Distanz durch Nähe

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Nähe

Distanz durch

Board Design,ResearchInternationalofinBIRD MarcRalfWolfgangSandraMichelleUtaTomMembers:BielingBrandesChristensenGrollJonasMichelPfaff Advisory Board: Alireza Ajdari Lena MichaelDenisaOritDoaaElenaBerglinCarattiElAidiHalpernKeraWolf

Judith Dörrenbächer durchDistanzNähe BaselBirkhäuser Animistische Praktiken für kritisches Design

004 INHALT INHALT Vorwort BIRD 009 Einleitung 011 1 Widerständige Objekte für kritische Subjekte und kritisches Design 023 1.1 Eine Annäherung an die Begriffe Objekt, Subjekt und Kritik 026 1.1.1 Das widerständige Objekt 026 1.1.2 Das bedingte Subjekt 029 1.1.3 Das kritische Subjekt 033 1.1.4 Die Auflösung von Grenzen zwischen Subjekt und Objekt als Bedrohung 034 1.2 Grenzräume zwischen Subjekt und Objekt als Gestaltungsaufgabe 037 1.2.1 Widerständigkeit minimieren – über die „Tücke der Dinge“ und Usability 037 1.2.2 Widerständigkeit gestalten – von Anti-Design bis Critical Design 038 1.2.3 Critical Design in der HCI- und Designforschung 043 1.3 Distanzierendes Kritisches Design 048 2 Wandel der Objektwelt und der Neue Materialismus als nicht-anthropozentrische Neuorientierung für Design 057 2.1 Undinge, Halb-Dinge, Nicht-Dinge. Dingphänomene des 21. Jahrhunderts 059 2.1.1 Miniaturisierte und unauffällige Dinge 059 2.1.2 Natürlich steuerbare Dinge 061

INHALT 005 2.1.3 Anthropomorphe und intelligente Dinge 067 2.1.4 Vernetzte und adressierbare Dinge 073 2.1.5 Verlust von Widerständigkeit 078 2.2 Subjektivität unter technologischer Bedingung aus medienwissenschaftlicher Perspektive 082 2.2.1 Das bedrohte autonome Subjekt 082 2.2.2 Kollektive Subjektivität 084 2.2.3 Zwei Forschungsperspektiven auf das Subjekt 087 2.3 Der Neue Materialismus als nichtanthropozentrische Neuorientierung 088 2.3.1 Mischwesen und der Begriff der Kritik in der Akteur-Netzwerk-Theorie 088 2.3.2 Intra-aktion und der Begriff der Verantwortung im Agentiellen Realismus 096 2.3.3 Kritik und Verantwortung durch Entfalten, Hinzufügen, Verbrüdern, Sortieren und Intra-agieren 098 2.4 Nicht-anthropozentrisches Denken als Chance und Problem für das Design 100 2.4.1 Die Akteur-Netzwerk-Theorie im Design 100 2.4.2 Der Agentielle Realismus im Design 105 2.4.3 Das Potenzial nicht-anthropozentrischen Denkens 107 2.4.4 Die Herausforderung nicht-anthropozentrischen Denkens 110 2.4.5 Wertfreies Beobachten, kategorieloses Ordnen, aufmerksames Nachspüren und vorsichtiges Involvieren im Design 113 2.5 Kritisches Design auf Grundlage des Neuen Materialismus 116 3 Über den Animismus 133 3.1 Alter Animismus 136 3.1.1 Animismus als Irrglaube und das Magische Denken 136

