Projekt Stadt

Page 1

Projekt Stadt

Was macht Städte so attraktiv? Und warum sind Fragen der Urbanität heute so spannend? Das Leben in der Stadt dreht sich wohl immer um den Vorschein neuer Möglichkeiten, eine Antizipation des Erhofften und damit eine momenthafte Vorwegnahme künftigen Glücks. Diese Erwartung charakterisiert auch den Urbanitätsdiskurs seit der Antike: sie liegt den jeweiligen Motivstrukturen und philosophischen Haltungen der Planer und Denker zugrunde, die immer wieder neu formatiert und damit unablässig erweitert werden. Die bürgerliche Emanzipation seit der französischen Revolution rückt die Stadt von den alten Formen des urbanen Immunsystems in eine Phase der räumlichen Ausdehnung, des Stadtumbaus und des Bevölkerungswachstums: Die alte Idee der urbanen Gemeinschaft weicht der neuen Vorstellung vom Schnittpunkt globaler Ströme. Mit der Idee der postmodernen Stadt begibt sich eine formierte Gesellschaft schließlich auf die Suche nach der Heterotopie, nach jenem Ort, an dem jeder sein Anderes zu entdecken glaubt. Auch dieses Projekt wird die Vorstellungen vom öffentlichen Raum nachhaltig verändern.

Manfred Russo

ISBN 978-3-0356-0835-9

www.birkhauser.com

Projekt Stadt Eine Geschichte der Urbanität

Manfred Russo


6

Einleitung 13

Von der Antike zur Neuzeit 15 21 27 33 39 45 53 61

Athen. Die hellenische Entdeckung des Urbanen Rom. Urbanität der Antike im Großen Die „Civitas Dei“ der mittelalterlichen Stadt Die Renaissancestadt. Kriegsmaschine und Humanismus Die Barockstadt. Aufbruch ins Unendliche Die Romantik. Der städtische Antiraum bricht herein Revolutionsraum Protestantischer Raum. Genese. Bewusstsein und Raum

67 Die Stadt im 19. Jahrhundert

69 Sphärenwechsel 79 Die Geburt der Stadt des 19. Jahrhunderts aus dem Geist des Bergwerks 87 Paris. Die Poetik des anthropologischen Ortes 97 Weder Innen noch Außen. Die Passage 105 Die Passage als Chronotopos 115

Transformationen der Öffentlichkeit 117 127 137 149 157 165

Öffentlicher Raum Warenöffentlichkeit durch Emotional Design Der Flaneur. I . Stadtforscher avant le temps Der Flaneur. II . Frühe Stadtsüchtige Der Flaneur. III . Der ennui. Das Leiden des Flaneurs Vom kollektiven Gedächtnis zum Kunstcontainer. Anmerkungen zu einer Kunstgeschichte des öffentlichen Raumes

175

Utopie 177 187 197 205 215

Der Einbruch der Zeit in die Stadt. Von der urbs zur civitas Ursprung Apolitik. Von der Makroutopie bis zur Immanenz Die amerikanische Utopie des Protestantismus Die Natur als Quelle der Utopie Die Stadt als Lichtung der Natur. Patrick Geddes Biopolis


229

Moderne 231 241 249 261 271 283 291 305

Die Ermächtigung des Künstlers zum Interpreten des urbanen Raumes Modernismus von unten Modernismus und der Kampf um Anerkennung Der neue Eros des öffentlichen Raumes Die Temporalisierung des öffentlichen Raumes Raum-Zeitkontraktionen Fordismus als Paternalismus und Urbanismus Fordismus als ökonomischer Aufstieg und kulturelle Krise

315 New York

317

Die urbane Mobilmachung 1920 – 1960. Selbststeigerung. Horizontale und vertikale Kinetik 327 Robert Moses und die fordistische Intervention 355 Jane Jacobs. Die Urbanistin mit dem ungebührlichen Verhalten 347 Postmoderne

349 359 367 377 387 399 407 417 423

Stadt und Angst. Urbane Form und „Maximal-Stress-Cooperation“ Stadt und Angst. Die Geburt der Edge City. Pioniere aus dem Post-Riot-Stress Stadt und Angst. Californian Urban Dreams and Nightmares. Simulacra, Schizophrenie, Psychasthenie Die Generic City. Okzidentale Identifikationsprobleme oder Taoistischer Vitalismus Vorboten der Postmoderne Vorboten der Postmoderne. Michel Foucaults „Andere Räume“ Die Stadt als Archipel der Kapseln Die Stadt als Archipel der Kapseln. Kapsel und heterotopischer Urbanismus Die Stadt als Archipel der Kapseln. Heterotopie als Chance oder Bedrohung?

441 Ausgewählte Literatur 443

Bildnachweise


Einleitung Urbanität – dieser Begriff erfreut sich großer Beliebtheit und ist Gegenstand zahlreicher Diskussionen, zumal er immer mehr auch als ein Ziel städtischer Entwicklung und Politik betrachtet wird. Freilich gibt es keine Übereinstimmung darüber, was man unter Urbanität zu verstehen habe, und es wird schnell klar, dass man es hier mit einem Phänomen zu tun hat, das sich unterschiedlichster Deutungen erfreut.1 Einige Stoßrichtungen sind aber erkennbar. Nach moderner, weitverbreiteter soziologischer Ansicht wird Urbanität als eine Lebensart mit einer bestimmten Geisteshaltung bezeichnet, die eine zivile Kultur hervorbringt und damit die Bedingungen zur Akzeptanz einer Vielfalt sozialer und ethnischer Lebensformen und Milieus schaff t. Aus dieser inspirierten Sicht wird unter Urbanität zumeist eine Form des Zulassens der Differenz verstanden, die die Großstadt durch ihre Überraschungen und Provokationen des Andersseins bietet. Eine solche Vorstellung wurde vor über einem Jahrhundert durch das Werk Georg Simmels und der Stadtsoziologen von Chicago geprägt und kann auch heute noch Gültigkeit beanspruchen. Dieses Bild von Urbanität wurde bei Richard Sennett und Jürgen Habermas durch den im 18. Jahrhundert entstandenen Typus des metropolitanen Bürgers ergänzt, der über eine nach außen gewandte Lebensweise verfügt, die er im öffentlichen Raum der Stadt, in den Cafes, Theatern, Parks und Salons unter Beweis stellt. Dieser Bürger ist expressiv, diskutiert die Angelegenheiten der Stadt, weil er es als zivile Aufgabe sieht, sich um deren Belange zu kümmern, und er sich gerne im öffentlichen Raum aufhält. Neben den kulturellen Qualitäten einer zivilen und liberalen Lebensweise, die das Fremde akzeptieren kann, kommt nun auch ein Sinn für städtische Atmosphäre auf, die den morphologischen Qualitäten der Stadt zunehmende Bedeutung beimisst. Diese modernen Versionen mit Ausnahme Sennetts können jedoch nur ein beschränktes Spektrum der Urbanitätsvorstellungen beschreiben, da sie eine überwiegend soziologisch normative Prägung aufweisen. Es fehlen noch zahlreiche Vorstellungen, die für ein Wissen um die Stadt und des sich darin ereignenden Lebens wichtig sind. Es fehlt der umfassende Blick auf den Raum und auf die morphologischen Verhältnisse der Stadt, auf die Stadtplanung und die Architektur, vor allem aber auf die Ideen und Motive, die den Handlungen in einer Stadt zugrunde liegen und die ihr Wesen bestimmen. Zugleich gibt es aber auch eine enorme Fülle an städtischen Phänomenen, die in ihrer Vielfältigkeit nicht leicht einzuordnen sind. Daher halten wir uns mit Richard Sennett an eine wesentlich ältere Version der Urbanität, die bereits in der Genese des Wortes „Urbanität“ enthalten ist, das von Isidor von Sevilla in besonderer Weise geprägt wurde. Er sprach von einer aus wirklichen Steinen erbauten Stadt, wohl in Kontrastierung zur immateriellen Civitas Dei des Augustinus, der Gottesstadt, die transzendental verortet war und eine christliche Form der platonischen Stadt darstellte. Er unterschied urbs als die Steine der Stadt, die die schützende Funktion des Steines bezeichnen, und civitas als die Gemeinde und zugleich die Rituale und Anschauungen, die sich in der Stadt entwickeln. Damit hat er den Rahmen für eine allgemeine Version von Urbanität abgesteckt, dem zufolge man von zwei Formen des urbanen Raumes sprechen kann, dem gebauten Raum als dem Stadtraum der Gebäude, Plätze, Straßen und Wege und dem sozialen Raum, den die 6


Menschen durch ihre Beziehungen wie ein unsichtbares Netz über dieses städtische Gebilde werfen. Man kann diesen Gedanken auch in der Gegenwart fortsetzen. Die Stadt beherbergt die Menschen nicht nur auf die Art, wie der kantische Raum die Dinge beherbergt: gleichzeitig, aber im Modus gegenseitiger Ausschließung, sondern in der Weise eines psycho- und soziosphärischen Raumes. Die Anwesenden werden nun selbst raumbildend: „Sie sind ineinander verschränkt und sie bilden im Modus gegenseitiger Beherbergung und reziproker Erwartung einen psychosozialen Ort eigenen Typs.“ 2 Daher möchte ich Urbanität als jenes Phänomen der städtischen Sphärenbil-

zu einer Sphäre gestaltet, innerhalb derer sich die Anfänge der Urbanität entwickeln konnten: als ein von Stadtgottheiten inspiriertes kulturelles Handeln. Die Stadt hatte den Charakter einer Monosphäre, deren heilige Mitte eine Form von Positivität schaffte, die der allgemeinen metaphysischen Beschaffenheit der Welt entsprach; sie war Abbild eines Kosmos im Kleinen, ein holistisches Konstrukt, in der Urbanität im modernen Sinn keine Notwendigkeit beanspruchte, weil der moderne Individualismus noch nicht Einzug gehalten hatte Diese seit der Antike bestehende Praxis wurde in der christlichen Stadt beibehalten, wenngleich nun das heilige Zentrum der Stadt durch die Kirche oder Kathedrale beseelt wurde, deren Sakralität durch göttliche Macht gesichert war; der Umgang in Prozessionen war streng geübter Brauch und ist bis heute zu beobachten. Der Feudalismus bediente sich der engen Kooperation mit der Kirche, um in diesem Zentrum auch einen König zu positionieren, der nun dank Verbindung mit dem Heiligen ebenfalls die

Einleitung

dung beschreiben, das dieser kommunikativen Situation entspricht, aber eine ebenso morphologische Dimension aufweist, die sich in den Formen der Stadt ausdrückt. Urbane Situationen sind Sphären eigenen Typs, sie können auf Mustern langer Traditionen beruhen, und sich, wie es heute zunehmend der Fall ist, in Mikrosphären mit ständig neuer Musterbildung auflösen. Wenn man ein tieferes Verständnis für das Wesen der Stadt und die Bedingungen von Urbanität gewinnen möchte, ist es wichtig, im Sinne Peter Sloterdijks zu verstehen, dass es sich bei der antiken Stadt im Grunde um ein verräumlichtes Immunsystem, in der Sprache der Psychologie: um ein sozial-uterotechnisches Konstrukt handelte. Daher war die Einschwörung auf gemeinsame Symbole durch Rituale ebenso wichtig wie die Befestigungsanlagen, wenn nicht gar der Vorrang der religoiden Funktion der Stadtmauern noch vor ihrer militärstrategischen zu sehen ist. Daran erinnert Alberti in seinem 7. Buch de re aedificatoria, wenn er die Gründungsrituale der Alten beschreibt, die sich mit der Weihe der Stadtmauern unter den Schutz einer Gottheit begeben. Diese Gründungsrituale zum Schutze einer Stadtperipherie, der Mauern, konnten aber nur deshalb einen Sinn haben, weil es in der Mitte der Stadt ein sakrales Zentrum gab, das bereits in den mesopotamischen Städten durch einen Kultkönig begründet war, der die magische Kraft in seiner Mitte bündelte und sie nach außen sandte. Obwohl die Einwohner dieser Städte den König kaum zu Gesicht bekamen, wussten sie um die heilige Kraft in ihrem Zentrum, die sie schützte. Erst mit der Ausdehnung der Städte konnten die zentrifugalen Kräfte überhand nehmen, und man versicherte sich an der Peripherie der Mauer durch spezifische Rituale der innerstädtischen Immunsphäre. Es handelte sich also bei den städtischen Ritualen um eine zweifache Geste, einerseits eine von der Mitte ausgehende, die inspirierte, andrerseits eine zweite, die Peripherie sichernde, die defensiv agierte. Damit wurde der Stadtraum formatiert und

7


Abb. 1: Plan der antiken Agora von Athen (J. Travlos) um ca. 550 vor Chr. Ein Dokument des berühmtesten öffentlichen Raumes der Antike mit der Agora, die seitlich von Säulenhallen, den Stoen, gesäumt wird. Dort bildet sich früh eine Sphäre des öffentlichen Diskurses aus.


Athen. Die hellenische Entdeckung des Urbanen Urbanität ist ein Begriff, der bereits seit Jahren Hochkultur hat. Einer Ausgabe der Wiener Stadtzeitung Falter konnte man etwa vor einigen Jahren eine Defi nition von Urbanität im Sinne urbaner Handlungen durch eine pointierte Aufzählung von folgenden Tätigkeiten im urbanen Raum entnehmen: Shoppen, Sprayen, Spazieren gehen und – in Holland – auch Schweine züchten. Urbitekten planen dort Hochhäuser für die Schweinezucht im Sinne des gestapelten Bauernhofs.1 Angesichts dieser neuen Universalität des Begriffes Urbanität, der hier neben der Aufzählung von Handlungen eines postmodernen Flaneurs zu einer Verschmelzung der Termini des Architekten mit dem der Urbanität führt und zugleich an eine Art von Gebrauchsrecht dieser Berufsgruppe in der Verwendung dieses Begriffes erinnert, liegt hier ein Versuch des Autors zur Klärung des komplexen Sachverhaltes in der Gestalt einer historischen Ableitung vor. Ohne die Bedeutung der Architektur in Abrede stellen zu wollen, handelt es sich bei Urbanität im Wesentlichen um ein präarchitektonisches Phänomen, das überhaupt erst die Bedingungen einer Architektur schaff t. Erste Station ist das alte Griechenland in der Zeit des fünften vorchristlichen Jahrhunderts. Bei dem Wort „Urbanität“ selbst handelt es sich um einen Begriff, der erst über ein Jahrtausend danach von dem später heilig gesprochenen Isidor von Sevilla geprägt wurde, indem er von einer aus wirklichen Steinen erbauten Stadt sprach. In seinen Etymologiae, also einem Werk über den Ursprung der Wörter 2, führt er das Wort Stadt, City, Cité auf zwei wesentliche Wurzeln zurück. urbs meint die Steine der Stadt, die die schützende Funktion des Steines bezeichnen, civitas bedeutet eher die Rituale und Anschauungen, die sich in der Stadt entwickeln. In moderner Terminologie könnte man urbs als Hardware und civitas als Software bezeichnen. Die Betonung, die Isidor auf urbs legte, beruhte auf dem notwendigen Heroismus, der zur Neuerrichtung einer Stadt im siebenten nachchristlichen Jahrhundert notwendig war. Insofern ist die Einführung dieses Begriffs in Griechenland eine Form methodischer Fiktion zur besseren Veranschaulichung seiner Entwicklung. Nach dem endgültigen Sieg über die Perser befanden sich die Griechen nun an der Schwelle jenes fünften Jahrhunderts, in dem sich der zweite, vielleicht fundamentalste Schritt der politischen und sozialen Entwicklung der Mensch heit – nach dem der Sesshaftwerdung – vollziehen sollte. Die erste große anthropologische Wende, der Prozess der Sesshaftwerdung, der ca. acht- bis zehntausend v. Chr. zurückreicht, zeichnet sich neben den äußerlich sichtbaren Stadterrichtungen strukturell vor allem dadurch aus, dass das kooperative Prinzip der nomadischen Gesellschaft durch ein Abstammungs-a priori, also ein Genealogieprinzip abgelöst wurde.3 Diese frühen Städte waren von Verteidigungsgürteln umgeben und schlossen sich um Getreidevorräte und den Schatz.4 Unter den Wohnstätten der Familien, der Priester, Krieger und Handwerker wurden die Toten in Urnen bestattet. Die Abstammungsideologie musste sich auf die Toten berufen, weil deren Existenz die Zugehörigkeit zu den Ahnen bestätigte. Den Ahnen gebührte auch die Verehrung der Lebenden, weil nur sie deren soziale Stellung auf Dauer garantieren konnten. Von damals an legte die Abstammung fest, wer mit wem 15


zusammenleben und zusammenarbeiten konnte. Zugleich etablierte sich ein religiöses System, in dem sich der König auf die Abstammung von den Göttern beruft, sein Wille daher stets als göttlicher Wille erlebt wird. Doch mit der notwendigen Präsenz der Toten, und der aus der Praxis der Totenkulte entstandenen Gottesverehrung, zog auch ein neues Element des Unheimlichen ein. Der anwesende Tote erinnerte stets an die Schuld des Lebenden, an seine Verpfl ichtung den Toten gegenüber, die ja deshalb gestorben sind, um ihm das Leben zu ermöglichen. Daraus erwuchs eine starre Verpfl ichtung der sozialen Ordnung gegenüber, die zum Festhalten an der Tradition verpflichtete und vorläufi g das Aufkommen von Phänomenen des Urbanen unmöglich machte. Die Geburt der griechischen Stadt aus der Ablösung vom Totenkult Den Griechen gelingt es nun als erstem Volk, sich von den monumentalen Totenkulten, die noch die arabische und vor allem die ägyptische Kultur mit ihren kolossalen Pyramidenbauten beherrschten, mental zu lösen und den Mensch in den Mittelpunkt zu stellen, wie die grandiose Entwicklung der Skulptur vom primitiven Grabmal zur glanzvollen Plastik des menschlichen Körpers unter Beweis stellt. Die bisher omnipräsenten Toten, die man ja als wirklich anwesend dachte und erlebte, werden zurückgedrängt aus dem Haus und aus der Stadt entfernt, indem sie auf einem Friedhof außerhalb der Stadtmauern begraben wurden, um vor ihnen sicher zu sein. Diese räumliche Distanzierung erfolgt auch von den Göttern. Sie erhalten auf der Akropolis eine eigene Wohnstätte, die man zu ihren Ehren errichtet. Aber das doppelbödige Mysterium des Gottes hat sich im neuen Tempel aufgelöst. Der Tempel ist offen, allen zugänglich und kann überall von der Stadt aus gesehen werden. Der Großteil des Tempels besteht nunmehr aus einer zugänglichen Säulenhalle, die Cella hingegen, das eigentliche Heiligtum, nimmt nur mehr geringeren Raum ein. Auf dem Tympanon und Fries sind die Skulpturen der Götter sichtbar, die durch diese Bildnisse den Öffentlich keitscharakter verstärken. Wie schon Hegel festgestellt hat 5, werden die Götter den Menschen ähnlich. Diese Wende der Götter von „Innen“ nach „Außen“ hat fundamentale Auswirkungen auf die Stadt und die Gesellschaft. Sie überträgt sich auf die mentale Organisation der Griechen in der Weise, dass sie Introspektion überhaupt nicht kennen. Das neue Prinzip der Sichtbarkeit, der Gerichtetheit nach außen, formt die Gestalt der Stadt. Einen Schlüssel zum Verständnis bildet der neue Kult des Körpers und der Nacktheit 6, der allerdings im Gegensatz zu aktuellen Verhältnissen nur auf die Männer beschränkt war. Der berühmte Thukydides berichtete als erster über die Spartaner, die im Kampf im Gegensatz zu den Barbaren, die zumindest auf einer Bedeckung ihrer Genitalien insistierten, nackt waren. Der griechische Historiker ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass es sich dabei um ein Zeichen avancierter Zivilisation handelte. Das Bürgerrecht defi niert sich in Griechenland auch über die Teilnahme am Krieg. Die Selbstbegründung der griechischen Demokratie beruht auf der Verwerfung der Todesangst. Die Nacktheit bringt diesen Überschwang und Exzess des Kampfes und die Überwindung der Furcht zum Ausdruck, und wird ein Zeichen der Selbstsicherheit. Erst das gemeinsam getragene Todesrisiko im Kampf schaff t die Voraussetzung für die gegenseitige Anerkennung als Bürger. Das Bürgerrecht besaßen in Athen jene erwachsenen Männer, die frei geboren waren, deren Eltern Athener waren und die am Krieg teilnehmen konnten. Schon allein aufgrund der Verpfl ichtung des Bürgers zur Teilnahme am beinahe jährlichen Krieg, 16


war die soziale Stellung des Mannes dominant. Die Frau war auf das Haus – den oikos –, beschränkt, auf die Sphäre der alltäglichen, reproduktiven Tätigkeiten; damit war sie vom politischen Leben auf der Polis, das dazu in striktem Gegensatz gesehen wurde, im Wesentlichen ausgeschlossen. Da der Grieche davon überzeugt war, in seinen männlichen Nachkommen weiterzuleben, nahm die Frau aber auch eine Schlüsselposition ein, die ihr ein Recht auf gute Behandlung gab. Mit der Situierung der Frau im Haus vergleichbar ist die Stellung der Sklaven, die ebenso der Sphäre des Ökonomischen zugeordnet wurden. Die griechische Gesell-

