

Sonja Dümpelmann → S. 6
Archetypen lebender Architektur → S. 10
Lebende Brücken → S. 10
Tanzlinden → S. 14
Aspekte lebender Architektur → S. 17
Das Forschungsgebiet Baubotanik → S. 18
Chancen und Herausforderungen wachsender Architektur → S. 19
Über dieses Buch → S. 23
Lebensleistungen von Bäumen → S. 27
Grenzen des Wachstums → S. 28
Entstehung und Funktionsweise der Grundorgane des Baumes → S. 29
Entstehung der Baumgestalt → S. 38
Der Baum im Bestand → S. 40
Regeneration → S. 41
Biomechanik → S. 43
Wassertransport → S. 47
Anordnung der Triebe → S. 49
Licht → S. 51
Wundheilung → S. 52
Einwachsen → S. 55
Verwachsen → S. 58
Langzeitversuche zu Verwachsungen → S. 62
Baumartenwahl in der Baubotanik → S. 88
Die Integration von Bäumen in Bauwerke → S. 99
Die Integration von Bauwerken in Bäume → S. 103
Die Fusion von Haus und Baum in der Baubotanik → S. 108
Mikroklima → S. 112
Wasserhaushalt und Stoffkreisläufe → S. 117
Entwurfsstrategien → S. 122
Entwurfsbeispiele → S. 126
Wurzelbrücke in Wah Thyllong → S. 128 Tanzlinde Peesten → S. 132 Ash Dome → S. 136
Laubengänge Wacholderpark → S. 138
Cattedrale Vegetale → S. 140 Torre Verde → S. 142 Baubotanischer Steg → S. 144
Vogelbeobachtungsstation Waldkirchen → S. 150
Plattform in der Steveraue → S. 152 Village de Gîtes les Tropes → S. 154 Baubotanischer Turm → S. 158 Platanenkubus Nagold → S. 162 Grünes Zimmer Ludwigsburg → S. 170
Die »lebenden Holzhauser« von Arthur Wiechula → S. 174
Das Waldgartendorf von Konstantin Kirsch → S. 177
Der »Baum-Zirkus« von Axel Erlandson in Kalifornien → S. 179
Die »Cité Végétale« von Luc Schuiten → S. 181
Die »Botanic Architecture« von Mark Primack → S. 183 Baubotanik zwischen Vision und Wissenschaft → S. 186
Aufbruch zu einem neuen Zusammenspiel von Baum und Mensch → S. 189
Entwerfen neuer Baum-Architekturen → S. 198
Anmerkungen → S. 210
Über die Autoren → S. 218
Danksagung → S. 219
Bildnachweis → S. 220 Index → S. 222
1 Die Double Decker Bridge ist eine von mehreren Brücken, über die das Dorf Nongriat in Meghalaya (Indien) erreicht werden kann (Foto: 2011).
2 Die verwachsenen Wurzeln der vermutlich mehrere Hundert Jahre alten Brücke zwischen dem neuen und dem alten Teil des Dorfes Nongbareh haben sich im Laufe der Zeit zu bi zarr-knorrigen Strukturen entwi ckelt. In die lebende Konstrukti on einwachsende Steine bilden die Lauffläche (Foto: 2017).
3, 4 Die den Bäumen entsprin genden Luftwurzeln des Ficus elastica werden so miteinander verknotet, dass sie verwachsen (Fotos: 2014).
