen. Außerdem waren mehrere Menschen, die hierher kamen, nachweislich unter den Schwaben in Saar verdeutscht, sodass die lokale deutsche Gemeinde Menschen anderer Sprachen und Religionen in ihre eigene Kultur integrieren konnte.

Intensive Tendenz zur Migration

Um die Wende der 1750er und 1760er Jahre ließen sich die Einwohner von Saar in Massen im Nachbarsdorf Boglár (heute Vértesboglár) nieder. Gelegenheit dazu hatten sie, weil im zuletzt bevölkerten Dorf der Herrschaft Esterházy noch freie Grundstücke zur Verfügung standen. Dieser Prozess hat einigen armen Familien geholfen, wohlhabender zu werden, und einigen wohlhabenderen Bauern, ihren Reichtum zu vergrößern. Mehrere Kinder konnten in den Stammesstatus eintreten. Damit haben viele Familien den Grundstein gelegt, um in der Vértes Region über Jahrhunderte Fuß zu fassen.

Schutz gegen die Überbevölkerung

Die Bevölkerungszahl von Saar blieb von den 1770er bis 1850er Jahren im Wesentlichen unverändert. Ein Grund dafür war, dass die Kinder ständig in eine andere Siedlung heirateten. Die Saarer Familien fanden dadurch eine erfolgreiche Bekämpfungsstrategie gegen die Überbevölkerung, deren Ausmaß unter den Siedlungen in der Umgebung einzigartig war. Neben der Beibehaltung des für die Deutschen typischen traditionellen Erbsystems hatten die Saarer aufgrund von drei Hauptfaktoren die Möglichkeit dazu:

- Das Dorf war in den Prozess der Banater Aussiedelung involviert

- Die umliegenden Siedlungen, die von Zeit zu Zeit durch Epidemien geplagt wurden, sowie die sich ständig entwickelnden Städte, boten in vielen Fällen einen guten Raum für den Heiratsmarkt

- Im 19. Jahrhundert wurde die Geburtenkontrolle häufig von Familien eingesetzt Veränderungen in der Moral

Die Daten aus Saar entsprechen auch dem Trend, der wahrscheinlich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in vielen Siedlungen in Europa aufgetreten ist. Der Anteil der illegal geborenen und vorehelich gezeugten Kinder hat zugenommen, was einerseits eine Lockerung moralischer Regeln und andererseits die Entstehung eines neuen Normensystems bedeutet haben mag.

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Katalin Bachmann

Wir und die anderen Ausstellung des Ungarndeutschen Landesmuseums

Totis/Tata

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Wir und die anderen, Ausstellung des Ungarndeutschen Landesmuseums

Die Anerkennung von Unterschieden kann unterschiedliche Situationen im Leben eines Einzelnen, einer kleinen Gemeinschaft oder einer ganzen Gesellschaft schaffen. Die Frage, wer ich bin und zu wem ich gehöre, kann ich nur beantworten, indem ich mich mit anderen vergleiche. Wir brauchen die anderen, um uns selbst zu erkennen. Dieser Gedanke stand Pate bei der Konzeption der Dauerausstellung im Ungarndeutschen Museum. Seit dem frühen Mittelalter lebten auf dem Gebiet des ehemaligen und heutigen Ungarns Gruppen von Menschen, deren Muttersprache einem der deutschen Dialekte angehörte.

Die Vorfahren der Mehrheit der heutigen deutschen Minderheit in Ungarn kamen im 18. Jahrhundert ins Karpatenbecken. Der posttürkische Wiederaufbau des Landes lud die Menschen ein und zog sie an. Aus dieser Zeit konnte die Sammlung der 1972 gegründeten Institution kaum Objekte und Dokumente aufzeigen.

Als das Ungarndeutsche Landesmuseum in Totis/Tata 1972 gegründet wurde, war es das Ziel, das verbliebene materielle und geistige Erbe der ungarndeutschen Kultur zu bewahren. In seinen ersten Ausstellungen versuchte das Museum, neben der Geschichte der Deutschen in Ungarn auch einen Teil der Volkskunst der Gemeinschaft zu zeigen, aber der Schwerpunkt verlagerte sich auf die Geschichte und die Objekte wurden immer weniger wichtig.

Die Sammlung zog 1983 an ihren heutigen Standort in der Nepomucenus-Mühle in Totis/ Tata um, und die letzte Dauerausstellung des Gründers der Sammlung, des Museologen János Fatuska, wurde 1997 in diesem Gebäude unter dem Titel„1100 Jahre Zusammenleben - Deutsche in Ungarn” eröffnet. In den 2000er Jahren ließ das Interesse an der Einrichtung nach, was zum Teil auf die Schwierigkeiten in der Museumswelt zurückzuführen war. Das Leben des Museums wird 2013 wiederbelebt, wo die professionelle Arbeit zur Erforschung der Sammlung beginnt.

Dies ist der Ausgangspunkt für die Entdeckung von Objekten in der Sammlung. Viele der Objekte in unserer Sammlung erzählen die Geschichte einer Kultur, die vor etwa fünfzig Jahren unterzugehen schien: die Kultur der Deutschen in Ungarn. Damals dachte man, dass die Kultur der Deutschen in Ungarn in einem Museum bewahrt werden sollte. Man dachte, dass die bäuerliche Selbstversorgungswirtschaft verschwinden würde, die Hinterhofviehhaltung und der Weinbau aufhören würden, die Trachten abgenommen und die alten Möbel ersetzt werden würden.

Das ist weitgehend eingetreten, und die schwäbische Identität von heute beruht nicht unbedingt auf der Leidenschaft für den Weinbau oder das Schweinschlachten. Unsere Ausstellung Wir und die Anderen erzählt die Geschichte, wie das Museum die verloren geglaubte deutsche Kultur Ungarns gesehen hat und von ihr gesehen wurde. Wir haben die gebräuchlichsten und charakteristischsten Gegenstände aus dem Chaos des Lagers auftauchen lassen und die Frage gestellt: Warum sind genau diese Gegenstände zu uns gekommen?

Wir bekamen fünf Antworten, fünf typische, gängige Wahrnehmungen, wie wir die

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Deutschen in Ungarn sehen. Unsere Ausstellung soll nicht die Frage beantworten, wer die Deutschen in Ungarn sind, sondern den Besucher zum Nachdenken anregen. Gleichzeitig hilft sie uns, anhand von Objekten aus dem 19. und 20. Jahrhundert die Stereotypen über die Gemeinschaft in Erinnerung zu rufen, und erzählt die Geschichte, wie diese Stereotypen entstanden sind.

Glaube

Wenn die Geschichtsschreibung versucht, die Frage zu beantworten, warum in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts so viele Menschen aus den südlichen Provinzen des Deutsch-Römischen Reiches in das unbekannte Ungarn auswanderten, konzentriert sie sich in der Regel auf die wirtschaftlichen, kriegerischen und religiösen Krisen der Region, die Landlosigkeit und die Epidemien.

Wenn die Geschichtsschreibung versucht, die Frage zu beantworten, wie die Grundbesitzer ihre Rekrutierungsgebiete auswählten, konzentriert sie sich im Falle der Deutschen auf Frömmigkeit, tiefe Religiosität und Fleiß.

Die Ausübung der Religion in der Muttersprache wurde zur stärksten Triebkraft der kleinen Gemeinden. Selbst in den Gemeinden, in denen immer mehr Menschen im Zuge des Handels oder des Austauschs von Arbeitskräften zweisprachig wurden, wurde der muttersprachliche Gottesdienst beibehalten. Die religiösen Gesellschaften und Gebetsgruppen innerhalb und im Umfeld der Kirche regelten und garantierten das interne Funktionieren der Gemeinschaft. Der erste Teil unserer Ausstellung erinnert an diese Zeit anhand der Objekte im sauberen Zimmer. Im Bauernhaus - sowohl im deutschen als auch im ungarischen - gab es einen besonderen Platz für heilige Gegenstände: Weihwasser, heilige Kerzen, die das Leben des ganzen Hauses und Hofes schützten.

Die Sammlung unseres Museums enthält eine große Anzahl von Objekten, die mit der individuellen und gemeinschaftlichen Andacht zusammenhängen: Heiligenbilder, Gebetsbücher, Rosenkränze.

Fleiß

Die Deutschen, die nach der türkischen Besatzung in das karge Land kamen, bauten ihre neuen Häuser mit harter Arbeit und Fleiß auf - so beginnen die meisten Beschreibungen der deutschen Volksgruppe in Ungarn, und weiter heißt es, dass die angesiedelten Deutschen von den Grundherren der Ländereien Land entsprechend der Zahl und dem Vermögen der Familie erhielten und vier bis sechs Jahre lang von den Rentenzahlungen befreit waren. In den Erzählungen der Deutschen in Ungarn wird die Arbeit als einziger Weg aus dem Elend in den Wohlstand genannt.

In den Berichten aus dem 19. Jahrhundert werden Deutsche und Ungarn am häufigsten in Bezug auf die Arbeit verglichen. Sie sprechen von fleißigen und sparsamen Schwaben im Gegensatz zu faulen und verschwenderischen Ungarn. Die Deutschen betreiben neben der Landwirtschaft ein kleines Handwerk und beteiligen sich an der ländlichen Arbeitsteilung. Sie handeln mit ihren Produkten. Auch die Frauen mähen, dreschen und fahren Fuhrwerke. Die puritanischen, sparsamen Deutschen werden reich und wohlhabend, im Gegensatz

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zu den hochgestochenen und luxuriösen Ungarn. Diese Stereotypen spielen eine wichtige Rolle für das Selbstbild der Gemeinschaft. Die betroffenen Gruppen fangen an, sich selbst in diesen Begriffen zu sehen. Gleichzeitig verweist das Artefaktmaterial des Museums auch auf die Gegenseitigkeit. Es ist schwer, ein Objekt zu finden, das nicht in jeder anderen ethnografischen Sammlung zu finden ist. Worin besteht also der Unterschied zwischen der Nähmaschine einer ungarischen Frau und der einer deutschen Frau? Wohl kaum in der Art und Weise, wie sie benutzt wird. Was macht ein Werkzeug deutsch oder ungarisch?

Die Nähmaschine und die Gegenstände aus der Schreinerei in der Ausstellung stammen aus unserer jüngsten Sammlung. Ihre früheren Besitzer haben sie in Totis/Tata aufbewahrt, aber sie wurden in Mezőberény und Tatabánya benutzt. Die Werkzeuge gehörten einer Frau, die als Deutsche aus Mezőberény als einziges Mitglied ihrer Familie der Aussiedlung entging. Sie nahm die Nähmaschine und einige Küchenutensilien aus ihrem Haus in Mezőberény mit nach Tatabánya. Ein ungarischer Verwandter, der Tischlermeister, ließ seinen Koffer als Andenken zurück, bevor er nach Amerika umgesiedelt wurde.

Moral

Die modernen Nationen des 19. Jahrhunderts bildeten sich in ganz Europa, auf der Suche nach ihren Ursprüngen, ihrer Vergangenheit, ihren einzigartigen Eigenschaften. Thema 3 unserer Ausstellung zielt darauf ab, diese Merkmale hervorzuheben.

Die Teilnahme an der Warenproduktion und am Handel förderte nicht nur die Anpassung, sondern auch das Selbstbewusstsein. In ihren Beziehungen zur Stadt und untereinander legten die Dörfer besonderen Wert darauf, ihre eigene Identität herauszustellen und zu signalisieren. Das geeignetste Instrument für diese Selbstdarstellung war die Mode der materiellen Kultur. Die Bindung an die eigene Tracht, Küche und Wohnkultur stärkte die Dorfgemeinschaften.

Die Trachten sind die größte Objektgruppe in unserer Sammlung. Es stellt sich die Frage, welcher Einfluss die Trachtenstücke unentbehrlich machte, nämlich die Einbindung von Fabrikmaterialien, Stoffen und Accessoires in die Tracht. Zunächst wurden die ungetragenen Kleidungsstücke nur in den Tiefen der Schränke und Schubladen aufbewahrt. Später bot das Museum eine Alternative, um Erinnerung und Tradition zu bewahren. Das Museum verdankt seine Haushaltstextilien der Tatsache, dass sie für einen viel längeren Zeitraum hergestellt wurden, als die Modernisierung sie übriggelassen hatte. Diese Vorstellung wird durch die Anzahl der Musikinstrumente in der Sammlung widerlegt. Während es von der Tracht genug gab, um über die Bewahrung des eigenen Erbes hinaus zur musealen Darstellung der gemeinsamen Vergangenheit zu gelangen, waren Musikinstrumente selten dauerhaft außer Gebrauch. Ihr Wert liegt nicht nur in ihrer materiellen Realität, sondern auch in ihrem Gebrauch, denn Musik ist heute eines der wichtigsten Elemente des Zusammengehörigkeitsgefühls der Deutschen in Ungarn. Dorf

Die Tatsache, dass die Gruppen der Deutschen in Ungarn erst in den 1930er Jahren

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eine nationale Gemeinschaft bildeten, ist sicherlich auf die Umstände der Ansiedlung zurückzuführen. Die Siedler kamen aus weit voneinander entfernten Gebieten, und ihre Dialekte waren unterschiedlich. Es dauerte drei Generationen, bis sie sich wie in Deutschland etabliert hatten. Es wurde ein Rahmen für die Arbeitsteilung mit anderen, wie den Ungarn oder Slowaken, geschaffen. Der Gebrauch der eigenen Sprache, die Ausübung der eigenen Religion, Erbschafts- und Heiratsbräuche festigten und schlossen die Gemeinschaften.

Unser Ausstellungsraum lenkt die Aufmerksamkeit auf ein solches Merkmal, das die Wahrnehmung der gesamten Gemeinschaft bestimmte. Während es in ungarischen Gemeinschaften eher üblich war, dass die Söhne zu gleichen Teilen am Land beteiligt waren und die Töchter eine Mitgift von der Familie erhielten, galten die Deutschen als Erben des Landes, und ihre Brüder und Schwestern konnten Handwerker und manchmal auch Priester werden. Obwohl dies bei weitem nicht das Gesetz war, wurde es als so üblich angesehen, dass es oft als Erklärung für den Wohlstandszuwachs der Deutschen herangezogen wurde.