Stadtplanung aus dem Geiste der überschwänglichen Nacktheit In der Tat besteht ein innerer Zusammenhang zwischen dem expressiven Körperbild der Griechen, der Erfi ndung neuer Bauwerke und der Art der errichteten Gebäude. Stoa und Gymnasium sind elementare Bautypen, die auf unterschiedliche Weise auf diese Situation der Extrovertiertheit antworten. Es mag für unser modernes Verständnis von Schule merkwürdig sein, wenn man daran erinnert, dass das Wort Gymnasium von gymnoi, splitternackt kommt. Noch sonderbarer mag es scheinen, dass man die Schule als geförderte Stätte der erotischen Knabenliebe auffasste, ja dass die Homoerotik neben einer normalen Ehe geradezu als Bürgerpfl icht galt. Das Gelände des Gymnasiums mit der palaistra, der Stätte, wo die Ringkämpfe stattfanden und dem dromos, der Rennbahn, war ein Trainingscamp für den Erwerb eines schönen Körpers, ebenso ein Ort zur Übung der Redekunst und der Dichtung. Dieses Gelände diente aber auch der Anbahnung von Liebesverhältnissen zwischen eronomos und erastes. Der erastes, der Ältere und Erfahrenere, konnte den Jüngeren beim Sport beobachten und um ihn werben. Erst aus diesem Bewusstsein des Unter-Beobachtung-Stehens heraus sah sich der Jüngling zu besonderer Leistung angespornt, das homoerotische Verhältnis hatte den pädagogischen Sinn, die paideia, ein guter Bürger zu werden. Dies motivierte Perik les zu seinem berühmten Vergleich, wonach sich der Bürger in der gleichen Weise in die Stadt verlieben sollte, indem er das erotische Wort für Liebhaber, erastai, verwendete. Eine erotische Beziehung meinte bei den Griechen allerdings die Liebe zu einer höheren Sache, einer Idee, die modernen sexuellen Implikationen wären unmöglich gewesen. Auch in den homoerotischen Beziehungen wäre eine rein sexuelle Ausrichtung, wie sich am Beispiel des geächteten Analverkehrs erkennen lässt, verpönt gewesen. Die Erfindung des Habitus auf der Agora Die Bürger befanden sich auf der Agora in gewisser Weise in würdevollem Einklang mit dem sie umgebenden Raum. Das Bemühen um eine aufrechte Haltung, die durch eine Mischung aus Zielstrebigkeit und Gleichmut gekenn zeichnet war, prägte das

Athen. Die hellenische Entdeckung des Urbanen

schaft beruhte, wie damals anderswo auch, in einem starken Maß auf der Arbeit der Sklaven, da der Bürger ein für heute unglaubliches Maß an Zeit in der Polis und den Versammlungsorten verbrachte und eine persönliche Konzentration der Lebenszeit auf Beruf oder Gelderwerb nur soziale Verachtung zur Folge gehabt hätte. Der Grieche lebte für die Ehre und die Hoff nung, in der Nachwelt erinnert zu werden. Viele Sklaven (außer in Sparta) dürften daher aufgrund ihrer völligen Unentbehrlichkeit ein verhältnismäßig angenehmes Leben geführt haben, da aus der griechischen Antike kein einziger Sklavenaufstand bekannt ist, der bei der zahlenmäßigen Überlegenheit der Sklaven durchaus Chancen gehabt hätte.

17


Körper verhalten auf der Agora. Die Bürger standen in kleineren Gruppen zusammen oder bewegten sich energisch auf ein bestimmtes Ziel zu. Hier wurde der Habitus des Orthogonalen geprägt. Hier konnte sich die Masse in Würde versammeln. Die Stoa, die beherrschende Architektur der Agora, entstammt ebenfalls dem griechischen Geist der Extrovertiertheit und der Freude am Expressiven. Als Randbebauung offener Plätze ermöglichte sie eine Platzgestaltung der ursprünglich rohen und ungeordneten Agora, die den kommunikativen Anforderungen der betont extrovertierten Gesellschaft entsprach. Die Rückseite der Stoa war zugemauert und bildete den Abschluss des Platzes, die Vorderseite bestand aus einer offenen, der Agora zugewandten Kolonnade. Schon damals beherrschte man die Differenzierung des Raumes, indem man Bereiche unterschiedlicher Exponiertheit erzeugte. Wärmere und kältere, geschützte und offene Zonen wechselten einander ab. Die Stoa als Prototyp des gelungenen öffentlichen Raums bot eine bunte Mischung der Bevölkerung. Neben Schaustellern, Artisten, Bettlern, Händlern konnte man bekanntlich sogar Philosophen beobachten, eine Spezies also, die in den modernen Themenparks oder Plazas seltener anzutreffen ist. Andere Teile der Agora waren großen Gerichtsverfahren gewidmet, wo weit über tausend Menschen teilnehmen konnten. Das Theater. Die erste Bewusstseinsmaschine zur Erzeugung kollektiver Realität Ein weiterer Prototyp der Stadt, das Theater, entwickelt sich aus einer Raum-Körper Situation, die aus einem spezifischen Medienerfordernis entsteht. Theatron heißt auf griechisch schlicht ein Ort zum Sehen und übte die Menschen in anhaltendes, konzentriertes Sehen auf einen Punkt, hier die Spielfläche, ein. Die topologische Ausnützung der Hügel zur Anlage terrassenförmiger Zuschauersitze zählt ebenfalls zu einer der großen Kulturleistungen des griechischen Genius, da sie eine Verbindung von Raum und Stimme schaff t, die durch den ansteigenden Raum den Schall der Stimme nicht zerstreute, sondern die Lautstärke sogar steigerte. Im Theater wurde die konzentrierte Beobachtung der individuellen Darstellung, und eines einzelnen Redners, kulturell erlernt. Das über längere Zeiten sitzende Publikum wurde auf diese Weise in eine empathische Haltung versetzt und war nun in der Lage sich mit dem Inhalt der Tragödie zu konfrontieren. Architektur und Körper gehen hier fundamentale Verbindungen ein und schaffen erstmals die Voraussetzung für kollektive Imagination. Hier entsteht die erste Maschine zur Erzeugung einer kollektiven Realität. Es ist kein Zufall, dass in Athen im fünften Jahrhundert v. Chr. das Theater am Hügel Pnyx für große politische Versammlungen verwendet wurde, in weiterer Folge diente die Theaterarchitektur als Modell für Gebäude, in denen Volksversammlungen abgehalten werden. Die Einteilung der einzelnen keilförmigen Segmente nach den Phylen, den einzelnen Stämmen, aus denen sich die Stadt zusammensetzte, ist das bis heute gültige Modell der meisten Parlamente. Die Begräbnisrede des Perikles. Ältestes Dokument der Urbanität Wer sich heute im Zeitalter abgedroschener Phrasen über Politikverdrossen heit und die Ohnmacht in der Telekratie noch im Entferntesten vorzustellen versucht, was für die Griechen die Entdeckung der Demokratie bedeutet haben mag, der hat sich ein neues phantastisches Lebensgefühl – nennen wir es „Urbanität“ – vorzustellen, das in 18


mehreren Gründen wurzelte. Zunächst eine Emanzipation aus der Sphäre der Todesfurcht und des Unheimlichen, die selbst uns erst einmal gelingen müsste, obwohl wir uns vermutlich über derlei Fragen kaum Rechenschaft ablegen und sie in den Bereich des Psychologischen verschoben haben. Weiters im Bewusstsein all jener Errungenschaften zu sein, also der Stolz frei und kein Sklave zu sein und sich gleichzeitig im Wissen zu wähnen, erstmals in der Ge-

Zentrum stellte und deren Wissenschaft gegen den wuchernden Mythos und dunkle religiöse Kulte auftrat. Im Bewusstsein der neuen kulturellen Eigenschaften war eine wesentliche Voraussetzung für jenes Hochgefühl der Athener geschaffen, dem in der berühmten Rede des Perikles Ausdruck verliehen wird. Noch deutlicher wird die rhetorische Qualität dieser Rede, wenn man den Umstand ins Kalkül zieht, dass diese Rede aus Anlass einer Begräbnisfeier der ersten Toten des peloponnesischen Krieges gehalten wurde. Anstelle der üblichen Rituale der Beklagung drehte Perikles die Rede sozusagen um, versuchte die Trauer der Eltern in Stolz zu verwandeln und konvertierte die Ansprache in eine grandiose Präsentation des Hochgefühls der Athener über ihre Stadt, das durch Thukydides als das erste Dokument der Urbanität überliefert wurde.7 Perikles vermeidet die übliche Aufzählung der militärischen Ruhmestaten, sondern kommt auf den für ihn wesentlichen Punkt: „Aber durch welche Lebensführung wir dahin gelangt sind, mit Hilfe welcher Form der politischen Gemeinschaft, durch welche Eigenschaften unsere Stadt so groß geworden ist, das will ich darlegen, um dann zum Preise der Gefallenen hier überzugehen […].“ Und nun folgen die historischen Worte: „Wir leben in einer Staatsverfassung, die nicht den Gesetzen der Nachbarn nachstrebt, sondern wir sind eher das Vorbild für andere als deren Nachahmer. Ihr Name ist Demokratie, weil sie nicht auf einer Minderzahl, sondern auf der Mehrzahl der Bürger beruht. Vor dem Gesetz sind bei persönlichen Rechtsstreitigkeiten alle Bürger gleich, das Ansehen jedoch, das einer in irgendetwas besonders genießt, richtet sich im Blick auf das Gemeinwesen weniger nach seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Volksklasse, sondern nach seinen besonderen Leistungen wird er bevorzugt. Auch dem Armen ist, wenn er für den Staat etwas zu leisten vermag, der Weg nicht durch die Unscheinbarkeit seines Standes versperrt. Und wie in unserem Staatsleben die Freiheit herrscht, so halten wir uns auch in unserem Privatleben fern davon, das tägliche Tun und Treiben des Nachbarn mit Argwohn zu verfolgen. Wir verargen es niemandem, wenn er tut, was ihm gefällt, und setzen auch nicht jene kränkende Miene auf, die ihm zwar nichts zuleide tut, aber doch höchst widerwärtig ist.“ 8 Man muss sich vergegenwärtigen, dass diese Worte nicht nur Weltliteratur sind, sondern die Urworte demokratischer Toleranz, so banal sie uns auch scheinen mögen. Sie legen Zeugnis ab vom Willen und der Begeisterung zur positiven Organisation der Masse, und sind unschuldig und frei von aller Verächtlichkeit, die das moderne Denken gegenüber der Masse hegt. Unschuldig ist auch die folgende Äußerung zur Frage der demokratischen Partizipation: „Wir sind die einzigen, die einen Bürger, der keinen Sinn für den Staat hat, nicht für ein ruhiges, sondern für ein unnützes Mitglied desselben halten.“ 9

Athen. Die hellenische Entdeckung des Urbanen

schichte der Menschheit herausgefunden zu haben, wie man „menschenwürdig“ lebt. Nämlich nicht mehr als der gehorsame Diener eines unergründlichen göttlichen Gesetzes, sondern als vernünftig urteilende Menschen, deren Gesetze durch Abstimmung beschlossen und nicht von Göttern erhört wurden, deren Kunst den Menschen ins

19


„Diese Tag und Nacht hastende Stadt und wie ein Meer unumfassbare Stadt, dessen Gepfeif und Geheul der Maschinen, diese über den Häusern dahinjagenden Eisenbahnen, diese Dreistigkeit des Unternehmensgeistes, diese scheinbare Unordnung, die im Grunde die bourgeoise Ordnung in höchster Entwicklung ist, diese vergiftete Themse, diese mit Kohlenstaub durchsetzte Luft, diese großartigen Squares und Parks, diese unheimlichen Stadtwinkel wie Whitechapel mit seiner halbnackten, wilden und hungrigen Bevölkerung, die City mit ihren Millionen und dem Welthandel, der Kristallpalast, die Weltausstellung […] ja die Ausstellung kann einen stutzig machen. Man spürt die furchtbare Kraft, die hier alle diese unzähligen Menschen aus der ganzen Welt zu einer einzigen Herde zusammengetrieben hat; man fühlt, dass hier bereits etwas erreicht ist: ein Sieg, ein Triumph. […] Menschen, die alle mit einem einzigen Gedanken gekommen sind, die still, unablässig und stumm sich in diesem riesenhaften Palast umherdrängen. Das ist irgendwie wie ein biblisches Bild, irgendetwas von Babylon, ist wie eine Prophezeiung aus der Apokalypse, die sich leibhaftig verwirklicht hat […].“15 Great Victorian Way Es gibt ein weiteres, unausgeführtes Projekt von Paxton, das Dostojewski vermutlich sprachlos gemacht hätte, einen Plan, in dem er eine 16 km lange Galerie aus Glas in London vorschlug. Damit wäre die City der Stadt durch einen ringförmigen Boulevard umfasst worden und hätte zugleich auch im Inneren einige künstliche Räume erhalten. Es wäre eine fantastische Passagenlandschaft geworden, die sämtliche Architekturutopien einer Stadtüberdachung, die im 20. Jahrhundert aufgekommen sind, überflüssig gemacht hätte. Zugleich kündigte sich bereits ein ungestilltes Verlangen nach Raumerweiterung und Atmosphärenwandel, der die steinschweren urbanen Welten von Grund auf verändert, an. Eine Sehnsucht nach Leichtigkeit und glücklichen Inseln im städtischen Raum wird hier formuliert, deren Einlösung noch bevorsteht.

1 Lewis Mumford, Die Stadt, dtv, München 1984 , S. 525. und Stein, Berlin Verlag, Berlin 1995, S. 414 . 10 Ackroyd 2 Lewis Mumford, Mythos der Maschine, dtv, Frankfurt (wie Anm. 8), S. 118 . 11 Ebd. 12 Fjodor M. Dostojewski, 1986 , S. 503 . 3 Mumford (wie Anm. 1), S. 533 . 4 Mum- Aufzeichnungen aus einem Totenhaus, Piper, München ford (wie Anm. 1), S. 547. 5 John R. Kellett, The impact 1992, S. 784 – 785. 13 Nikolaus Pevsner, Architektur und of Railways on Victorian Cities, London / Toronto 1969, Design, Prestel, München 1971, S. 258; Leonardo Benevolo, S. XV. 6 Ebd. 7 Caroll Meeks, The Railroad Station, New Geschichte der Architektur des 19. und 20. Jh., Bd. 1, dtv, York 1995, S. 79. 8 Peter Ackroyd, London. Die Biographie, München 1988 , S. 153 . 14 Ebd., S. 258 . 15 Dostojewski Knaus, München 2002, S. 573. 9 Richard Sennett, Fleisch (wie Anm. 12), S. 779 / 780.

86


Paris. Die Poetik des anthropologischen Ortes Der Verlust des Zentrums hat eine überraschende und unvorhersehbare Entwicklung der Stadt zur Folge, wie am Beispiel Paris erneut nachgewiesen werden soll. Merkwürdigerweise kommen durch die Öff nung der Stadt und ihre beginnende Expansion die alten anthropologischen Strukturen des Ortes und des Territoriums – die über lange Zeit von den zentralistischen Strukturen überlagert, dominiert worden und vergessen gewesen sind – aufgrund der Wiederentdeckung durch Schriftsteller und ihre Übertragung in die Sprache der Poesie zu neuer Bedeutung. Victor Hugo ist in Hinblick auf diese topologische Überprüfung der Stadt und des Aufspürens alter Substanzen an erster Stelle zu nennen. Seine Romane und Texte sind Belege für eine urbane Feinfühligkeit und erzeugen eine zweite, imaginäre Schicht der Stadt, ein neues Gewebe der Bedeutung. So kommen in seinem Werk Les Misérables die uralten Zonen der Artemis, das städtische Umland, die Peripherie ebenso zur Sprache wie der Zugang zum Untergrund und die Unterwelt selbst. Dort entstehen neue Orte der Imagination, die im Schicksal der Romanfiguren eine wichtige Rolle spielen, aber zugleich auf die Einbildungskraft des Lesers einwirken und real werden. Komplementär zu dieser Entwicklung der poetischen Beschreibung verläuft der Expansions- und Zirkulationsprozess mit seiner Neustrukturierung des Verhältnisses zwischen Körper und Stadtraum. Durch das Aufkommen des Omnibusses entsteht eine erste Form der beschleunigten Massenbewegung, die nur drei Jahrzehnte später zur U-Bahn in London führt. Die Möglichkeit zur schmerzfreien Entfernung hat neue Näheverhältnisse des Urbanen sowohl räumlicher als auch sozialer Art zur Folge. Die Entdeckung der Peripherie Die Idee des Zentrums beginnt sich bereits im 18. Jahrhundert aufzuweichen, indem die städtische Aristokratie in Frankreich Paris verlässt und wieder auf das Land zieht. Paris umgibt sich mit galanten Horten, den „folies“, kytherischen Inseln, die auch Charles Baudelaire beschrieben hat, von wo aus sich eine äußerst verfeinerte Rokokokultur ausbreitet. Im 19. Jahrhundert wird das Land durch die Eisenbahn neu entdeckt, die Landschaft und der Bauer werden mit neuen Augen gesehen, und durch die aufkommende Siedlungstätigkeit, die von neuartiger Naturliebe inspiriert ist, entstehen die Vorstädte, die banlieus. Die Gründe für diese Verschiebungstendenz vom Zentrum zur Peripherie liegen neben der Hauptursache der Revolution und der Demontage des Königs in der damit einhergehenden Abnahme der Strahlungskraft des Zentrums – im Sinne einer symbolischen Abwertung des zentralistischen Denk- und Machtmodells. Doch die Ablösung dieses Jahrtausende alten, religiös motivierten und anthropologisch begründeten Modells erzeugt nicht notwendigerweise eine topographisch einleuchtende und emotional nachvollziehbare Nachfolge-Morphologie. Jedenfalls fl ießen nun die Ideen der Grenze, der Peripherie, der Öff nung und Dispersion nach und versuchen eine geistige Besetzung des alten Terrains, um es neu zu gestalten. Das revolutionäre Motiv der Aufsprengung korreliert mit der Entdeckung der Peripherie, die zwar in dieser Phase dem Zentrum noch nicht entgegengesetzt wird, aber erstmals 87


