Kinder der Moderne. Vom Aufwachsen in berühmten Gebäuden

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Wie war die Erfahrung, in einem Bau der Moderne aufzuwachsen? Wie hat diese radikal andere Umgebung die Kinder und späteren Erwachsenen geprägt? Die Autoren haben „Oral History“-Interviews mit ehemaligen Bewohnern geführt und dabei heitere wie auch ergreifende Erinnerungen aufgezeichnet. Diese reichen von der Ambivalenz des Philosophen Ernst Tugendhat, der in dem berühmten Mies-van-der-Rohe-Haus in Brünn (1930) lebte, bis zu den liebevollen Erinnerungen der Tochter der Familie Schminke an die von einen privaten und neuen Blick auf diese Ikonen der Moderne. Die zeitgenössischen, atmosphärisch dichten Fotografien erlauben eine frische Perspektive auf die bekannten Bauten, darunter auch Le Corbusiers Unité d’Habitation in Marseille (1953) und J. J. P. Ouds Reihenhäuser in der Siedlung Weissenhof (1927). Diese Bilder fangen die Stimmung der Architektur ein und wirken wie ein Nachhall der Kindheitserinnerungen.

Kinder der Moderne

Scharoun entworfene schiffsähnliche Villa in Löbau (1933). Das Buch bietet

Julia Jamrozik Coryn Kempster

Kinder der Moderne Vom Aufwachsen in berühmten Gebäuden


Julia Jamrozik Coryn Kempster

Kinder der Moderne Vom Aufwachsen in berühmten Gebäuden

BIRKHÄUSER BASEL


Inhalt

Archi­tektur und die eigene Geschichte

6

Einführung

Reihenhaus Weissenhofsiedlung

18

J. J. P. Oud­– Stuttgart, 1927 Gespräch mit Rolf Fassbaender

Villa Tugendhat

82

Ludwig Mies van der Rohe­– Brno (Brünn), 1930 Gespräch mit Ernst Tugendhat

Haus Schminke

150

Hans Scharoun – Löbau, 1933 Gespräch mit Helga Zumpfe

Unité d’Habitation

232

Le Corbusier – Marseille, 1953 Gespräch mit Gisèle Moreau

Kindheiten in Häusern der Moderne Fazit Danksagung Die Autoren Bildnachweis Index

306



Villa Tugendhat Ludwig Mies van der Rohe Brno (Brünn) 1930

Die 1930 fertiggestellte Villa Tugendhat war eines der herausragendsten Gebäude des Internationalen Stils 1 und „in der neuen Architektur eines der kompromisslosesten Manifeste“ des frühen zwanzigsten Jahrhunderts.2 Den Bauauftrag erhielt Ludwig Mies van der Rohe im Jahr 1928 von Grete Tugendhat, geb. Löw-Beer, und ihrem Ehemann Fritz. Grundstück sowie Finanzierung für den Bau eines neuen Wohnhauses im Stadtteil Černá Pole in Brno waren das Hochzeitsgeschenk von Gretes Eltern. Wie Alice Rawsthorn anmerkt: „Die Tugendhats … waren äußerst entgegenkommende Kunden. Sie erklärten Mies genauestens, welches ihre Erwartungen bezüglich des Hauses waren, und gaben ihm dann einen Freibrief und ein offenbar unbegrenztes Budget für die Baukosten.“3 Das Haus ist ein Gesamtkunstwerk, in dem alles bis ins Detail vom Architekten und seinem Team von Designern und Handwerkern geplant wurde. Zu ihnen gehörten auch die Innenausstatterin Lilly Reich sowie die Landschaftsarchitektin Grete Roder-Müller.4 Von dem mit Bedacht gewählten Standort auf dem Hügel mit Blick auf das mittelalterliche Brno, über die räumlichen Innenkonfigurationen (in den Boden versenkbare Wohnzimmerfenster, Anordnung von maßgefertigtem Mobiliar) bis hin zur Farbauswahl bei Stoffen und gar den gestalterischen Details der Türklinken, folgt der Bau einem Gesamtkonzept luxuriösen Lebens der Moderne.5 Im oberen, auf Straßenniveau liegenden Bereich des Hauses sind eine große Eingangsdiele und mehrere kleine Schlafräume untergebracht, während ein eindrucksvoller, offener Wohnbereich die darunter, zum Garten hin gelegene Ebene einnimmt. Außerdem gibt es in der Villa einen größeren Haushalts- und Personalbereich sowie eine Garage und eine Chauffeurwohnung. So, Wolf Tegethoff, „setzen sich durch die generelle Anordnung des Hauses weiterhin gesellschaftliche Oberschichtskonventionen und -vorstellungen des 19. Jahrhunderts fort.“6