Die Grundlage der landwirtschaftlichen Produktionsstruktur war der Boden, und davon gab es im sich modernisierenden Ungarn immer weniger. Als nach dem Zweiten Weltkrieg das Land weggenommen, die Eigentümer vertrieben und die Eigentumsverhältnisse aufgelöst wurden, wurde die geschlossene, sich selbst regulierende und strenge Dorfgemeinschaft, in der die große Mehrheit der Landbevölkerung lebte, abgeschafft.

Migration

Die Objekte unseres letzten Themenkreises erinnern an fast 200 Jahre Geschichte. Die Vorfahren der Mehrheit der heute in Ungarn lebenden Deutschen kamen zu einer Zeit in das Karpatenbecken, als das nach der türkischen Besetzung verlassene Land eine neue Bevölkerung erwartete. Damals sagte man, dass es keinen anderen Reichtum eines Staates gibt als den Reichtum, der sich an der Bevölkerung misst.

Während des gesamten 20. Jahrhunderts setzten die wechselnden Mächte und Mehrheitsverhältnisse in der mittel- und osteuropäischen Region alles daran, die Bevölkerung in eine einzige Kultur und ein einziges Regelwerk zu zwingen. Wer nicht in ihr Einheitsideal passte, wurde entrechtet, seiner Heimat und Muttersprache beraubt, zum Verlassen seiner Heimat gezwungen und, wenn es das Schicksal wollte, in den Tod getrieben.

Die Ausstellung kann von den Besuchern auf mehreren Ebenen betrachtet und aufgenommen werden. Es ist typisch für den Konsens, dass es bei uns eben so ist, dass wir wirklich so sind. Allerdings entsteht oft ein Gefühl des Mangels, das in der Struktur der Sammlung begründet ist. Das Ungarndeutsche Landesmuseum sollte kein Landhaus sein, sondern eine Auswahl ‚deutscher’ und ‚schwäbischer’ Objekte aus den alten Fundstücken, weshalb wir keine vollständige Sammlung haben und in der Ausstellung auch keine künstliche Sammlung schaffen wollten. Die besten Adressaten der Ausstellung sind die Kinder, die mit mehr oder weniger Wissen kommen und bei unseren Führungen und

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museumspädagogischen Veranstaltungen ihre ehrliche Meinung zu dem abgeben, was sie interessiert.

Ab 2023 ist unsere Ausstellung auch in virtueller Form verfügbar https://nemetmuzeum. hu/kiallitas, mit Klicks auf die Objekte, um zu weiteren Gegenständen der Sammlung zu gelangen. Da wir vor der Pandemie viele Rückmeldungen erhalten haben, dass die im Museum präsentierten Themen sehr nützlich für den Schulunterricht sind, wollten wir diese auch online zur Verfügung stellen und so das im Museum vorhandene Wissen erweitern.

Unsere Dauerausstellung Wir und die Anderen soll museales Denken lehren, die Zusammenhänge anhand der Objekte verstehen helfen. Gleichzeitig soll sie die Geschichte einer Zeit erzählen, in der diese Gegenstände wichtige Bestandteile des Alltags und der Kultur der deutschen Gemeinschaften in Ungarn waren.

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Gabriella Jaszmann

Jakob Bleyer Heimatmuseum

Heimatmuseen und Ausstellungen der Ungarndeutschen landesweit

- ein kleiner Vergleich -

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Nach dem Vortrag „Wir und die Anderen“ wollen wir nun unter uns bleiben, also man könnte sagen „wir und wir“ – aber trotzdem möchte ich in meinem Vortrag auf die Unterschiede, auf die Vielfalt hinweisen, welche die Ungarndeutschen charakterisiert. Jedenfalls auf dem Gebiet unserer Heimatmuseen und Ausstellungen.

Schauen wir zuerst an, wie alles begann!

Schon in den 1960-70er Jahren wurde in den Dörfern und Kleinstädten die Geschichte des jeweiligen Ortes erforscht. Vor allem in den Schulen, in Fachzirkeln, oder in der Bibliothek, im Kulturhaus oder in Museen. Es gab damals etwa 1400 Heimatkundefachzirkel mit vielen zehntausend freiwilligen Mitgliedern. Es begann eine intensive Sammeltätigkeit auch in den Dörfern, wo ungarndeutsche wohnten. Es war jene Zeit, als man zwar Deutschstunden in der Schule haben konnte, aber die waren noch nicht in den Stundenplan eingebaut. Auf Anregung der Deutschlehrer begannen die Schulkinder Geschichten, Sprüche, Verse oder Lieder aufzuschreiben, sie sammelten besondere Koch- und Backrezepte von früher. In vielen Ortschaften wurden dann Hefte oder ortsgeschichtliche Bücher davon gedruckt. Gleichzeitig wurden Volkstanzgruppen, Chöre gegründet und es war auch Mode geworden volkstümliche Theaterstücke zu spielen. Dafür brauchte man zuerst die Trachten zum Auftritt, oder als Kulisse für das Schauspiel auch bestimmte Gegenstände. All das machte die Menschen auf den Wert der Vergangenheit, so auch der alten Gegenstände aufmerksam.

Es wurden also Ausstellungen in den Kulturhäusern oder in den Schulen zusammengestellt. Anfangs hat man die Gegenstände nur für kurze Zeit ausgestellt, zu bestimmten Themen, und dann gab man sie wieder zurück. Wenn es aber gelang ein Haus oder einen eigenen Raum für die Ausstellung zu bekommen, dann hat man eine ständige ortsgeschichtliche Sammlung gegründet. Manchmal waren es thematische Ausstellungen zu bestimmten Berufen: Schusterwerkstadt, Schmiede, Barbier, Fassbinder, Tischler und ähnliche, - oder eine Gedenkausstellung über einen berühmten Menschen des Ortes. In diesen Häusern kamen die Heimatmuseen zustande. Man wollte zeigen, wie man in den 30er-40er Jahren gelebt hat. Wo man die anfänglichen provisorischen Ausstellungen aufgelöst hat und später wieder neu sammeln wollte, kam es schon mal vor, dass die Gegenstände nicht mehr da waren (man hat sie anderswohin gegeben, verkauft, weggeworfen). Aber es gab auch Ortschaften wo zu viele angeboten wurden. Auch hier in Budaörs haben wir mehr Gegenstände im Lagerraum, als im Heimatmuseum.

Wir leben heute immer mehr in einer „Wegwerfgesellschaft“, aber vor ein paar Jahrzehnten hat man die Gegenstände nicht sofort beseitigt. Sie kamen aus der guten Stube zuerst in die Wohnstube, in die Kammer, dann in den Schuppen, auf den Dachboden und erst dann hat man sie endgültig vernichtet, weggeworfen, wenn sie wirklich nicht mehr zu brauchen waren.

Welche Häuser hat man als Ausstellungsorte genommen, oder welche sollte man nehmen? Wenn man ein Heimatmuseum gründen möchte, dann auf jeden Fall ein Haus, das typisch

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für die Ortschaft ist. Die Zimmer sollten so aussehen, als wenn immer noch jemand im Haus wohnen würde. Also bis in die kleinsten Einzelheiten eingerichtet.

Die ortsgeschichtlichen Sammlungen können auch in besonderen Gebäuden sein, wie z.B. Mühle, ehemalige Kornlager, Presshäuser. Sie müssen nicht eine Wohnung darstellen, können in Vitrinen, auf Regalen, auf Bildern und Tabellen Gegenstände und Informationen zur Schau stellen.

Was macht ein Heimatmuseum auch offiziell zu einem Museum? Nur in Schlagzeilen die Kriterien: eine präzise Sammlung und Einrichtung, Inventarliste, Betriebserlaubnis, Fachpersonal, regelmäßige Öffnungszeiten und das Allerwichtigste – viele Programme, denn davon wird das Haus auch lebendig. Sonst bleibt es nur eine verstaubte Ausstellung! Wie werden unsere Heimatmuseen lebendig?

Durch Veranstaltungen, die darin oder um das Haus herum organisiert werden müssen. Museumsführungen, museumspädagogische Beschäftigungen (mit Basteln, interessanten Aufgaben oder Arbeitsblätter), Festivals, Dorffeste, Brauchtum in die es eingebunden wird (zum Beispiel: wenn man eine schwäbische Hochzeit „spielt“, dann kann das Heimatmuseum das Brauthaus darstellen, wo die Braut abgeholt wird).

Wir sagen immer, man muss vor allem die junge Generation, die Schulkinder gewinnen, denn sie haben noch Interesse, freuen sich vielleicht auch, wenn sie nicht immer nur in der Schulbank herumsitzen müssen – und sie bringen dann vielleicht auch ihre Eltern mit… Manchmal muss man die Leute durch ihren Magen, durch ihren Appetit „fangen“, also wenn man ein gastronomisches Brauchtum mit einbindet. Es werden ganze Festivals um bestimmte Speisen organisiert: in Geresdlak/Gereschlak mit Dampfknödeln, in Feked mit der „Stifolder“ Wurst, in Vecsés mit dem Kraut und Krautspeisen, in Váralja/Waroli mit Gugelhupf, in Máza/Mase mit Nüssen, in Harta mit Holunder usw. Vielerorts veranstaltet man schwäbische Hochzeiten – ein ganztägiges Programm in das alles mit eigebunden wird: Sprüche, Trachtenkleider, Lieder, Musik, Tanz und natürlich Speisen. Das Ziel und der Sinn der Heimatmuseen und der Heimatstuben ist kurz Zusammengefasst also folgendes: Pflege, Aufrechterhaltung und Weitergabe der örtlichen Gebräuche, fachgerechte Vorstellung, Aufbewahrung und Handhabung der ausgestellten Gegenstände, weitere Sammlung, Erweiterung.

Sehen wir nun konkret einige Häuser an, die man für Heimatmuseen genommen hat! In Somberek/Schomberg ist es ein Bauernhaus mit Klinkerziegeln an der Straßenfront und einem Laubengang mit gedrechselten Holzsäulen. Im Haus sind ein Paradezimmer, mehrere Wohnstuben, Küche und Wirtschaftsgebäude eingerichtet, die Scheune wurde als Gemeinschaftsraum gestaltet.

In Feked, auch als „Schwäbisches Hollókő“ bezeichnet, besteht das Dorf aus Häusern, die alle nach altem Stil erneuert wurden. Die verzierten Giebel mit den schmalen, hohen Türen sind typisch für den Ort. Als Heimatmuseum hat man jedoch ein einfaches, weißgetünchtes Haus genommen, in dessen hinterem Teil eine wunderbare Klumpen Ausstellung gibt. Das macht diesen Ort als besonders besuchenswert.

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Gabriella Jaszmann

Fachwerkhäuser gibt es auch, die als Heimatmuseum eingerichtet sind. Diese sind dokumentiert die ältesten, von deutschen Siedlern errichteten Gebäude. In Szederkény/ Surgetin sieht man sogar das typische Balkengerüst auf der Stirnseite, in Ófalu/Ofala und in Hidas/Hidasch ist es schon verputzt. Das Hidascher Haus ist im Skanzen von Szentendre nachgebaut worden und es befindet sich darin eine Vertreibungsausstellung mit interaktiven Elementen für die Besucher.

Bátaszék/Badeseck hat eine ähnlich reichverzierten Straßenfront. Im imposanten Bauernhaus stellen sich gleich alle Nationalitäten des Ortes vor und im geräumigen Keller gibt es eine Ausstellung aus archäologischen Funden.

Was passiert aber, wenn vor Ort kein einziges wirklich in seinem ursprünglichen Zustand erhaltenes Haus mehr gibt, die Gemeinde aber unbedingt ein traditionell aussehendes Heimatmuseum möchte. Dafür hat man in Hercegkút/Trautsondorf im Nordosten des Landes auch eine Lösung gefunden. Man ein neues Haus anhand der früheren Grundrisse errichtet und mit alten Gegenständen eingerichtet. Die alten Häser standen noch mit Strohdächern da, auf dem Heimatmuseum gibt es schon Dachziegel – wegen der Brandgefahr.

Városlőd/Waschludt hat ein typisches Bakonyer Haus, mit gemauerten Säulen und Brüstung im Laubengang. Drinnen mit Vorstellung der ortstypischen Handwerke: Keramik- und Glasherstellung.

Zsámbék/Schambek ist wegen dem Relief des Heiligen Vendelin auf dem Giebel, dem Schutzpatron der Hirten wertvoll und einzigartig.

Ausstellungen in besonderen Gebäuden: Mórágy/Maratz – ehemalige Walzmühle, das sehr wohl ein industrielles Museum hätte werden können, hätte man die Maschinen nicht saniert. Jetzt gibt es da in vier Stockwerken eine sehr reiche Ortskunde Ausstellung mit Wohnstuben und Schulklasse von vor 70 Jahren.

In Bóly/Bohl hat man ein Kornlager neugestaltet – hier sind eine Bibliothek der Kleinstadt und die Ausstellung untergebracht, oder Diósd/Orsch, wo sich die Heimatstube in einem ehemaligen Presshaus befindet, dessen Keller als „Party-Ort“ regelmäßig vermietet wird. Die Einnahmen tragen das kleine Museum.

In der Mühle des Heiligen Johannes von Nepomuk in Tata/Totis befindet sich das Basismuseum der Ungarndeutschen (Siehe dazu den Beitrag von Katalin Bachmann!).

Was wird gerne bewahrt? Einerseits muss man für ein glaubwürdiges Einrichten mit Möbeln und Gebrauchsgegenständen sorgen, darüber hinaus zeigt man aber gerne das besondere, das nur für uns typische.