Beachtung fi ndet. Damit einher geht auch der sich ankündigende Verlust der Perspektive in der Kunst, der im 19. Jahrhundert vorbereitet wird und der die Aufgabe einer zentralistischen, ursprünglich aristokratisch privilegierten Sichtweise eines Weltausschnittes zur Folge hat. Die Dezentrierung der Darstellung und des Blickes werden noch weitreichende Auswirkungen auf die Stadtwahrnehmung und die Gestaltung haben. Vorläufig fühlen sich die Künstler vom Jahrhunderte währenden Blickzwang auf das Zentrum befreit und entdecken in der Bewegung des Sich-Umdrehens die Peripherie, als den Raum zwischen innen und außen. Dieser neue Raum der Grenze, der Barriere und der Vorstadt hat durchaus mythenbildende Potenz, zumal die zentrifugale Kraft, von der er durchflutet ist, für die Entwicklung des 19. Jahrhunderts bestimmend sein wird. Die Kolonialexpansion kann sich nur aufgrund dieses zentrifugalen Zuges entwickeln und wahrscheinlich bedeutet die Entdeckung der Peripherie nur die erste Station jener expansiven Bewegung, die zu der ganz großen Ausdehnung der europäischen Völker dieser Zeit führt. Im Zeichen des Saturn. Die Melancholie der Vorstadt Victor Hugo beschreibt in Les Misérables die Vorstadt aus der Perspektive des Flaneurs und legt damit ein frühes Bekenntnis der Topophilie zur Peripherie ab. Zugleich erkennt er genau die Schwelle zwischen Stadt und Umwelt, zwischen Kultur und Natur. „Sinnend umherirren, das heißt bummeln, ist ein guter Zeitvertreib für Philosophen, besonders in dieser etwas zwitterhaften, ziemlich häßlichen, aber bizarren und aus zwei Welten bestehenden Flur, die gewisse Großstädte und Paris umgibt. Die Bannmeile beobachten heißt ein Amphibium beobachten. Ende der Bäume, Beginn der Dächer, Ende des Grases, Beginn des Pflasters, Ende der Furchen, Beginn der Läden, Ende der Wagenspuren, Beginn der Leidenschaften, Ende des göttlichen Gemurmels, Beginn der menschlichen Unruhe, das macht sie ungemein interessant. […] Der Schreiber dieser Zeilen vagabundierte lange Zeit vor den Toren Paris herum, und für ihn ist das eine Quelle weit zurückreichender Erinnerungen. Dieser kurze Rasen, diese steinigen Pfade, die Kreide, der Mergel, der Gips, die herbe Monotonie des brachliegenden Landes, die Gärtner zwischen dem Frühgemüse, die man plötzlich in einer Senke sieht, diese Mischung von Wildem und Bürgerlichen, diese verlassenen weiten Flächen, auf denen die Trommler aus der Garnison lärmend üben und eine Art Schlachtgestotter hervorbringen, diese Einöden tagsüber, Räuberhöhlen in der Nacht, die Mühle, die sich langsam im Winde dreht, die Förderräder der Steinbrüche, die Schenken an den Ecken der Friedhöfe, der geheimnisvolle Reiz der hohen düsteren Mauern, die unversehen riesige, unbebaute und von der Sonne überflutete Grundstücke voller Schmetterlinge eingrenzen, das alles zog ihn an. Fast niemand auf Erden kennt diese eigenartigen Orte […] die Pierre Plate bei Châtillon, wo es einen alten, stillgelegten Steinbruch gibt, der nur noch dazu dient, Pilze wachsen zu lassen, und den an der Erdoberfläche eine Falltür aus morschen Bohlen verschließt. Die römische Campagne ist ein Begriff, die Pariser Bannmeile ein anderer. In dem, was uns ein Horizont bietet, nichts weiter als Felder, Häuser oder Bäume sehen, heißt nicht tiefer eindringen. Die Stelle, an der eine Ebene in eine Stadt übergeht, ist stets von ergreifender Schwermut durchdrungen. Natur und Menschheit sprechen hier gleichzeitig zu einem.“ 1 Die tiefe Melancholie der Übergangszone wird hier erstmals ganz deutlich ausgesprochen. Zudem breiten sich dort jene Orte aus, die Michel Foucault später als die 88


die soziale Dimension der outlaws, also jener sozialen Randgruppen, die sich nach ihrem Status in der sozialen Topographie möglichst weit außerhalb der Stadt ansiedeln müssen, um sich dem Arm des Gesetzes zu entziehen. Der Charakter dieser Zone mit dem Übergang von innen nach außen, der nach den uralten Regeln des anthropologischen Territorialismus verläuft, ist hier noch räumlich mit der Stadtgrenze identisch. Musste man sich früher beim Wiedereintritt in die Stadt oder in das geschützte Territorium einem speziellen Reinigungsritual unterziehen, so tritt merkwürdigerweise nach dem Entfallen dieses Ritus die Melancholie an seine Stelle. Der sanfte Schmerz, der zugleich schön ist und der die meisten bei der Betrachtung der Peripherie befällt, jene unbestimmte Traurigkeit also, die so eng mit der Wahrnehmung dieser Zone verbunden ist, verbindet sich in der Moderne mit dem moralisch Erhabenen im Sinne Kants. Kant hält die melancholische Stimmung für eine Vorstufe der moralischen Haltung. Der Himmelskörper der Melancholie ist der Saturn, weil in den alten astrologischen Aussagen als ein düsterer Himmelsherrscher beschrieben. Saturn ist die lateinische Bezeichnung des Titanen Kronos, der auch der Vater des Zeus ist, und der von seinen eigenen Söhnen entthront wurde. Die Zuordnung zum Traurigen beruht auf seinem katastrophalen Schicksal, seiner Misshandlung und seiner Gefangenschaft im Tartarus. Er ist, so die Verse des Manilius, von seinem Th ron gestürzt und von der Schwelle der Götter verjagt und an das umgekehrte Ende der Himmelsachse verbannt worden, um dort seine Kräfte auszuüben. In der Astrologie beherrscht er die Fundamente des Universums, nämlich den imum coeli genannten untersten Abschnitt des Himmels, von dem aus er die ganze Welt gleichsam in umgekehrter Perspektive, von einem grundsätzlich feindseligen Standpunkt aus anblickt.2 Diese Stellung in der äußersten Zone des Himmels, der Saturn ist damals der äußerste Planet, den man vor der Erfi ndung des Fernrohres sehen kann und der daher als Begrenzung des Himmelssystems gedacht wird, hat ihn zum Gott der Peripherie gemacht, später auch zu einem italienischen Flurgott. Seine Traurigkeit im Sinne der Charakterlehre beruht aber auf der Distanz zum Zentrum und seiner Stellung in der Verbannung. Diese melancholische Stim mung ist der Peripherie auch heute zu eigen, es ist schwer zu sagen, ob dafür die Schwingungen, die der Zentrumsverlust des Saturn ausgelöst hat, oder der Übergang von Stadt zu Land, von Kultur zu Natur verantwortlich sind. Unterwelt und Mundus „Paris steht über einem Höhlensystem, aus dem Geräusche der Métro und Eisenbahn heraufdröhnen, in dem jeder Omnibus, jeder Lastwagen langaushallenden Widerhall erweckt. Und dieses große technische Straßen- und Röhrensystem durchkreuzt sich mit den altertümlichen Gewölben, den Kalksteinbrüchen, Grotten, Katakomben, die

Paris. Die Poetik des anthropologischen Ortes

„Heterotopien“ bezeichnen wird, also jene Orte, die in der Geschichte der Stadt immer schon an der Grenze angesiedelt gewesen sind. Kasernen zum Grenzschutz, Friedhöfe, die sich allerdings bis ins 18. Jahrhundert im Herzen der Stadt neben der Kirche befunden haben und erst dann aufgrund eines fundamentalen Einstellungswechsels und aufkommender Distanz zu den Toten nach außen verlegt worden sind. Auch das Gewerbe mit seinem Eindringen in die Naturzonen, wie die Steinbrüche, ebenso die Gärtner, die den postrevolutionären Gourmets der Stadt das Frühgemüse liefern. Die düsteren Schenken und Räuberhöhlen ergänzen dieses romantische Bild durch

89


Abb. 6: Paul Klee, Angelus Novus (1920). Motiv des berühmten geschichtsphilosophischen Essays von Walter Benjamin: „Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.“ Walter Benjamin, Thesen über den Begriff der Geschichten (1940), Gesammelte Schriften, Bd. III , Bd. I / 2, S. 697.


Weder Innen noch Außen. Die Passage Einleitend sei nochmals kurz darauf verwiesen, dass die Stadt des 19. Jahrhunderts einen Verlust in ihrer Rolle als Zentrum auf Kosten neuer Ideen der Dispersion, der Grenzaufsprengung hinnehmen muss. Infolge dieser zentrifugalen Tendenz kommt nun der Peripherie – als dem Raum zwischen dem Innen und Außen – eine neue Rolle in der Stadtwahrnehmung zu, und die Stadtgrenze wird mit urbaner Semantik geladen, wobei in gewisser Weise die uralten Sphärenbegriffe der Exo- und Endosphäre wieder Wirksamkeit erlangen. Das ab der Mitte des Centenniums neu erwachende Interesse an der Vorstadt bewegt sich aber auch vor einem größeren kosmopolitischen Hintergrund, indem es mit einer ästhetischen Bewegung einhergeht, die, durch die Erfahrung der kolonialen Expansion und den Kontakt mit afrikanischen, asiatischen und amerikanischen Ethnien geprägt, ein zunehmendes Interesse an fremden Kulturen entwickelt. Mit dieser Neugier verändern sich die Einschätzungen des Orients und anderer nach heutigem Sprachgebrauch als indigene Kulturen zu bezeichnender Völkerschaften radikal, indem sie eine Wendung der intellektuellen Tradition zu den Begriffen des Anderen und der generellen Figur der Alterität bewirken. Dies schlägt sich auch in der eigenen Kultur durch eine Würdigung des Primitiven, des Wahnsinnigen und des Prinzips der Differenz nieder und führt zu einer überraschend einsetzenden, positiven Umwertung des bestehenden Bildes. Ebenso müsste man als vorbereitende Faktoren auch noch andere Phänomene der Raumöff nung ins Treffen führen, wie die wachsende Mobilität durch die Eisenbahn und den Telegraphen. Das Resultat dieser Raumöff nung aufgrund des Verlustes der radia len Kraft der Zentrumsstrahlung, die alles um sich gruppierte und nicht nur eine topologische, sondern auch eine Mitte des Den kens herstellte, die das reale und phantasmagorische Zentrum der Existenz im Sinne eines monotheistischen Gottesbegriffes bildete, führte nun zu anderen Denkformen, die eher Netzwerken und der Möglichkeit der Verbindung heterogener Elemente gleichen. Während in der alten Ordnung die Dinge ihren Platz vom Zentrum aus zugewiesen erhalten hatten und sich nicht beliebig mit anderen verbinden konnten – eine Situation, die nur der Traum ermöglicht –, fielen nun diese Schwellen der Zuordnung innerhalb eines bestimmten Kreissegmentes und ermöglichen unzählige neue Kombinationen. Die Kunst des Surrealismus ist das Medium, das diese Entwicklung antizipiert und in vielfältiger Weise zum Ausdruck bringt. Walter Benjamin versuchte nun durch die Anregungen des Surrealismus diese Entwicklung der Neuverbindung heterogenster städtischer Elemente unter dem Begriff der Passage zu erfassen. Die Passage ist ein Bautyp des 19. Jahrhunderts, der erstmals eine Zone des Überganges von der Straße zum Haus kreiert und damit die Aufhebung der Grenze von Haus und Stadtraum erfindet. Obwohl ein Gebäude aus dem Paris des vergangenen Jahrhunderts, wird es erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts anlässlich seiner drohenden und auch bald vollzogenen Demolierung von den Literaten entdeckt und thematisch fruchtbar gemacht. Für Benjamin wird die Passage der Schlüsselbegriff zum Verständnis von Stadt und Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, von dem aus sich erst die Gegenwart erschließen ließe. Es ist also dieser geheimnisum97


wobene Begriff der Passage, der eine Klammer für die Verbindung einer ontologisch und chronologisch differenten Welt bildet und mit dem rückblickend nicht nur die Stadt des 19. Jahrhunderts neu gesehen und verstanden werden kann, sondern auch die Architektur der Stadt des 20. Jahrhunderts mitbestimmt wird. Zugleich sind in ihm zahlreiche Elemente enthalten, die urbanes Denken überhaupt ermöglichen. Passage könnte als Synonym für Urbanität überhaupt gelten, und die Rezeptionsgeschichte des Begriffes verläuft komplementär zum Denken des Urbanismus. Die Passage ist der Ort der Verknüpfung heterogener Elemente, indem sie unter der notwendigen Einhaltung der Regeln der Anthropologie einen Möglichkeitsraum der Urbanität schaff t. Letztlich ist die Passage selbst ein Ort zwischen Innen und Außen, zwischen Haus und Straße, der die Idee der Polis mit der Idee des Wohnens in einem neuen Raumbegriff vereinigt. Die Entdeckung dieses Zusammenhanges fällt aber, wie erwähnt, in die Zeit des frühen 20. Jahrhunderts, in der man durch Versuche der Neuformatierung der Wahrnehmung plötzlich die Realität städtischer Phänomene in ihrer Bruchhaftigkeit neu zu begreifen begann. Giorgio de Chirico erzählt etwa, dass er zu Beginn des 20. Jahrhunderts während seines Parisaufenthaltes die Gegend des Montparnasse besonders schätzte, da sie eine Grenze zwischen dem Industrie- und Handwerkerviertel des 14. Arrondissements und dem bürgerlichen und gelehrten Quartier Latin darstellte, in dem sich zwei Welten begegneten und sich Fabrikschornsteine auf den bürgerlichen Wohnhäusern abzeichneten. Der Maler war von dieser Grenzsituation innerhalb der Stadt fasziniert, da sie die damals ruhige, plüschige Welt des bürgerlichen Wohnens mit der Dynamik der Fabrik in unmittelbare Verbindung und einen Zustand des Kontrastes und der Unabgeschlossenheit mit sich brachte. Ein anderes Beispiel der neuen Wahrnehmung bietet etwa ein Bild von Ernst Ludwig Kirchner, die Bahnhofseinfahrt Bahnhof Löbtau, wo sich der Blick des alten Vedutenmalers auf die Eisenbahn nun zum Blick aus der Eisenbahn wandelt und die topographische Verschiebung der Stadtrezeption dokumentiert.1 Denn auf diesem Bild geht der Blick von den Schienen aus ausschließlich auf Hinterhäuser und Rückfassaden, also auf einen für die Vedutentradition völlig ungewohnten und schockierenden Anblick. Der Reisende erreicht mit der Eisenbahn die Stadt auf einem Weg, der nicht für den Anblick gedacht war, nicht auf Betrachtung hin angelegt war. Die Eisenbahn kann auf ihrem Weg durch die Stadt sehr indiskret sein, wenn sie Gärten und Siedlungen passiert und den Blick auf jene Zonen der Verborgen heit richtet, die kein Interesse an der öffentlichen Beobachtung haben, sie ignoriert die bis dahin geltende Ordnung von Vorderfront und Hinterhaus, von Fassade und Baukörper. Der große Aufwand, der im 19. Jahrhundert der plastischen Gestaltung der Straßenfront und der Liebe zur dekorierten Fassade galt, wurde durch das neue Verkehrsviertel radikal entwertet, und es dauerte nicht lange, bis in der Architektur durch Theo van Doesburg in seinem Manifest Auf dem Weg zu einer plastischen Architektur die Forderung nach der Abkehr vom Frontalismus und der Abschaff ung der Fassade aufgestellt wurde. Die Betrachtung des Hauses als Plastik geht von einem Gesamtblick auf das Haus aus, das durch seine Verwandlung in ein plastisches Objekt auch einen Statuswechsel vollzieht und auf seine Rolle im Ensemble der Straße verzichtet. Paradoxerweise wird nun die Unansehnlichkeit der Hinterhäuser und Hausrücken als Maßstab für die neuen Regeln der Betrachtung herangezogen, derzufolge alle Seiten als gleichwertige Größen zu gelten haben. 98


Die Entdeckung der Passage de l’Opéra auf der Suche nach den Heterotopien Doch der entscheidende Impuls in der Kunst der Verbindung heterogener Elemente

nig schönen, östlichen Bezirke von Paris, die kaum je das Interesse der Menschen erweckt haben, um dort eine Erkundung des Terrains vorzunehmen. Auf dieser Suche nach den Heterotopien entdeckt er die Stadt neu, indem er durch einen Blickwechsel seine Aufmerksamkeit jenen Orten des Alltags zuwendet, die zu damaligen Zeiten aufgrund ihrer Banalität keinerlei Interesse geweckt haben. „Das Licht durchflutet in bizarrer Weise jene überdachten Galerien, die man häufig in Paris in der Nähe der großen Boulevards fi ndet und die man irritierenderweise Passagen nennt, als ob es in diesen dem Tageslicht entzogenen Gängen niemandem erlaubt wäre, länger als einen Augenblick zu verweilen. Meergrüner, gewissermaßen tiefseehafter Lichtschein, der der jähen Helligkeit ähnelt, die aufleuchtet, wenn man einen Rock hochhebt und darunter ein Bein bloßlegt. Der von einem Präfekten des Zweiten Kaiserreichs in die Hauptstadt importierte typisch amerikanische Zwang, dem Pariser Stadtplan einen neuen, schnurgeraden Zuschnitt zu geben, wird den Fortbestand dieser menschlichen Aquarien bald unmöglich machen; ihr ursprüngliches Leben ist schon erloschen, doch verdienen sie es, als Unterschlupf etlicher moderner Mythen betrachtet zu werden; denn erst heute, da die Spitzhacke sie bedroht, sind sie wirklich zu Heiligtümern eines Kultes des Ephemeren geworden, sind sie zur gespenstischen Landschaft der Vergnügen und der verruchten Berufe geworden.“2 Aragon beschreibt hier, dass es Orte in der Stadt gibt, die durch ihre Abgeschiedenheit eine Sphäre der urbanen Phantasien erzeugen, Räume, denen das Tageslicht entzogen und die in irisierendes meergrünes Licht getaucht sind, eine bizarre Kulissenwelt überlebter Geschäfte und Vergnügungsformen, die von der Modernisierung betroffen und mit den unübersehbaren Zeichen des Niedergangs behaftet sind. Im Zuge des Durchbruches des Boulevard Haussmann wurde die zu diesem Zeitpunkt bedrohte Passage de l’Opéra, die einige Jahre später (1925) auch abgerissen wurde, Gegenstand eines Textes, der nicht nur für Benjamin selbst, sondern auch für die Ideenwelt des Urbanismus von grundlegender Bedeutung ist. „Während hier dem modischsten Paris ein neuer Durchgang bereitet wurde, ist eine der ältesten Passagen der Stadt verschwunden, die Passage de l’Opéra, die der Durchbruch des Boulevard Haussmann verschlungen hat. Wie dieser merkwürdige Wandelgang es bis vor kurzem tat, bewahren noch heute einige Passagen in grellem Licht und düsteren Winkeln raumgewordene Vergangenheit. Veraltende Gewerbe halten sich in diesen Binnenräumen und die ausliegende Ware ist undeutlich oder vieldeutig. Schon die Inschriften und Schilder an den Eingangstoren (man kann ebenso gut Ausgangstoren sagen, denn bei diesen seltsamen Mischgebilden von Haus und Straße ist jedes Tor Eingang und Ausgang zugleich), schon die Inschriften, die sich dann innen, wo zwischen dicht behängten Kleiderständen hier und da eine Wendeltreppe ins Dunkel steigt, an Wänden wiederholen, haben etwas Rätselhaftes. ALBERT au 83 wird ja wohl ein Friseur sein und Maillots de théâtre werden Seidentrikots sein, aber diese eindringlichen Buchstaben wollen noch mehr sagen. Und wer hätte den Mut, die ausgetretene Stiege hinauf zu gehn in das Schönheitsinstitut des Professeur Alfred Bitterlin. Mosaikschwellen im Stil der alten Restaurants des Palais Royal führen zu einem Dîner de Paris […].“ 3

Weder Innen noch Außen. Die Passage

geht von den surrealistischen Schriftstellern aus. Louis Aragon unternimmt mit seinen Freunden in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts Ausflüge in die äußeren, we-

99


Abb. 7: Gustave Eiffel, Au bon Marché (1971 – 1880). Émile Zola hat diesem Warenhaus im Roman „Das Paradies der Damen“ (1884) ein literarisches Denkmal gesetzt.