In den abgelegenen tropischen Bergwäldern der ostindischen Provinz Meghalaya finden wir die wohl beeindruckendsten Beispiele lebender Architektur. Hier machen sich Angehörige des in digenen Volksstamms der Khasi seit Jahrhunder ten die Wachstumsprozesse von Bäumen zunutze, um lebende Brücken entstehen zu lassen. Die teils mehr als 20 m weit spannenden Konstruktionen ermöglichen es den Khasi, tiefe Schluchten und reißende Flüsse sicher zu überqueren. Luftwur zeln, die zu fachwerkartigen Strukturen verwach sen sind, bilden das Haupttragwerk und dienen gleichzeitig als Geländer (→ Abb. 1). Und durch flache Steinplatten, die in diese lebende Konst ruktion einwachsen, können bequeme Laufflächen entstehen (→ Abb. 2). Verwurzelt in der Erde und bewachsen mit Moosen und Flechten, fügen sich die lebenden Bauwerke bruchlos in das natürliche Ökosystem ein und wirken fast wie aus einer Mär chenwelt entsprungen, in der Mensch und Natur in ungetrübter Harmonie zusammenleben. Ihre Entstehung erfordert jedoch einen ausgeklügel ten Plan, spezielle Techniken und vor allem einen langen Atem: Am Anfang steht die Pflanzung von Gummibäumen (Ficus elastica) an den Ufern eines Flusses, die mit ihren Wurzeln den Boden stabi lisieren und das zukünftige »Fundament« bilden. Sobald die Bäume etwas größer geworden sind, wird über dem Fluss meist eine Behelfskonstruk tion errichtet und die Luftwurzeln, die den Ästen und Stämmen dieser Bäume entspringen, werden über den Fluss geleitet. Immer wieder werden sie dabei miteinander verknotet, sodass eine netz werkartige Struktur entsteht (→ Abb. 3, 4). Bis diese durch Verwachsungen und Dicken wachstum eine ausreichende Tragfähigkeit ent wickelt hat und die lebende Brücke voll nutzbar ist, vergehen oft Jahrzehnte (→ Abb. 5–7). Damit ist der »Bau« einer lebenden Brücke ein Mehrgenerationenprojekt, bei dem die Vorarbeit
Da Bäume zu großen Teilen aus Holz bestehen, könnte man die Baubotanik als eine Bauwei se beschreiben, die durch das Grundmaterial »lebendes Holz« charakterisiert ist. Doch auch wenn aufgrund des konstruktiven Ansatzes Materialeigenschaften wie Festigkeit oder Dau erhaftigkeit durchaus relevant sind, wird man der Baubotanik nur bedingt gerecht, wenn man versucht, sie primär durch die Eigenschaften des dominierenden Grundmaterials zu definieren. Entscheidend ist vielmehr, dass jedes lebende Element einer baubotanischen Struktur Teil eines größeren Ganzen ist. Betrachtungsgegenstand ist der Organismus Baum und damit ein System, das sich im ständigen Austausch mit seiner Um welt selbst erhält und ständig weiterentwickelt. Grundsatz allen baubotanischen Entwerfens und Konstruierens ist damit die Integrität des Organismus und der Erhalt seines systemischen Gleichgewichts. Die Grundregeln sind damit also nicht in erster Linie statisch-physikalische, sondern in ganz entscheidendem Maße biolo gisch-prozessuale – botanische Gesetzmäßig keiten sind die entscheidende Grundlage des baubotanischen Entwerfens und Konstruierens. Diese bestimmen, was möglich ist und was nicht, was einfach zu erreichen ist und was besondere Schwierigkeiten mit sich bringt.
Der strukturelle Aufbau und die Funktionen der unterschiedlichen Organe von Bäumen bilden eine essenzielle Wissensgrundlage, um zu verstehen, wie der komplexe Organismus Baum entsteht und auf welchen Grundmustern sein Wachstum basiert. Damit baut die Baubotanik als Praxis auf ähnli chen Grundlagen wie der Obst- und Gartenbau, die Forstwirtschaft oder die Baumpflege auf. In diesen Bereichen sind die Problemfelder und zu lö senden Aufgaben in der Regel meist klar vorgege
In der Versuchsreihe 1 wurden vergleichsweise jun ge Pflanzen verwendet, die zwar gut formbar sind und aufgrund der noch dünnen Rinde tendenziell schneller und besser verwachsen, in der Baubota nik aber kaum Verwendung finden. Um Strukturen zu erzeugen, die von Beginn an eine gewisse Größe bzw. Blattmasse und räumliche Präsenz aufweisen, ist es sehr viel sinnvoller, in der Praxis auf mehrjäh rige, mehrere Meter lange Pflanzen zurückzugrei fen. Aufbauend auf den Zwischenergebnissen der Versuchsreihe 1 wurde die Versuchsreihe 2
(→ Abb. 15) daher mit dem Ziel angelegt, den Verwachsungsprozess und die Formbarkeit von ca. 4 m großen Bäumen handelsüblicher Baumschul ware (Hochstämme) unterschiedlicher Baumarten zu untersuchen. Darüber hinaus dient die Ver suchsreihe dazu, auszutesten, wie verwachsene Pflanzenpaare auf das Entfernen eines Wurzelbe reichs reagieren (vgl. Pflanzenaddition, →S. 81). Die Versuche wurden als Tastversuche angelegt, um erste qualitative Einschätzungen für die weitere Forschung und Praxis zu gewinnen.