Es gibt Gegenstände, die im Grunde heute noch existieren, aber wesentlich anders aussehen und funktionieren: Bügeleisen, Nähmaschine, Kochtöpfe, Handtuchhalter –aber statt Waschecke gibt es bereits ein Badezimmer… In der Kinderwelt hat sich das Material der Gegenstände wesentlich verändert, denken wir nur an Kindermöbel oder einige Spielzeuge (Puppen, Wagen/Auto).

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Vieles ist komplett aus der Mode gegangen: Tellerregale, Zierteller, bemalte Möbel, Spitzendecken, bestickte Textilien – all das zeigen unsere Heimatmuseen noch. Und auch die Gegenstände, die über tiefe Religiosität zeugen, wie die ganzen Heiligenbilder, Mess-, Gebet- und Gesangsbücher, Mitbringsel der Pilgerfahrten, Bethlehems und sogar Relikte aus der Kirche gerettet, wie Kirchenfahnen, Messbecher.

Es gibt besondere Textilien, wie diejenigen, die man beim Trauerfall benutzte. Ganz einzigartig ist das bestickte Tuch in Harta/Hartau, welches eigentlich eine Familienchronik mit Geburts- und Sterbedaten ist. Ähnlich einzigartig sind die Kindstücher des sog. Branauer Dreiecks, nach bestimmtem Ritual gewebt und verwendet.

In Gyönk/Jink die Perlenhauben, eine typische Kopfbedeckung der Frauen, es gab hier eine ganze Menge von Vielfalt und Mustern bei der Gestaltung; oder vielerorts gibt es die verschiedenen Patschker (Tutyi) mit und ohne Verzierung, auch als Strumpf bis zum Knie. Budakeszi/Wudiges hat im Heimatmuseum einen Brautteller, der für ein bestimmtes Brautpaar gefertigt wurde. Man ließ auch gerne den Brautkranz mit einem Hochzeitsfoto einrahmen, als ewiges Andenken an den (hoffentlich) schönsten Tag im Leben der Hausfrau.

Auch bei den Möbeln gibt es einige, die nur in dem Ort zu finden sind, von keiner anderen Gemeinde übernommen wurden. So wie in Harta/Hartau alle Möbel mit dem typischen Dunkelblau als Grundfarbe und symbolhaften Farben und Formen gestaltet wurden und zur Grundaussteuer eines jeden Mädchens gehören mussten. In Zsámbék/Schambek gibt es ebenfalls typische Möbel, aber noch aus viel früheren Zeiten, Fachleute meinen es wäre eine aus dem Schwarzwald mitgebrachte Motiven- und Farbenwelt, hier auf hellgelbem Untergrund. Die gemaserten Möbel sind keine Seltenheit, aber in diesen Rot-Tönen, wie in Szendehely/Sende, sind sie nirgendwo im Lande zu finden.

In den meisten Häusern wird ein Interieur etwa aus den 30-er Jahren eingerichtet. Die Ursache hierfür könnte darin liegen, dass die meisten, und ältesten noch vorhandenen Gegenstände etwa aus dieser Zeit stammen. Auch das Gedächtnis reicht noch bis dahin – also es leben noch diejenigen Menschen, die das gesehen, erlebt, damit gelebt haben, die Werkzeuge und Gegenstände in ihrer Funktion gesehen, sie gebraucht haben.

Es ist wichtig, dass diese Orte nicht als Schauplätze „toter Gegenstände“, nur halbwegs ausgenutzt liegen bleiben. Sie sollten in optimalem Fall als Zentrum des kulturellen Lebens in den Dörfern wirken, die Menschen zusammenführen und dort wo sie eine (oder mehrere) motivierte energische Person als „Anführer“ haben, klappt das auch.

In diesem Sinne möchte ich eine „Ziertuch-Weisheit“ allen mit auf den Weg geben: „Wenn Trübsal einkehrt, nicht verzage, es kommen wieder bessere Tage“

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Gabriella Jaszmann
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Vachajáné Kisgyőri Szilvia

Geschichte und Mundart

Sattel-Neudorf/Nyergesújfalu

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1. Die Geschichte

1.1. Die geographische Lage

Sattel-Neudorf ist eine kleine Industriestadt mit 7400 Einwohnern. Sie liegt 50 km von Budapest entfernt im Komitat Komorn-Gran (KomáromEsztergom) an der alten Landstraße Wien-Ofen, die heute Straße 10 genannt wird. Die Stadt wird südlich vom Gerecse-Gebirge und nördlich von der Donau sowie von der Slowakei begrenzt. Die Donau ist hier ein Grenzfluss. Die andere Seite des Flusses gehört bereits zur Slowakei.

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1.2. Sattel-Neudorf vor der Ansiedlung

Wegen dieser günstigen geographischen Lage war das Gebiet schon zur Bronzezeit bewohnt, aber auch die Römer haben hier ihre Spuren hinterlassen. Dort, wo sich die Stadt heute befindet, stand ein Militärlager namens Crumerum.

Während diese günstige Lage in Friedenszeiten ein Segen bedeutete, war sie in Kriegszeiten ein Fluch. Sattel-Neudorf wurde im Laufe der Geschichte mehrmals verwüstet und entvölkert. Die Siedlung musste immer wieder neu aufgebaut werden, weshalb sie Jahrhunderte lang Újfalu/ Neudorf genannt wurde. Nicht nur nach dem Tatarenzug, sondern auch nach den Türkenkriegen und dem RákócziFreiheitskampf verödete die Ortschaft. Zwischen 1709 und 1712 war die Siedlung jedoch das letzte Mal unbewohnt.

Der Name Sattel-Neudorf tauchte im Jahr 1715 wieder auf. Laut der Landesvolkszählung lebten hier damals 48 Familien und fünf Jahre später (also 1720) 38 – hauptsächlich ungarische – Familien.

1.3. Die Ansiedlung

Aus der Komitatsvolkszählung im Jahre 1728 können wir erfahren, dass sich die Bevölkerungszahl innerhalb von acht Jahren verdoppelt hat. In der Siedlung wohnten zu dieser Zeit schon etwa 380 Menschen aus 77 Familien, die mehrheitlich deutscher Abstammung waren. Von diesen 77 Familien trugen 49 deutsche und 28 ungarische Namen. Vier Jahre später (1732) lebten hier, laut des kirchlichen Protokolls, schon ungefähr 170 Familien: 660 Personen, die zur Beichte gehen durften, das bedeutet etwa 850-870 Menschen insgesamt, wenn wir auch die Kinder dazuzählen. Weil das Dorf im Jahre 1755 auch nur 907 Einwohner hatte, lässt sich daraus folgern, dass die organisierte Kolonisation in Sattel-Neudorf zwischen 1720 und 1732 stattfand. Natürlich gab es noch Bevölkerungsfluktuationen, denn die Pest hatte ihre Opfer und auch die Familien wanderten innerhalb des Landes hin und her. Wie wir wissen, wohnten 177 Familien im Jahre 1764 in Sattel-Neudorf und von diesen Familien hatten 51 ungarische und 126 deutsche Namen.

Mehr wissen wir nicht, denn 1728 zerstörte ein verheerendes Feuer das gesamte Dorf mit dem Archiv des Pfarrhauses. Aus diesem Grund haben wir erst ab 1730 Kirchenregister im Pfarrhaus. Wenn man diese untersucht, kann man viele Familiennamen finden, die es heute noch gibt, wenn auch madjarisiert, z. B.

62 Vachajáné Kisgyőri Szilvia

Adolf, Bauer, Burgermeister, Eipl, Ernszt, Freitag – Fenyvesi, Gröschl – Kisgyőri, Hartmann – Hévizi, Goldschmidt, Haselmayer, Heiligermann – Hajnal, Hummel, Kappenstein – Kátai, Komeiner, Lachner, Ledergerber, Lohner, Maul –Nyergesi, Mayer – Magyar, Mechler –Mezei, Menner, Nickl, Prenker – Palotás, Puchner – Patakfalvi, Rüdiger – Reményi, Scheirich, Schulhof, Speier – Somlai, Schromeis, Willinger.

Sattel-Neudorf ist also eine ungarndeutsche Siedlung, die zur Zeit der Ansiedlung noch den Namen Neudorf trug, ausgesprochen „Naidorf“. Erst ab Ende des 18. Jahrhunderts nennt man die Siedlung Sattel-Neudorf.

1.4. Wie haben die Siedler gelebt?

Sattel-Neudorf war ein landwirtschaftlich geprägtes Dorf. Die Einwohner waren Bauern. Sie beschäftigten sich mit Ackerbau, Weinbau und Pferdezucht. Das Dorf war für seine kleinen, zähen und schnellen Pferde berühmt. Im 18. Jahrhundert wurde hier sogar eine Post- und Pferdewechselstation eingerichtet.

Daher stammt auch das Wappen der Siedlung, das die Donau, die Berge und die ankommende Post mit dem Hornisten abbildet.

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Der die österreichisch-ungarische Monarchie verbindende Personen-Postkutschen-Verkehr bekam Konkurrenz. Die Eilbauern aus Neudorf/ Sattel-Neudorf, die auch in den Romanen von Mór Jókai (Maurus Jokai) vorkommen, transportierten mit ihren Bauernwagen und schnellen Pferden sowie den gut organisierten Pferdewechseln den Reisenden zwischen Ofen und Wien viel schneller als die Postkutsche.

Und wenn es schon um berühmte Persönlichkeiten geht, muss auch erwähnt werden, dass der berühmteste Schwabe der Stadt, der Maler Károly Kernstok (1873-1940) ist, dessen Gemälde die Einheimischen, die Donau und natürlich die Pferde darstellen.

1.5. Die Industrialisierung

Die Industrialisierung begann in Sattel-Neudorf am Ende des 19. Jahrhunderts, aber auch davor lebten hier, wie in allen Dörfern, Handwerker wie Schmiede, Tischler, Fassbinder, Bäcker und Schneider, besonders hervorragend und berühmt waren aber die Vertreter der Handwerke Steinmetz und Wassermüller. Auf der Donau bei Sattel-Neudorf gab es im 19. Jahrhundert acht bis elf Wassermühlen und die Steinmetzmeister der Siedlung arbeiteten sogar an Bauwerken von nationaler Bedeutung wie der Basilika von Gran und der Kathedrale von Szeged. Die Handwerker des 19. und 20. Jahrhunderts legten den Grundstein für die heutige Großindustrie.

Ende des 19. Jahrhunderts hatte die Siedlung schon eine Ziegel(1862-1969) und eine Zementfabrik (1872-1926) und 1903

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gründete der Österreicher Lajos Hatschek die Eternitfabrik, wo Elemente zum Dachdecken hergestellt wurden. Die Menschen, die kein Feld besaßen oder keines geerbt hatten, konnten in den Fabriken arbeiten. Wegen der Industrie stieg auch die Bevölkerungszahl: Im Jahre 1869 – noch bevor es Fabriken gab – hatte das Dorf 1603 Einwohner, 1910 schon 2376. Es begann die Assimilation, die damals auch vom Staat erwünscht war. Obwohl zu Beginn des 20. Jahrhunderts Deutsch nicht mehr die Unterrichtssprache in der Schule von Sattel-Neudorf war und auch in der Kirche der Siedlung nur noch auf Ungarisch gepredigt wurde, sprachen die Menschen zu Hause, in Weinkellern, auf Bällen und in Kneipen weiterhin Schwäbisch. Im Jahre 1941 wurde dann am Donauufer die ViscosaFabrik gegründet, die neue Fabrik, die neue Kraft, die die Siedlung veränderte. Wegen der Arbeitsmöglichkeiten in der Fabrik kamen viele Menschen aus anderen Teilen des Landes und auch aus Siebenbürgen und der Slowakei (aus dem ehemaligen Oberland/Oberungarn) ins Dorf. Die Bevölkerungszahl ist dadurch stark gestiegen.

Während Sattel-Neudorf im Jahre 1941 nur 2719 Einwohner hatte, lebten hier zwanzig Jahre später 5465 Menschen und im Jahre 1988 lag die Bevölkerungszahl schon bei 8150. Die Siedlung erhielt 1989 die Stadtrechte. Sattel-Neudorf entwickelte sich also von einem landwirtschaftlich geprägten Dorf zu einer Industriestadt.

1.6. Wie haben die ungarndeutschen Familien diese Entwicklung und darüber hinaus die Ära nach dem Zweiten Weltkrieg erlebt? – Die Familien, die 200 Jahre lang das Dorf am Leben gehalten haben?

Obwohl die organisierte Vertreibung der Ungarndeutschen die Schwaben von SattelNeudorf verschonte, gab es schwäbische Familien, denen ihre Häuser und Besitztümer weggenommen wurden und sie zogen bei ihren Verwandten ein.

Außerdem sollte man nicht vergessen, dass die Menschen auch von der Verstaatlichung und der Kollektivierung der Landwirtschaft betroffen waren. Nach solchen Geschehnissen mussten sie ihr tägliches Brot in den Fabriken und in der LPG (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft) verdienen. Sie konnten in dieser Situation, in dieser Ära, ihre Bräuche, ihre Tracht, ihre Sprache und eigentlich ihr Nationalbewusstsein nur teilweise

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bewahren. Die Siedlung war ohnehin nicht in sich geschlossen und, wie schon erwähnt, gab es auch viele neue nur Ungarisch sprechende Einwohner und Arbeit suchende Menschen. Also waren die Einheimischen nicht unter sich und sprachen in dieser Epoche deswegen meist aus Selbstschutz nicht Schwäbisch, nicht einmal zu Hause, vor allem „NICHT VOR DEM KIND“. So wurde in Sattel-Neudorf die sogenannte Stumme Generation (die Generation, die zwischen 1930 und 1945 geboren wurde) besonders „stumm” und es gab auch noch eine natürliche Assimilation, deshalb ist es in Sattel-Neudorf besonders schwer die Bräuche und die Sprache zu erforschen. Heutzutage können in der Stadt nur noch zwei oder drei Frauen Mundart sprechen.