Öffentlicher Raum Sphärenbildung Die Entwicklung der forma urbis, der Stadtgestalt, folgt einem uralten anthropologischen Gesetz, dem zufolge sie sich nach dem Prinzip von Endo- und Exosphäre, vom geschützten, geheiligten Zentrum aus, in dem sich die Quelle göttlicher Kraft befindet, in konzentrischen Bewegungen als eine Folge der Emanation nach außen hin erweitert und vergrößert. Die Außengrenzen selbst sind wiederum nebst ihrer strategischen Rolle der Verteidigung eine Zone, in der das Territorium durch magische Aufladung vor der Bedrohung durch die Exosphäre geschützt wird. In ontologischer Hinsicht ließe sich die Wahl des zentralen Ortes aber auch als ein Templum, als ein Ausschnitt aus der Welt auffassen, der Sein überhaupt erst ermöglicht bzw. durch eine primäre räumliche Differenz zu Bewusstsein bringt. Daraus resultieren die Regeln von sakralem und profanem Raum, die stets unterschiedliche Markierungen und Valeurs nach sich ziehen und eine Strukturierung des städtischen Raumes bilden. Religiöse Vorstellungen prägen so lange das innere und äußere Bild der Stadt, bis sie im Zuge einer Säkularisierung durch neue äußere Einflüsse bis zur Unkenntlichkeit verändert bzw. durch parareligiöse, neopagane Pseudomorphosen überlagert werden. Es gibt in der Geschichte der Urbanität vielleicht nur ein einziges weiteres generatives Prinzip der urbanen Raumwerdung oder der im Sinne Lefebvres als Raumproduktion bezeichneten Entwicklung, das eine ähnliche Rolle in der anthropologischsozialen Morphologie beanspruchen darf, nämlich die Dialektik von öffentlichem und privatem Raum. Sie entsteht in gewisser Weise aus der Notwendigkeit einer Vermittlung von Endo- und Exosphäre, wo die Bestimmung der Endosphäre im Allgemeinen durch die räumliche Situation des eigenen Clans und die der Exosphäre durch die Territorien der anderen Clans erfolgt. Die Antike – Polis und Agora Bekanntlich wäre die Schaff ung der athenischen Demokratie niemals ohne die durch Kleisthenes in die Wege geleitete freiwillige Aufteilung der Stämme und ihre räumlich durchmischte Ansiedlung in den verschiedenen Bezirken der Stadt möglich gewesen. Erst die soziale Homogenisierung des Raumes und das aus den gemeinsamen Kriegsdiensten erwachsende Selbst verständnis für Gleichheit der Bürger, die sich als Homoioi, Ähnliche, bzw. als Isoi, Gleiche bezeichnen, machte die Schaff ung eines gemeinsamen Zentrums, der Agora, und ihrer politisch repräsentativer Institutionen, des Bouleuterion, des Prythaneion und der Ekklesia, möglich. Unter diesen Bedingungen eines Staatswesens freier, gleichwertiger Bürger und repräsentativer Institutionen kamen nun erstmals der Öffentlichkeit und der Macht der Rede entscheidende Bedeutung zu. Entscheidend war auch, dass sich jene Sphäre der Öffentlichkeit in völligem Kontrast zu allen Mysterienreligionen und weitgehend abseits von den göttlichen Bezirken der Akropolis und anderer heiliger Stätten befand und somit eine offene, unverborgene, unter allen Augen sichtbare Versammlung des freien Bürgers zur Äußerung seiner Meinung ermöglichte und durch weitgehende Ausschaltung der einstmals mächtigen Priesterschaft eine Vorbedingung funktionierender Demokratie schuf. 117


Der Begriff der griechischen Agora bezeichnete damit nun einen zweifachen Typus von öffentlichem Raum: Erstens jenen konkreten Ort der Agora, auf den im Sinne des aristotelischen Raumbegriffes des Topos gezeigt werden kann, und zweitens jene Sphäre, die alle weiteren Elemente des Öffentlichen im Sinne des Begriffes der Chora umfasst, die nicht unbedingt örtlich zu bestimmen sind, die aber in dieser umhüllenden Sphäre enthalten sind. Der konkrete Ort der Agora ist das materiell sichtbare Substrat des sozialen Ortes mitsamt seinen Gebäuden und ihren symbolischen Bedeutungen, während die abstrakte Sphäre des Öffentlichen am ehesten jenen Diskursraum bezeichnet, der zur Aufrechterhaltung der Communitas erforderlich ist und der zwar auch an Orten stattfi ndet, aber die topologische Dimension transzendiert. Mit dieser einfachen Gliederung hoff t der Autor diese Vieldeutigkeit und Unschärfe des Begriffes vom öffentlichen Raum, die sich bis heute fortgesetzt hat, einer vorläufigen Klärung unterzogen zu haben, wenn man auch zahlreiche wechselseitige Bezüge des konkreten Stadtraumes und der allgemeinen politischen Sphäre in Rechnung stellen muss. Wenn auch die Konzentration in der Darstellung dieses Textes auf das Primat des konkreten Raumes abzielt, so kann doch auf die gleichzeitig erfolgende Einsicht, dass die Genese dieses Raumes auch immer von den Bedingungen der allgemeinen Sphäre des Öffentlichen abhängig ist, nicht verzichtet werden. Letztlich währte aber auch die Geschichte der Öffentlichkeit im Rahmen der griechischen und der nachfolgenden römischen Demokratien nicht sehr lange, indem sie von der Herrschaft des Kaisertums und der Volkstribunen abgelöst wurde. Das bedeutete aber keineswegs das Ende des öffentlichen Raumes im Sinne eines Raumes, der größere Menschenmassen zum Zwecke der Vergnügung vereinigt, sondern nur das Ende einer Sphäre der freien Versammlung von Bürgern mit dem Ziel der politischen Selbstbestimmung. Freilich war die Möglichkeit direkter Demokratie auch immer mit der Kontrolle des Wachstums der griechischen polis verbunden, deren Größe kaum die Zahl von ca. 6.000 freien Bürgern überstiegen haben dürfte und deren Bürger bei größerem Zuwachs zu Umsiedlungen oder Neugründungen von Städten gezwungen wurden. Auf diese Weise der numerischen Begrenzung war in den entscheidenden Volksversammlungen im Pnyx immer noch die Anwesenheit aller Bürger gewährleistet, die zugleich in direkter phonetischer und optischer Verbindung mit den Rednern standen und auf keine mediale Vermittlung angewiesen waren. Zudem galt damals noch keine Trennung zwischen privat und öffentlich in einem völlig anderen Sinn, da sich der Grieche nur in der Öffentlichkeit als Mensch fühlte und die Privatsphäre kaum je thematisiert wurde, was mithin einen deutlichen Gegensatz zur Situation der Moderne, in der der Großteil der Bürger seine Identität nur aus der Privatsphäre heraus bilden kann, darstellt. Freilich zeichneten sich schon in der römischen Antike durch die Einführung der blutigen Gladiatorenspiele schwere Verfallserscheinungen ab, indem hier die Öffentlichkeit als eine Sphäre der Zurschaustellung brutaler Spiele missbraucht wurde, da sie die visuelle Dimension des Öffentlichen mit der von niederen Instinkten motivierten Schaulust der Massen vereinigte. Auch errichtete der Römer ein Prinzip des schlechten Privaten im Sinne einer Unter werfung unter die Augenlust, die nur der negativen Aufladung des Inneren und der Abwendung von Gott dient, wie es durch das berühmte Beispiel des Augustinus in den Confessiones über den Besuch seines Freundes bei den Spielen überliefert ist. 118


Der noch folgenreichere Schritt zur Erschütterung der nach Ansicht römischer Bürger zunehmend verkommenen Öffentlichkeit war die Einführung der orientalischen Kulte. Mit ihren geheimen Lehren lösten sie das Pantheon der alten römischen Götter ab. Diese waren ihrem Wesen nach noch mit den griechischen Göttern verwandt, die sich ja noch durch eine besondere Erscheinung und Außenorientierung, durch Schönheit, Körperlichkeit und Sichtbarkeit ausgezeichnet hatten. Die neuen Kulte hingegen mit ihren alten Opferpraktiken der Wiedergeburt und den geheimen Zusammenkünften an okkulten Orten fanden in der Verborgenheit statt und scheuten die Öffentlichkeit. Sie zählten zur Dimension des Inneren und Privaten. Auch das Christentum ging aus einer ähnlichen Konstellation hervor, und die agape-Feiern der Urchristen fanden an geheimen, häufig wechselnden Orten statt, um vor der Verfolgung geschützt zu sein, ehe das Christentum von Konstantin zur Staatsreligion erhoben wurde und nun selbst in der Öffentlichkeit in Erscheinung trat.

Schnittstelle der urbanen Wege die zumeist durch die Anlage eines Marktplatzes gefestigt wurde, der den Stellenwert einer Agora als Ort der sozialen Zusammenkunft und Durchmischung wesentlich steigerte. Zudem gewann der öffentliche Raum auch seine Rolle als ökonomischer Katalysator wieder, indem er zum Zentrum des Handels und Warentausches gemacht wurde, der erst im Verlauf späterer Jahrhunderte wieder in feste Gebäude und Geschäfte übersiedelte. Ein weiterer Bereich des öffentlichen Raumes existierte allerdings auch nicht, denn der Rest der Stadt war völlig verbaut. Es herrschte eine Anarchie der Baufreiheit. „Der fragmentarische Charakter der öffentlichen Sphäre spiegelte in der Topographie der Stadt die Schwäche des Staates wider, seiner Machtmittel, seiner finanziellen Ressourcen und seines Durchsetzungswillens. Die Straßen waren in der Regel so schmal, dass

Öffentlicher Raum

Die mittelalterliche Öffentlichkeit Daher nimmt in der Geschichte der christlichen Stadt der öffentliche Raum im politischen Sinne, wenn man ihn mit der griechischen Polis vergleicht, auch nur eine nachgeordnete Rolle ein, da die Formatierung der Stadt erneut nach den Prinzipien des sakralen und profanen Raumes erfolgte, der ein spirituelles Innen von einem weltlichen Außen trennt. Der ursprünglich strenge Dualismus eines Innen, das durch sakrale Kraft aufgeladen ist, und eines Außen, in dem man weitgehend schutzlos allen Gefahren ausgeliefert ist, einer Endosphäre, die kraft ihrer Magie eine sittlich-moralische Wirkung erzielt, und einer Exosphäre, in der diese Moral sofort wieder ihre Geltung verlieren kann, wurde im Mittelalter durch die Einrichtung einer Passagezone, der Freistatt, entschärft. Die Ausstrahlung der Kirche erstreckte sich nun auch auf den Vorraum, den umliegenden Raum der Freistatt, der zu einer besonderen Zone der Zuflucht und der Barmherzigkeit für sozial Bedürftige und Kranke wurde, die sich hier präsentierten. Damit war er als eine Art halböffentlicher Zwischenraum zur profanen Stadt zu sehen, der sich zu einem Platz entwickelt und auf dem im Mittelalter auch Reden gehalten, öffentliche Rituale und Passionsspiele veranstaltet wurden.1 Die sakrale Emanation des Kircheninneren wurde durch die Prozessionen, durch Begehungen und Weihehandlungen mit den katholischen sacra im Stadtraum verbreitet, der nun vorübergehend in einer merkwürdigen Weise Heiligkeit und Öffentlichkeit vereinigte. Aus der Position der Nähe zum sakralen Zentrum entwickelte sich auch eine

119


Abb. 8: Carl Ludwig Jessen, Pariser Café (1868 / 1889). Die frühe Darstellung eines Cafés, das zum Boulevard hin geöffnet ist und so den öffentlichen Raum nutzt.


Der Flaneur. II . Frühe Stadtsüchtige Gérard de Nerval. Der Erfinder der urbanen Abschweifung – Pérégrinations nocturnes Gérard de Nerval ist zunächst als einer der Begründer des Feuilletons zu bezeichnen, indem er als einer der ersten von seinen Reisen in den Orient, nach Südeuropa und Deutschland berichtete und die Erfahrung des Fremden und Imaginären einbrachte. In Voyage en Orient zeigte er Phantasie – und Nachtstücke aus Kairo, dem Libanon und Istanbul. In anderen Texten befasste er sich schon mit Facetten des urbanen Lebens von Paris wie der Hinterwelt des Pariser Theaters, einer obskuren Welt von Seiltänzern und Pantomimen, die auf dem abgelegensten Teil des Boulevard du Temple, auch „boulevard du crime“ genannt, angesiedelt war. Diese Welt des Schmierentheaters, die bereits durch das moderne Vaudeville überholt war, bot dem Archäologen des populären Theaters einen Blick auf das kärgliche und doch faszinierende Dasein einer artistischen Zwischenwelt, die aus Féerie, Pantomime, Artistik und Puppentheater bestand. Hier wurde noch ein Theater für jene Illiterate geboten, die die Welt noch durch die Wahrnehmung eines Kindes betrachten konnten und den quasi unverdorbenen Blick des Volkes repräsentierten, ehe die Ablösung durch die neuen kleinbürgerlichen Unterhaltungsmedien wie die des Vaudevilles erfolgte. Durch diese literarische Einübung in Berichte über Unbekanntes, die stets im Modus der Reise erschlossen wurde, wurde aus Nerval, dem pérégrin, dem Pilger ins Fremde zuletzt jemand, dem sein Reiseziel abhanden gekommen ist und dessen pérégrinations in divagations abgleiten. Er ist der literarische Erfi nder der urbanen Abschweifung, die ihn zum programmatischen Ahnherren des dérive, zum Vorläufer der Surrealisten und Situationisten macht. Im Gegensatz zu seinen berühmten Nachfolgern ist er allerdings heute weitgehend vergessen. Ein weiteres, vorletztes Mal in seinem Leben nahm Nerval diese frühen Wanderungen, pérégrinations, die ihn in die dämmrigen Zonen der Stadt auf der Suche nach dem alten Theater geführt hatten, bevor dieses durch die Folies-Dramatiques zum Verschwinden gebracht wurde, wieder auf und wählte sich für die „Oktobernächte“ diesmal neben einer Konfrontation mit der Pariser Nacht die Peripherie zum Thema. Genau handelt es sich um einen Bericht über eine Tour durch das nächtliche Paris und eine missglückte Landpartie.1 Er, der schon weite Teile der Welt befahren hatte, begnügte sich diesmal mit einer kurzen Reise in die unmittelbare Nähe der Vorstädte, die aber trotzdem dem weiten Publikum unbekannt waren. In diesem riesigen Territorium einer aus verschiedensten Vororten und Kleinstädten zusammenwachsenden Großstadt entdeckt de Nerval das Prinzip der Abschweifung. Sein Reiseplan sieht zunächst ganz einfach aus: zunächst mit der Eisenbahn ins nahe Meaux. Doch schon in Paris gerät sein Vorhaben durcheinander, weil der Fahrplan der Linie Paris-Straßburg geändert wurde. Während er also in der Wartezeit durch die Stadt spaziert, triff t er einen Flaneur und Nachtschwärmer, mit dem er in eine heiße Diskussion über ein philosophisches Problem gerät, dass er prompt den PferdeOmnibus zum Bahnhof und somit auch den letzten Zug des Tages verpasst. Weil der 149


nächste Zug erst morgen Früh fährt, begibt er sich in ein Café, wo ihm zufälligerweise ein Exemplar der Revue Britannique mit einem Stadtbild von Charles Dickens in die Hände gerät. Der Bericht über die Obdachlosen erfüllt ihn mit derartiger Faszination, dass er ihr phantastisches Leben nachmachen möchte, um damit ein Motiv für die nachfolgenden Abenteuer zu erhalten, da er davon ausgeht, dass die Realität des wirklichen Lebens jeden Roman übertriff t. Mit dem ihn begleitenden Flaneur gerät er als ein spectateur nocturne, als ein Wanderer mit seinem Schatten immer tiefer in das nächtliche Paris mit zahlreichen exotischen Aufenthalten, wie etwa am Montmartre, der damals noch ein Steinbruch und eine Unterkunft der Landstreicher war. Völlig übernächtigt nimmt er schließlich den Frühzug nach Meaux, wo er aufgrund eines trostlosen Oktoberregens in ein merkwürdiges Café verschlagen wird, wo durch ein Plakat ein Schauspiel mit einem bizarren Naturwunder einer Frau mit roter Merinowolle am Kopf anstelle von Haaren angekündigt wird. Dieses Geheimnis muss ergründet werden, man besucht die Vorstellung und der Abend endet in einem Saufgelage mit der Schauspieltruppe und einem Albtraum. Die Omnibuslinie nach Dammartin wird daher wieder verpasst, von wo aus der Autor nach Senlis zu Fuß weiter wollte, um von Senlis nach Creil mit dem Omnibus zu fahren, wo ihn ein Freund, ein limonadier zur Otterjagd erwartet, wie der Leser erst jetzt erfährt. Also bleibt nur die Linie nach Nanteuil, von wo man ebenfalls Senlis zu Fuß erreichen kann. Dort regnet es aber so stark, dass man den Umweg über Crespyle-Valois nehmen muss, wo ihn schließlich eine irrtümliche Verhaftung ereilt und er die Nacht im Gefängnis verbringt. Frühe dérives: divagations Der Rahmen von Nervals Oktobernächten wird durch den Raum der Peripherie von Paris geprägt, der durch ein Netz von Eisenbahnen und Pferdeomnibuslinien erschlossen wird und das einzig reale Element dieses Raumes darstellt, weil nur damit eine Verbindung der heterogenen Teile ermöglicht wird. Wenn nun aber, wie durch den Ausbau der strahlenförmig ins Zentrum führenden Eisenbahnlinien das alte Omnibuswesen verfällt, gerät das gesamte Raum-Zeitgefüge ins Wanken: „Das Netz der Eisenbahnen hat den ganzen Verkehr in den dazwischenliegenden Landstrichen durcheinander gebracht. Der weitläufige Mischmasch der Orte nördlich von Paris entbehrt der direkten Verbindungen. Man muß mit der Eisenbahn zehn Meilen nach rechts oder achtzehn Meilen nach links fahren, um dann sein Ziel mittels Anschlusszügen zu erreichen, die noch ein mal zwei oder drei Stunden brauchen, um einen in Gegenden zu befördern, wohin man früher in insgesamt vier Stunden gelangte.“ 2 Wer der Verbindungen (communications) beraubt ist, der fällt auch aus dem Netz, das den Großraum der Stadt zusammenhält und dieser neuen Stadt, die sich aus den zahlreichen Vororten zusammensetzt erst eine Wirklichkeit verleiht. Der Erzähler, der ständig durch Verspätungen oder Fahrplanänderungen sein Ziel verfehlt, wird aber durch das Warten in einen zweiten imaginären, aber vielleicht realeren Raum als das Paris der Eisenbahn- und Omnibuslinien versetzt. Das Eintauchen in diese Sphäre, die als Folge der scheinbar zufälligen Konfrontation mit der Literatur von Dickens zu sehen ist, führen ihn zur Prägung des Begriffes der Abschweifung und er stellt selbst quasi program matisch fest: „Gleichwohl steht am Anfang meiner Abschweifungen die Lektüre eines Artikels von Charles Dickens.“ 3 Er verwendet das Wort divagations für 150