15 Blick in die Versuchsreihe 2 mit gebogenen und zweifach verbundenen Pflanzenpaaren (im Vordergrund Birken, in der zwei ten Reihe dahinter Hainbuchen).
Die bisherigen Ergebnisse der Versuchsreihen ge ben Hinweise, ob und wie die verschiedenen Bau marten in der Baubotanik zum Einsatz kommen könnten. Sie sind jedoch im Kontext einer Vielzahl weiterer Aspekte zu sehen, die bei der Baumar tenwahl für ein baubotanisches Projekt eine wichtige Rolle spielen. Wie die unterschiedlichen Faktoren zusammenspielen, wird im Folgenden an fünf in den Versuchsreihen untersuchten Bau marten aufgezeigt, wobei auch Aspekte weiterer Arten und Züchtungen diskutiert werden. Die Aus wahl bildet einen Querschnitt in Mitteleuropa ver breiteter Arten mit unterschiedlichen Eigenschaf ten ab und ist nicht als eine Vorauswahl zu sehen; vielmehr dient sie dazu, beispielhaft die bei der Die Gewöhnliche Platane (Platanus x hispanica) geht als eine der »Gewinnerinnen« aus den Ver suchsreihen hervor und bietet sich daher unmit telbar für die Baubotanik an. Sie verwächst nicht nur sehr gut und schnell, sondern verfügt auch über ein festes Holz und eine ausgezeichnete Wundheilung. Auch technische Teile wachsen sehr rasch ein, wobei diese regelrecht von Wundge webe »umflossen« werden (→ Kap. 6, S. 167). Dass sich Platanen leicht zu architektonischen Strukturen formen lassen, wird unter anderem durch die vielen historischen und auch heute noch weit verbreiteten Kulturformen belegt. So können die Äste vergleichsweise einfach horizontal gezo gen werden, was die typischen Dachformen der Platane ermöglicht. Die Kombination aus guter Wundheilung und Regenerationsvermögen erlaubt sowohl den Kopfschnitt als auch das Schneiden geometrischer Kronenformen, die häufig histori sche Parkanlagen prägen (→ Abb. 32).
Baumartenwahl relevanten Aspekte zu beleuch ten. Wichtige Hinweise auf die Einsatzmöglich keiten einer Art in der Baubotanik ergeben sich insbesondere aus der historischen Verwendung, der aktuellen Nutzung als Wald-, Park- oder Straßenbaum18 sowie aus den technischen Eigen schaften und der Verwendung des Holzes. Hier ist jedoch zu beachten, dass in der Baubotanik die Eigenschaften des grünen, sprich frischen Holzes und nicht des getrockneten Holzes zum Tragen kommen.19 Genauso sind auch der natürliche Standort, der ökologische Mehrwert und gesund heitliche Wirkungen auf den Menschen sowie Pflanzenkrankheiten und mögliche Auswirkungen des Klimawandels zu bedenken.