2. Die Mundart von Sattel-Neudorf im Buch „Geschichten aus der Schublade“

2.1. Vorgeschichte des Buches

Geschichten aus der Schublade Traditionen und Lebensgeschichten der schwäbischen Gemeinschaft von Sattel-Neudorf und Taath

Ich habe die Bräuche, die Sitten und die Mundart von Sattel-Neudorf drei Mal erforscht, zuerst im Jahre 1992. Darüber habe ich eine Diplomarbeit mit dem Titel Nyergesújfalui népszokások/Volksbräuche in Sattel-Neudorf verfasst. Heute ist es interessant zu sehen, dass ich damals mit Menschen gearbeitet habe, die in den 1910er und 1920er Jahren geboren sind, vor mehr als hundert Jahren.

2009 hat die Stadt Sattel-Neudorf meine Diplomarbeit veröffentlicht. Damals habe ich mich das zweite Mal mit der Volkskunde meiner Geburtsstadt beschäftigt.

Und das dritte Mal: Dank unserer Bürgermeisterin, Magdolna Mihelik nahm das Bürgermeisteramt von Sattel-Neudorf mit den Nachbargemeinden am Projekt „Lokale Identität Nyergesújfalu, Bajót, Tát“ teil. 2020/2021 habe ich im Rahmen dieses Projekts

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wieder die Traditionen und die Mundart von Sattel-Neudorf erforscht und bisher mit 27 Gewährspersonen gearbeitet. Die Leiterin des Projekts war Viktória Horvát, sie hat mich und meine Kollegin, die Informatikerin und Bibliothekarin Erika Szőke, darum gebeten das Buch „Geschichten aus der Schublade“ zusammenzustellen.

2.2. Konzeption und Aufbau des Buches

Frau Szőke und ich waren also die Redakteurinnen. Wir haben uns den Buchtitel zusammen ausgedacht. Ich wollte unbedingt etwas Schwäbisches, so fiel mir das schwäbische Wort „sublót“/Schublade ein und Frau Szőke stellte das Wort „Geschichten“ vor die „Schublade“. Man bewahrt bekanntlich seine Fotos in der Schublade auf und wenn man die Schublade herauszieht und seine alten Fotos in die Hand nimmt, werden alte Geschichten und Erinnerungen lebendig.

An dem Buch haben zahlreiche Autorinnen und ein Autor mitgearbeitet, denn auch der schwäbischen Nachbarstadt Tát (auf Deutsch: Taath) sind einige Seiten gewidmet. Wir können also über die Volksbräuche, die Tracht, das Heimatmuseum sowie über die Geschichte der Ansiedlung und die Arbeit der deutschen Selbstverwaltung nicht nur von Sattel-Neudorf, sondern auch von Tát/Taath lesen.

Meiner Meinung nach liegen die Stärken dieses Buches in den vielen Fotos, die wir von den Einwohnern bekommen haben und natürlich in den neu gesammelten Sprüchen und Liedern, die mit Hilfe der im Buch enthaltenen QR-Codes hörbar sind. Unser Ziel war es, dass das Buch leicht konsumierbar und bunt werden sollte. Es wurde auf Ungarisch geschrieben; für die Lieder und Sprüche habe ich eine phonetische Umschreibung versucht, damit sie in der ursprünglichen Aussprache gelesen werden können. Mit Hilfe der Gewährspersonen habe ich die Lieder und Sprüche ins Ungarische übersetzt, dann ins Deutsche.

Die Bräuche von Sattel-Neudorf habe ich systematisiert und in drei Teile gegliedert. Die Fotos sowie die Lieder und Sprüche habe ich auf den richtigen Anlass abgestimmt. Nehmen wir diese drei Teile unter die Lupe:

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2. 3. Volksbräuche, Lieder und Sprüche von Sattel-Neudorf in Mundart

2.3.1. Im ersten Teil „Tätigkeiten im Bauernjahr“ geht es um die gemeinsamen Arbeiten: Federschleißen, Maisschälen, Schweineschlacht und natürlich um die Weinlese. In SattelNeudorf war der Weinbau bedeutend; die Siedlung hat sogar ein Kellerdorf, deshalb konnte ich auch Weinlieder sammeln. Hier möchte ich ein bekanntes Lied vorstellen, das aber in SattelNeudorf eine eigene Variante hatte.

Jo, jo, der Wain ist kuad, i brauch kain nain Huad, i setz main oidn auf, vor i ain Wossa sauf.

Rund ist die Kugl, und schön ist die Wöld, die Naidorfer Purschn/ Madl, die hob jo kain Göld.

Ja, ja, der Wein ist gut, ich brauche keinen neuen Hut, ich setze meinen alten auf, bevor ich Wasser saufe.

Rund ist die Kugel, und schön ist die Welt, die Neudorfer Burschen/Mädchen, die haben kein Geld.

Wenn wir das Ende des Liedes unter die Lupe nehmen, können wir sehen, dass es in der vorletzten Zeile einen Schrägstrich gibt. Die MÄDCHEN haben nämlich das Lied so gesungen, dass die Neudorfer Burschen kein Geld haben, die BURSCHEN ihrerseits haben es so gesungen, dass die Neudorfer Mädchen/Madl kein Geld/Göld haben. Das Lied wurde also in Sattel-Neudorf zum Spottlied. Wenn Sie auf die zwei Links unten klicken, können Sie das Lied sowohl aus der Sicht der Mädchen als auch der der Jungen hören. Zuerst singt Frau Bábszki geb. Ilona Huli, die Gewährsperson des Liedes, dann hören Sie Bernard und Noel Sax, die Schüler der Károly Zafféry Salesianischen Mittelschule in Sattel-Neudorf. Sie haben das Lied auf Schwäbisch, in der ursprünglichen Aussprache, gelernt. Ihr Vater, Norbert Sax, der das Lied ein bisschen verarbeitet hat, begleitet sie auf dem Akkordeon.

https://youtu.be/ahs13Yo6ISs

https://www.youtube.com/watch?v=BZJq8Dc556o

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2.3.2. Wenn die Mädchen und Jungen einander necken, führt dies manchmal zur Hochzeit. So kommen wir zum zweiten Teil der Volksbräuche von Sattel-Neudorf, „Bräuche im Lebenslauf“. Hier geht es um die Geburt, um den Tod, aber hauptsächlich um die Hochzeit. Beim Thema Hochzeit ist unsere längste Schrift auf Schwäbisch zu finden. Sie ist ein Trinkspruch aus dem Jahr 1934. Frau Balogh geb. Teréz Szabó, die den Spruch niedergeschrieben hat, war damals 12 Jahre alt. Ihr Bruder sollte ihn auf einem Hochzeitsfest aufsagen. Ich habe diesen Trinkspruch noch 2009 von Frau Balogh bekommen und ihn mit ihrer Hilfe ins Ungarische, dann ins Deutsche übersetzt. Der Spruch besteht aus drei Seiten, ich stelle hier die erste und deren deutsche Übersetzung vor. Vor dem Lesen des Spruches muss ich jedoch noch wegen der Rechtschreibung des Textes in Mundart bemerken, dass Frau Balogh und auch meine anderen Gewährspersonen kein Deutsch in der Schule gelernt haben. Damals durften sie das nicht.

Trinkspruch/Gesundheitsspruch

Ich bitte um einen kleinen Stillstand. Bitte, erlauben Sie mir ein-zwei Schritte vorzutreten. Hier ist ein Glas Wein, das ist so fein. Dieser Wein ist an kühlen und klaren Tagen gewachsen, er brauchte aber nicht nur kühle und klare Tage, sondern auch Sonnen- und Mondschein. Er brauchte nicht nur Sonnen- und Mondschein, sondern Tage und Nächte. Er brauchte viele Tage und auch Regen. Er ist gewachsen zwischen der Rebe und dem Rebstock und nun wollen wir auf unsere Gesundheit trinken.

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2.3.3. Im dritten Teil „Bräuche im Jahreslauf“ sind einige Sprüche zu finden. Drei von ihnen möchte ich exemplarisch herausgreifen: Erstens einen Ausschnitt aus einem Krippenspiel, das ich noch 1992 gesammelt habe1, heutzutage kennt es leider niemand mehr in der Stadt.

Maria, Maria tritt herain, wead es schon erlaubeds sain

Da kam Maria herein, und sang:

Wann es wead erlaubeds sain, so wer i tretten ta herain.

Maria, Maria tritt herein, es wird schon erlaubt sein.

Wenn es erlaubt sein wird, so werde ich hereintreten

Zweitens einen im Jahr 2020 entdeckten Neujahrsspruch: Meine Gewährsperson war Frau Papp geb. Márta Komeiner, die Vorsitzende der Deutschen Nationalitätenselbstverwaltung Sattel-Neudorf.

Wüntsch i, wüntsch i, wais net wos, Kraifz in Sock und kebs mi wos

Ich wünsche, ich wünsche, ich weiß nicht was. Greif in den Sack und gib mir etwas.

Und zuletzt den Spruch, den die Hirten und Jungen am 28. Dezember, am Tag der u schuldigen Kinder, aufsagten2 :

Frisch und ksund.

Frisch und ksund.

Zaitlich aufste.

Und in di Khiaha ke.

Tes is ksund.

Frisch und gesund. Frisch und gesund. Zeitig aufstehen. Und in die Kirche gehen. Das ist gesund.

Wie dieser Brauch verlief, können Sie auf den Link klickend erfahren. In dieser Szene wird sowohl auf Deutsch, als auch in Mundart gesprochen. https://www.youtube.com/watch?v=YD_nwlTP6WQ

1 Gewährspersonen: Frau Adolf geb. Julianna Abronits, Frau Speier geb. Julianna Mechler

2 Gewährspersonen: Frau Adolf geb. Julianna Abronits, Frau Balogh geb. Teréz Szabó, Frau Varga geb. Mária Ledergerber

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2.4. Auswirkung des Buches

Man kann die Frage stellen, was man mit dem im Buch festgehaltenen Wissen machen kann. Die Antwort lautet: Wir geben es weiter. 2022 haben wir auch im Rahmen des Projekts „Lokale Identität“ in der Károly Zafféry Salesianischen Mittelschule in SattelNeudorf – wo ich als Lehrerin tätig bin – einen schwäbischen Traditionswettbewerb organisiert. Um die schwäbischen Traditionen neu zu beleben, habe ich einige Bräuche dramatisiert, z. B. den Brauch am Tag der unschuldigen Kinder oder das Faschingsbegräbnis, aber wir haben mit den Kindern auch das Ratschen dargestellt und es gab noch Schüler, die einen kleinen Film über die schwäbische Weinpresse gedreht haben. Wenn Sie auf den Link klicken, können Sie sich unseren Wettbewerb ansehen, an dem auch die Kindergarten- und Grundschulkinder der Stadt teilnahmen: https://www.youtube.com/watch?v=DpbFFnQDwWA

Apropos Filme: Wir haben im Rahmen des Projekts „Lokale Identität“ vier kurze Filme gedreht, die auf dem YouTube Kanal zu sehen sind. Die Filme dauern zwanzig Minuten. In den ersten zehn Minuten wird in ungarischer Sprache über eine Tradition erzählt, in den folgenden zehn Minuten wird etwas gebacken oder gekocht, was zur gegebenen Tradition gehört.

https://www.youtube.com/watch?v=UZPrQ53c2O8, (Tätigkeiten im Bauernjahr, Tunkedli)

https://www.youtube.com/watch?v=sUEs6aRtEzg&t=37s (Fasching, Spricceni Gropfe/Spritzkrapfen

https://www.youtube.com/watch?v=8FFCdN64txY (Hochzeit, Gugelhupf, Weinsuppe)

https://www.youtube.com/watch?v=JQTxVoANmeY&t=1214s (Hochzeitsfest, Spicpua (Spitzbuben)/ Gitterkuchen, Pohani Nokel/gebratene Nockerln

3. Kulturelles Leben der Ungarndeutschen von Sattel-Neudorf

Im Jahr 2006 wurde in unserer Stadt die Deutsche Nationalitätenselbstverwaltung SattelNeudorf gegründet und wir haben schon seit 1981 in der Károly Kernstok Grundschule „Nationalitätenunterricht“, das heißt, den Kindern wird in zusätzlichen Unterrichtsstunden Wissen über die Sprache und die Kultur ihrer Vorfahren vermittelt. Die deutsche Sprache wird den Kindern auch im zweisprachigen Kindergarten Napsugár/Sonnenstrahl spielerisch beigebracht. Außer diesen sind in Sattel-Neudorf ein deutschsprachiger Chor und eine Blaskapelle namens Altsteiner tätig. Die ungarndeutschen Traditionen werden noch im János Nyergesi Gedenkhaus und Heimatmuseum bewahrt, darüber hinaus haben wir seit Dezember einen ungarndeutschen Lehrpfad, dessen Leitmotiv das Pferd ist. Beenden möchte ich meine Arbeit mit einem Abendgebet, mit dem unsere Ahnen den Tag abgeschlossen haben3.

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3 Gewährspersonen: Frau Adolf geb. Julianna Janositz, Frau Kicsindy geb. Teréz Hummel

Gottes, Jesus Nome

ke-ma schlofe/ke i schlofe. Vierzehn Engel soj mi woche, zwa Kopf, zwa Fuß, zwa rechte Saiten, zwa linke Saiten, zwa soj mi decke, zwa soj mi wecke, zwa soj mi fiehen in tere himmlische Paradies.

Amen

Im Namen Gottes, Jesus gehen wir/gehe ich schlafen Vierzehn Engel sollen über mich wachen, zwei an meinem Kopf, zwei an meinen Füßen, zwei an der rechten Seite, zwei an der linken Seite, zwei sollen mich decken, zwei sollen mich wecken, zwei sollen mich bringen in das himmlische Paradies.