Abschweifungen und weiß noch nichts davon, dass 100 Jahre später eine Gruppe von Künstlern ein ähnliches Verhalten mit dérive bezeichnen wird. Diese Abweichungen, die den Zugang zu neuen Welten eröff nen, fi nden zunächst im nächtlichen Paris statt. Auf das Umherirren am Montmarte bei den Obdachlosen folgt der Aufenthalt im Cafe der Blinden, das seinen Namen aufgrund der dort spielenden, blinden Musikanten führt, weil sich dort während der Revolutionszeit Dinge abspielten, die selbst das Schamgefühl eines Orchesters hätten verletzen können, und wo diesmal der Ball der Hunde stattfi ndet. Anschließend geht man zum Rôtisseur, wo man Zeuge eines kleinen Dramas eines unglücklichen Alkoholikers wird, um sich danach in die Hallen zu begeben, um dem Cidre zu später Stunde zuzusprechen. Schließlich endet die Nacht bei Paul Niquet, ein kahles Etablissement, das alle gescheiterten Existenzen zu später Stunde vereinigt. Dieser Gang durch das nächtliche Paris, das eine neue urbane Dimension der Fremdheit und des Wahnsinns zeigt, wo die Realität des Lichtes und des Tages keine Geltung mehr haben, erinnert auch an Dantes Wanderung durch die Hölle. Zugleich ist es aber eine ständige Erinnerung an die unterschiedlichen Schichten der Realität, die die Großstadt selbst birgt oder durch die eigene Phantasie vermittelt. Schließlich endet der Gang durch Paris mit einem Albtraum: „Flure – endlose Flure! Treppen – Treppen, die Leute hinaufsteigen, hinuntergehen, wieder hinaufsteigen, und deren Fuß stets in ein schwarzes, von Rädern aufgewühltes Wasser unter riesigen Brückenbogen taucht.4 in einem Labyrinth von Gebälk. Hinaufgehen, hinuntergehen oder durch Flure hasten – und das mehrere Ewigkeiten lang. […] Sollte das die Strafe sein, zu der ich verdammt bin für meine Fehltritte? Ich würde lieber leben!!!“ 5 Die nuits d’octobre erschienen in der Zeitschrift L’Illustration Ende Oktober bis Anfang November 1852 in zunächst 26 Kapiteln. Kurz danach konnte er mit seinem Verleger einen Vertrag über ein weiteres Pariser Tableau das den Titel Les nuits de Paris tragen sollte. Nerval nahm allerdings als ruheloser Flaneur sein Vorhaben einer Mimesis der Obdachlosen und permanenten nächtlichen Exkursion zu ernst. Immer wieder musste er Aufenthalte in Nervenanstalten einlegen. Den Plan einer zweiten Orientreise musste er aufgeben, so verfasste er mit Aurélia noch einmal einen phantastischen Roman, der zwar keine pérégrinations enthält, in dem aber Paris trotzdem den Schauplatz eines Einbruches des Traumes in die Stadt darstellt. Kurz nach der Fertigstellung

Charles Baudelaire. Der Künstler als Mnemotechniker. Der Flaneur und der Erinnerungsabdruck der Masse Constantin Guys ist ein Maler, ein Künstler-Flaneur, der nach Benjamin quasi als Medium zwischen Baudelaire und der Masse vermittelt. Er wurde von Baudelaire in Der Maler des modernen Lebens als ein Beispiel für den Mann in der Menge im Sinne von E. A. Poes berühmtem Text beschrieben. „Hinter dem Fenster eines Caféhauses sitzt ein Genesender und betrachtet genußvoll die Menge; in Gedanken mischt er sich in alle Gedanken und Vorstellungen, die um ihn her wogen. Vor kurzem erst dem Schattenreich des Todes entronnen, atmet er mit Wonne alle Keime und Ausströmungen des

Der Flaneur. II. Frühe Stadtsüchtige

im Januar 1855 setzte er nach dem erfolglosen Versuch in einer frostigen Nacht Einlass in einer üblen Absteige zu finden, seinem Leben durch Erhängen an einer Straßenlaterne ein Ende.

151



Utopie Der Einbruch der Zeit in die Stadt. Von der urbs zur civitas Ursprung Apolitik. Von der Makroutopie bis zur Immanenz Die amerikanische Utopie des Protestantismus Die Natur als Quelle der Utopie Die Stadt als Lichtung der Natur. Patrick Geddes Biopolis


Abb. 9: Umberto Boccioni, La strada entra nella casa / Die Straße dringt in das Haus ein (1911). Die futuristische Sicht zeigt in der Simultaneität der Wahrnehmung die Durchdringung des privaten Raumes durch den öffentlichen Raum. Es gibt keine Abschottung nach außen mehr, das Öffentliche und das Private vermischen sich, Zeit und Raum gehen ineinander über.


Der Einbruch der Zeit in die Stadt. Von der urbs zur civitas Wenn man den Begriff der Utopie in einen Diskurs über Urbanität einführt oder den philosophischen Ort innerhalb einer Geschichte der Urbanität sucht, wird man unvermutet mit einer Reihe von theoretischen Problemen kon frontiert, die das Thema der Stadt nochmals um eine große Zahl schwer beantwortbarer Fragen erweitern. Denn hier wird nun ein latenter Antagonismus im Wesen der Stadt manifest, der unter konventionellen Bedingungen selten konkret durchdacht wird. Die urbs, von der der Begriff des Urbanen kommt, implizierte ursprünglich die Vorstellung von einer Stadt, die eher den materiellen und profanen Aspekten einer Stadt wie dem Schutz vor der Außenwelt in Kriegszeiten und der Durchführung des Handels gewidmet ist, während die civitas eher den Begriff der Gemeinschaft und die damit verbundenen, zumeist religiösen Rituale zur Festigung meinte. Die urbs ist, wenn man von Kriegzeiten absieht, relativ offen und auch zur Absorption einer gewissen Menge von Fremden imstande, steht andrerseits gewissen problematischen Entwicklungen auch relativ gleichgültig gegenüber, die civitas hingegen beruht auf einem verbindlicheren Regelwerk, dessen Einhaltung auch gefordert wird, wenn die gemeinsamen Werte bedroht scheinen. Insofern ist hier die Tendenz zur Errichtung einer strafferen Ordnung unübersehbar, zumal sie der freien Vereinbarung der Bürger, der cives, entspricht. Der moderne Begriff der Urbanität bezieht sich daher nicht ohne Grund auf die urbs, die sich durch eine größere Offenheit, Freiheit, aber auch Permissivität aufgrund des niedrigeren Ordnungsniveaus auszeichnet. Die Utopie als der Einbruch der Zeit in den Stadtraum Der Einbruch eschatologischer Gedanken in die Stadt, der mit der Idee einer Utopie verbunden ist, beruhte bei Betrachtung einer Geschichte der Utopie in soziologischpolitischer Hinsicht zumeist auf defi zitären Entwicklungen der urbs, die die Sehnsucht nach besseren Bedingungen widerspiegelte, und hatte im Wesentlichen immer die Bildung einer Gemeinschaft zum Ziel, einer neuen civitas, die das Ideal der Stadt in Form einer konkreten Sozialordnung vorstellte. So zumindest die Entwicklung von der Antike bis ins mittlere 20. Jahrhundert. Seit der klassischen Moderne, die noch von der Substanz und dem Mythos der Utopie zehrte, hat sich die Idee dieser verflacht und vorläufig an Bedeutung eingebüßt. Doch grundsätzlich liegt die Utopie als eine Form eschatologischer Erwartung im Wesen der menschlichen Natur und meint mehr als eine Tendenz zur Öff nung im Sinne der Erwartung neuer Möglichkeiten, sie bedeutet immer eine Antizipation des Erhoff ten und damit eine, wenn auch nur momenthafte, Gegenwärtigkeit dessen. Nichts anderes bedeutet der Begriff der Prolepsis, der eine Vorwegnahme künftigen Glücks bezeichnet und der seinen Alltagsausdruck in seltenen Fällen in einer oft tiefen Vorfreude fi ndet, einer Freude, die sich beim Eintreten des erwünschten Ereignisses meist gar nicht mehr einstellt. Augustinus hat an einigen Stellen seines Werks diesen Gedanken großartig erfasst. In der Prolepsis erleben wir immer für einen Augenblick die Ewigkeit, die Dauer, die wir in der normalen Sukzession der Zeit, die an uns ständig vorbeigleitet, gar nicht erleben können. Es bedarf 177


einer tiefen Hoff nung und vielleicht auch Verzweiflung, um diesen Moment der Ewigkeit einfangen zu können, aus dem sich der Geist der Utopie speist. Zugleich besteht in den realen Städten, die sich aus einer utopischen Konzeption ableiten, immer der Versuch, die Ewigkeit mittels einer perfekten Ordnung quasi einzufangen und für immer festzuhalten. Diesem Fehler erlag schon Platon in seinen Versuchen, eine von der Idee abgeleitete Ordnung für die Stadt zu erfinden. Doch der notwendige Antagonismus eines Anspruchs auf perfekte Ordnung durch das notwendige Bild einer Utopie und der Unmöglichkeit dies in der Sukzession des Zeitlichen zu realisieren, durchzieht die Planung der Stadt bis heute. Die Krise der Polis. Utopie statt Urbanität Die Entwicklung Athens seit dem Peloponnesischen Krieg machte den Philosophen bewusst, dass auch mit der Polis und der Demokratie etwas von Grund auf nicht stimmte. Ihr fehlte ein ideales Ziel, das über die eigene beschränkte Existenz hinauswies. Die für die Griechen neue materielle Orientierung durch die Handelserfolge der Schiff fahrt bewirkte einen Niedergang der Prinzipien der Gerechtigkeit und der Mäßigung. Einige Gruppen der Elite zogen sich von der Polis zurück, um sich wie etwa Pythagoras und seine Schüler von fernöstlichen Lehren inspiriert der Entwicklung neuer reiner Lebensweisen zu widmen. Zugleich tauchte eine neue Literaturgattung auf, die sich mit dem Entwurf idealer Gemeinwesen befasste, was als untrügliches Anzeichen dafür gelten konnte, dass die Polis, die bisher als die Verwirklichung eines idealen Gemeinwesens angesehen worden war, in die Krise geraten war. Wenn der Philosoph nach Platon als derjenige gilt, der die Idee und damit das Wesen einer Sache am besten erfassen kann, so ist es schlüssig, dass ihm auch am ehesten die Kompetenz zur Konzeption einer Stadt gegeben ist. Naturgemäß versuchte er dies von seinem Konzept des Idealismus abzuleiten. Platon war bekanntlich der Ansicht, dass die Idee unter bestimmten Umständen in den entsprechenden Formen erscheinen könne und diese idealen Formen umgekehrt durch ihre Gestalt die Idee sichtbar machen können. Die Aufdeckung der Grundstruktur der Ordnung als einer Idee des Guten ist Aufgabe des Philosophen. Denn er ist noch am ehesten in der Lage, die Ideen in Wahrheit und nicht in der verzerrten Form des Scheins zu sehen. Entscheidend ist vor allem der Gedanke, dass der Blick auf die Ordnung auch auf den Philosophen zurückwirkt, indem er selbst geordnet wird, das heißt zur Bildung einer Ordnung befähigt wird.1 Ähnliches gilt auch für den Bürger einer Stadt, die in harmonischer Ordnung existiert und die dadurch eine positive Rückwirkung auf ihn ausübt. Von hier aus sind die Vorstellungen einer Auswirkung der Form auf die Funktionsweise der Gesellschaft und das Verhalten der Bürger anzusetzen, die sich bis in die Gegenwart trotz konträrer Ideologien gehalten haben. Immer noch kursiert die fi xe Meinung, dass die gute Form der Stadt demnach auch bessere Bürger erzeugt, obwohl Platon niemals einen konkreten Stadtplan beschrieben hat, wenn man von der vagen Darstellung einer Stadt in den Nomoi absieht. In diesem Falle handelt es sich um eine um eine Burg herum angelegte, von einer Ringmauer umgebene Stadt, in der jedem Bürger zwei Häuser, eines in Zentrumsnähe, eines am Stadtrand zustehen.2 Bemerkenswert ist nur die Kreisform der Stadt, die für damalige griechische Verhältnisse ungewöhnlich war. Grundsätzlich geht es Platon um die Einhaltung der Gesetze der geometrischen Harmonie, um sich der Idee und dem Wesen der Stadt anzunähern, wo178


bei er bei der Form nicht an die Gestaltung des Stadtraumes, sondern vor allem an die Struktur der Gesellschaft dachte. Daher dachte Platon in diesem Zusammenhang von Form und Idee weder an Künstler noch an Architekten, die in der griechischen Antike ohnehin nur eine untergeordnete und aus heutiger Sicht auch sehr verschiedene Rolle spielten. Die platonische Skepsis gegenüber der Kunst und den Künstlern ist hinlänglich bekannt, sie würden nur schlechte Abbilder des Urbildes bzw. der Idee als einer objektiven Wesenheit schaffen und damit die Menschen in die Irre führen. andrerseits hat Platon durch die Engführung seiner Begriffe der Anschauung und der Aufrichtung der Seele durch die Geometrie, um die Idee besser erkennen zu können, die Tendenz zu dieser Interpretation der Wirkung der Stadtform auf die Menschen

Platon als Planer Platon sieht die Situation so: Die Ordnung des Einzelnen und des Ganzen sind dialektisch verbunden. Die vier Wege zur anschauungsmäßigen Erkenntnis dieser Ordnung vor der dialektischen Verknüpfung bestehen in der Arithmetik und in der Geometrie, in den stereometrischen Körpern und der Astronomie. Jede dieser Wissenschaften zieht, wie in der Politea im Dialog zwischen Glaukon und Sokrates beschrieben wird, die Seele nach oben.3 Die Anschauung einer rechten Ordnung bedarf einer entsprechenden mathematisch-geometrischen Konstellation, um eine Lenkung zum Ideenhimmel zu ermöglichen. Platon hat daher in der Politea die soziale Zusammensetzung und Struktur der idealen Gesellschaft der Stadt genau beschrieben, wenngleich er die topographische Struktur und das architektonische Aussehen der Idealstadt kaum berücksichtigt hat, weil er vermutlich griechische Standards voraussetzte, die ihm wohl nicht erwähnenswert erschienen. Platon war vielmehr der paideia, der Erziehung, verpfl ichtet und hatte keinerlei architektonisch gestalterischen Interessen – und wenn man den modernen Begriff der Stadtplanung einführen wollte, so hätte er nur das befürwortet, was der Stadtverteidigung und seinen Vorstellungen von askesis und metanoia, der Umwandlung der Seele entspricht. Bezeichnend ist auch, dass die einzige ausführliche Schilderung einer Stadt, wo Platon im Kritias die Megalopolis Atlantis darstellt, nach dem Muster ägyptischer und babylonischer Großstädte gezeichnet wird, die durch ihre Wucherungen und sich ständig wiederholenden Grundmuster eines Rastersystems mit ausgedehnten Kanalanlagen und einem riesigen Königspalast als negatives Beispiel dient, das durch seine Form schon den Keim künftigen Niedergangs in sich trug. Die Unübersichtlichkeit einer Megalopolis erlaubt weder eine theoria noch den platonischen Vertikalismus durch die Idee der Geometrie und kann daher kein Gutes bewirken. Freilich leidet die Konzeption der Stadt als einem idealen Gemeinwesen dort am meisten, wo sie aus der Unschärfe allgemeiner sozietärer Harmonie heraustritt und konkrete Normen vorschlägt. Platon teilt die Klassen der idealen Stadt – Philosophen, Krieger, Handwerker und Bauern – streng voneinander, sodass er nach Lewis Mumford 4 die Ordnung eines Insektenstaates erzeugte, indem er die Zerlegung der Gesellschaft in soziobiologische Strukturen aufgrund der angeborenen Unterschiede und keine Möglichkeit einer Überwindung der Klasse oder Wechsel eines Berufes vorsah. Platon sah vielmehr aufgrund seiner Vorstellung sozialer Geometrie innerhalb der Be-

Der Einbruch der Zeit in die Stadt. Von der urbs zur civitas

vorgegeben, die sich letztlich bis zur Vorstellung der deterministischen Wirkung der Architektur in der Moderne fortentwickelte.

179


„Rites de passage – so heißen in der Folklore die Zeremonien, die sich an Tod, Geburt, an Hochzeit, Mannbarwerden etc. anschließen. In dem modernen Leben sind diese Übergänge immer unkenntlicher und unerlebter geworden. Wir sind sehr arm an Schwellenerfahrungen geworden. Das Einschlafen ist vielleicht die einzige, die uns geblieben ist. (Aber damit auch das Erwachen) Es sind aber nicht nur die Schwellen dieser phantastischen Tore, es sind die Schwellen überhaupt, aus denen Liebende, Freunde, sich Kräfte zu saugen lieben. Die Huren aber lieben die Schwellen dieser Traumtore. Die Schwelle ist scharf von der Grenze zu scheiden. Schwelle ist eine Zone. Wandel, Übergang, Fluten liegen im Wort „schwellen“ und diese Bedeutung hat die Etymologie nicht zu übersehen. Andrerseits ist notwendig, den unmittelbaren tektonischen und zeremoniellen Zusammenhang festzustellen, der das Wort zu seiner Bedeutung gebracht hat. „– Traumhaus –“ 24 Im Passagenprojekt nimmt der Ort der Huren in der Topographie des Erwachens eine wichtige Rolle ein, weil die Erinnerungsbilder der Kindheit nun in eine größere, mythische Struktur eingehen. In der Urgeschichte der Moderne, wie Benjamin sein Projekt versteht, fi nden alle Phänomene, Vorstellungen und Phantasmagorien Eingang und werden der kulturgeschichtlichen Betrachtung unterzogen. Die Passage ist der Übergangsraum per se, sie ist jener öffentliche Raum, der von privaten Begierden durchzogen ist, sie ist ein liminoider Raum, in dem Elemente der alten Kultur isoliert, zerlegt und neu gruppiert werden. Bei Benjamin wird die Marx’sche Warenanalyse durch die erotischen Phänomene der Moderne neu erklärt, indem durch die psychoanalytische Deutung und die Sexualtheorie der Fetischwert neu formuliert werden kann. Die Bedeutung der Huren als Verkörperung der Warenform ist einleuchtend, in der Passage überkreuzen sich die Funktionen der Ware und Allegorie, „im entseelten, doch der Lust noch zu Diensten stehenden Leib vermählen sich Allegorie und Ware“.25 Der Eros des öffentlichen Raumes gilt im Kapitalismus der Hure, weil sie zugleich eine Allegorie der Ware ist. Damit ist auch die Entwicklung des Eros im öffentlichen Raum zum Warenfetischismus hin prognostiziert, von dessen Realisierung man sich mühelos überzeugen kann.

1 Richard Sennett, Fleisch und Stein, Berlin Verlag, Berlin 1995, S. 424 . 2 Charles Baudelaire, „Le Spleen de Paris. Gedichte in Prosa “ in: ders., Sämtliche Werke, Briefe, Bd. 8 , Hanser, München / Wien 1985, S. 209. 3 Ebd., S. 209. 4 Ebd. 5 Sennett (wie Anm. 1), S. 408. 6 Marshall Berman, All that is solid melts into air. The experience of modernity, Penguin Books, New York, London 1988 , S. 152 . 7 Ebd. 8 Walter Benjamin, „Abhandlungen“, in: ders., Gesammelte Schriften. Bd. I / 2 , Suhrkamp, Frankfurt / Main 1991, S. 548 . 9 Charles Baudelaire, „Les Fleurs du Mal“, in: ders., Sämtliche Werke, Briefe, Bd. 3 , Hanser, München / Wien 1989, S. 245. 10 Plato, Symposion, Reclam, Stuttgart 2006, S. 67, 192 a. 11 Baudelaire (wie Anm. 9), S. 249. 12 J. F. Benzenberg, Briefe geschrieben auf einer Reise nach Paris, Dortmund 1805, S. 261, 263. 13 Walter Benjamin, „Das Passagen-Werk“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. V / 1, Suhrkamp, Frank-

270

furt / Main 1991, S. 622 – 625 . 14 Ebd., S. 624 , O 5 a 2 , a 3. 15 Roland Barthes, Sade. Fourier. Loyola. Kap. Fourier, Suhrkamp, Frankfurt / Main, S. 89 – 138 . 16 Charles Baudelaire, „Aufsätze zur Literatur und Kunst.“,in: ders., Sämtliche Werke, Briefe, Bd. 5, Hanser, München / Wien: Hanser, S. 198 . 17 Benjamin (wie Anm. 12), Bd. I / 2, S. 669. 18 Baudelaire (wie Anm. 9), Bd. 5, S. 254 . 19 Baudelaire (wie Anm. 9), Bd. 3, S. 255. 20 Baudelaire (wie Anm. 9), Bd. 3 , S. 257. 21 Walter Benjamin, „Kleine Prosa. Baudelaire-Übertragungen“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. IV / 1, Suhrkamp, Frankfurt / Main 1991, S. 288 . 22 Ebd. 23 Walter Benjamin, „Fragmente, autobiographische Schriften“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. VI , Suhrkamp, Frankfurt / Main 1991, S. 472. 24 Ebd., Bd. V / 1, S. 617. 25 Walter Benjamin, „Abhandlungen“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I / 3, Suhrkamp, Frankfurt / Main 1991, S. 1151.