Gleichzeitig ist die Gewöhnliche Platane tolerant gegenüber einer Vielzahl von Einfluss faktoren wie Streusalz, Luftverschmutzung und Hitze, weshalb sie sich weltweit als Stadt- und Straßenbaum etabliert hat.20 Dabei ist zu beden ken, dass die in Mitteleuropa verbreitete und hier besprochene Gewöhnliche Platane (vermutlich) im 17. Jahrhundert aus einer Kreuzung der Abendlän dischen Platane (Platanus occidentalis) und der Morgenländischen Platane (Platanus orientalis) hervorgegangen ist. Diese ursprünglichen Arten
sind in ihrer jeweiligen Heimat charakteristische Auenwaldbäume, was darauf hinweist, dass auch die Gewöhnliche Platane an gut wasserversorg ten Standorten am besten gedeiht (→ Abb. 33). Dass sie auch mit stark versiegelten, oft extrem trockenen urbanen Standorten zurechtkommt, verdeutlicht ihre große Anpassungsfähigkeit. Wachsen Platanen in Pflanzgefäßen, zeigen sie jedoch eine gewisse Empfindlichkeit gegenüber Trocken- und Temperaturstress (→ Kap. 3, S. 83–84).
Platanen entwickeln mächtige Stämme mit weit ausladenden Kronen und erreichen Höhen
von mehr als 45 m, wobei sie 300 oder mehr Jah re alt werden können. Von der Morgenländischen Platane sind sogar einige mehr als 1000-jährige Exemplare bekannt. Mit dieser Größenentwick lung und Langlebigkeit ermöglicht es die Art, baubotanische Bauwerke in der Dimension vieler Stockwerke hoher Gebäude zu realisieren, deren Lebenserwartung sowohl die eines Menschen als auch die der allermeisten konventionellen Gebäu de weit übertreffen dürfte.
Vorgeschädigte Bäume und Trockenheit können dennoch langfristig ganze Bestände schädigen.22 Viel gravierender als die Blattbräune wirkt sich die Massaria-Krankheit aus, bei der der Schadpilz (Splanchnonema platani) auch starke Äste befallen und in kürzester Zeit eine intensive Zersetzung des Holzes hervorrufen kann. Bereits nach wenigen Monaten können befallene Äste, die häufig noch voll belaubt und vital erscheinen, unvermittelt ab brechen.23 Vor diesem Hintergrund wird kontrovers diskutiert, ob die Platane im Kontext des Klima wandels weiterhin als eine verlässliche Stadtbaumart angesehen werden kann – entsprechend ist die Verwendung in der Baubotanik diesbezüg lich kritisch zu hinterfragen. Auch ein weiterer Aspekt schränkt die Verwendung der Platane in der Baubotanik ein: Sie bildet an der Unterseite der Blätter und in den Fruchtkörpern sehr feine Härchen, die leicht in die Luft gelangen. Werden diese eingeatmet, können sie starken Hustenreiz und Heuschnupfen auslösen.24 Der dauerhafte Aufenthalt in der Baumkrone einer Platane bzw. im unmittelbaren Einflussbereich der Blätter ist daher nicht anzuraten.
33 Ursprünglich sind Platanen Auenwaldbäume, die in Flussniederungen gedeihen.
Die Gestalt der Platane ist durch die ab schuppende Rinde und dicken Stämme und Äste sowie die typischen, ahornartigen Blätter geprägt. Ansonsten ist sie ein eher unauffälliger Baum, der weder mit beindruckenden Blüten im Frühjahr noch mit einer besonders auffälligen Blattfärbung im Herbst aufwarten kann. Die typischen, kugelrun den Fruchtstände stellen jedoch einen besonderen Schmuck im Herbst und Winter dar (→ Abb. 34). Dass sich diese oft über viele Monate halten, ist allerdings ein Hinweis auf den geringen »faunis tischen Wert« der Platane: Weder für Insekten noch für Vögel oder Säugetiere stellen Platanen hierzulande eine relevante Nahrungsquelle dar. Die Kronen und vor allem hohle Stämme alter Platanen werden aber von vielen Vogelarten als Brutstätte genutzt und übernehmen so durchaus wichtige Habitatfunktionen.21
Lange Zeit galten Platanen auch gegenüber den meisten Baumkrankheiten als robust, in den vergangenen Jahren wurden Schädigungen durch Pilzkrankheiten wie die Blattbräune (Apiogno monia veneta) jedoch häufiger beobachtet. Bei vitalen und gut wasserversorgten Bäumen führt die Krankheit lediglich zu einem vorzeitigen Laubfall, den die Bäume durch Neubildung von Blättern aus Ersatzknospen rasch kompensieren können.