Amen

Bibliographie

1. Eckel, Tanja: Die deutschen Dialekte in Ungarn-ein Forschungsüberblick. (Diplomarbeit) https://services.phaidra.univie.ac.at/api/object/o:1296219/get (03.01.2024, 15:44) S. 12

2. E. Nagy, Lajos (Hg.) Zu Gast In Ungarn, Reiseführer, Band 3: Komitat KomáromEsztergom. Well-Press, Miskolc. S. 54-56.

3. Márkus, Éva (Hg.): Zur Volkskunde der Ungarndeutschen. Budapest, Trezor Kiadó, 2010. S.14-117.

4. Padányi, Lajos: Nyergesújfalu monográfiája. Nyergesújfalu Város Önkormányzata, 2000. S. 47-295.

5. Padányi, Lajos: Adalékok Nyergesújfalu helytörténetéhez. Nyergesújfalu Város Önkormányzata, 2013. S.83-84.

6. Seewann, Gerhard: Die Epoche des Dualismus 1867-1918. In Gerhard Seewann, Michael Portmann: Donauschwaben, Deutsche Siedler in Südosteuropa, Potsdam, Deutsches KULTURFORUM, östliches Europa, 2020. (Donauschwäbisches Zentralmuseum Ulm) S. 119-127.

7. Somlai, Anikó: Siedlungsgeschichte und Volkskunde von Sattelneudorf/Nyergesújfalu.

72 Vachajáné Kisgyőri Szilvia

Nyergesújfalu Önkormányzata, 2009. S. 6-31.

8. Szőke, Erika, Vachajáné Kisgyőri, Szilvia: Történetek a sublótból, Nyergesújfalu és Tát sváb közösségének hagyományai, életmeséi/Geschichten aus der Schublade, Traditionen und Lebensgeschichten der schwäbischen Gemeinschaft von Sattel-Neudorf und Taath. Nyergesújfalu Város Önkormányzata, 2021.

9. Tóth, Gábor: Egy német nemzetiségi közösség 200 éve. Tata: Német Nemzetiségi Múzeum/Totis: Ungarndeutsches Museum, 1969.

10. Tóth, Gábor: Telepítés Nyergesújfalun a XVIII. században. Tata: Német Nemzetiségi Múzeum/Totis: Ungarndeutsches Museum, 1970.

11. Trócsányi, Zoltán: Nyergesújfalu társadalma, In: Magyar szemle, 1931. (Dezember) S. 315-325.

12. Menner, Petra: Lehrpfadtafeln von Sattel-Neudorf/Nyergesújfalu: Károly Kernstok, Vom Handwerk zur Industrie. 2023.

Fotos

Géza Burgermeiszter, Jean U. Jacques, András Jenes, Frau Kicsindy geb. Teréz Hummel, Frau Kisgyőri geb. Erzsébet Komeiner, Frau Lachner geb. Erzsébet Lohner, Frau Papp geb. Márta Komeiner, Pál Süttő, Károly Szabó, Frau Szalai geb. Veronika Zsuzsanna Menner

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Dr.habil Maria Erb

ELTE, Germanistisches Institut, Budapest

„Das Schicksal schnitzte unsere Wiege aus Ulmer

Holz“: Erinnerungsstätten der Ansiedlung in Ungarn

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Seit Beginn der 1990er Jahre entstehen in ungarndeutschen Siedlungen neue Elemente im öffentlichen Raum: Gedenkstätten, die als Abdrücke der kollektiven Erinnerung den einschneidenden Wendepunkten der Geschichte des örtlichen Deutschtums – der Ansiedlung, der Verschleppung und der Vertreibung – gewidmet sind. Ihre Entstehung steht in eindeutigem Zusammenhang mit der Wende in Ungarn, die nicht nur zur politischen und wirtschaftlichen Umgestaltung des Landes führte, sondern – u.a. durch die umfassende Verbriefung der Minderheitenrechte im Jahre 1993 – auch für die Nationalitäten einen Neuanfang ermöglichte.

Die schnelle Zunahme der Gedenkstätten machte für mich das vielschichtige wissenschaftliche Potential ihrer Erforschung immer deutlicher. Es entwickelte sich daraus ein Forschungsprojekt mit systematischer Datenerhebung landesweit. Diese umfasst nicht nur eine detaillierte Fotodokumentation über die einzelnen Gedenkstätten vor Ort, sondern – um ihre Entstehungsgeschichte nachzeichnen zu können – auch Interviews mit den Initiatoren und Stiftern einerseits und den Künstlern andererseits. Ergänzend dazu kommen noch die durch teilnehmende Beobachtung gewonnenen Daten bei Einweihungsfeierlichkeiten, Gedenkveranstaltungen und -messen, Kranzniederlegungen. An dieser Stelle möchte ich mich bei den zahlreichen Gewährsleuten bedanken – ihre Zahl geht in die Hunderte –, die zu meiner Dokumentations- und Forschungsarbeit beigetragen haben. Dankesworte gehen auch an die Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen (LdU) für die Unterstützung des Projektes und an Josef Geibl für die Fotos vor Ort sowie die Verwaltung der Datenbank. Ein herzliches Vergelt’s Gott!

Meine Ausführungen basieren auf die bisher gewonnenen Informationen und Angaben, in Anbetracht der Menge dieser und aus Gründen des gebotenen Umfanges jedoch mit Beschränkung auf ausgewählte Aspekte. Im ersten Teil wird durch Heranziehung verschiedener Eckdaten ein Überblick zu den Gedenkstätten geboten, im zweiten steht im Mittelpunkt der Ausführungen als Fallbeispiel die Ulmer Schachtel. Eine detaillierte Dokumentation und Analyse der Erinnerungsstätten der Ansiedlung in Form einer Monographie ist im Entstehen begriffen und soll 2024 erscheinen.

Zur Terminologie

Die „vergegenständlichte“ Inszenierung der Einwanderung im öffentlichen Raum erscheint in formseitig unterschiedlichen Manifestierungen. Neben den „klassischen“ Ausprägungen wie Denkmal, Gedenktafel und Gedenkstein – die übrigens den Großteil ausmachen –begegnen wir auch anderen, „ungewöhnlicheren“ Formen. Zu diesen gehört die Luft- oder Fassadenmalerei (Plintenburg/Visegrád 2002, Großmarosch/Nagymaros 2017), die Gedenktreppe in Berkina/Berkenye (2018), der Gedenk(zier)brunnen in Tschasartet/ Császártöltés (2001), der Trinkbrunnen in Kleinmarosch/Kismaros (2016), das 8 x 3,80 Meter große Relief aus Keramik an der Fassade des Kulturhauses von Iklad (2002), die Gedenkparzelle im Plintenburger Friedhof (2014) und die Bronzescheibe, eingetieft in den Bürgersteig unweit des Bürgermeisteramtes in Werischwar/Pilisvörösvár. Eine ganz

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außergewöhnliche Form der Erinnerung stellt der Gedenkpark zu Ehren der Ahnen in Feked dar, der sich an beiden Seiten des Fekeder Grabens durch das Dorf zieht: Hier pflanzte man 1985 für jedes Jahr, das seit der Ankunft der ersten Kolonisten im Jahre 1725 verstrich, einen Baum oder Strauch, also insgesamt 260.

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Bild 1: Fassaden-Relief aus Keramik in Iklad Bild 2: Gedenkparzelle im Plintenburger Friedhof (Zsuzsanna Pannonhalmi) Bild 3: Gedenkpark in Feked Bild 4: Goßmarosch: Fassadenmalerei Bilder 5-6: Gedenktreppe in Berkina

In Anbetracht dieser formalen Vielfalt bieten sich als Überbegriffe, Kollektivbezeichnungen Gedenk- / Gedächtnis- / Erinnerungsstätten oder, wie im Ungarischen (emlékhelyek) Erinnerungsorte an, die als Gesamtbezeichnungen auch verwendet werden.

Verortung der Gedenkstätten in Raum und Zeit

Gedenkstätten der Einwanderung sind ein typisches Genre des nachtürkischen Deutschtums, wie dies auch die Karte zeigt: Alle Siedlungen liegen in nach der Befreiung von Ofen zurückeroberten Regionen von Ungarn.

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Bild 7: Gedenk-Scheibe in Werischwar Bild 8: Gedenk(zier)brunnen in Tschasartet (István Gromon, Dávid Raffay) (Katalin Tóvölgyi) Karte 1. Siedlungen mit Gedenkstätte(n) der Einwandereng (Kartograf: Attila Sasi)

Es gibt keine einschlägigen Gedenkstätten z.B. in Westungarn, was seinen Grund nicht in dem deutlich früheren, mittelalterlichen Ursprung dieser deutschen Gemeinschaften hat, sondern in der Art ihrer Genese „als organische Fortsetzung“ des deutschen Sprachraumes „auf ungarischem Boden“ und nicht als Ergebnis planmäßiger Kolonisationstätigkeit über geografische Distanzen hinweg.

Die nächste Grafik erfasst die Gedenkstätten chronologisch, nach ihrem Entstehungsjahr. Wie bereits erwähnt, steht die Errichtung der Gedenkstätten in eindeutigem Zusammenhang mit der politischen Wende in Ungarn. Dennoch gibt es einige wenige Ausnahmen. Insgesamt sieben konnten bisher ausfindig gemacht werden, die vor 1990 errichtet wurden (in Neuwenzellin/Újvencsellő, Wetschesch/Vecsés Hajosch/Hajós, Kirwa/Máriahalom [2], Feked, Krottendorf/Békásmegyer und Promontor/Budafok).

Grafik 1: Gedenkstätten der Ansiedlung nach Entstehungsjahr (erfasst bis Ende 2022)

Seit 1990 entstehen – wenn auch in schwankender Zahl – fast jährlich neue Erinnerungsstätten. Ihre Zahl beläuft sich in meiner Datenbank gegenwärtig – die bis 1990 entstandenen mitinbegriffen – auf 82, die sich auf 67 Siedlungen „verteilen“. Der quantitative Unterschied ergibt sich aus der Tatsache, dass etliche Ortschaften mehrere errichtet haben. So finden wir u.a. in Werischwar, Hidikut/Pesthidegkút, Plintenburg, Kleinmarosch, Kockrsch/Kakasd je zwei, in Hartian, Tschasartet, Berkina und Wetschesch sogar drei. Von diesen sind 67 exklusiv, d.h. nur der Einwanderung gewidmet, 15 dagegen kombiniert, d.h. sie sind neben der Ansiedlung auch einem anderen historischen Wendepunkt zugeeignet, oder zeigen diese in einem breiteren geschichtlichen Kontext. Die meisten erinnern neben der Einwanderung auch an die Vertreibung bzw.

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gelegentlich an die Verschleppung, wie z.B in Moor/Mór (1998, István Rigó), in Nadwar/ Nemesnádudvar (2007), in Schambek/Zsámbék (2010, Ferenc Máhr), in Wetschesch (2012, Katalin Oláh) oder in Großteting/Nagytétény (2012, Károly Bakó). Es gibt aber auch einige, die die Ansiedlung nicht mit einem anderen historischen Wendepunkt des lokalen Deutschtums kombinieren, sondern stellen diese von einer „höheren Warte“ und breiteren Zeitdimension aus als bestimmendes Ereignis und integraler Teil der Orts-, sogar der Landesgeschichte dar, was als sehr wichtig zu erachten ist. Häufiger entstehen diese Gedenkorte um das Millenniumsjahr 2000 oder in Kombination mit der Landnahme der ungarischen Stämme. Solche Gedenkstätten finden sich u.a. in Weindorf/ Pilisborosjenő (1991), in Woj/Baj (1996), in Sanktiwan bei Ofen/Pilisszentiván (2000) und in Madarasch/Madaras (2000).

Von der Initiative bis zur Einweihung

Die Initiatoren und Stifter sind überwiegend Kollektive: die lokale deutsche Minderheitenselbstverwaltung, häufig zusammen mit der Kommunalverwaltung, aber auch verschiedene Vereine, Zivilorganisationen, wie die Eugen von Savoyen-Tischgesellschaft in Promontor, der Großtettinger Bürgerkreis oder die Stiftung Heimatland Harast. Die Finanzierung erfolgt einerseits durch diese Institutionen und Organisationen, andererseits auch durch Spenden von Privatpersonen oder ortsansässige Firmen, gelegentlich besteht aber auch die Möglichkeit, sich bei staatlichen Stellen um Gelder zu bewerben. Es gibt jedoch auch einige Gedenkstätten, die von Privatpersonen oder Einzelfamilien gestiftet wurden, die auch für die Finanzierung aufkommen: Zu diesen gehören die von Vilmos Jung gestiftete Fassadenmalerei an der Schiffstation in Plintenburg aus dem Jahre 2002, die von Adam Hilcz finanzierte Ulmer Schachtel als Gedenkort in Kockrsch (2010), die von der Familie Schmidt getragenen zwei Erinnerungsstätten in Berkina aus den Jahren 2013 bzw. 2015, und die von Joachim Beck errichtete Erinnerungsstätte in Palkan/Palkonya (2020). Durch die vollständige Übernahme der Kosten haben die Stifter einerseits selbstverständlich das alleinige Entscheidungsrecht was Symbole und Inschrift anbelangt; Andererseits lassen sich hier das Private d.h. die Familiengeschichte – überwiegend die primäre Motivation – bzw. das Kollektive d.h. Geschichte der deutschen Ortsgemeinschaft nicht immer klar trennen, auch wenn sie in einer Teil-Ganzes-Relation zu einander stehen.