Gespräch mit Ernst Tugendhat

Ernst Tugendhat, Philosoph und emeritierter Professor für Philosophie, ist der einzig Überlebende aus der Familie Tugendhat, der noch in dem berühmten Haus in Brno gewohnt hat.12 Er wurde im März 1930 geboren, und im Dezember desselben Jahres bezog die Familie das Haus. Als sie es verließ, auf der Flucht vor der bevorstehenden Besetzung der Tschechoslowakei durch die Nazis, war Ernst erst acht Jahre alt. Er fühlte sich dem Bauwerk nicht sonderlich verbunden: „Ich bin dem Haus relativ neutral gegenüber eingestellt. Es bedeutet mir nicht so viel.“13 Während der Zeit, in der die Familie das Haus bewohnte, hatten Grete und Fritz Tugendhat bereits drei Kinder: Hanna – Gretes Tochter aus einer früheren Ehe – Ernst und Herbert, der jüngste. Zu dem zahlreichen Personal gehörten ein Kindermädchen, ein Chauffeur (dessen Frau und Hund ebenfalls im Haus lebten) sowie eine Köchin und zwei Dienstmädchen.


VILLA TUGENDHAT  89

Herrn Tugendhats Kindheitserinnerungen waren eher lückenhaft; lediglich ein paar wenige Eindrücke hatte er noch eindeutig vor Augen. „Ich bin doch recht alt. Immerhin 85! … Ich habe eine ganze Menge aus meinem Leben vergessen“, sagte er, als wir uns begegneten. Zwar ist ihm durchaus bewusst gewesen, dass die zahlreichen von seinem Vater im Haus gemachten Fotos seine Kindheit dort dokumentierten, jedoch lösten sie keine Erinnerungen bei ihm aus (Abb. 7).14 „Genau genommen“, erklärte er, „begann mein bewusstes Leben erst in den drei Jahren in der Schweiz“, der ersten Station der Familie nach ihrer Flucht aus Brno. Während unseres Gesprächs wurde ihm auch deutlich, wie sich seine eigenen Erinnerungen im Laufe der Zeit verändert hatten: „Ich habe das Haus in den letzten Jahren einige Male gesehen“, sagte er. „Meine Erinnerungen an das Haus setzen sich aus dem zusammen, was ich bei späteren Besuchen gesehen habe, aber stammen nicht aus meiner Kindheit.“ Auf die Bitte, die Villa Tugendhat zu beschreiben, antwortete er lächelnd: „Sie war beeindruckend.“ Deutlich im Gedächtnis geblieben waren ihm die Onyxmarmorwand des Wohnzimmers und die versenkbaren Fenster (Abb.  8 – 10, 53), ebenso wie die Aufteilung der „Schlaftrakte“ in der oberen, auf Straßenniveau gelegenen Etage. „Wir hatten voneinander getrennte Zimmer. Die Kinder waren in einem Gebäudeteil und die Eltern in einem anderen“, entsann er sich, obwohl er nicht mehr wusste, wie diese beiden Bereiche miteinander verbunden waren. Das ist deshalb bemerkenswert, weil Ernsts Zimmer durch zusätzliche Türen und eine kleine Zwischendiele über eine direkte Abkürzung zum Schlafzimmer seiner Mutter verfügte: eine Besonderheit, die Grete Tugendhat nach einer ersten Einsicht in die Mies’schen Entwürfe speziell erbeten hatte (Abb.  37, 38).15 Die Jungen teilten sich ein Zimmer (Abb.  34 – 37), während ihre Schwester Hanna ihr eigenes hatte (Abb.  41, 42). In diesen Räumen nahmen die Kinder mit dem Kindermädchen Irene Kalkofen auch das Abendessen ein.16 Ihr Zimmer war in unmittelbarer Nähe zu denen der Kinder.17 Zu Mittag aßen die Kinder im Hauptspeisebereich unten „am runden Tisch“ (Abb.  54, 55). „Bevor Sie eintrafen, hatte ich gerade darüber nachgedacht: Ich weiß eigentlich nicht, wie häufig wir in dem großen Raum unten waren, aber wohl doch ziemlich oft. Abends allerdings waren wir immer oben“, erinnerte er sich. Ob er bestimmte Räume des Hauses mit besonderen Empfindungen wie Wohlgefühl oder Geborgenheit verband, konnte Herr Tugendhat nicht sagen – auch nicht,