Insgesamt zeigt sich damit, dass der Vielzahl an Vorzügen, die die Platane für die Baubotanik mitbringt, einige durchaus gravierende Nachteile gegenüberstehen. So ist unklar, wie sich die Folgen des Klimawandels direkt oder indirekt (z. B. durch verstärkt auftretende oder neue Pflan zenkrankheiten) auf die Vitalität und mechanische Verlässlichkeit auswirken werden. Genauso ist die potenziell negative Wirkung auf das Wohlbefinden von Menschen in der Baumkrone kritisch zu sehen.
34 Herbstfärbung und Fruchtstand der Platane, der oft den ganzen Winter über erhalten bleibt.
Bauwerke sind über den Prozess ihrer Herstellung, Nutzung und Entsorgung in natürliche Stoffkreis läufe eingebunden und stehen z. B. über Energie flüsse immer auch im direkten Austausch mit ihrer Umwelt. Heute wird dieser Kontakt jedoch meist durch technische Maßnahmen wie Dämmung und Abdichtung auf ein Minimum reduziert.1 Demge genüber zeichnen sich baubotanische Projekte durch einen aktiven Austausch mit ihrer Umwelt aus, und viele Prozesse, die gewöhnlich der »na türlichen Umwelt« zugeordnet werden, sind inte grale Prozesse des Bauwerks selbst. Auf diese Art wird die übliche Dichotomie zwischen dem Men schgemachten und dem Natürlichen durch eine vielfältige Interaktion ersetzt und zwischen tech nischen und biologischen Systemen entwickelt sich eine Beziehung des gegenseitigen »Gebens und Nehmens«. Diese wechselseitige Bedingtheit der technischen und biologischen Systeme zu erfassen und ihre Beziehungen zu gestalten ist eine essenzielle Voraussetzung dafür, dass sie in baubotanischen Projekten zur Synthese gebracht werden und Synergien entfalten können.
Der in der Umweltforschung und Umweltplanung weit verbreitete Begriff der Ökosystemdienst leistungen bringt zum Ausdruck, wie natürliche Systeme als dem Menschen dienend verstanden werden. Dabei wird der Mensch in Differenz zur Umwelt bzw. zu Ökosystemen gedacht, die durch »Leistungen« wie beispielsweise die Bereitstellung
Eine besonders ausgleichende Wirkung auf das lokale Klima geht von großen, voll entwickelten Wäldern aus. Durch das großteils geschlossene Kronendach tritt die Sonnenstrahlung meist nicht direkt auf den Boden, wodurch sich dieser viel weniger erwärmt als auf offenen, vegetationsfrei en Flächen. Nachts verhindert der Blätterschirm die Abstrahlung von Wärme, weshalb dann die Temperatur meist etwas höher ist als im unmittel baren Umfeld. Gleichzeitig ist die Windgeschwin digkeit in Wäldern sehr viel geringer, da die Laub schichten der Baumkronen und des Waldrands den Wind ablenken bzw. verlangsamen (→ Abb. 1).8 Demgegenüber sind städtische Gebiete durch mikroklimatische Extreme cha rakterisiert. Der Sonneneinstrahlung unmittelbar ausgesetzte versiegelte Flächen und Baukörper heizen sich tagsüber besonders stark auf und speichern durch ihre große thermische Mas se die Wärmeenergie. Sie strahlen diese zwar nachts teilweise wieder ab, bei dichter Bebauung wird die Wärmestrahlung jedoch nicht an die Atmosphäre abgegeben, sondern von Nach bargebäuden zurückreflektiert. Verstärkt durch die Abwärme von Verbrennungsmotoren oder