Was die „Hersteller“ anbelangt: die Palette ist sehr bunt. Wir finden unter ihnen akademisch ausgebildete Künstler, auch namhafte, mit staatlichen Auszeichnungen geehrte, aber auch Autodidakten und „Handwerker“ d.h. Bühnenbildner, Dekorationsmaler, Zimmerleute, Steinmetze. Eine öffentliche Ausschreibung erfolgte bis Ende 2022 meines Wissens nur in drei Fällen: in Werischwar, in Wudigeß/Budakeszi und in Kleinmarosch. Bis auf diese Ausnahmen gehen die Aufträge gezielt an eine Person: Oft sind es Bildhauer, die im Ort oder in dessen Umgebung leben, oder die bereits Kunstwerke für die Gemeinde errichtet haben. In letzter Zeit ist aber eine neue Verfahrensweise der Auswahl zu beobachten, bei

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der nicht die geografische Nähe, sondern die Qualität und die Formsprache des Künstlers im Vordergrund stehen. Die Initiatoren, Stifter suchen einerseits persönlich Erinnerungsstätten auf – nicht nur die der Ansiedlung, sondern auch die der Verschleppung und Vertreibung – oder suchen gezielt nach einschlägigen Informationen in den ungarndeutschen Print- und elektronischen Medien bzw. in den zahlreichen Facebookgruppen, auf verschiedenen Internet-Plattformen. Diese Recherchen im Vorfeld haben jedoch nicht nur auf die Auswahl des Künstlers einen Einfluss, sondern gelegentlich auch auf die der Motive und Symbole des im Entstehen begriffenen eigenen Denkmals. Mit zweifacher Auswirkung: Einerseits lässt man sich von einer vorhandenen Gedenkstätte oder ihrer Symbole motivieren, inspirieren – was bis zur fast vollständigen Kopie gehen kann – oder gerade umgekehrt, man strebt bewusst nach etwas Neuem, bisher nicht Vorhandenem, Unverwechselbarem. Für beide gibt es Beispiele. Diese persönliche und virtuelle Vernetzung, die die geografische Distanz zwischen unseren Siedlungsräumen überbrückt, halte ich – und nicht nur in dieser Hinsicht – für besonders wichtig.

An dieser Stelle sei auf noch eine wichtige Forschungsfrage eingegangen, hier jedoch nur kurz. Zweifelsohne liefert auch die „ergebniszentrierte, -orientierte” Untersuchung der (fertigen) Gedenkstätten der Ansiedlung wichtige Daten, doch nicht weniger wichtig ist m.E. der Weg, der Prozess, wie diese entstanden. Welche Wissensbestände wurden von der Ortsgemeinschaft / den Stiftern in der Vorbereitungsphase aktiviert oder akkumuliert? Gab es feste Vorgaben an den Künstler, wenn ja, welche und warum gerade diese, oder arbeitete er gänzlich autonom? Ließ man ihm als Vorlagen u.a. Archivfotos, ortstypische Muster bestickter Textilien zukommen? Nahmen sie aktiv und gestalterisch am Schaffensprozess teil, äußerten sie Korrekturwünsche oder bekam der Künstler gänzlich freie Hand? Gab es mehrere Entwürfe? Die mit beiden Seiten, gezielt auch mit Fokus auf die Fragepronomen WER, WIE, WAS und WARUM geführten Interviews lassen diesen Prozess nachzeichnen und ermöglichen zusätzliche Rückschlüsse hinsichtlich der Frage: Wessen Denkmal ist es? Um einen Klassiker zu zitieren: „(Auch) Der Weg ist das Ziel“. Und selbstverständlich bieten neben den tatsächlich verwirklichten Entwürfen auch die „abgelehnten”, samt den Argumenten wichtige Informationen und einen Erkenntnisgewinn, denn sie zeigen die Präferenzen der Ortsgemeinschaft hinsichtlich der visuellen Elemente (Symbole und Zeichen) und dadurch auch den unterschiedlichen Grad ihrer Identifizierung mit diesen. Dies ist nicht nur bei (halb)öffentlichen Ausschreibungen der Fall, an denen verschiedene Künstler teilnehmen, sondern des Öfteren auch dann, wenn der Auftrag gezielt an eine Person geht, von der man aber in der Regel verschiedene Entwürfe erwartet.

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Sinnstiftung: sprachliche und nicht-sprachliche Elemente der Gedenkstätten

Gedenkstätten sind im Allgemeinen komplexe, multimodale semiotische Ensembles. Die Sinnstiftung kann sowohl mittels sprachlicher als auch nicht-sprachlicher Elemente erfolgen, sie kann sich jedoch auch auf den Standort und die Umgebung erstrecken. Letztere „Auslagerung“, Erweiterung ist in zwei Fällen zu beobachten: in Plintenburg und in Großmarosch, wo die Gedenkorte – genauso wie in Ulm – am Donauufer stehen. Die anderen befinden sich vorwiegend in sakraler Umgebung, im Hof, an der Außenmauer oder in der Kirche bzw. auf dem Friedhof. Standorte sind aber auch das örtliche Heimatmuseum, das Kulturhaus, das Bürgermeisteramt und ihre Umgebung, der Gemeindepark. Erinnerungsstätten können aber auch über sich „hinauswachsen“ und wortwörtlich Raum greifen indem sie zu neuen Mikrotoponymen oder Gemeindeflächen führen. So gibt es in Werischwar einen Ansiedlungsplatz, in Großturwall einen Schwabenplatz und in Ratka/Rátka einen Schwabenpark. Gedenkstätten können aber auch zur Umbenennung bestehender Gemeindeflächen führen: So gibt es nach den ansiedelnden Grundherren in Iklad einen Elemér Ráday-Platz, in Promontor einen Eugen von Savoyen-Platz und in Elek einen Johann Georg Harruckern-Platz.

Sprachliche Elemente, Inschriften

Allen voran stellt sich natürlich die grundlegende Frage der Sprachwahl. Bis auf einige ungarische sind alle Inschriften zweisprachig, Deutsch und Ungarisch abgefasst, was m.E. auch wünschenswert ist; denn die Gedenkstätten richten sich nicht nur „nach innen“, an die deutsche Ortsgemeinschaft, sondern auch „nach außen“, an all jene, die des Deutschen nicht mächtig sind.

Was den Inhalt der Inschriften anbelangt: Als (fast) obligatorische Elemente dieser spezifischen Textsorte sind Grundsatzinformationen wie Gegenstand, Anlass, Jahreszahl und/oder Stifter zu betrachten. Wie etwa: „Zum Andenken an unsere Ahnen“ / „Zum Andenken an die ersten deutschen Siedler“ / „Zur Erinnerung an die Ansiedlung unserer Ahnen vor 300 Jahren“. Es gibt – wenn auch wenige – über die puren Fakten hinausgehende ausführlichere, selbstständige Formulierungen. Diese enthalten einerseits ausnahmslos positiv wertende Ausdrücke als Würdigung der Leistungen und Lebensprinzipien der Ahnen: u.a. ehrenhafte / harte Arbeit, Fleiß, Stolz, Strebsamkeit, Hingabe, Enthusiasmus, blühende Heimat [schaffen], erwarben großes Ansehen; Andererseits werden Dankesworte an die Vorfahren gerichtet, gelegentlich auch mit der Formulierung der Verpflichtung, ihre Tugenden, Prinzipien, Normen weiter zu tradieren: Ein verweis auch auf eine Kontinuität zwischen Vorfahren und Nachkommen. So wird an der 1994 eingeweihten Gedenktafel in Tschasartet auf die bis heute beibehaltene Religiosität hingewiesen, ähnlich, wie in Plintenburg auf den „Gemeinschaftsgeist und die [beibehaltene] kulturelle Identität“ (2014).

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Zitate aus der Literatur, Politik oder (Zeit)Geschichte – wie bei den Gedenkorten der beiden Schicksalsschläge – sind nicht nur fakultativ, sondern auch äußerst selten. Bislang wurden nur vier dokumentiert: Auf der Informationstafel zur Gedenkstätte in Wetsch/ Szigetbecse steht der „Wahlspruch“ von Dr. Franz Riedl auf Deutsch und Ungarisch, in Sammet/Szomód wird als Zeitkolorit die erste Strophe der Ballade aus der Ansiedlungszeit „Die Donau fließt und wieder fließt…“ zitiert und an der kombinierten Gedenkstätte in Nadwar/Nemesnádudvar ist eine Anleihe aus der Bibel zu lesen. Vom damaligen Pfarrer Attila Vincze gekonnt gewählt, denn Psalm 126: 6: „Sie gehen hin unter Tränen und tragen den Samen zur Aussaat” passt sowohl zur Ansiedlung, als auch zur Vertreibung. Und nicht zuletzt noch ein Unikat: Auf dem Gedenkstein in Hidikut/Pesthidegkút finden wir eine Passage aus dem Ansiedlungsvertrag der Kolonisten mit dem Grundherrn:

„Mit dem heutigen Datum ist zwischen mir und den Mitunterzeichnenden der folgende Vertrag geschlossen worden. Ich überlasse ihnen ein bestimmtes ausgewiesenes und festgesetztes Gebiet in meinem Dorf Hidigut, wobei sie diese Grundstücke nach ihrem Belieben in Anspruch nehmen und nach ihren besten Kräften bewirtschaften können. Ofen, den 5. Juli 1711, Baron János Ignác Kurtz.”

Wir haben auch ein einziges Anlass-Gedicht, es stammt aus der Feder von László Wagner, einem der Gründungsmitglieder des Heimatland Harast. Es ist neben Harast, Tax und Schorokschar auch an der gemeinsamen Gedenktafel der drei Gemeinden in Ulm zu lesen.

„Das Schicksal schnitzte unsere Wiege aus Ulmer Holz, doch wir leben fern als Ungarndeutsche mit Fleiß und Stolz.”
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Bild 9: Gedenktafel in Tschasartet Bild 10-11: Gedenkstätte und Inschrift in Hidikut

Sprachlich tragende Elemente mit zusätzlicher „historischer Beweiskraft“ könn(t)en nicht nur Gattungs-, sondern auch Eigennamen – Personen- und geografische Namen – sein, auch eine Möglichkeit, um Ortsspezifik zu erzeugen. Dies setzt jedoch Quellenarbeit und eingehende Kenntnisse über die Einwanderung des lokalen Deutschtums voraus und wird bislang nur äußerst selten wahrgenommen. Zu den Ausnahmen zählen Promontor und Iklad. In Promontor sind auf einer Gedenktafel aus dem Jahre 1996 die Namen der ersten 15 deutschen Siedler aufgelistet, in Iklad sind es sogar 174 Namen, die mit ihrer raumgreifenden Anordnung nach Herkunftsgebieten neben dem ersten Friedhof ein Denkmal ergeben (2012).

In Bezug auf die Inschriften sind nicht nur die Inhalte, sondern auch die Schriftform aufschlussreich. Deutlich überwiegen zwar die in Antiqua gehaltenen – schon wegen ihrer Lesbarkeit für ein breiteres Publikum –, dennoch gibt es auch Beispiele für den Gebrauch der „gebrochenen“ deutschen Schrift. So bei geografischen Namen – u.a. Abstammungsorte der Siedler, Namen der Donauhäfen –, aber auch an den Ulmer Schachteln: z.B. in Hidjeß steht die Bezeichnung (Ulmer Schachtel) am Schiffskörper, in Baje/Baja, am Landesdenkmal, der Namen des Schiffes: „Hoffnung“ in altdeutschr Schrift. Es werden aber nicht nur isolierte sprachliche Elemente in Fraktur gehalten, sondern auch zusammenhängende Texte. Auch auf dem bereits erwähnten Gedenkstein in Hidikut findet sie Verwendung. Der Anlass („Zur 300-sten Jahreswende der Ansiedlung unserer Vorfahren“) steht in „rundbogiger“ lateinischer, der Auszug aus dem Ansiedlungsvertrag und – was ungewöhnlich und befremdlich anmutet – auch seine ungarische Übersetzung in altdeutscher Schrift. Doch es gibt auch vier Gedenkorte, bei denen der Gebrauch der Fraktur auf die ganze ungarische Übersetzung der deutschen Inschrift ausgedehnt wurde. Zu diesen gehört das Gedenkkreuz im Plintenburger Friedhof, sowie die Gedenktafeln in Jula/Gyula (1994), Berkina (2013), Nadwar (2014) und in Kascha/Kiskassa (2020).

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Bild 12: Gedenktafel in Kascha Bild 13: Gdenktafel in Jula

Die Motivation für den Gebrauch der altdeutschen Druckschrift, die übrigens auch bei den Gedenkstätten der beiden Schicksalsschläge Verwendung findet, liegt nach den Gewährsleuten primär in ihrer Funktion als „optisches“ Zeitkolorit („Weil das die herkömmliche, traditionelle deutsche Schrift ist, auch unsere Ahnen haben so geschrieben zur Zeit ihrer Ansiedlung und noch lange danach“). In den letzten Jahrzehnten findet die Fraktur bei den Ungarndeutschen vermehrt und in verschiedenen Formen wieder Verwendung, jedoch nicht bei vollständigen, längeren Texten, sondern nur bei kürzeren Passagen als Signal, Emblem für die deutsche Abstammung auch mit Bekenntnisfunktion. Somit kann diesen neben der sprachlichen Bedeutung auch eine nicht-sprachliche bescheinigt werden, die im ethischen Bereich anzusiedeln ist. Auch für Außenstehende, denn die gebrochene deutsche Schrift hat einen hohen Wiedererkennungs- und Identifikationswert.

Nicht-sprachliche Elemente: Symbole, Zeichen

Bis auf einige wenige Ausnahmen bedienen sich die Gedenkstätten der Einwanderung einer einfacheren Formsprache, einer bildnerischen Darstellung von Figuren und Objekten mit hohem Wiedererkennungswert, deren Dekodierung und Deutung von den Rezipienten, allen voran von der Ortsgemeinschaft keine besondere Abstraktionsleistung erfordert.

Die am meisten verbreiteten Symbole sind – mit der Ausnahme des Kreuzes – identisch mit denen des Ahnen-Auswanderungsdenkmals von Erich Koch am Donauschwabenufer in Ulm aus dem Jahre 1958: Die Ulmer Schachtel, die Familie, und die Donau, die zwar „ausgelagert“, aber dennoch als Teil des Denkmals zu verstehen ist. Unterschiede ergeben sich einerseits in ihrer Vorkommenshäufigkeit: Das frequenteste ist – und zwar haushoch – die Ulmer Schachtel, der man aus verschiedenen Materialien begegnen kann: aus Holz nachgebaut oder geschnitzt, in Stein gemeißelt, in Metall gegossen, aus Keramik geformt oder an Fassaden gemalt. Auch die Größe umfasst ein weites Spektrum von XS bis zu 10 XL. Es gibt welche, die sich am Original orientieren, andere wiederum zeigen eine moderne Formsprache: Die Schachtel wird nur angedeutet, die Streifen verlaufen horizontal, sie gleicht auf den ersten Blick einer ägyptischen Barke, einer Wippe oder hat auch eine zusätzliche Funktion als Blumenkasten. Von den 82 Erinnerungsstätten trägt sie bei 14 alleine die „Symbollast“ und bei weiteren 17 in Kombination mit anderen.