006 INHALT 3.1.2 Magisches Denken als Teil des Animismus bei Freud 138 3.1.3 Magisches Denken als Vorstufe des Animismus bei Piaget 140 3.1.4 Exkurs – Dichotomien der Moderne 142 3.1.5 Abgrenzung vom und Glorifizierung des Animismus 143 3.1.6 Magie, Anthropozentrismus, Anthropomorphismus und Fetischismus 145 3.2 Neuer Animismus 148 3.2.1 Den Animismus „ernst nehmen“ 148 3.2.2 Relationale Epistemologie 150 3.2.3 Perspektivischer Multinaturalismus 152 3.2.4 Animismus als Grenzziehungspraxis 155 3.2.5 Dividuieren 161 3.2.6 Subjektivieren 163 3.2.7 Imitieren 164 3.2.8 Humorisieren 167 3.2.9 Die animistischen Praktiken im Vergleich 168 3.3 Techno-Animismus 172 3.3.1 Techno-Animismus als Verbundenheitsgefühl 172 3.3.2 Techno-Animismus als japanisches Phänomen 175 3.3.3 Techno-Animismus als Verschleierung und Täuschung 176 3.3.4 Exkurs: Animismus in Kompensationsräumen der Kunst 179 3.3.5 Techno-Animismus als Projektion der Nutzer*innen 182 3.3.6 Techno-Animismus als Geisteshaltung für Designer*innen 184 3.3.7 Techno-Animismus als fetischistischetechno-anthropozentrischetechno-magische,undtechno-Phänomene 187 3.4 Distanz durch Nähe: Das Paradoxe animistischer Praktiken 192 4 Animistische Praktiken im Design 211 4.1 Dividuieren im Design – Sich in Relation setzen 213

INHALT 007 4.1.1 Object Dating 213 4.1.2 Acting Things II – Dialogue 215 4.1.3 Embodied Interviews 217 4.1.4 Dividuieren – Die drei Projekte im Vergleich 220 4.2 Subjektivieren im Design – Anderen Subjektstatus zusprechen 222 4.2.1 Object Personas 222 4.2.2 Object Character 227 4.2.3 Co-Performers 228 4.2.4 Subjektivieren – Die drei Projekte im Vergleich 231 4.3 Imitieren im Design – Sich körperlich in Andere verwandeln 234 4.3.1 Mars Exploration Rover Mission 234 4.3.2 Robot Empathy 237 4.3.3 Being the Machine 239 4.3.4 Theater of Negotiations 242 4.3.5 Imitieren – Die vier Projekte im Vergleich 245 4.4 Humorisieren im Design – Etwas „nicht ernst“ und „nicht nicht-ernst“ nehmen 248 4.5 Das Potenzial animistischer Praktiken im Design 252 4.6 Oszillierendes Kritisches Design 259 5 Distanz durch Nähe. Eine Zusammenfassung der Arbeit 269 Danksagung 279 Literaturverzeichnis 280 URL-Verzeichnis 290 Abbildungsverzeichnis 292 Abkürzungsverzeichnis 293

Distanz durch Nähe zieht dessen Stärke aus einer intensiven Reflexion der Theo rien über den Animismus und einer durchaus kritischen Betrachtung nebst Weiterent wicklung des kritischen Designs. Designforschung bietet sich hier als Werkzeug an, das die Verwobenheit des Menschen mit seiner Umwelt untersuchbar und die fortwährende Konfrontation mit vermeintlich Unbelebtem im besten Wortsinn begreifbar machen kann.

geht in der vorliegenden Arbeit Fragestellungen des (Alten, Neuen und Techno-)Animismus auf den Grund, um sie für die Wissens- und Handlungs felder des Designs zu erschließen. In der Theorie und Praxis des Designs blieben diese bisher weitgehend unberücksichtigt. Dem hält Dörrenbächer Argumentationspotenziale auf gleich mehreren Ebenen entgegen. Mithilfe ihrer im Neuen Animismus identifizierten Praktiken offenbaren sich Wege, um nicht nur das Innenleben der Dinge oder Wechsel wirkungen zwischen Entitäten, sondern um überhaupt erst die Unterschiede zwischen Mensch und Ding und somit letztlich uns selbst besser zu verstehen.

VORWORT BIRD 009 VORWORT BIRD

Die Lebendigkeit der Artefakte muss hierbei nicht im organischen Sinne verstan den werden, sondern drückt sich in ihrer Wirksamkeit aus; der grundsätzlichen Fähigkeit, Wirkungen zu erzeugen, Handlungen zu beeinflussen, den Lauf der Dinge zu verändern.