beispielsweise Klimaaggregaten bleiben die Straßen- und Freiräume dadurch gerade nachts überdurchschnittlich warm. Dieser »Hitzeinselef fekt« ist umso stärker, je mehr die Bebauung eine Durchlüftung und damit auch das Nachströmen kühlerer Luft aus der Umgebung verhindert. In der Folge kann die Lufttemperatur dicht bebauter städtischer Gebiete um bis zu 10 °C höher sein als im Umland.9 Der für den Menschen daraus resultierende Hitzestress ergibt sich jedoch nicht nur aus der Lufttemperatur, sondern auch aus der Wärmestrahlung (durch direkte Sonneneinstrah lung oder Abstrahlung von aufgeheizten Oberflä chen), der Luftbewegung und der Luftfeuchte.10
Mit dem Voranschreiten des Klimawandels wird nicht nur die globale Durchschnittstempe ratur steigen, sondern es ist auch in weiten Teilen der Welt mit extremeren und länger andauernden Hitzeperioden zu rechnen, die zu einer deutli chen Verstärkung städtischer Hitzeinseln führen dürften. Welche fatalen Folgen dies haben kann, macht z. B. der Hitzesommer 2003 deutlich, der mit geschätzten 45.000 bis 70.000 Todesopfern zu den bislang schwersten Naturkatastrophen des europäischen Kontinents zählt.11
1 Wälder erzeugen in der Regel ein ausgeglichenes, für den Menschen angenehmes Mikro klima.
Pflege: Wechselnd, derzeit Förderverein Tanzlinde Peesten
Ort: Peesten, Deutschland
Baumart: Sommerlinde (Tilia platyphyllos)
Technische Bauteile: Holzkonstruktion, Steintreppe, Steinsäulen
Techniken: Leiten der Triebe, Formschnitt
Botanische Phänomene: Geotrope und geomorphe Reaktionen (→ Kap. 2, Abb. 14)
Die Tanzlinde in Peesten (→ Abb. 10–16) in der Fränkischen Schweiz (Bayern, Deutschland) steht wie kaum ein anderes Projekt für die Verschmel zung von Baum und Bauwerk. Beachtenswert ist nicht nur ihre Gestaltung, sondern auch die über mehrere Jahrhunderte dokumentierte Entwick lungsgeschichte, in der sich das Verhältnis leben der und nichtlebender Elemente der Architektur immer wieder grundlegend verändert hat.
Nach der Pflanzung des Baumes im 16. Jahr hundert diente zunächst einmal der Raum unter der Baumkrone als Versammlungs- und Gerichts stätte. Die Äste wurden horizontal gezogen und dazu wurden entsprechende Stütz- und Hilfskon struktionen aus Holz errichtet. Diese Überformung des Baumes steht in großer Übereinstimmung mit seinem Wachstumsmuster, da die unteren Äste natürlicherweise bereits mehr oder weniger horizontal wachsen. Die Wuchsrichtung wird also lediglich geometrisch präzisiert.
Erst nach gut 200 Jahren wurde damit be gonnen, den Raum in der Baumkrone zu einem Tanzsaal auszubauen. Im 19. Jahrhundert wurde die Konstruktion grundlegend erneuert und erhielt ihre heutige Form. Eine gemauerte Wendeltrep pe wurde ergänzt und die Holzpfosten wurden durch steinerne Säulen ersetzt. Diese waren nicht nur dauerhafter und stabiler, sondern sollten auch den Architekturanspruch des Bauwerks unterstreichen. Auf den Säulen ruht ein aus zwei Balkenlagen bestehender Boden. Die untere Lage stützt die Äste, die obere den eigentlichen Tanzboden. Der Tanzsaal mit durchbrochenen Gitterwänden, an denen die unteren Äste entlang gezogen werden, Fenstern und einer angedeute ten Dachkonstruktion, die die darüber liegenden Äste stützt, ist ein beeindruckender Raum in der Baumkrone, in dem sich lebende und nichtleben de Elemente auf vielfältige Art durchdringen.