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Bild 14: Wallei/Vállaj (2012, Anton Dechant) Bild 15: Kleinmarosch (2004, István Böjte Horváth) Bild 16: Ratka (2018, Levente Molnár) Bild 17: Kockrsch (2000, Anton Dechant) Bild 18: Tschasartet (2007) Bild 19: Großmarosch (2017)

„Wer Ulmer Schachtel sagt, muss auch Donau sagen.“ Sie bedingen sich zwar nicht zwingend gegenseitig, kommen aber sehr häufig zusammen vor. Auf der Donau legten die Kolonisten den größten Teil ihres Weges nach Ungarn zurück, sie ist nicht nur eine „natürliche“ geografische Verbindung zwischen der alten und der neuen Heimat: Sie symbolisiert nach Trianon auch über die neuen Landesgrenzen hinweg die historische Zusammengehörigkeit des im 18. Jahrhundert eingewanderten Deutschtums in der Volksbezeichnung Donauschwaben. Und es ist auch kein Zufall, dass sie als Symbol sowohl im Wappen der Hiergebliebenen als auch der Vertriebenen zu finden ist. Und nicht zuletzt versinnbildlicht „die alte Dame“ auch das Leben als Reise.

Überwiegend wird ihr Verlauf zwischen Ulm und der ungarischen Landesgrenze kartografisch nachgezeichnet, variabel markiert sind als Orientierungspunkte oft Regensburg, Wien, Preßburg, Ofen-Pesth, obligatorisch Ulm und die eigene Siedlung. Andere Darstellungen operieren mit einem stilisierten, imaginären Verlauf der Donau zwischen Ulm und der eigenen Siedlung, mit vielen Flussbiegungen, die die reale Entfernung imitieren sollten, oder setzen gar die eigene Siedlung und den Schwarzwald einander gegenüber auf beiden Ufern des Flusses, wie in Großturwall/Törökbálint. Es geht auch minimalistisch, mit nur vier Wellenlinien, wie in Mesch/Mözs und in Tax wurde sogar der „Ursprung der Donau“ in die Gedenkstätte mit aufgenommen.

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Bild 20: Schaumar/Solymár (2010, László Sax) Bild 21: Plintenburg/Visegrád (2002 Krisztián Ádám) Bild 22: Großturwall Bild 23. Tax (2013) Bild 24: Mesch (2007) (2003, Franz Trischler)

Die Familie kommt auch alleine vor, wenn auch nur in vier Fällen, in Hartian (2014, Robert Rizmajer), in Wudigeß (2014, Bálint Józsa), in Werischwar (2015, Pál Szinvai) und in Berkina (2015, László Koltai), bei den ersten drei Gedenkstätten mit Kindern. In Kombination vor allem mit der Ulmer Schachtel jedoch öfter, sie ist manchmal nur beim näheren Hinschauen unter den anderen Kolonisten zu entdecken. Auch dieses Symbol hat einen historischen Bezug, denn bekanntlich wurden Familien erwartet, denn sie versprachen die nächste Generation von Steuerzahlern.

Bild 25: Hartian

Bild 26: Wudigeß

Bild 27: Werischwar

Zeichen der Religiosität und des Gottvertrauens gibt es seltener. An sakralen Symbolen finden wir vereinzelt die Bibel, Gebetbuch, Rosenkranz oder die Kirche der Siedlung, in Tarian/Tarján wird die Gruppe der Kolonisten von einem Geistlichen angeführt. Das Kreuz – mit und ohne Corpus – kommt sowohl alleine, als auch in Kombination vor. Von der Formgebung her sollen hier nur zwei hervorgehoben werden: In Maan/Mány gleicht es einem v.a. im süddeutschen Raum verbreiteten Marterl. In Kombination mit anderen Symbolen – „angedeutetes“ Haus mit Fenster in dessen Mitte ein Doppelkreuz, u.a. auch Patriarchen- oder „Ungarisches Kreuz“ genannt, emporragt – erscheint das wichtigste Symbol des Christentums in Pula. Das Doppelkreuz mit zwei ungleich langen Querbalken ist zwar nicht ungarischen Ursprungs, doch es erscheint seit dem frühen Mittelalter auf Münzen und ist eines der tragenden Symbole des ungarischen Wappens und somit auch Ungarns. Es ist wohl nicht weit hergeholt, dies als Bekenntnis zur neuen Heimat zu interpretieren.

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Andererseits begegnen wir auch Symbolen, die aus nachvollziehbaren Gründen auf dem Ahnenauswanderungsdenkmal in Ulm nicht vorkommen. Zurückgegriffen wird vereinzelt auch auf Weinranken, Weintrauben und Weinfass, so in Schambek, in Wakan/ Vókány und in Kleinmarosch. Bekanntlich trugen die deutschen Kolonisten und ihre Nachkommen zur Intensivierung der Weinbaukultur in Ungarn maßgeblich bei, doch erst zeitversetzt nach der Ansiedlung, wodurch diese Symbole ein wenig befremdlich, vorgreifend anmuten können. Die Antwort liegt bei den beiden ersten in der Art der Gedenkstätte: In Schambek ist es eine kombinierte, die sowohl der Ansiedlung (1712) als auch der Vertreibung (1946) gewidmet ist, dieser Umstand erlaubt daher auch eine Langzeit-diachrone Perspektive. In Wakan ist – zum 250. Jahrestag der Ansiedlung –auf einem auskragenden Baumstamm nicht nur der Weg in die neue Heimat (mit Ulmer Schachtel und Donau) eingeschnitzt, es wurden – einer Bildergeschichte ähnlich – auch die danach erbrachten Leistungen der Siedler eingeschnitzt. Und in Kleinmarosch wünschte sich die lokale deutsche Minderheitenselbstverwaltung den Weinbau als Motiv und einen Trinkbrunnen als Form (eine Gedenkstätte mit der Ulmer Schachtel als einziges Symbol hatten sie bereits).

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Bild 28: Tarian, 2022 (Jenő Kovács) Bild 29: Maan, 1996 Bild 30: Pula, 1996 Bild 31: Schambek, 2010 Bild 32: Wakan, 2005 Bild 33: Kleinmarosch, 2016 (Ferenc Máhr) (Péter Erdélyi, Ernő Móczár) (Dávid Tóth)

Als „visuelles Element“ soll auch das Triptychon „Einwanderung der Deutschen nach Ungarn“ (1906 – 1910) von Stefan Jäger erwähnt werden, das als Gedenktafel in der Kirche von Tschatali/Csátalja und – zusammen mit der Donau – in Tscholnok/Csolnok als visuelles Element erscheint. In Tschatali wurden alle drei Teile des Bildes – Wanderung, Rast, Ankunft – eingraviert, in Tscholnok dagegen nur die Wanderung. Interessant ist allerdings die Formulierung in Tschatali, denn die deutschen Einwanderer von Jäger werden zu den “Gründern von Csátalja“.

Und nicht zuletzt müssen jene Gedenkstätten erwähnt werden, die den ansiedelnden Grundherrn als unabdingbaren Akteuren der Einwanderung gewidmet sind. Es sind vorwiegend Gedenktafeln mit Dankesworten oder Büsten. Solche finden sich u.a. in Wetschesch, in Hartian (Anton Grassalkovich), in Herzogendorf/Mezőfalva (Anton Dréta und Erzherzog Josef von Österreich und Palatin von Ungarn) und in Elek (Johann Georg Harruckern).

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Bild 34: Die Gedenktafel in der Kirche von Tschatali (1993) Bild 35: Tscholnok (2015) Bild 36: Gedenktafel für Anton Grassalkovich Bild 37: Büste von Anton Bild 38: Büste von Antal Dréta in Wetschesch (1996) Grassalkovich in Hartian in Herzogendorf (2016, Robert Rizmajer) (2001, István Rohonczi)

Traditionalisierung, Transformationsprozesse, Statusänderungen:

Fallbeispiel Ulmer Schachtel

Die Ulmer Schachtel ist bereits die meist verwendete Erinnerungsfigur der Gedenkstätten, sie erfuhr aber einen bedeutenden Statuszuwachs am 17. Februar 2018, als die LdU die auf dem Gelände des Ungarndeutschen Bildungszentrums (UBZ) in Baje „in Originalgröße“

errichtete Ulmer Schachtel Namens Hoffnung zur Landesgedenkstätte der Ansiedlung erklärte. Initiator und Projektleiter war Alfred Manz. Durch diesen Beschluss erfuhr die Schachtel einen enormen Statuszuwachs, sie lief allen anderen „potentiellen“ Erinnerungsfiguren (u.a. Donau, Familie) quasi als Prima inter Pares (= Erste unter Gleichen) den Rang ab und wurde zum Symbol der Ansiedlung schlechthin. Zu diesem ersten Ritterschlag kam im Jahre 2020 noch ein zweiter, als hier der Ungarndeutsche Landeslehrpfad übergeben wurde: Inspiriert gerade von der Schachtel, die auch das Kernstück der Installation der ersten, der Einwanderung gewidmeten Station „Von dannen“ ist. Den Mittelpunkt der Tafel der Station bildet übrigens das von Bálint Józsa angefertigte Ansiedlungsdenkmal von Wudigeß als Vorlage, zeichnerisch nachempfunden von Bálint Csillag, Schüler des Valeria Koch Bildungszentrums in Fünfkirchen/Pécs.

Dabei ist selbst die Geschichte ihrer heute so selbstverständlich verwendeten Bezeichnung äußerst interessant und nicht allgemein bekannt. Zur Zeit der Einwanderung nannte man diese emblematischen Wassergefährten als Ordinari(schiffe), (Wiener) Zillen oder Plätten. In den wenigen erhalten gebliebenen Kolonistenbriefen, wenn überhaupt, dann generalisierend nur als „Schiff“. Sie ist nämlich deutlich nach der Ansiedlung entstanden: Die erste Nennung erfolgte im Württembergischen Landtag auf den Tag genau am 17. Januar 1843 während der Diskussion über die Notwendigkeit einer Eisenbahnverbindung zwischen Bayern und Württemberg, und zwar als Folge von gekränktem Lokalpatriotismus und Missverständnis seitens des Abgeordneten der Stadt Ulm: Daniel Müller. Zu den Ungarndeutschen kam die Bezeichnung Ulmer Schachtel vermutlich durch die Werke von Adam Müller Guttenbrunn (u.a. Der große Schwabenzug, Der kleine Schwab), erlangte in der Zwischenkriegszeit auch eine gewisse Bekanntheit, geriet dann nach 1945

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Bild 39: Landesgedenkstätte der Ansiedlung auf dem Gelände des UBZ in Baje

allmählich in Vergessenheit, um ab den 1990er Jahren wieder und mit steigender Intensität ins Bewusstsein zu rücken. Von den zahlreichen Steuerungsfaktoren sei hier nur auf einen eingegangen: auf die Rolle unserer Bildungseinrichtungen. Der Rahmenlehrplan für das Fach Volkskunde enthält unter den Lernbereichen schwerpunktmäßig auch die Ansiedlung. Unter den zu vermittelnden Begriffen steht auch die Ulmer Schachtel, und bei den empfohlenen Handlungen die Anfertigung einer Ulmer Schachtel-Makette, was auch den niedrigeren Jahrgängen Spaß macht. Anzunehmen ist aber, dass die Schüler nicht nur Aufnehmer, sondern auch als Übermittler dieser Kenntnisse an die Eltern und Großeltern sind. In Bezug auf die Ulmer Schachtel, aber auch insgesamt auf Einwanderung kann aus Gründen der zeitlichen Distanz auf keine Zeitzeugen, kein Erfahrungsgedächtnis zurückgegriffen werden. An seine Stelle tritt das angelesene, angelernte sog. Faktenwissen, in dessen Vermittlung die Bildungseinrichtungen eine Schlüsselposition haben. Die Ulmer Schachtel scheint über ihren ursprünglichen Symbolgehalt und Stellenwert deutlich hinauszuwachsen, wozu die Erinnerungsorte der Einwanderung sicherlich maßgebend beitragen. In den letzten Jahren findet eine Re-Invention der Schachtel statt, in Anlehnung an den Titel der Mundartanthologie aus dem Jahre 1989 Tie Sproch wiederkfune könnte man sagen: Tie Schochtl wiederkfune. Es zeichnet sich ein Siegeszug der Schachtel ab: Sie erscheint auf Urkunden, wird als Geschenk überreicht, dient als Bühnendekoration und fast kein Heimatmuseum ohne sie. Die Ortgemeinschaften entwickeln zusehends auch eine emotionale Beziehung zu ihrer Schachtel: in Großmarosch und Wetsch bekommt sie im Dezember eine Weihnachtsdekoration und -beleuchtung, zu Ostern schmückt man sie mit Hasenfiguren und Eiern, und wiederum in Wetsch brennen im Fenster der Hütte nachts zwei „Kerzen“, damit sich die Kolonisten „heimeliger“ fühlen.

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Bild 40: Großmarosch, Bild 41-42: Wetsch, Ulmer Schachtel mit Osterdekoration; mit Ulmer Schachtel Nachtbeleuchtung und zwei Kerzen im Fenster (Fotos: Maria Lerner) mit Weihnachtsdekoration

Die Schachtel wird auch immer öfter zum Gegenstand von Folklorisierung und Traditionsgründung unterschiedlicher Ausprägungen gemacht.