Tom BoardBieling,ofInternational Research in Design (BIRD), Juni 2022

Dass Dinge aktiv in unsere Handlungsprozesse eingreifen und vieles von dem, was wir glauben zu sein, mit der Welt des Gegenständlichen verknüpft ist, gilt bereits seit Län gerem als Dreh- und Angelpunkt kleinerer und größerer Überlegungen dies- und jenseits der Designforschung. Diskursfelder hierfür sind unter anderem der New Materialism, die Akteur-Netzwerk-Theorie, die Objektorientierte Ontologie oder der Agentielle Realismus.

Immerfort werden wir von einer Wirkmacht der Dinge beeinflusst und sind folglich gar nicht so autonom und souverän, wie wir es gern hätten. Eine Unterscheidung zwischen Artefaktischem und Sozialem scheint fortwährend schwierig, da beides sich stets auch gegenseitigJudithbedingt.Dörrenbächer

Traditionelle Beschreibungsversuche von Materie als inaktiv und träge werden dabei grundsätzlich infrage gestellt. Materielle Substanz stellt sich als nicht leblos, sondern mit allem lebendig verbunden dar. Dinge als statisch und passiv, Menschen hingegen als die aktiven Subjekte einzuordnen, wäre demnach zu kurz gedacht und würde die Vitalität der Materie negieren. Dinge tun etwas mit uns, zumal dann, wenn wir etwas mit ihnen tun.

EINLEITUNG 011

Bruno Latour begründet die posthumanistische Neuausrichtung damit, dass an thropozentrisches Denken sich selbst ad absurdum führe.3 Anthropozentrisches Denken und Handeln setze auch als Fortschritt verstandene Prozesse in Gang, die

Das Verständnis darüber, was ein Objekt ist, aber auch, wer der Mensch im Verhält nis zu den Objekten ist, wandelt sich durch technische Innovationen kontinuier lich. Seit dem späten 20. Jahrhundert sind es Phänomene wie die Vernetzung – wenn technische Artefakte1 selbstständig, etwa über das Internet, miteinander kommu nizieren – oder die Vermenschlichung – wenn Artefakte beispielsweise die mensch liche Sprache „sprechen“ –, die das bestehende Subjekt-Objekt-Konzept irritieren, da sie die Grenzen zwischen Objekten untereinander und insbesondere zwischen Mensch und Objekt verwischen. In der vorliegenden Arbeit werden vor dem Hinter grund dieser Grenzverwischung Möglichkeiten einer kritischen Haltung und Praxis für das Design gesucht. Kritisches Design verstanden als Designforschung und -pra xis, die Reflexion zulassen und Grenzen und Unterschiede verständlich machen,2 sieht sich mit der Herausforderung konfrontiert, das sich wandelnde Mensch-Tech nik-Verhältnis zu verstehen und mitzugestalten. Hierfür müssen die Beziehungen vernetzter Objekte – vom intelligenten Turnschuh bis zum kommunizierenden Auto – greifbar gemacht und außerdem Unterschiede zwischen Menschen und an thropomorphen Objekten – vom lernenden Assistenzsystem bis zum Pflegeroboter –ausgehandelt werden. Auf der Suche nach einer entsprechenden kritischen Haltung für das Design werden Theorien analysiert, in denen weder der Mensch als zentral für Handlungen begriffen wird, noch Subjekt und Objekt im modernen Sinne ka tegorial unterschieden werden. Diese Arbeit befasst sich mit Theorien, die Objekte als Subjekte oder als handlungsfähig begreifen, die also aus nicht-anthropozentri scher Sicht argumentieren. Der Fokus liegt explizit auf Theorien des „Neuen Ani mismus“. Von diesen werden sowohl kritische Praktiken abgeleitet als auch eine neue kritische Haltung für das Design definiert. Hintergrund: nicht-anthropozentrisches Denken, Ökotechnologie und Techno-Animismus

EINLEITUNG

Der Arbeit liegt die Beobachtung zugrunde, dass sich etwa seit der Jahrtausend wende interdisziplinär ein starkes Interesse an nicht-anthropozentrischem Denken entwickelt, in den Designwissenschaften etwas verzögert seit circa 2010. Geprägt wird der interdisziplinäre Diskurs durch Theorien, die den Humanismus zu über winden versuchen und, etwa im Zusammenhang mit dem „Neuen Materialismus“, das menschliche Subjekt nicht mehr alleine ins Zentrum aller Handlungen rücken.