Die Temporalisierung des öffentlichen Raumes Der Boulevard als Paradigma der kinetischen Utopie der Moderne Der Boulevard als der Prototyp des öffentlichen Raumes im 19. Jahrhundert umfasst unterschiedlichste Eigenschaften und Funktionen. Aus rein funktionaler Sicht kann er als der erste große Beleg für moderne Stadtplanung gelten, die eine Stadterweiterung und einen Stadtumbau im großen Stil realisierte. Das Wachstum der europäischen Städte durch die wirtschaftliche Dynamik machte eine Restruktruierung der Stadt durch neue Verkehrswege und neue Wohnhäuser notwendig. Die im postrevolutionären Prozess entstandene egalitäre bürgerliche Gesellschaft beruht auf einer kapitalistischen Wirtschaft und einer umfassenden Kommodifi zierung der Welt, die sich auch auf die Raumproduktion auswirken muss. Der Stadtumbau ist daher eine konsequente Maßnahme, die zu einer enormen Aufwertung des städtischen Raumes führt. Den ersten Anstoß dürfte aber die völlige Misere des Verkehrs gegeben haben, die Haussmann eben zur Einführung jenes städtischen Systems der Venen und Arterien in den urbanen Organismus veranlasste. Es zählt zu den ökonomischen Binsenweisheiten, dass Wirtschaftswachstum immer mit Verkehrswachstum korreliert aufgrund der stärkeren Warenumsätze und der Notwendigkeit ihres Transports. Denn gleichzeitig entstand im 19. Jahrhundert auch eine Freizeitindustrie, die ebenfalls äußerst verkehrsintensiv war. So übernimmt der Boulevard nun zwei zentrale Aufgaben: Die Lösung der Verkehrsfrage und die Erstellung eines neuen öffentlichen Raumes. Damit geht auch eine Umwandlung des Boulevards in eine riesige Bühne mit einer egalitären städtischen Szene einher, die das alte theatrum mundi ablöst. Gleichzeitig ist diese Konstellation von einer großen dialektischen Spannung gekennzeichnet, indem die Erfordernisse des Transports mit jenen der öffent lichen Bühne in Widerspruch stehen. Einerseits eine große Masse an Fuhr werken, die in hohem Tempo den Boulevard herunterrasen, und gleichzeitig die Masse der elegant gekleideten Menschen, die flanierend oder im Café sitzend den Boulevard bevölkern. Dieser stellt eine Bühne dar, der vom Verkehr umtost wird und hat nur mehr wenig mit der agora der griechischen polis gemein, weil er von der Dynamik der Kommodifi zierung umspült und durchdrungen wird. Politik wird dort aber keine mehr betrieben – es sei denn bei öffentlichen Demonstrationen oder Aufmärschen – ebenso wurde der öffentliche Diskurs schon längst von den Massenmedien übernommen. Dennoch behält der Boulevard zentrale Funktionen der klassischen agora bei, er ist der Ort, wo urbane Realitäten zur Erscheinung gebracht werden, wo expressive Bedürfnisse zum Ausdruck kommen, wo soziale Rangordnungen gefestigt, aber auch gestört werden können. Damit steht er auch als ein Zeichen für die gesamte kulturelle und gesellschaftliche Konstellation, die von einer permanenten Beschleunigung gekennzeichnet ist und in der, wie bereits von Marx mit den berühmten Worten aus dem Kommunistischen Manifest beschrieben, „alles Stehende und Ständische verdampft“. Der Prozess der Beschleunigung, der von der Ökonomie ausgeht, erstreckt sich auf alle Lebensbereiche und ist in seiner Totalität daher am ehesten aus kultureller 271


Sicht und den Auswirkungen auf die Mentalität zu beschreiben. Daher erlangt nun die Kunst neue Bedeutung, indem ihr die Aufgabe eine Repräsentation dieser Verhältnisse aufgetragen wird. Wie wirken sich die Kräfte der Beschleunigung auf das Bewusstsein Einzelner aus? Wehrt man sich dagegen oder unterwirft man sich, wie verläuft diese Mimesis und das Sich-Preisgeben an die frühkapitalistischen Kräfte der Mobilmachung? Die Stadtbewegung wird zur Lebensbewegung. Das sich konstituierende, autonome Ich der Moderne nimmt eine Haltung ein, die an die Kräfte der Kinetik angepasst, die sehr häufig von Heroik gekennzeichnet ist, die oft einer Selbstgeburt im Sinne Nietzsche gleichkommt. Charles Baudelaire hat nicht zufällig vom Heroismus des modernen Lebens gesprochen und damit bereits vor Nietzsche die wesentlichen Bedingungen des modernen Subjekts skizziert. „Das Schauspiel des eleganten Lebens und der unzähligen schwer bestimmbaren Existenzen, die die unterirdischen Bezirke einer großen Stadt bevölkern, – Die Gazette des Tribuneaux und der Moniteur beweisen uns, daß wir nur unsere Augen aufzutun brauchen, um unseren Heroismus zu erkennen.“ 1 Er spürte aber auch den Übergang von der Klassik zur Moderne noch deutlicher und kann den Schmerz über den Verlust der alten kosmologischen Einheit nicht völlig verbergen, denn dieser spiegelt sich mit einer Mischung aus Bitterkeit und Ironie in seinem Werk wider. Baudelaires Ideal war der Aristokrat, dessen Kontinuität er in der Figur des Dandys bewahrte. Er hat keine Angst um sein Leben, darin entspricht er noch der alten Kriegerethik, sondern nur um seine Ehre, die er durch seinen Stil verkörpert. Daher ist er ein Gegner der Kommerzialisierung der modernen Zivilisation, die er für dekadent hält.2 „Aber hinter der gefallenen Welt der Natur steht eine spirituelle Welt, die durch Kunst zur Epiphanie gebracht werden kann.“ Baudelaire lehnt die Verehrung der Natur aufs Heftigste ab, er ist Antiromantiker. Dafür kann er dem Anorganischen mehr abgewinnen, weil es höher als das Organische steht, das einem Chaos gleicht.3 Daher ist er der Poet der Stadt, dem vom Menschen gemachten Gebilde, und erkennt die Erhabenheit des modernen Verkehrs und dessen Auswirkungen auf die Subjektivität der Menschen an. Nicht die Mimesis der Natur, für die die Romantiker seit Rousseau schwärmten, sondern die Mimesis der Technik, wie jene des modernen Großstadtverkehrs, ist Thema für ihn. Dass dieser gesamte Prozess Werk einer gnostischen Schöpfung, eines deus absconditus ist, kommt in bestimmten Momenten der Epiphanie zum Ausdruck. Baudelaire bejaht die Moderne, nicht weil er von ihren materialistischen Segnungen überzeugt wäre, sondern weil ihn die Heroik des Prozesses und seiner Protagonisten fasziniert, weil hier Kräfte am Werk sind, deren Ursprung im Dunkel liegt. Die Bejahung der Moderne erfolgt aus der Bewunderung für die Transfiguration des Alltäglichen, die in glücklichen Momenten einen Durchblick auf die dahinter liegende, dunkle Wahrheit ermöglicht. Damit ist Baudelaire einer der ersten Poeten der Moderne, der zugleich auch stets auf die Negativität dieses Prozesses hinweist. Der Sprung in die Hässlichkeit, in den Verfall, ins Böse lösen eine Berauschung, ein galvanisches Erschauern aus, die Betrachtung der Fragmente weist auf ein manichäistisches Universum hin, das zugleich auch Bilder übernatürlicher Schönheit liefert. Baudelaire ist somit als ein Begründer der modernen Literatur auch jemand, der die Phänomene des modernen öffentlichen Raumes wie keiner vor ihm erfasst, weil dieser der Schauplatz des urbanen Geschehens ist.

272


„Der Verlust der Aureole“ Charles Baudelaire hat ein weiteres Gedicht im Spleen von Paris verfasst, das ebenfalls auf einem Boulevard stattfindet, dessen Titel lautet: „Der Verlust der Aureole“. Es berichtet von einer Konfrontation zwischen einem Subjekt und den auf es einwirkenden Kräften der urbanen Kinetik des Verkehrs und endet im Verlust der Unschuld. Dabei handelt es sich vordergründig um eine Begegnung zweier Personen, Leuten aus verschiedenen Klassen, tatsächlich aber zwischen einem isolierten Individuum und den abstrakten sozialen Kräften der modernen Gesellschaft, die aber dennoch eine konkrete Gefährlichkeit entwickeln. Das Gedicht spielt in einem Ambiente, dessen Bilderwelt und emotionaler Ton schwer fassbar und verwirrend sind. Der Autor versucht den Leser aus der Balance zu bringen, weil er es selbst ist. Der Dialog läuft zwischen dem Poeten und einem einfachen Mann ab, die sich einander zur gegenseitigen Überraschung an einem anrüchigen Ort wie einem Bordell über den Weg laufen. Der einfache Mann, der immer eine hohe Meinung von dem Künstler hatte, zeigt sich völlig entgeistert: „Was sehe ich hier, mein Lieber! Sie hier! In einem schlecht beleumundeten Lokal finde ich Sie – den Mann, der Essenzen schlürft, den Mann, der Ambrosia zu sich nimmt! Wirklich! Für mich zum Verwundern!“ „Sie wissen mein Lieber, von der Angst, die mir Pferde und Wagen machen. Eben überquerte ich eilig den Boulevard, und wie ich in diesem bewegten Chaos, wo der Tod von allen Seiten auf einmal im Galopp auf uns zustürmt, eine verkehrte Bewegung mache, löst sich die Aureole von meinem Haupt und fällt in den Schlamm des Asphalts. Ich hatte den Mut nicht sie aufzuheben. Ich habe mir gesagt, daß es minder empfindlich ist, seine Insignien zu verlieren, als sich die Knochen brechen zu lassen. Und schließlich, habe ich mir gesagt, zu irgend etwas ist Unglück immer gut: Ich kann mich jetzt inkognito bewegen, schlechte Handlungen begehen und mich gemein machen wie ein gewöhnlicher Sterblicher. So bin ich, wie sie sehen, hier, ganz wie Sie!“ Der einfache Mann geht auf dieses verbale Spiel mit einem absurden Ratschlag ein.

Der Poet denkt aber nicht daran, denn er freut sich über seine neue Selbsterkenntnis: „Ich denke nicht daran! Mir ist wohl hier! Nur Sie haben mich erkannt. Außerdem ist Würde mir langweilig. Und dann habe ich Freude an dem Gedanken, daß irgendein schlechter Dichter sie aufheben und keinen Anstand nehmen wird, sich mit ihr herauszuputzen. Einen Glücklichen machen! Darüber geht mir nichts! Und vor allem einen Glücklichen, über den ich lache! Stellen Sie sich X vor oder auch Z. Nein, wird das komisch sein.“ 4 Das Gedicht bleibt rätselhaft. Mit der Aureole dürfte Baudelaire auch eine Anspielung auf den poeta laureatus im Sinn gehabt haben, dem Sieger im Wettbewerb der Dichter, der in der Antike und spä-

Die Temporalisierung des öffentlichen Raumes

„Sie sollten doch den Verlust der Aureole bekannt geben oder auf dem Fundbüro danach fragen zu lassen.“

273


ter in der Renaissance mit einem Lorbeerkranz, einer Gloriole ausgezeichnet und dem somit ewiger Ruhm verliehen wurde. Der poeta steht noch in der großen rhetorischen Tradition des öffentlichen Raumes der Antike. Unter den Bedingungen des modernen Lebens und des differenzierten öffentlichen Raumes scheint eine derartige Anerkennung und Überhöhung des Dichters überflüssig zu sein, weil auch er durch das Primat der Technik und Kinetik von der allgemeinen Beschleunigung betroffen ist. Der moderne Dichter muss andere Strategien verfolgen. Baudelaire wendet sich gegen die Kunstreligion, gegen die Anschauung einer Heiligkeit der Kunst und ironisiert damit auch seine eigene Haltung, die er in manchen Passagen geäußert hatte.5 Damit bekräftigt er den Abschied von einer Position der Immobilität, von einer Kunst, die trotz einer Abwendung von Gott noch an den Prinzipien der alten Metaphysik festgehalten hatte, und die das Genie als Instrument zur Erklärung der Weltveränderungen ansah. Dieses Gedicht atmet bereits einen Geist der Ironie, die Art des Ausdrucks ist zutiefst komisch und damit auch modern. Die Ironie ist so erfolgreich, weil sie den Ernst der Begebenheit, die hier abläuft, verfremdet. Das Geständnis, demzufolge der Glorienschein des Helden vom Kopf rutscht und in den Dreck fällt, also keineswegs durch eine brutale, große Geste entrissen wird, lässt Assoziationen zum Vaudeville-Theater und den späteren Slapstick helden wie Charles Chaplin zu. Es leistet einen Vorgriff auf das künftige Zeitalter des 20. Jahrhunderts, in dem die Helden wie Antihelden gekleidet sind. Man muss in diesem Zusammenhang auch daran erinnern, dass sich Baudelaire dessen sehr bewusst war, dass die Erfahrung des Komischen einer Erfahrung des choc’s entspricht, weil die Auflösung der kosmischen Ordnung zur Dekonstruktion des mythischen Grundes und damit zum Erkennen des Abgrundes der menschlichen Verfasstheit führt. „Das Lachen ist satanisch, es ist also zutiefst menschlich. Es ist im Menschen die Konsequenz der Vorstellung seiner eigenen Überlegenheit; und wirklich, wie das Lachen wesentlich menschlich ist, ist es wesentlich widersprüchlich.“ 6 Diese ironische Beschreibung erstreckt sich aber auch auf den Boulevard, als den modernen Typus des öffentlichen Raumes. Der Boulevard lässt die klassische Sphäre des öffentlichen Raumes der agora völlig verblassen, in der nach dem Prinzip der klassischen Tugenden agiert wurde, und wo die Menschen miteinander im Dienste der polis um ihren Ruhm in der Nachwelt wetteiferten, wo politisches und expressives Handeln im Rahmen bestimmter ethischer und ästhetischer Prämissen ablief. In der agora wurden Dinge zur Erscheinung gebracht, wurden öffentlich wahrgenommen, beurteilt und besprochen. Nur an diesem Ort konnten – wie Hannah Arendt nicht müde wird zu betonen – die Bürger als Menschen agieren, weil sie sich nur dort, in der Öffentlichkeit, vor den Augen aller, enthüllen und darstellen konnten, und weil nur auf diese Weise die am höchsten entwickelte Form der Gemeinschaft, die demos zum Ausdruck gebracht werden konnte. Natürlich beinhaltete die agora auch Elemente eines Marktplatzes, wenngleich die athenische agora nach Pausanias vom Kerameikos, dem Handelsbezirk, getrennt war. Auch gab es auf der agora Theatervorführungen und sie galt auch als ein Umschlagplatz des Klatsches bei den Barbieren. Ebenso galt das Politisieren und Philosophieren als normaler Zeitvertreib an diesem Ort. Insofern barg auch die alte griechische agora schon den Keim einer Beschleunigung durch ihre potenzielle Katalysatorenwirkung. Dennoch war die griechische Vorstellung einer kosmologischen Ordnung zu stark, der Pantheismus zu mächtig und die technische Entwicklung zu 274


gesäubert. Das römische Forum, jener Ort, der die Funktion der agora übernahm, hatte noch die griechischen Strukturprinzipien der Kolonnaden übernommen und durch die Versammlungshalle, die Basilika erweitert, doch war auch dieser öffentliche Raum des Marktplatzes – wie der des Amphitheaters, des Bades und des Rennplatzes – eine Massenform. Der öffentliche Raum war mit der Form des großen Versammlungsplatzes verbunden. Der eigentliche kinetische Faktor der Römer bestand jedoch im Straßenbau, der die Verbindungen innerhalb des Territoriums schuf und eine unerlässliche Technik zur Erhaltung des Imperiums darstellte. In der Stadt selbst galt im Straßenbau noch das alte Prinzip von Cardo und Decumanus, die den Verkehr in die Mitte der Stadt führten, ein Umstand, der bei der Größe Roms zu einem permanenten Verkehrschaos führen musste. Es scheint aber in der Spätantike bereits Anzeichen für Straßen mit Boulevardcharakter gegeben zu haben. Libanius berichtet über Antiochien in seiner Rede über die Stadt, diese habe bereits 25 Kilometer Kolonnadenstraßen besessen, wo sich öffentliche und private Bauten vermischten.7 Der neue, moderne Typus des öffentlichen Raumes der Stadt, wie der eines Boulevards und mancher der dort ansässigen Lokale, entspricht nicht mehr den gräcophilen Vorstellungen einer klassischen polis.8 Dort denkt niemand mehr an ein politisches Handeln klassischen Zuschnitts, an öffentliche Rede, sondern man flaniert oder sitzt als ein Beobachter in den Cafés am Boulevard. (Speaker’s Corner im Hyde-Park in London ist ein absurdes Relikt aus der alten polis und der Versuch, den modernen öffentlichen urbanen Raum mit einer rhetorischen Dimension der Politik zu verbinden.) Nur wer den Boulevard etwas unvorsichtig überquert, bekommt es mit der Kraft und Energie des neuen zentralen Phänomens der Stadt, des Verkehrs zu tun. Diese neue Kraft kann einem Dichter den Glorienschein vom Kopf fegen und in den Kanalausguss befördern. Er wird damit in einen neuen Bewusstseinszustand versetzt, der ihn durch den Verlust seiner Gloriole seines ruhmreichen Status’ in der polis entledigt, seiner Heldenhaftigkeit beraubt und ihn auf die gleiche Stufe mit dem einfachen Bürger stellt, der sich gewohnheitsmäßig in gewissen Lokalen aufhält, die am untersten Ende einer Skala des öffentlichen Raumes angesiedelt sind. Aber der Dichter bedauert dies nicht, sondern klärt den Mann über die Illusion des Glorienscheines auf, der zum Symbol reinen Scheins wird. Asphalt. Der kinetische Teppich Als Haussmann mit der Arbeit an den Pariser Boulevards begann, konnte niemand begreifen, warum er diese so breit machen wollte, weil damit der Übergang von einer normalen Straßenbreite von etwa 100 Fuß zu einer von 100 yards ein sprunghafter war. Erst nach der Fertigstellung konnten die Leute erkennen, dass diese Straßen, die von immenser Weite und pfeilgerade waren, die idealen Rennbahnen für den Schwerverkehr darstellten. Der Asphalt, mit dem die Oberfläche der Boulevards gepflastert wurde, war erstaunlich glatt und sorgte für die ideale Traktion der Pferdehufe. Erstmals konnten Reiter und Fahrer im Herzen der Stadt die Pferde auf ihre volle Geschwindig-

Die Temporalisierung des öffentlichen Raumes

gering, um sich einseitig den kinetischen Kräften zu verschreiben. Vor allem aber war der Privatbereich bei den Griechen quasi nur die notwendige Basis für das öffentliche Leben, das entschieden den Vorrang innehatte. Erst in größeren Staatsgebilden, wie in Rom, wurde das öffentliche Leben und die Demokratie zunehmend durch die Machtansprüche einzelner Politiker untergraben und durch die Umwandlung in ein Kaisertum endgültig aufgegeben bzw. von den Elementen demokratischer Willensbildung

275


Abb. 14: Robert Delaunay, Der Eiffelturm / La Tour rouge (1911). Das Bild entsteht zu Beginn von Delaunays kubistischer Phase und zeigt den Versuch einer Darstellung der Zeit durch die Fragmentierung des Raumes.