In Werischwar findet seit 2006 im August das sog. „Schachtel-Ziehen“ statt. Der Austragungsort ist der Enten-Teich (Kacsató), mit einer kleinen Insel in der Mitte. Es treten an die 10-12 Mannschaften gegeneinander an. Die Aufgabe besteht darin, eine kleine Ulmer Schachtel samt einem, möglichst zierlichen Passagier mit einem dicken Seil in kürzester Zeit von der Insel ans Ufer zu ziehen. Es treten an die 10-12 Mannschaften gegeneinander an. Es ist ein offener Wettbewerb, im Sinne des örtlichen Konkurrenzkampfes melden sich auch Teams aus den umliegenden, v.a. ungarndeutschen Siedlungen an. Geselliges Beisammensein mit Volksfestcharakter, Pflege der kleinregionalen Beziehungen, eine Gaudi und mitten drin die Ulmer Schachtel.

Die Schachtel generiert nicht nur neue Bräuche, Traditionen, sie „drängt“ sich auch in altes Brauchtum ein. So in das Lichterschwimmen zu Ehren von Johannes von Nepomuk. Am 11. Mai 2019 wurde in Tschemer/Csömör die renovierte Statue des Brückenheiligen am Ufer des Tschemerer Baches neu eingeweiht. Die Schüler des deutschen Klassenzugs der örtlichen Grundschule legten als Abschluss ihres Kulturprogrammes mitgebrachte, aus Papier gefaltete winzige Ulmer Schachteln, mit der Aufschrift „Stadt Ulm“ auf das Wasser: Eine Um- und Neuinterpretation des alten Brauchs des Lichterschwimmens zu „Schachtel-Schwimmen“. Doch das ist nicht der erste Beleg für diese kreative Fusionierung von religiösem Volksbrauchtum und Ansiedlung mit der Donau als gemeinsames Element, denn bereits 2003 wurden am Gedenktag von Johannes von Nepomuk in Wetsch die kleinen Teelichter in aus Holzstückchen gefertigten Ulmer Schachteln zu Wasser gelassen. Die atypischen Segel sollen ihre Fortbewegung auf dem Wasser beschleunigen.

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Bilder 43-44: Schachtelziehen in Werischwar (2016)

Die am Donauufer stehende Ulmer Schachtel in Großmarosch ist sowohl für Traditionsgründung und Kulturtransfer, als auch für Transformationen und Uminterpretationen ein Beispiel. Seit 2019 bekommen die Jungvermählten im Standesamt als Geschenk der lokalen deutschen Selbstverwaltung ein rotes Herz überreicht. Sie schreiben ihre Vornamen und den Tag der Eheschließung darauf und hängen es an die Ulmer Schachtel. Der neue Brauch hat sich nicht nur etabliert – mittlerweile schmücken fast 30 Herzen die Schachtel –, sondern auch erweitert, denn auch Ehepaare, die silberne oder goldene Hochzeit feiern, verewigen sich auf diese Weise. Die Initiatorin ist Anikó Ivor, die Vorsitzende der örtlichen deutschen Minderheitenselbstverwaltung, die 2017 auf dem Katschberg solche Herzen sah, angebracht an den Latten eines Holzzaunes. Die Hängeschlösser, fand sie, weil sehr verbreitet, abgedroschen, die Herzen jedoch nicht. Im Prinzip kann dieser neue Brauch auch als Hommage an die zahlreichen Jungvermählten verstanden werden, die die Ehe vor oder während ihrer Reise in die neue Heimat eingegangen sind, um als Familie bessere Konditionen zu bekommen.

Die Ulmer Schachtel in Großmarosch zeigt in ihrer Erscheinung einen augenfälligen Unterschied zum Original: Die Streifen an der Seite sind nicht schwarz-weiß, sondern blau-weiß. Gemeint sind damit jedoch nicht die Bayerischen Landesfarben: das Blau, bekanntlich unsere Farbe, steht für das Ungarndeutschtum. Damit wurde die Schachtel nicht nur in die Gegenwart transferiert und aktualisiert, sondern scheint sich –

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Bilder 45-46: Schachtel-Schwimmen in Tschemer Bild 47: Schachtel-Schwimmen in Wetsch (Foto: Maria Lerner) Bild 48: Das Vorbild auf dem Katschberg Bilder 49-50: Herzen an der Ulmer Schachtel in Großmarosch (Foto: Anikó Ivor)

losgelöst von der Ansiedlung – auch zu einem Emblem, Abzeichen der Zugehörigkeit zum Ungarndeutschtum zu entwickeln. Und das ist der andere Prozess, den man in unseren Gemeinschaften in Bezug auf die Ulmer Schachtel beobachten kann: Eine Art Statusänderung, der Linguist würde hier von Bedeutungserweiterung oder gar von Bedeutungsverschiebung sprechen. Von einem Ereignissymbol zusätzlich auch zu einem ethnischen Symbol.

Dass die Etablierung eines neuen, zusätzlichen semantischen Status der Ulmer Schachtel – sogar in verschiedenen Ausprägungen – im Gange ist, unterstützen weitere, auf meinen Kundfahrten dokumentierte Beispiele. Anbei nur eine kleine Auswahl.

2016 nahmen auch die Schüler und Pädagogen der örtlichen Anton Grassalkovich Nationalitätengrundschule am traditionellen Umzug des Krautfestes in Wetschesch teil. Sie saßen in einem Sattelschlepper, der zu einer Ulmer Schachtel „umgebaut“ wurde: mit den emblematischen Streifen und der Hütte.

In Tscholnok wurde 2019 eine Freilichtbühne übergeben, die die Form einer Ulmer Schachtel hat: nicht nur die Streifen, auch die zwei-zwei Rudern sind vorahnden. Sowohl Idee als auch Entwurf stammen vom ortsgebürtigen Architekten Robert Hampl. Das Bühnenbild von Péter Kolonics zeigt die Ankunft der Siedler, im Hintergrund ist der Verlauf der Donau skizziert – markiert wurden Ulm, Regensburg, Wien und Ofen –, und natürlich eine Ulmer Schachtel.

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Bilder 51-52: Wetschesch: Das Gefährt der Grassalkovich-Grundschule beim Umzug auf dem Krautfest (2016) Bilder 53-54: Freilichtbühne und Bühnenbild in Tscholnok

Das nächste Bild zeigt ein Hochzeitspaar, beide ungarndeutscher Abstammung. Vor ihnen eine spezielle Hochzeitstorte mit einer Ulmer Schachtel aus gebranntem Zucker: Ein Geschenk der Kollegen der Brautmutter, Theresie Szauter, damalige Direktorin des Ungarndeutschen Bildungszentrums in Baje. Und noch ein Beispiel für die“ Kulinarisierung“, „Gastronomisierung“: Zwei junge ungarndeutsche Damen eröffneten 2010 in Werischwar die Gaststätte Schwabenstube – ab 2015 nur Stube – mit dem Ziel „diese Kultur mit ihren einzigartigen gastronomischen Traditionen auch denen näher zu bringen, die keine schwäbischen Wurzeln haben.“ Das Aushängeschild – hier wortwörtlich – und das Logo ist eine Ulmer Schachtel.

Abschließend noch zwei Beispiele: Das erste führt uns nach Waschkut/Vaskút und ist geschichtsträchtig. In der Mitte des Dorfes befindet sich der Park der Versöhnung. Der Name der 1992 entstandenen Gemeindefläche ist geschichtsträchtig, denn gemeint sind die zwei Volksgruppen: die Ungarndeutschen und die Szekler. Auf der linken Seite des stilisierten Eingangstors ist das Wappen der Sekler, auf der rechten eine Ulmer Schachtel als Symbol der Ungarndeutschen eingeschnitzt. Eindeutig als ethnisches Abzeichen und in einem bisher unikalen historischen Kontext.

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Bild 55: Hochzeit mit Schachtel- Bilder 56-57: Ladenschild und Logo der Gaststätte Stube in Werischwar Torte (2021) Bilder 58-61: Waschkut, Park der Versöhnung (1992)

In Sammet/Szomód wurde 2021 eine Gedenkstätte der Einwanderung errichtet: Eine große, mehrgliedrige Bildertafel aus Holz, gefertigt von Ernő Moser. In die einzelnen Kassetten sind Szenen aus der fast dreihundert Jährigen Geschichte der deutschen Ortsgemeinschaft eingeschnitzt, von denen in diesem Zusammenhang drei wichtig sind. Die beiden ersten sind dem Beginn gewidmet: Sie zeigen Ulm – symbolisiert nicht, wie gewöhnlich, durch das Münster, sondern durch das Rathaus – bzw. die Ulmer Schachtel, und zwar die Szene, als die Kolonisten ihre Habseligkeiten verladen. Wie bei einer Rahmenkonstruktion, steht die Ulmer Schachtel auch im Mittelpunkt des letzten Bildes. Mehrere Generationen sitzen am Tisch, den Kindern wird von den Älteren eine kleine Ulmer Schachtel überreicht. Ich zitiere die aufwendige und inhaltsreiche Informationstafel: „Die Geschichte mündet schließlich in der Gegenwart: mit dem Moment der Übergabe zwischen den Generationen und dem des Erhalts des Gedenkens.“ Sie versinnbildlicht „Traditionen, Werte, Identität“, wie vermutlich auch die „Spielzeug-Schachtel“ im Schoß des kleinen Mädchens von Kleinmarosch, die im örtlichen Volksmund übrigens Rézi genannt wird.

Schlussgedanken

Ich komme zu meinen kurz gefassten Schussgedanken. Die überwiegende Mehrheit unserer Gedenkstätten steht im öffentlichen Raum. Dieser hat nicht nur eine sehr große Legitimationskraft, sondern ermöglicht auch eine selbstreflexive Darstellung der Wendepunkte unserer Geschichte auch über die eigene Volksgruppe hinaus: Denn die überwiegende Mehrheit der Landesbevölkerung hat immer noch wenige oder nur klischeehafte Kenntnisse über die in Ungarn beheimateten Nationalitäten. (Wir können nicht nur Schwabenball und Blasmusik!)

Die Erinnerungsorte erzeugen durch die Repräsentierung der Wendepunkte unserer gemeinsamen Geschichte Zusammengehörigkeitsgefühl und stiften Identität: lokal, aber über geografische Distanzen hinweg, auch auf der Ebene der Volksgruppe. Die Verschleppung und Vertreibung sind Ereignisse der rezenten Vergangenheit mit verheerenden, in ihren Auswirkungen bis heute wirksamen Verluste in allen Lebensbereichen ungarndeutschen

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Bild 62: Sammet: Ulm mit dem Bild 63: Das Verladen der Bild 64: Übergabe der „Traditionen“ Rathaus und der Donau Habseligkeiten an die nächste Generation

Daseins und kaum eine Familie, die nicht zumindest von einem der beiden betroffen war. Nach Jahrzehnten des Schweigens über die Ungerechtigkeiten war es nicht nur selbstverständlich, sondern ein elementares Bedürfnis, den beiden Schicksalsschlägen Priorität einzuräumen. Die Gedenkstätten von historischen Traumata haben eine wichtige Funktion in der Vergangenheitsbewältigung und somit auch eine therapeutische Wirkung, sie sind zugleich aber auch Mementos, gerichtet sowohl an die Gegenwart als auch an die Zukunft. Die Berufung auf die historische Kontinuität und damit auf das Heimatrecht, sowie die Darstellung der von 10-12 Generationen erbrachten Leistungen waren im Vergleich zur Bewältigung und Verarbeitung der Verluste, zur Wiederfindung der Selbstachtung sowie der Zurückgewinnung des Respekts der Mehrheitsnation zunächst sekundär. Denn: „Mit gesenktem Kopf kann man nicht stolz sein“. Das widerspiegelt sich auch in der Zahl der Gedenkstätten der beiden Traumata: Dokumentiert wurden bisher in 82 Siedlungen 112 Gedenkstätten der Verschleppung und in 124 Ortschaften 181 der Vertreibung. Zurückzuführen ist dies auch darauf, dass in zahlreichen Siedlungen nach zehn, manchmal sogar nach fünf Jahren entweder eine neue gestiftet oder die bereits bestehende als Ausdruck der„erneuten“ Erinnerung durch die entsprechenden Jahreszahlen ergänzt wird. Fast obligatorisch, jedoch nicht als Zwang, sondern im ursprünglichen Sinne des lateinischen Wortes obligatio als ‚frei auf sich genommene Verpflichtung‘.

Identität sollte sich jedoch nicht nur auf Schicksalsschläge, auf das Erlittene und Erduldete gründen, sondern auch auf Ereignisse, geprägt durch das aktiv Gestalterische, durch Eigeneinsatz und die zweifelsohne erbrachten Leistungen. Und darin sehe ich eine der wichtigsten Funktionen der Erinnerungsstätten der Einwanderung. Denn, wie es schon in der Bibel heißt (Buch Prediger Kapitel 3):

„Alles hat seine Zeit und jegliches Vornehmen unter dem Himmel seine Stunde. Weinen hat seine Zeit, und Lachen hat seine Zeit; Klagen hat seine Zeit, und Tanzen hat seine Zeit. Schweigen hat seine Zeit, und Reden hat seine Zeit.“

Den Gedenkstätten der Ansiedlung kommen darüber hinaus noch zusätzliche Funktionen zu: Sie tragen maßgeblich zur Selbstwiederfindung bei, denn sie schaffen ein historisches Bewusstsein über die jüngste Vergangenheit hinaus. Es ist zu prognostizieren, dass ihre Zahl in nächster Zeit deutlich zunimmt. Im Oktober 2023 wurde eine in Obergalla/ Felsőgalla übergeben, und einige Wochen danach auch in Untergalla/Alsógalla. 2024 folgen Sanktiwan bei Ofen und Elek, beide feiern den 300. Jahrestag der Ansiedlung ihrer Ahnen. Und das ist zu begrüßen: Denn nicht nur die Vergangenheit hat Zukunft – so lautet der Leitspruch unseres Landeslehrpfades – auch die Zukunft braucht Vergangenheit!

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