Anders gesagt: Indem sich Menschen abgelöst von ihrer Umwelt als Herr schende oder autonom Gestaltende derselben verstehen, stoßen sie eine Entwick lung an, durch die diese Position in ihr Gegenteil verkehrt wird. Dass die Beherrsch barkeit der nicht-menschlichen Welt gerade infolge des Beherrschungsversuchs an Grenzen stößt, lässt sich beispielsweise anhand der ökologischen Krise verstehen.

012 EINLEITUNG

Aber auch technische Innovationen, die ebenfalls aus dem Fortschrittsstre ben resultieren, irritieren das hierarchische, menschzentrierte Denken, das sie eigentlich hervorbrachte. Denn Technik weist zunehmend eine Komplexität auf, die rational für den einzelnen Menschen kaum noch beherrschbar oder greifbar ist. So werden Dinge, die miteinander vernetzt sind, nicht mehr (nur) vom Menschen gesteuert. Sie kommunizieren im „Internet der Dinge“ oder „Internet of Things“ (IoT) untereinander in einer für Nutzer*innen unsichtbaren oder unverständlichen Weise. Andere Technik konkurriert mit dem Menschen, da sie sein Verhalten, seine Kompetenzen oder sein Erscheinungsbild simuliert, beispielsweise Assistenzsys teme wie der sprachgesteuerte Assistent Alexa von Amazon oder Serviceroboter wie Pepper der SoftBank Mobile Corp. In diesem Zusammenhang verändert sich der Gegenstand von Design und Designforschung seit Beginn der Digitalisierung Mitte des 20. Jahrhunderts. Zum einen gestalten Designer*innen aufgrund der Vernetzung immer seltener in sich ge schlossene Gegenstände. Statt Dingen an sich werden Beziehungen zwischen Din gen gestaltet. Gestaltetes ist damit oftmals nicht mehr sicht- oder greifbar. So zeich nen sich zum Beispiel vormals handfeste Möbelstücke bereits durch ein Innenleben aus – Tische werden zu kommunizierenden und vernetzten Smart Tables und wan deln so die Welt des Produktdesigns.4 Zum anderen werden Artefakte gestaltet, die sich nicht mehr wie passive Werkzeuge benutzen lassen, sondern mit denen man kooperieren, diskutieren oder reflektieren kann, wie beispielsweise mit dem per sönlichen Chatbot Replika, zu dem sogar eine emotionale Bindung entstehen soll.5 Hier wird Technik beinahe ebenbürtig erlebt und in der Interaktion gar zum so zialen Gegenüber. Hierarchien und Kategorien, die für anthropozentrisches Den ken selbstverständlich sind – passive beherrschbare Objekte, aktive und autonome Subjekte – werden durch derartige technische Innovationen infrage gestellt. Unter schiede zwischen Subjekt und Objekt verschwimmen, wenn Artefakte die mensch liche Sprache sprechen, Arbeitsprozesse koordinieren oder Alltagstermine planen.

wiederum Phänomene hervorbrächten, durch die dieses Denken selbst fragwürdig werde.

Immer mehr Design-, Kunst- und Medienwissenschaftler*innen sprechen von einer technologischen Umwelt, in der ähnlich wie in einem Ökosystem alles mit al lem verbunden sei.6 Der Medienwissenschaftler Erich Hörl etwa führt den Begriff „ökotechnologisch“ in den medienwissenschaftlichen Diskurs ein und postuliert eine „Allgemein Ökologie“.7 Andere sehen den Menschen bereits auf dem Weg zu rück in vormoderne Verhältnisse, in denen alles Subjekt sei und ein sogenannter „Techno-Animismus“8 wirke, oder stellen mit Latour fest, der Mensch sei „nie mo dern gewesen“9.