◀  Ernst Tugendhat in seiner Wohnung in Freiburg, 2015 [6]







Haus Schminke Hans Scharoun Löbau 1933

Historiker bezeichneten Haus Schminke als „rückhaltlos modernistisch“ und als „Pionierleistung organischer Architektur“.1 Der Bau absorbiert Hans Scharouns Vorstellungen und Gestaltungsmethoden in Bezug auf häusliches Leben und war das letzte Projekt des Architekten, bevor die Nationalsozialisten seine formale Experimentierfreiheit einschränkten.2 Fritz und Charlotte Schminke lernten die Arbeit des Architekten auf der 1929 in Breslau vom Deutschen Werkbund geförderten Ausstellung Wohnung und Werk­ raum kennen. Dort sahen sie das Ledigenheim für unverheiratete Arbeiter, ein programmatisch und architektonisch innovatives Wohnprojekt, erbaut nach einem Entwurf Scharouns, der zu der Zeit Professor an der Breslauer Akademie für Kunst und Kunstgewerbe war.3 Im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen Walter Gropius und Ludwig Mies van der Rohe, die als Rationalisten eine auf konstruktiver Logik und auf klarer rechtwinkliger Geometrie basierende Gestaltung verfolgten,4 erschließt Scharoun das Haus Schminke als erlebnisorientierte Aneinanderreihung von Räumen, oder, wie J. Christoph Bürkle formuliert hat, es lässt „Raumgefüge durch Funktionsabläufe entstehen“.5 „Trotz der Durchlässigkeit handelt es sich nicht um einen flexiblen Allzweckplan im Mies’schen Sinne, sondern um eine Sequenz fest zugeordneter Zimmer, die visuell und räumlich miteinander verbunden sind“, erklärt Peter Blundell Jones.6 In einer Folge ineinandergreifender Räume (Abb. 4, 5) und auch den Bedürfnissen der Familie angepasst, entwickelte sich das Haus Schminke „von innen nach außen“,7 im Einklang mit dem vorhandenen, leicht abschüssigen Gelände.8 Entsprechend wirkt das Haus, von der Südseite gesehen, fest verankert und bodenständig, von der nach Norden gelegenen Gartenseite eher schwerelos und fast schwebend. (Abb.  1 – 3).9


HAUS SCHMINKE  163

▲  Die Kinder spielen mit Scharoun im großen Teich, ihr Vater Fritz und Scharouns Frau Aenne am Teichrand. Scharoun hält Helga an den Händen. [13]

▼  Scharoun (ganz rechts) wird mit Wasser bespritzt. Helga steht im Teich. [14]


164  Gespräch mit Helga Zumpfe


182  Gespräch mit Helga Zumpfe


HAUS SCHMINKE  183

◀  Lageplan mit Lokalisierung der Erinnerungen von Frau Zumpfe. [41]

Das reetgedeckte Gartenhaus, das bereits auf dem Grundstück stand, wurde später von Scharoun renoviert und zu einem Ort zum Spielen für die Kinder Weiße Bank zwischen den beiden Teichen, auf der Aenne Scharoun, die Frau von Hans Scharoun, den Kindern Geschichten erzählte (Abb. 18) Großer Teich, in dem die Kinder im Sommer spielten und schwammen und auf dem sie im Winter Schlittschuh liefen (Abb. 12 – 17, 65 – 68)

Bereich zwischen dem Haus und dem großen Teich; eine der wenigen Regeln, die die Kinder beim Spielen im Freien zu befolgen hatten, war es, den Bereich im Winter frei von Schuhabdrücken zu lassen

Die gepflasterte Terrasse, die die Kinder für Spiele nutzten (Abb. 23, 47, 48)

Großer Kastanienbaum, den Frau Zumpfe als Baldachin für den Spielbereich neben dem Tor zur Teigwarenfabrik ihres Vaters in Erinnerung hatte Schaukel, Turngeräte und Sandkasten (Abb. 22, 45) Von Scharoun entworfene, wellenförmige Bahn auf einem Sockel aus hellbraunem Backstein; die Kinder saßen in kleinen Waggons mit Rädern und rollten die MiniaturAchterbahn hinunter (Abb.  21, 46)