Fordismus als ökonomischer Aufstieg und kulturelle Krise Die erfolglose Eingangsphase in der Zwischenkriegszeit Die erfolgreiche Einrichtung und Entfaltung des fordistischen Systems dauerte Jahrzehnte und beinhaltet eine langwierige und komplizierte Geschichte. Anfängliche Versuche fielen in die Ära der Depression der Zwischenkriegszeit und hatten eher den Charakter politischer Rettungsversuche ohne substantielle Fundierung. Der eigentliche Durchbruch gelang erst in der Nachkriegszeit, die vorbereitende Einstimmung – so unerfreulich es klingen mag – durch die Rüstungsindustrie des Zweiten Weltkriegs, die sämtliche Widerstände gegen das Fließband aufgrund der allgemeinen Mobilisierung zu brechen vermochte, weil die üblichen Einwände nicht mehr geltend gemacht werden konnten. Warum aber konnte sich der Fordismus, trotz des erfolgreichen ameri kanischen Modells in den Zwischenkriegsjahren nicht durchsetzen? Zwei zentrale Hindernisse standen der erfolgreichen Verbreitung des Fordismus in Europa im Wege.1 Einerseits war die Lage der Klassenverhältnisse im Kapitalismus nicht unbedingt einer leichten Akzeptanz eines Produktionssystems förderlich, das auf einer strengen Sozialisation – manche sprechen auch von einer Disziplinierung – der Arbeitskraft beruhte, die diese zu einem langen Arbeitstag und einer völlig routinisierten Arbeit zwang. Traditionelle Handwerkskenntnisse waren unnötig, Einflussnahme auf das Arbeitsprodukt oder den Arbeitsprozess durch den Arbeiter und die Arbeiterin kamen kaum in Frage. Ford hatte sich bei der Einrichtung des Fließbandes immer schon auf die Arbeitskraft der Immigranten verlassen, deren Motivation nun nachließ, während die heimischen Arbeiter diesem System ohnehin feindlich gegenüberstanden. Der Taylorismus wurde trotz der imponierenden Umsatzziffern Fords in Amerika weitgehend abgelehnt und die Opposition der Arbeiter verhinderte die Implantierung derartiger Techniken in den meisten Industrien trotz des kontinuierlichen Migrantenstromes und strengen Arbeitsmarktes und der Rekrutierung neuer Arbeiterschichten aus den ländlichen Gegenden Amerikas. In Europa waren die Gewerkschaften zu stark und die Immigration zu schwach, um dessen Einführung trotz einer prinzipiellen Akzeptanz zu ermöglichen. In dieser Hinsicht bedeutete das Buch von Henri Fayol Administration industrielle et génerale für Europa wesentlich mehr als Taylors Schriften, die wiederum in der Sowjetunion großen Anklang fanden. Fayol legte wesentlich mehr Wert auf die Strukturen der Organisation und die hierarchische Ordnung der Autorität und des Informationsstroms als Taylors horizontaler Fluß des Produktionsprozesses. In Europa gab es in der Autoindustrie kaum Massenfertigung auf der Basis von Fließbandarbeit, mit Ausnahme von Fiat, weil man nicht für den Massen konsum, sondern Luxusautos für eine Oberschicht produzierte, was entsprechend ausgebildete und qualifi zierte Arbeiter verlangte. Erst durch die Veränderung der Klassenverhältnisse konnte nach Beginn des Zweiten Weltkrieges der Fordismus Einzug halten. Die zweite Barriere, die überwunden werden musste, bestand in den hergebrachten Weisen der staatlichen Intervention. Erst der Schock der Depression der 30er Jahre und 305


cores, galactic city, pepperoni-pizza cities, a city of realms, superburbia, disurb, service city, perimeter city, peripheral centers.17 Letzten Endes aber hat Joel Garreau, ein Journalist der Washington Post, mit seinem Buch den Begriff der „Edge City“ geprägt und mit dem Untertitel Life on the New frontier auch gleich die programmatische Einstellung mitgeliefert. Es handelt sich um Pioniere des Alltagslebens, die wiederum an die Front gerufen werden, um den american way of life erneut zu befestigen und zu verteidigen. Diese Edge Cities unterscheiden sich deutlich von herkömmlichen Innenstädten, wie auch von den bestehenden, älteren Suburbs. Die Gebäude liegen mitten im Grünen, es gibt zahlreiche Einfamilienhäuser, aber auch höhere Gebäude einer verdichteten Bauweise, ein Zeichen zum Einhalt der Zersiedelung. Der zentrale Unterschied zur traditionellen Vorstadt besteht aber darin, dass dort auch zahlreiche Arbeitsplätze existieren, oftmals mehr Arbeitsplätze als Einwohner. Manche Edge Cities verfügen bereits über mehr Büroraum und Einwohner als die Geschäftsbezirke der Innenstadt. Garreau bezeichnet mit Edge City ein Gebiet, das über 45 Hektar Bürofläche (1) und weitere 5,5 Hektar Verkaufsfläche für den Handel, etwa die Größe einer Einkaufsmall umfasst (2), mehr Arbeitsplätze als Betten hat (3) und von den Einwohnern als ein zusammenhängender Ort wahrgenommen wird (4), bzw. ein Areal, das vor 30 Jahren noch keinerlei Ähnlichkeit mit einer Stadt hatte (5).18 Garreau wendet diese Kriterien auf 123 existente und weitere 78 in Bau befi ndliche Edge Cities an, die an 45 alte Innenstädte anschließen, und führt zahlreiche neuere Beispiele an, wie die Route 128 im Raum Boston, das Schaumburg Area bei Chicago, das Perimeter Area bei Atlanta, Irvine im Raum Los Angeles usw. Allein im Raum Phoenix entstehen fünf Edge Cities. All diese Städte sind aus dem Bedürfnis nach einer Raumerweiterung entstanden, mit der die Probleme der Innenstadt, die großen Stress verursachten, gelöst werden sollen: Parkplatznot, Kriminalität, hohe Mietpreise, städtische Unterschichten, die hohe Sozialkosten verursachen. Die Edge City ist daher weitaus mehr als eine Stadtform, weil sie ein Sozialmodell der Mittelklasse geworden ist, die die Mehrheit der Gesellschaft stellt. Die Formen herkömmlicher Urbanität haben hier keine Geltung mehr, sondern werden durch neue Formen der Exopolis ersetzt.

1 Wikipedia, List of Riots, http://en.wikipedia.org / wiki / List_of_riots (Stand 201202-20). 2 Wikipedia, Rodney King Riots, http://en.wikipedia.org / wiki / Rodney_King_ riots (Stand 2012-02-20). 3 Mike Davis, City of Quartz, Kap. „La grande peur“, Verlag der Buchläden Schwarze Risse / Rote Straße, Berlin / Göttingen 1994 , S. 449. 4 Ebd., S. 450. 5 Ebd., S. 451. 6 Ebd., S. 466 . 7 Ebd., S. 457. 8 Ebd., S. 451. 9 A. Robert Beauregard, „Die Peripherie des Zentrums“, in: Walter Prigge, Walter, Periphe-

366

rie ist überall, Campus, Frankfurt / Main / New York 1998 , S. 57. 10 Ebd., S. 58 . 11 Wikipedia, Subprime Mortgage Crisis, http://en.wikipedia.org / wiki / Subprime_mortgage_ crisis (Stand 2012-02-20). 12 Peter Sloterdijk, Im Innenraum des Kapitals, Suhrkamp, Frankfurt / Main 2005 , S. 188 . 13 Joel Garreau, Edge City. Life on the New Frontier, Anchor, New York 1992, S. 48. 14 Ebd., S. 49. 15 Ebd., S. 9. 16 Ebd., S. 9. 17 Ebd., S. 6. 18 Ebd.., S. 7.


Stadt und Angst. Californian Urban Dreams and Nightmares. Simulacra, Schizophrenie, Psychasthenie Hyperspace und Simulation Rem Koolhaas und Bruce Mau bezeichnen die Stadt der Postmoderne als „Generic City“. Ihre Merkmale bestehen darin, dass sie eben über keine Charakteristika verfügt, dass sie ein reines Produkt darstellt, Ergebnis einer technischen Herstellung wie ein Flughafen ist, über keinerlei Zentrum und Geschichte verfügt und es ihr auch an jeglicher Identität mangelt. Marc Augé hatte seinerzeit den Begriff des Nicht-Ortes als eines Ortes ohne Identität geprägt, als Gegenbegriff zum ethnologisch hoch besetzten Ort, der in ebendieser Praxis eine strukturelle Schlüsselstellung einnimmt, wo jede Handlung mit bestimmten Orten verbunden ist und damit ein festes räumliches Handlungsnetz prägt, das eine Kodierung des Zusammenhangs von Ort und Handlung vorsieht, die für die Identität prägend ist. Nicht-Orte, wie am Beispiel des Flughafens exemplifiziert, können diese ordnende Leistung einer Vereinigung zwischen Raum und Bewusstsein nicht mehr vollziehen, da ihnen die erinnerungsprägenden Eigenschaften abhanden gekommen sind und sie als serielle Produkte überall gleich aussehen. Michael Sorkin hatte den Begriff des ageographischen Raumes eines generischen Urbanismus später als Grundidee seiner Variations of a Theme Park angewandt,1 um bestimmte Raumtypen von McDonald’s bis zum ATRIUM Hotel zu beschreiben, die als Insert in jeder Stadt und an jedem Ort der Welt eingesetzt werden können. Endergebnis dieser Entwicklung ist eine Zersplitterung aller festen Beziehungen zu Ort und Raum, als Konsequenz dessen kommt es zu einer engen Verbindung des Simulationsprinzips mit dem Sicherheitsprinzip, einer Kombination, die an Aktualität noch gewonnen hat. Die Obsession für Sicherheit ist ein logisches Komplement zur Stadt als Themenpark, die sich nur in Form der Simulation, aufbereitet durch den jahrelangen, intensiven T V -Konsum darstellt. Vor dem Hintergrund dieser bestimmenden Faktoren der Stadt der Postmoderne soll ein kurzer Rückblick auf die Genese dieses Bildes vom urbanen Raum geworfen werden, dessen Ursprung zu diesem Zeitpunkt noch in den USA zu suchen ist. Als zentrale Hypothese wird weiter der komplexe Zusammenhang von Angst und urbanem Raum gehalten, insbesondere die daraus resultierenden psychischen Auswirkungen eines urbanen Hyperraums. Im Gegensatz zu den in den letzten Folgen beschriebenen stressbedingten Faktoren, die eine Flucht aus den amerikanischen Innenstädten zur Folge hatten und in der Gründung der zahlreichen riesigen suburbanen Agglomerationsgebieten der Edge Cities mündeten, wird diesmal eine andere Form von Angst beschrieben. Es handelt sich dabei eben um keine Angst vor Bedrohung der körperlichen Integrität oder des Eigentums, wie durch die Rassenunruhen und die hohe Verbrechensrate verursacht, sondern um einen gegenteiligen, weit schwerer zu fassenden Typus von Angst, der aber aufgrund seiner schwereren Bestimmbarkeit und auch kulturellen Fundierung wirksamer ist. Es handelt sich hier um psychische Phänomene, 367


die nicht durch Mangel an äußerer Sicherheit, sondern durch den Verlust der Raumbeziehung auf vielfältige Weise gegeben sind. Es ist eher die Überfülle an Dingen, die sensorische Überforderung, der Verlust des Selbst aufgrund der Immersion in unergründliche Räume. Die Auflösung der Differenz zwischen Wirklichkeits- und Möglichkeitsraum, die keine zeitliche Differenzierung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mehr möglich macht, hat ernsthafte psychische Komplikationen zur Folge. Wenn alles möglich scheint, geht der Abstand zwischen Realität und Fiktion verloren und die Dinge vermischen sich derart, dass der Sinn für das Reale abhanden kommt. Hier nun ein Fallbeispiel für diese Aufhebung der Grenzen aus einem Werbetext des California Office of Tourism zu Orange County: „Es ist ein theme-park – siebenhundertsechsundachtzig Meilen theme-park und sein Thema lautet: ‚Du kannst alles haben, was du willst!‘ Es ist das Kalifornien, das am meisten nach Kalifornien aussieht. Das meiste wie die Filme, das meiste wie die Stories, das meiste wie ein Traum. Orange County ist Tomorrowland und Frontierland, vermischt und untrennbar. 18. Jahrhundert Mission. 1930 Künstlerkolonie. 1980 Konzernzentralen. Alles ist hier voller Geschichte: Seeleute, Eroberer, Padres, Rancher, Schürfer, Ölsucher. Aber es gibt soviel jetzt, dass das damals schwer zu fi nden ist. Die Häuser sind neu. Die Autos sind neu. Die Geschäfte, die Strassen, die Schulen, die Rathäuser, sogar das Land und der Ozean schauen neu aus. Die heutige Temperatur wird in den unteren 80er liegen. Eine leichte Brise kommt vom Meer. Ein neuer Tag im Paradies, so wie der gestrige Tag.“ (From an advertisement for the Californias, California Office of Tourism) 2

Orange County präsentiert sich hier selbst als ein Vorgeschmack der Zukunft, als eine phänomenologische Erfi ndung des Alltagslebens in einer glänzenden postmodernen Welt, jenseits der Welt eines Hexers von Oz und der Utopien von Walt Disney. Orange County zeigt den Weg im gegenwärtigen Wettbewerb zur Feststellung des glücklichsten Ortes der Erde. Wenn noch andere Orte im Rennen sind, so kann es sich nur um naturgetreue Simulationen des Originals handeln. Und täglich sprießen neue Simulationen hervor, in Boston, New York, San Francisco, Chicago, Washington, Dallas, Miami und Atlanta um die spektakulärste Transformation urbaner Landschaften und der sie beschreibenden Sprache seit dem 19. Jahrhundert anzutreiben.3 Jean Baudrillard ist einer jener Autoren, der sich der Frage des „Verschwindens der Realität“ in besonderer Weise angenommen hat, indem er den Begriff des Simulacrums, bzw. der Simulation einführte. Zeichenwelten treten an die Stelle der Realität. Die Besonderheit dieser Zeichenwelten besteht im Verlust des Referenten, sie bezeichnen nichts mehr, sondern stehen in Interaktion mit anderen Simulationen. Der Zugang zur direkten Welt durch die sinnliche Wahrnehmung scheint verlegt. Die Welt wird semiokratisch verwaltet, die Macht der Zeichen beruht auf der Einführung der neuen Kommunikationstechnologien und Medien. Bereits Paul Cézanne hatte betont, dass man sich beeilen müsse, um noch etwas zu sehen und damit das Stichwort zur Agonie des Realen geliefert. Nun muss auch erwähnt werden, dass die Bestreitung einer Existenz der Wirklichkeit schon bei Platon diskutiert wurde. Baudrillard geht es 368


aber offensichtlich gar nicht um die Leugnung der Wirklichkeit im streng idealistischen Sinne, vielmehr dürfte es sich um eine radikale, auch ironische Kritik an der

„Früher war die schönste Allegorie der Simulation für uns jene Fabel von Borges, in der die Kartographen des REICHES eine so detaillierte Karte anfertigten, dass Karte und Territorium schließlich exakt zur Deckung kommen. (Der Verfall des REICHES bringt es jedoch mit sich, dass die Karte nach und nach ausfranst und verfällt, bis schließlich nur mehr Fetzen in den Wüsten erkennbar sind. Die metaphysische Schönheit dieser verfallenen Abstraktion ist wie das Reich Zeuge eines Übermutes, der sich auflöst, wie ein Kadaver verfault und schließlich wieder in die Substanz der Erde eingeht – ein bisschen wie sich das Duplikat in zunehmendem Alter schließlich mit dem Realen vermischt.) Für uns ist diese Fabel überholt. Sie besitzt nur noch den Charme von Simulacra zweiter Ordnung. Heutzutage funktioniert die Abstraktion nicht mehr nach dem Muster der Karte, des Duplikats und des Begriffs. Auch bezieht sich die Simulation nicht mehr auf ein Territorium, ein referentielles Wesen oder auf eine Substanz. Vielmehr bedient sie sich verschiedener Modelle zur Generierung eines Realen ohne Ursprung oder Realität, d. h. eines Hyperrealen. Das Territorium ist der Karte nicht mehr vorgelagert, auch überlebt sie es nicht mehr. Von nun ist es umgekehrt: (PR ÄZESSION DER SIMULACR A ) Die Karte ist dem Territorium vorgelagert, ja sie bringt es hervor. Um auf die Fabel zurückzukommen, müsste man sagen, dass die Überreste des Territoriums allmählich Ausdehnung und Umfang der Karte annehmen. Nicht die Karte, sondern Spuren des Realen leben hier und da in den Wüsten weiter, nicht in den Wüsten des REICHES , sondern in unserer Wüste des Realen selbst.“ 4 Der Riss der Signifikantenkette. Schizophrenie Frederic Jameson publizierte 1984 in der New Left Review 146 den berühmten Aufsatz „Postmodernism, Or, The Cultural Logic of Late Capitalism“,5 in dem er wesentliche Merkmale der Postmoderne auf eine Weise beschrieb, die noch heute gültig sind. Er wirft dort in Zusammenhang mit der Krise der Historizität die Frage nach einem zeitlichen Ordnungsfeld in der Postmoderne auf, und danach, welche Formen von Zeitlichkeit noch in einer Kultur bestehen können, die zunehmend vom Raum und dessen Logik beherrscht wird. Wenn das Subjekt sein Zeitgefüge verliert und nicht mehr in der Lage ist, seine Vergangenheit und Zukunft in einer kohärenten Erfahrung zu organisieren, so handelt es sich bei der Kulturproduktion dieses Subjekts eher um angehäufte Fragmente, Fragmentarisches und Zufälliges. In der Literatur ist in diesem Zusammenhang von Textualität, écriture und schizophrenem Schreiben die Rede. Auf Letzteres bezieht sich auch Jameson, indem er den Begriff der Schizophrenie, weniger als Diagnose, denn als Beschreibung, nach Lacans Erklärungsmodell auf die post-

Stadt und Angst. Californian Urban Dreams and Nightmares

Kultur des Spätkapitalismus handeln, die aufgrund der Unmöglichkeit der marxistischen Perspektive, wie sie bei seinem Lehrer Lefebvre noch partiell bestanden hatte, eben zu dieser Position gelangt ist. Eine besonders radikale Äußerung lautet, dass es nicht das Simulacrum ist, das die Wahrheit versteckt, sondern die Wahrheit verbirgt, dass es sie gar nicht gibt, dass das Simulacrum das einzig Wahre wäre. Zugleich ist er aber auch ein Anhänger des magischen Realismus eines Luis Borges, wie der folgende Abschnitt aus dem Eröff nungskapitel der Agonie des Realen, „Die Präzession der Simulacra“ beweist.