In der vorliegenden Arbeit wird die designwissenschaftliche Auseinandersetzung mit nicht-anthropozentrischem Denken aufgegriffen und weiterentwickelt. Bis lang sind derartige Theorien im Design meist entweder dafür kritisiert worden, die Freiheits- und Emanzipationsfähigkeit des Menschen zu negieren,14 oder positiv für ihr Potenzial hervorgehoben worden, die soziale Macht von gestalteten Dingen sichtbar zu machen.15 Der Fokus dieser Arbeit liegt hingegen auf der Frage, ob und, wenn ja, wie genau Kritik, Reflexion und Selbstbewusstsein aus nicht-anthropo zentrischer Perspektive funktionieren können: Ist eine nicht-anthropozentrische und dennoch bewusste und reflexive Haltung möglich? Es stellt sich weiterhin die Frage, auf welche Weise in der Designforschung Wissen und Erkenntnis – insbe sondere über eine durch Digitalisierung veränderte Gegenständlichkeit – erlangt werden können, wenn nicht Rationalität, Distanz zum Gegenstand und Autonomie des Subjekts Grundlagen der Forschung sind. Wie lassen sich Differenzen zwischen

EINLEITUNG 013

Diese Frage ist auch relevant für das Design, insbesondere für ein kritisches Design (z. B. Critical Design), das Reflexion zu provozieren sucht. Sie betrifft außer dem die Designforschung, deren Methoden oft – insbesondere wenn übernommen von den Kunst- und Kulturwissenschaften – auf kritischer Distanz zum Gegenstand beruhen. Diese Methoden scheinen für Artefakte wie vernetzte oder vermensch lichte Technik zum Erkenntnisgewinn oftmals allein nicht mehr tauglich.13 Gestal tetes, das sich nicht physisch greifen lässt und erst in der Interaktion mit dem Men schen seine Eigenschaften offenbart, lässt sich nicht sinnvoll von außen auf Distanz analysieren und bewerten.

Mit dem Wandel der Objekte geht eine Veränderung des Subjektkonzepts einher. Aus medienanthropologischer und technikphilosophischer Perspektive stellt sich die Frage, wer der Mensch in Relation zu den technischen Objekten ist, die zuneh mend subjektähnliche Eigenschaften aufweisen oder sich durch ihre Umweltlich keit schwer fassen lassen. Die Vermengung von Kategorien bzw. das Verschwimmen von Grenzen zwischen Subjekt und Objekt wird auch design- und medienwissen schaftlich problematisiert. Ein Zustand, in dem Grenzen nicht greifbar sind, so heißt es, erschwere ein Sich-ins-Verhältnis-Setzen und damit Reflexion und Selbst vergewisserung.10 Aus medienwissenschaftlicher Perspektive wird bereits der Frage nachgegangen, ob bewusste und kritische Subjektivität, so wie sie seit der Aufklä rung verstanden wurde, unter „technologischer Bedingung“11 weiterhin haltbar ist oder welche Alternativen sich denken und praktizieren lassen.12

Herausforderung: kritisches Subjekt und kritisches Design unter technologischer und nicht-anthropozentrischer Bedingung

Forschungsfragen

Nach einer Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie und in den Agentiellen Re alismus mit Fokus auf „Kritik“ und „Verantwortung“ wird im folgenden Teil der Arbeit untersucht, wie die beiden Theorien im Design bereits verhandelt werden und welches Potenzial sie dem Design darüber hinaus bieten könnten. Wie wird die Argumentation von Barad und Latour in den Designwissenschaften gewer tet? Findet das von ihnen eingeführte Verständnis der Begriffe Kritik und Verant wortung im Design bereits Beachtung? Im Anschluss wird außerdem der Diskurs anderer Disziplinen über die ANT und den AR skizziert. Mithilfe soziologischer, politikwissenschaftlicher und technikphilosophischer Positionen wird erörtert, inwiefern ANT und AR explizit vor dem Hintergrund der technischen Entwicklung produktiv gemacht werden können und außerdem, welche Probleme durch das Verständnis von Kritik und Verantwortung entstehen. Informiert durch die inter disziplinäre kritische Rezeption, wird auch für das Design deutlich, wo Chancen und Probleme im Umgang mit dem nicht-anthropozentrischen Zugang von ANT und AR liegen. 2.4.1

Der Begriff Design habe das Wort Revolution ersetzt, denn Design schöpfe nie aus dem Nichts. Designen bedeutet bei Latour immer Redesignen. Damit wird Design zu einer Geste, die sich passgenau in seine Theorie der Amoderne fügt: „Je mehr wir uns selbst als Designer verstehen, desto weniger verstehen wir uns als Modernisie rer.“234 Statt um Emanzipation, Befreiung und Entfesselung gehe es im Design um Bindung, Vorsicht und Behutsamkeit.