192  Gespräch mit Helga Zumpfe

▲ Die gepflasterte Terrasse außerhalb des Wintergartens, auf der die Kinder spielten. [47] ▶ Ein großes Bullaugenfenster im Kinderspielzimmer mit Blick auf die Terrasse. [48] ▶ ▶ Jedes Kind hatte ein eigenes Fach im Spielzimmer. Helgas war gelb, und da sie die jüngste war, auch das unterste. [49]


HAUS SCHMINKE  193





Unité d’Habitation Le Corbusier Marseille 1953

Die Unité d’Habitation war Le Corbusiers Antwort auf den enormen Wohnraum­ bedarf in Frankreich nach den Zerstörungen durch den Zweiten Weltkrieg.1 Le Corbusiers Konzept der hohen Wohndichte wurde zum ersten Mal mit der Unité in Marseille in die Praxis umgesetzt, und die Wohnanlage war ein Versuchsprojekt für neue Bautechniken und Materialanwendungen.2 Noch entscheidender war, dass in der Unité die Studien des Architekten zur Anwendung kamen sowie seine Vor­ stellungen hinsichtlich individuellen und kollektiven Wohnens realisiert wurden. „Es war mehr als nur Wohnen, mehr als nur Architektur: Es eröffnete einen neuen Lebensstil“, so Robert Furneaux Jordan.3 Und wie Jacques Sbriglio geltend macht, habe Le Corbusier „den Rahmen für eine sich verändernde Gesellschaft geschaffen.“4 Der erste Minister für Wiederaufbau und Stadtentwicklung des Landes, Raoul Dautry, erteilte Le Corbusier 1945 den Auftrag für die Unité. Später schrieb der Architekt, dass er unter der Bedingung, „frei von allen geltenden Bauvorschriften zu sein“,5 zugesagt habe. Im Verlauf des Projekts stellten der Architekt und sein Team Konventionen infrage und definierten Richtlinien und Vorstellungen für zeitgemäßes Wohnen neu, angefangen von Maßstäben im Städtebau (vorzugsweise Verdichtung in parkähnlichem Umfeld) über diejenigen einzelner Räume (Integration von Küchen in Wohnräume) bis hin zu kleinsten Armaturen (z. B. ergonomische Holztürgriffe).6 Auf seiner Modulor-Maßlehre fußend, leiten sich diese Planungen aus Le Corbusiers Konzeption von universeller Ästhetik durch Proportion ab, wobei sie ebenso die Bedürfnisse verschiedener Altersgruppen reflektieren, die in den Wohnungen zu Hause sein würden. (Abb.  4).7 Le Corbusier beschrieb das Verhältnis der einzelnen Unité-Wohnungen zum Gesamt­gefüge des Bauwerks mit dem Bild von Flaschen in einem Weinregal. Das Gebäude, das in den ersten drei Jahren nach Eröffnung ein Sozialwohnungsbau



272

Gespräch mit Gisèle Moreau






Wie war die Erfahrung, in einem Bau der Moderne aufzuwachsen? Wie hat diese radikal andere Umgebung die Kinder und späteren Erwachsenen geprägt? Die Autoren haben „Oral History“-Interviews mit ehemaligen Bewohnern geführt und dabei heitere wie auch ergreifende Erinnerungen aufgezeichnet. Diese reichen von der Ambivalenz des Philosophen Ernst Tugendhat, der in dem berühmten Mies-van-der-Rohe-Haus in Brünn (1930) lebte, bis zu den liebevollen Erinnerungen der Tochter der Familie Schminke an die von einen privaten und neuen Blick auf diese Ikonen der Moderne. Die zeitgenössischen, atmosphärisch dichten Fotografien erlauben eine frische Perspektive auf die bekannten Bauten, darunter auch Le Corbusiers Unité d’Habitation in Marseille (1953) und J. J. P. Ouds Reihenhäuser in der Siedlung Weissenhof (1927). Diese Bilder fangen die Stimmung der Architektur ein und wirken wie ein Nachhall der Kindheitserinnerungen.

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Scharoun entworfene schiffsähnliche Villa in Löbau (1933). Das Buch bietet

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