10 Die Entwicklung vom Ende des 16. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ist durch vitales Wachstum und die schrittweise Erweiterung der Holzkons truktion geprägt. Im 19. Jahrhundert wurden die Holzstützen durch Steinsäulen ersetzt und die Steintreppe ergänzt.
11 Die Tanzlinde Peesten heute mit dem in den 1950er Jahren nachgepflanzten Baum und der rekonstruierten Holzkonstruktion (Foto: 2014).
Entwurf: Leberecht Migge (Landschaftsarchitekt)
Umsetzung: Gartenbaubetrieb Jacob Ochs
Pflege: Stadt Hamburg
Ort: Hamburg, Deutschland
Baumart: Winterlinde (Tilia cordata)
Technische Bauteile: Temporäre Hilfskonstruktionen (Stahl)
Techniken: Leiten von Trieben, Kopfschnitt
Botanische Phänomene: Kopfbildung (Wundheilung und Reiteration)
Die beiden 70 bzw. 80 m langen Laubengänge sind Teil des 1911 von dem Landschaftsarchi tekten Leberecht Migge in Hamburg realisierten Öffentlichen Gartens Fuhlsbüttel, der heute als Wacholderpark bekannt ist (→ Abb. 21–23). Als Mitglied des Werkbunds und Vertreter der
Reformgartenbewegung stand Migge für eine ar chitektonische Verwendung von Pflanzen, bei der insbesondere Bäume zur Raumbildung eingesetzt und streng geometrisch geformt wurden. Genau so wie bei den in vielen Aspekten vergleichbaren grünen Architekturen des Barockgartens werden Wachstumsprozesse dabei nicht thematisiert.8 Vielmehr wird versucht, rasch ein klar definiertes Ziel zu erreichen und diesen Zustand dann mög lichst lange zu erhalten. Im Fall des Wacholder parks wurden junge Bäume einige Jahre entlang eines temporären Spaliers gezogen, bis sie die Form eines Halbbogens und damit ihre endgül tige Form und Größe sowie eine Eigenstabilität erreicht hatten und die Hilfsstrukturen entfernt werden konnten. Anschließend wurden die Triebe der geformten Bäume jedes Jahr unmittelbar am Stamm »auf Kopf« zurückgeschnitten (→ Kap. 2, S. 42). Durch die Wiederholung dieses Vorgangs über viele Jahrzehnte wuchsen die Köpfe zu langen, wulstigen und knorpeligen Gebilden aus. Ansonsten verändert sich die Struktur kaum, denn durch die künstlich gering gehaltenen Blattmas se treten kaum Konkurrenzeffekte zwischen den einzelnen Bäumen auf und die Stämme zeigen ein nur minimales Dickenwachstum.
21
21 Im Sommer spendet die Laubhülle Schat ten und erzeugt einen klar von der Freifläche abgegrenzten Raum.
22 Die geformten Linden des Laubengangs sind durch die aus dem jährlichen Rückschnitt resultierenden Köpfe geprägt (Foto: 2015).
23 Die Rekonstruktion der Entwicklung seit der Pflanzung im Jahr 1911 zeigt, dass die Linden durch den Kopfschnitt und die hohe Pflanzendich te kaum in der Dicke gewachsen sind (vgl. hierzu die 40 Jahre später gepflanzte Tanzlinde in Peesten, → Kap. 6, S. 132–135).