Seit den 1990er Jahren findet die ANT nicht mehr nur in der Wissenschafts- und Technikforschung ihren Niederschlag, sondern ist auch in den Sozial- und Kultur wissenschaften populär. Diese Popularität ist unter anderem auf das provokante, gar polemische Auftreten und Argumentieren von Latour zurückzuführen.231

DENKEN ALS CHANCE UND PROBLEM FÜR DAS DESIGN

Die Akteur-Netzwerk-Theorie im Design

100 WANDEL DER OBJEKTWELT UND DER NEUE MATERIALISMUS 2.4 NICHT-ANTHROPOZENTRISCHES

Die ANT tritt mal als soziologische Theorie, mal als Neuerung tradierter philosophi scher Begriffe, mal als politische Schrift in Erscheinung und lässt sich als transdis ziplinäres Unterfangen verstehen.

Etwa seit der Jahrtausendwende findet sie auch in den Medienwissenschaf ten232 und in den Designwissenschaften Aufmerksamkeit. Spätestens mit dem 2009 erschienenen Aufsatz Ein vorsichtiger Prometheus,233 in dem Latour sich explizit an Designer*innen wendet, setzte ein immenses Interesse des Designs ein. In besag tem Text propagiert Latour Design als Tätigkeit, die behutsam transitorisch wirkt.

Das Latour’sche Thema der Agency oder Handlungsmacht der Dinge ist aus designwissenschaftlicher Perspektive ebenfalls relevant, wenngleich nicht ganz neu. Für Designer*innen ist selbstverständlich, dass nicht nur Nutzer*innen mit Dingen agieren, sondern die Dinge auch umgekehrt etwas mit ihren Nutzer*innen tun. Das Wissen, dass gestaltete Dinge sozial, politisch und ethisch wirken, hat viele

Der Designwissenschaftler Georg Kneer beispielsweise kritisiert, die ANT sei ge prägt von „[v]oreiligen Generalisierungen, diffus bleibenden Annahmen und einer vagen Begrifflichkeit“238. Laut Hubert Matt werden hingegen gerade durch die Be griffsveränderungen Diskurse und Problemstellungen produktiv verschoben – was sich auch das Design zunutze machen könne. „Im Design würde es [mit Bezug auf die ANT , Anm. d. Verf.] darum gehen, alle Begriffe in einen Zustand der Frage zu bringen und teilweise neue Begrifflichkeiten einzuführen.“239 Matt argumentiert dafür, mithilfe der ANT den Designdiskurs in Unruhe zu versetzen.

NICHT-ANTHROPOZENTRISCHES DENKEN ALS CHANCE UND PROBLEM FÜR DAS DESIGN 101

Besonders prominent wird die ANT in Diskursen zu Co-Design und Par ticipatory Design verhandelt. 240 Diese Verschränkung erscheint insbesondere deshalb konsequent, da Latour das Design als von Grund auf kollaborativ be schreibt: „alle Designs sind ‚kollaborative‘ Designs – selbst wenn in einigen Fäl len die ‚Mitarbeiter‘ überhaupt nicht sichtbar, willkommen oder willens zur Be teiligung sind.“241 Durch die ANT können im Design nicht mehr nur Menschen als „Co-Gestaltende“ gelten, sondern ebenso nicht-menschliche Lebewesen oder gar Lebloses. Folgt man Latours Argumentation, so hat Design schon im mer die Dinge als „Versammlungen“ betrachtet und alle/s mit einbezogen, was sie ausmacht. Design mache aus Objekten Dinge 242, also Matters of Concern, Dinge, die uns etwas angehen. Aus Perspektive des Co-Designs ist die ANT eine Theorie, die darin bestärkt, das moderne Autorendesign zu überwinden und Design demokratisch als einen Prozess für andere zu öffnen – ein gemeinschaftli ches Gestalten unter Berücksichtigung aller Akteure und des Kontexts.