369


moderne Kultur anwendet. Für Lacan bedeutet die Schizophrenie ein Zerreißen der Signifi kantenkette als der geschlossenen, syntagmatischen Signifi kantenfolge, die eine Aussage oder einen Sinn aufbaut. Lacan verfolgt keine ödipale Analyse wie Freud, sondern er geht vom Namen des Vaters aus, der als väterliche Autorität eine linguistische Funktion innehält. Dieses Konzept beruht auf dem Strukturalismus von Ferdinand de Saussure, dessen große Entdeckung darin bestand, den Sinn nicht mehr aufgrund der direkten Beziehung zwischen Signifi kant und Signifi kat, zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem, zwischen einem Wort und einem Begriff zu eruieren. Das Signifi kat, der Sinn oder die Bedeutung wird als ein Sinn-Effekt begriffen, als die objektive Vortäuschung von Bedeutung, die aber – so das zentrale Theorem – durch die Verbindung der Signifi kanten zueinander hergestellt wird. Sinn wird allein durch die Bewegung von Signifi kant zu Signifi kant erzeugt.6 Zeichen haben per se keinen positiven Charakter und bilden auch keine Ideen oder Vorstellungen a priori ab, sondern die von ihnen referierten Werte erlangen ihren Sinn erst im Gesamtsystem. Man denke an das Schachspiel, wo der König per se nichts wert ist, sondern seine Stellung nur innerhalb des Gesamtsystems des Spiels erhält, das heißt, in der Differenzierung zu den anderen Figuren. Die Eigenschaft des Zeichens liegt darin, etwas zu sein, das die anderen nicht sind, daher gibt es in der Sprache auch keine frühere oder tiefere Wirklichkeit, sondern sie kommt durch die jeweilige Differenz der Objekte oder des Subjekts erst nachträglich auf.7 Um nun auf den zitierten Fall der Schizophrenie zurückzukommen: sie entsteht dann, wenn die Glieder der Signifi kantenkette reißen und nur mehr einen Haufen selbständiger Signifi kanten übrig lassen, die aber in keiner Verbindung zueinander stehen. Der Schluss aus diesem Umstand mündet in zwei Argumenten: „Erstens, persönliche Identität ist selbst ein Effekt einer gewissen zeitlichen Vereinigung von Vergangenheit und Zukunft innerhalb einer bestimmten Gegenwart. Zweitens, diese aktive sprachliche Vereinigung ist selbst eine Funktion der Sprache, oder besser des Satzes, solange er sich ent lang des hermeneutischen Zirkels durch die Zeit bewegt. Wenn wir dazu unfähig werden, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eines Satzes in eine Einheit zu bringen, dann sind wir in gleicher Weise unfähig, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unserer persönlichen Lebenserfahrung und unserer Psyche als Einheit zu erfassen. Mit dem Zusammenbruch der Signifi kantenkette also wird der Schizophrene auf die Erfahrung reiner Materialität der Signifi kanten, oder in anderen Worten, auf eine Serie reiner und unzusammenhängender Repräsentationen in der Zeit reduziert.“ 8 Und er liefert auch ein eindrückliches literarisches Beispiel, das diesen Fall der Sinnentleerung schildert: „Ich erinnere mich sehr gut an den Tag, als es passierte. Wir waren auf dem Land und ich war allein auf einem Spaziergang, so wie ich es hin und wieder machte. Plötzlich, ich kam gerade an einer Schule vorbei, hörte ich ein deutsches Lied; die Kinder hatten Gesangsstunde. Ich blieb stehen, um zu hören und in diesem Augenblick überkam mich ein merkwürdiges Gefühl, das schwer zu analysieren ist, aber dem ähnlich, das ich später sehr genau kennen lernen musste, ein verstörenden Sinn der Irrealität. Es schien mir, als ob ich die Schule nicht mehr wieder erkennen würde, sie wurde so groß wie eine Kaserne. Die singenden Kinder wurden zu Gefangenen, die zum Singen gezwungen wurden. Es war, als ob die Schule und die singenden Kinder sich vom Rest der Welt völlig entfernt hätten. Im gleichen Augenblick begegnete mein Blick einem 370


Getreidefeld, dessen Grenzen nicht zu erkennen waren. Diese gelbe Unendlichkeit, die in der Sonne leuchtete, verbunden mit dem Lied der in die Schulkaserne eingesperrten Kinder, erfüllte mich mit einer derartigen Angst, dass ich in tiefes Schluchzen ausbrach. Ich lief heim zu unserem Garten und begann ein Spiel,‚dass alles wieder wie gewöhnlich wird‘ um zur Realität zurückzukehren. Es war die erste Erscheinung dieser Elemente, welche in den späteren Wahrnehmungen der Irrealität immer gegenwärtig waren: unendliche Weite, glänzendes Licht und die Glätte der materiellen Dinge.“ 9 Für Jameson bedeutet die schizophrene Erfahrung „dass der Zusammenbruch der Zeitlichkeit die Gegenwart von allen Aktivitäten und Intentionen freisetzt, auf die sie fokussiert ist und zu einem Raum der Praxis machen würden. Derart isoliert, über-

John Portmans Bonaventura Hotel in Los Angeles. Das Atrium als Prototyp des postmodernen Raumes Im gleichen Aufsatz beschreibt Jameson einige Seiten weiter anhand des Bonaventura Hotel paradigmatisch das Verhältnis der Postmoderne zur Stadt, das im neuen Stadtkern von Los Angeles von John Portmann, einem Architekten, Städteplaner später auch Investor errichtet worden war und prototypisch für die Postmoderne steht. Einerseits zeichnet es sich dadurch aus, dass es einer populistischen Argumentation zufolge eine Verteidigung der Postmoderne gegenüber der elitären und utopischen Architektur der Moderne anstrebt, weil gewisse Eigenheiten der lokalen Kultur durch die Übernahme der populären Architektursprache und Enblematik von Los Angeles akzeptiert werden. Die Strenge der klassischen Moderne in der Ablehnung der geschmacklosen und kommerziellen Zeichensysteme hat sich im Bonaventura überlebt und die Annahme des Gebäudes durch die Einheimischen und Touristen verlief aufgrund der populistischen Strategie ausgezeichnet. Die weitere Analyse des Hotels beginnt mit der Beobachtung einer populistischen Einfügung in die Stadtstruktur, weil hier anstelle der alten Porte-Cochère-Eingänge, der überdachten monumentalen Vorbauten der alten Hotels, nur drei kleine versteckte, sich nebensächlich gebende Zugänge existieren. Diese beabsichtigte Abgeschlossenheit des Innenraums des Hotels weist auf eine Vorstellung eines totalen Raumes einer in sich vollständigen Welt hin. Daraus resultiert aber eine neue Stellung dieses Raumes zur Stadt: „Das Bonaventura will nicht Bestandteil der Stadt sein, sondern ihr Äquivalent, ihr Ersatz, ihr Substitut.“11 Bei den großen Monumenten der Moderne und des international style vollzog sich diese Abtrennung noch spektakulär, Le Corbusiers Pilotis meinten eindeutig die Absetzung von der verkommenen alten Stadt. Während man jedoch in der Moderne noch an eine künftige Überlagerung der alten Stadt durch die neue überlegene Raumsprache dachte, vollzieht sich die Abtrennung durch die Postmoderne unscheinbar, ohne große Geste.

Stadt und Angst. Californian Urban Dreams and Nightmares

wältigt die Gegenwart das Subjekt mit unbeschreiblicher Lebendigkeit, eine überwältigende Materialität der Wahrnehmung kommt auf, welche die Macht des Materials, oder besser noch, die Isolation des Signifi kanten wirksam dramatisiert.“10 Die Welt, die nun nicht mehr quasi in die Räume der Vergangenheit oder Zukunft eingeräumt werden kann, stürzt auf das Subjekt mit aller Macht des Signifi kanten ein, erzeugt im negativen Falle Angst und Realitätsverlust, kann aber – wie Jameson sagt – im positiven Falle auch als Euphorie, als eine hochfliegende, berauschende oder halluzinogene Intensität vorgestellt werden.

371


Abb. 17: Constant Anton Nieuwenhuys, Le bouc émissaire / Der Sündenbock (1949). Die Opfertheorie spielt bei manchen Surrealisten und Situationisten eine wichtige Rolle: ihnen erschien das Selbstopfer im Sinne totaler Verausgabung als die einzig mögliche nicht-utilitaristische Haltung.


Die Stadt als Archipel der Kapseln Die Mitte der Stadt oder das Zentrum existiert in der Postmoderne allenfalls im geographischen Sinne, denn die Ganzheits- und Mittelpunktsillusion, die auf einen König gerichtet war und dessen phantasmatischer Ort das Zentrum gebildet hatte, ist heute vielleicht für den Städtetourismus von Bedeutung, nicht aber für die Synthese von Stadt und Gesellschaft. Allerdings gilt auch: „Die Königsstelle als der phantasmatische Ort, an dem das Ganze selbstdurchsichtig wüßte, was es ist und was es will, wird nicht kampflos geräumt.“ 1 Der Widerstand gegen diese Mitte, die Herrschaft des Königs hatte zur Ausbildung neuer Zentren für die Massen geführt, wie es durch die Ereignisse der Französischen Revolution initiiert und durch zahllose Nachfolgebauten und Attraktoren imitiert wurde, um wiederum „Zentralität zu simulieren“.2 Sloterdijk meint mit den Pseudozentren Orte mit synodalen Tendenzen, die große Motivationsströme anziehen, wie der Rote Platz in Moskau oder das Reichsparteigelände in Berlin, aber auch das Olympiastadion von Athen, das Festspielhaus in Bayreuth und ähnliche mehr. In weiterer Folge prägt er den Begriff der Kollektoren für Orte, die keine Mitte mehr simulieren, aber von ebensolcher Anziehungskraft für die Massen charakterisiert sind, wie die Arena und das Stadion, aber auch die Tagungsstätten der sozialen Verbände und die Kongressgebäude. Insgesamt bezeichnet er die moderne Stadt als eine Foam City, eine Stadt des Schaums, ein poetischer Begriff für die Raumvielheiten, die sich aus Kollektoren und Apartmentkomplexen zusammensetzen. Wenn man den komplexen Sachverhalt soziologisch ausdrücken möchte, wäre zu sagen: Der reale Prozess der Modernisierung steht daher unter der Einwirkung zweier wesentlicher gegenläufiger Imperative, einerseits die ständige Ausdifferenzierung der Gesellschaft in Subsysteme und andrerseits der ständige Versuch einer Rettung und Restauration der Zentrumsbildung. Diese Ausdifferenzierung der Gesellschaft geht mit der Individualisierung und Personalisierung eng einher, weil aber dieser Prozess keine authentische Symbolik des Ganzen mehr herzustellen vermag, ist man auf eine Simulation des Zentrums angewiesen. Da es aber kein wirkliches Zentrum mehr gibt, muss man die Frage stellen, welche anderen wesentlichen raumbildenden Faktoren die Stadtgestalt prägen. Daher kann man mit Peter Sloterdijk von einer urbanen raumschaffenden Potenz des 20. Jahrhunderts als einer dualen und abstrakten Konstellation von Stadien und Apartments sprechen, wobei die erste eine „dichte isopathische, individualraumvernichtende Verschäumung in Großcontainern ermöglicht […]“, während die Gesellschaft in der zweiten in „[…] egosphärischen Zellenkonglomeraten“diskret verschäumt wird.3 Wir sind also mit einer räumlichen Entwicklung konfrontiert, die eine völlig individuelle Raumsituation im sozial isolierten Apartment zur Pflege des Egos schaff t, die nur durch Versammlungen in Kollektoren oder Großcontainern wie Stadien, Theatern, Versammlungsplätzen oder ähnlichen massenveranstaltungstauglichen Environments durchbrochen und temporär abgelöst wird. Ergänzt wird diese Situation durch Erlebnis-Environments, von der Shopping Mall bis hin zu riesigen Architekturbiotopen, wie der New Yorker begrünten High Line, einer vormaligen Hochbahntrasse. Denn mittlerweile sucht die Architektur auch die Synthese mit der Natur und entwickelt zahlreiche Hybridformen, wie eben diese einer Hochbahn mit einem botanischen Gar407


ten, die allerdings nicht überdacht ist, ebenso wie andere Biotope nach dem Muster des Treibhauses. Hybridlandschaften in der Halle wie Indoor-Skipisten oder Hallengolfplätze haben die alte Passage im Sinne Walter Benjamins längst gesprengt und ihr den Rang abgelaufen. Insgesamt gewinnt „das Einkapselungsmotiv in solchem Maß an Umfang […], dass sich die moderne Stadt und Stadtlandschaft […] mehr und mehr zu einer operativen Einheit […] von Raumstation, Gewächshaus und Menscheninsel entwickelt.“ 4 Gehen wir daher dieser Entwicklung nach, indem wir die Ursprünge dieser Tendenz zur Verkapselung im 20. Jahrhunderts untersuchen. Ausdifferenzierung und Individualisierung. Kurokawas Capsule Declaration Kapsel kommt vom lateinischen capsa, Schachtel oder Behälter, und ist vom Wort capere abgeleitet, etwas ergreifen, fangen, halten, kurz „in Gefangenschaft halten“. Allgemein ist die Kapsel ein Behälter, die als Werkzeug oder auch als Körpererweiterung dient und damit auch den Charakter einer künstlichen Umgebung annehmen kann, um sich von der äußeren, feindlichen Umgebung abzuschließen. Wenn man in der Sprache der Medientheorie argumentiert, und sich McLuhan anschließt, könnte man auch von einem Medium sprechen, das zu einer Hülle geworden ist, das heißt, man könnte die Kapsel auch als Medium bezeichnen, das buchstäblich zu einem Milieu, zu einem Environment, einer künstlichen Umgebung geworden ist.5 Es ist daher folgerichtig, dass sich Kurokawa 1969 in seinem Essay der „Capsule Declaration“ zunächst an jenen Werkzeugen orientierte, die zu einer Erweiterung des Heimes führen und die er damals am besten durch das Beispiel des Autos darstellen konnte. Zugleich verweist die Kapsel auch auf ein altes anthropologisches Erbe, indem menschliche Wesen immer schon auf künstliche Umgebungen angewiesen waren, um in ihren Erweiterungen, zunächst die Kleidung und später den Gebäuden, und in Heideggers Worten sogar in der Sprache zu wohnen. Die Theorie der Kapsel verdankt auch McLuhans Medientheorie wesentliche Impulse. McLuhan bezeichnete diese Erweiterungen des Menschen bzw. des menschlichen Körpers als Medien und meinte damit etwas Zweifaches. Nämlich ein Mittel oder auch in der Mitte von etwas, was soviel wie ein Milieu oder eine Umwelt bedeutet. Wenn man die Kleidung als die zweite Haut des Menschen bezeichnet, so könnte man die Architektur als eine dritte anführen und damit den Umstand beschreiben, dass Menschen immer schon von Siedlungen, Festungen und Städten abhängig waren und somit die Begründung der Zivilisation eine kapsuläre Basis aufweist. Medien sind ihrem Wesen nach Beschleuniger und sind die Voraussetzung für Phänomene wie Reisen, Handel, Kommunikation und Information. Der dem wachsenden Informationsfluss und der Beschleunigung der Transportgeschwindigkeit geschuldete technologische Fortschritt erfordert allerdings einen Schutz des empfindlichen Zentralnervensystems und des fragilen menschlichen Körpers. Wachsende Transportgeschwindigkeit macht ab einem gewissen Tempo die Ergänzung durch eine Kapselform notwendig, sei es in Form einer Karre, eines Wagens, einer Kutsche. Man könnte in diesem Zusammenhang auch von der Notwendigkeit eines exoskeletären Gerüstes sprechen, einer äußeren Hülle, wie sie bei Käfern zu fi nden ist und auch für das Überleben des Menschen unumgänglich wird. Nach McLuhan ist jede Erweiterung eines Organs mit einer Amputation des erweiterten Organs verbunden und wird von ihm als die Narkose des Narziss bezeichnet. Das Bild des Narziss ist eine durch Reizdruck 408


hervorgerufene Ausweitung oder auch Selbstamputation, das Abbild im spiegelnden Wasser ist ein Gegenmittel und verursacht eine Betäubung, die Erkenntnis und eine quasi rationale Reaktion unmöglich machen.6 Nach McLuhan stellen alle Ausweitungen unseres Selbst Versuche dar, das innere Gleichgewicht zu erhalten und unter Bezug auf Hans Selye schreibt er: „Jede Ausweitung unserer eigenen Person betrachten sie als Selbstamputation und glauben, dass der Körper zu diesem Mittel der Selbstamputation greift, wenn das Wahrnehmungsvermögen den Grund der Reizung nicht genau feststellen oder sie umgehen kann.“ 7 Daraus folgt, dass unter körperlichem Stress, Über-

anscheinend kulturell zwingende Notwendigkeit der ständigen Entwicklung neuer Kapseln, welcher Form auch immer. Kurokawa bezeichnet die Kapsel als das Modell der zukünftigen Architektur. Sicherlich hat ihn das Jahr 1969 als der Zeitpunkt der ersten Mondlandung inspiriert, ein Ereignis, das aus heutiger Sicht als ein Zeichen eines Übergangs zur postindustriellen Ära zu deuten ist. „Die Kapsel ist Cyborg-Architektur. Mensch, Maschine und Raum bilden einen neuen organischen Körper, der die Konfrontation transzendiert […] Dieser neue elaborierte Apparat ist nicht ein Hilfsmittel, wie ein Werkzeug […] die Kapsel, die die Astronauten vor dem Weltraum schützt, unterscheidet sich essentiell von Gefäßen wie Kaffeetassen, weil sie eine eigene Umgebung schaff t. Ein Gerät, das zu einem eigenen Lebensraum wird, in dem Sinne dass man sich nicht mehr erhoffen kann, anderswo zu leben, ist eine Kapsel. Und die Zeichen dieser Entwicklung beginnen um uns herum zu erscheinen.“ 8 Entscheidend ist der Kategorienwechsel und die medientheoretische Neuformatierung. Die Kapsel ist nicht länger ein Werkzeug, sondern ein Medium in dem Sinne, dass es in der Lage ist, eine künstliche Umgebung zu schaffen. Kurokawa träumt in seinem Essay von einer Synthese des Organons als dem Apparat und dem menschlichen Organismus. Die Kapsel ist eine Synergie von Mensch und Maschine, von Kybernetik und Organismus. Menschliche Wesen müssen im Sinne McLuhans nicht zu Robotermenschen umgewandelt werden, sondern sie werden sich selbst mit Hilfsmitteln ausrüsten, die es ihnen ermöglichen, jene Rollen auszuüben, die ihnen von ihrer natürlichen Ausstattung her verwehrt wären. Die Kapsel ist eine natürliche Ausweitung des Körpers und erlaubt daher den Begriff der Cyborg-Architektur. Wenn das erste Auto einfach ein Ersatz für das Pferd war, so verbringen die Menschen heute mehr Zeit in ihren Autos, und dieses Auto wird zu einem Raum mit verstellbaren Sitzen, Klimaanlage und Stereoanlage. Damit ist das Auto nicht länger ein Transportmittel, sondern ist aufgrund der Raumbildung bereits zu einem Stück Architektur geworden. Die Räder sind nicht wichtig, vielmehr zählt der Übergang vom Werkzeug zur Architektur. Kurokawa erwähnt zwei Formen der Einkapselung, den Übergang vom Heim, das zu einem Gerät wird (Wohnwagen), und von einem Gerät, das zu einem Heim wird (Auto). Der Übergang vom Gerät zur Einbettung entspricht dem Übergang von der alten sesshaften Gesellschaft zur mobilen Gesellschaft. „Eine Kapsel ist die Behausung des homo movens.“ 9 In der Sprache der technischen Utopie und der damaligen Liebe zu Science Fiction spricht er von Befreiung, weil die Kapsel die Menschen von ihren Bindungen zum Boden befreit und damit der Übergang zur beweglichen Architektur an-

Die Stadt als Archipel der Kapseln

reizung oder auch im Falle von Krankheit es zu einer Situation kommen kann, die zu neuen Erfi ndungen und Erweiterungen führt. Dies ist eine Voraussetzung für die

409


Projekt Stadt

ISBN 978-3-0356-0835-9

www.birkhauser.com www.birkhauser.com www.birkhauser.com

Manfred Russo

Manfred Manfred Russo Russo

Projekt Stadt

Was macht Städte so attraktiv? Und warum sind Fragen der Urbanität heute so spannend? Das Leben in der Stadt dreht sich wohl immer um den Vorwww.birkhauser.com schein neuer Möglichkeiten, eine Antizipation des Erhofften und damit eine momenthafte Vorwegnahme künftigen Glücks. Diese Erwartung charakterisiert auch den Urbanitätsdiskurs seit der Antike: sie liegt den jeweiligen Motivstrukturen und philosophischen Haltungen der Planer und Denker zugrunde, die immer wieder neu formatiert und damit unablässig erweitert werden. Die bürgerliche Emanzipation seit der französischen Revolution rückt die Stadt von den alten Formen des urbanen Immunsystems in eine Phase der räumlichen Ausdehnung, Eine Geschichte der Urbanität des Stadtumbaus und des Bevölkerungswachstums: Die alte Idee der urbanen Gemeinschaft weicht der neuen Vorstellung vom Schnittpunkt globaler Ströme. Mit der Idee der postmodernen Stadt begibt sich eine formierte Gesellschaft schließlich auf die Suche nach der Heterotopie, nach jenem Ort, an dem jeder sein Anderes zu entdecken glaubt. Auch dieses Projekt wird die Vorstellungen vom öffentlichen Raum nachhaltig verändern.

Projekt Stadt Eine Geschichte der Urbanität

Manfred Russo


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.