Entwurf und Umsetzung: Ferdinand Ludwig, Oliver Storz, Cornelius Hackenbracht
Pflege: Neue Kunst am Ried
Wissenschaftliche Begleitung: Forschungsgebiet Baubotanik (Universität Stuttgart/TU München)
Ort: Wald-Ruhestetten, Deutschland
Baumart: Korbweide (Salix viminalis)
Technische Bauteile: Stahl-Gitterroste, Edelstahlrohr
Techniken: Bündeln von Weidenruten
Botanische Phänomene: Adventivwurzelbildung, Einwachsen, Verwachsen, Konkurrenz
Der Baubotanische Steg (→ Abb. 30–38) wur de 2005 von Ferdinand Ludwig und Oliver Storz entworfen und zusammen mit dem Bildhauer Cornelius Hackenbracht beim Projekt Neue Kunst am Ried in Wald-Ruhestetten in der Nähe des Bodensees realisiert. Er ist das erste Versuchsund Demonstrationsbauwerk des Forschungs gebiets Baubotanik und veranschaulicht anhand einer einfachen pflanzlich-technischen Struktur den konzeptionellen wie auch den konstruktiven Ansatz der Baubotanik. Seine Entwicklung wurde
kontinuierlich dokumentiert, um weitere Erkennt nisse für den Bau und die Pflege baubotanischer Bauwerke zu gewinnen.
Das Bauwerk wurde ursprünglich aus 64 senkrechten Bündelstützen, die aus jeweils 12 bis 15 Pflanzen bestanden, gebildet. Diese Stützenstruktur trägt auf etwa 2,5 m Höhe eine begehba re Fläche und nimmt ein Edelstahlrohr auf, das als Handlauf dient. Weitere 16 diagonal angeordnete Bündel steifen die Konstruktion aus. Durch die in regelmäßigen Abständen angeordneten Pflan zenstützen und die insgesamt 22 m lange, aus Stahlgitterrosten gebildete Stegfläche entsteht ein vom Boden abgelöster, begehbarer Raum, der über zwei Querstege mittels Leitern betreten werden kann. Konstruiert wurde die lebende Trag struktur aus bis zu 4,5 m langen Ruten bzw. Setz stangen der Korbweide (Salix viminalis), die ca. 80 cm tief in den Boden eingegraben wurden und sich dort aufgrund ihrer hohen Regenerationsfä higkeit selbstständig bewurzelten (→ Kap. 2, S. 41–42). Dadurch war kein Fundament im herkömmlichen Sinne notwendig, vielmehr leiten die Bündel alle Bauwerkslasten in den Untergrund ab und die Wurzeln verankern die Konstruktion im Erdreich.
Die Bündelstützen wurden so dimensioniert, dass bereits unmittelbar nach der baulichen Fertigstellung eine ausreichende Tragfähigkeit gegeben war, um das Bauwerk betreten zu kön nen.10 Um die Nutzlasten der Ebene aufzunehmen, wurden in jedem Bündel einige der Setzstan gen unterhalb der Lauffläche gekappt und die
30 Erster Austrieb im Frühjahr 2005. 30
68 Kreuzverwachsung nach ca. acht Jahren Ent wicklung. Die Stämme haben Durchmesser von bis zu 12 cm erreicht (Foto: 2021).
8 Arbor Kitchen, Wald-Ruhestetten. Im ersten Sommer nach der Montage der Dachhaut treiben die Bäume der baubotanischen Konstruktion an der Traufe und am First neu aus (Foto: Sommer 2022).
Ein wachsendes, lebendes Haus, ein Gebäude aus Pflanzen scheint ein Widerspruch in sich zu sein. Dennoch wussten schon die Khasi in Ostindien die Luftwurzeln von Gummibäumen zu Fußgängerbrücken zu verbinden und in Süddeutschland bildeten über Jahrhunderte hinweg Tanzlinden den Dorfmittelpunkt. Daran anknüpfend widmet sich die Baubotanik dem Entwerfen und Bauen mit Bäumen. Realisierte Bauten, Versuchsreihen, Entwurfsstudien und visionäre Konzepte weisen den Weg zu einer neuen grünen Architektur. Diese Einführung geht auf die botanischen Wachstumsgesetze ein, die die Bauten leiten und erklärt die Grundlagen des Konstruierens mit lebenden Bäumen. Das Buch regt zu einem ganz neuen Blick auf Architektur an, die gleichsam zu einem Teil der Stadtnatur wird.
www.birkhauser.com