Obwohl die Texte von Latour bei vielen Designer*innen und Designwissen schaftler*innen kaum Klarheit schaffen, sondern nur noch mehr Fragen aufwer fen,235 werden sie viel rezipiert. Zahlreiche designwissenschaftliche Publikation seit 2010 verweisen auf die ANT und es wurden viele Konferenzen organisiert, die sich auf Begrifflichkeiten von Latour beziehen.236 Der Erfolg liege, so kritische Stimmen, nicht in den innovativen oder logischen Argumenten der ANT begründet, sondern sei gerade wegen „all ihrer theoretischen Unklarheiten“ und „schillernden Viel schichtigkeit“ zu verzeichnen, die „akademisches Kopfzerbrechen“ verursachten.237 Latours Schriften gelten bisweilen als unklar, widersprüchlich und inkonsistent.

Die ANT findet auch durch die Aufhebung tradierter Dichotomien, etwa Kultur vs. Natur oder Praxis vs. Theorie, Resonanz in der Designwissenschaft. Designwis senschaftler*innen, die interdisziplinär arbeiten, sich weder eindeutig als Geistes wissenschaftler*innen noch als Naturwissenschaftler*innen begreifen und oftmals Praxis mit Theorie verschränken (Forschung durch Design), fühlen sich anschei nend von der ANT besonders angesprochen.

Designbewegungen angetrieben, etwa den Funktionalismus, die Qualitätsdiskurse zur Guten Form oder die Bestrebungen des Social Designs und des Transformation Designs, um nur einige Beispiele zu nennen. Die Macht der Dinge im Kontext (also in Relation mit anderen Dingen und Menschen) wurde durch die intensive design theoretische ANT -Rezeption erneut und mithilfe neuer Begriffe Gegenstand, so etwa durch Albena Yaneva, die in Making the Social Hold: Towards an Actor-Network Theory of Design veranschaulicht, wie die Skripte der Objekte soziale Bindungen bestim men und welchen Einfluss das Design durch die Gestaltung der Skripte auf diesen Prozess hat.243 Yaneva beschreibt in den Worten Latours anhand von Alltagsszena rien (Lehrbetrieb an der Universität) und entsprechender Technik (Türen, Schließ anlagen), wie Menschen ihre Handlungen teilweise an Dinge delegieren und wie die menschlichen Handlungen von Dingen vermittelt sind. Designentscheidungen, die sich in den Dingen spiegeln, könnten trennen und verbinden, Gemeinschaften bilden und auflösen, Zugänge ermöglichen oder verschließen. Die ANT zeige auf, „wie jedes einzelne technische Merkmal eines Objekts von einer sozialen, psychi schen und ökonomischen Welt kündet“.244 Die ANT verschiebe den Fokus der De signwissenschaften: Nicht die Diskurse, Ideologien und Theorien der Designer*in nen sollten exploriert werden, so Yaneva, sondern die Art und Weise, wie Design als Bindeglied funktioniert. Statt die symbolische Sprache des Designs zu untersuchen, nimmt sie mithilfe der ANT die von ihr so genannte „Grammatik der Handlungen“ in den Blick.245 Dabei gehe es nicht darum, verborgene symbolische Beziehungen und Bedeutungen des Designs zu enthüllen, sondern zu untersuchen, wie Design soziale Beziehungen konstituiere, verändere und variiere. „Gemeinsam mit legalen, technischen, künstlerischen und religiösen Bindungen trägt Design dazu bei, das Soziale zu stabilisieren, es auf Dauer zu setzen.“246 Explizit mit Latours Kritikbegriff beschäftigen sich verhältnismäßig wenige Designwissenschaftler*innen.

Eine prüfende Haltung nimmt Gerhard Schwep penhäuser ein. Er argumentiert, „dass Latours Skizze des Paradigmenwechsels im Bereich von Gestaltung und Design wissenschafts- und sozialgeschichtlich auf tö nernen Füßen steht.“247 In Latours ANT erkennt er einen Rückfall hinter die Errun genschaften der Moderne. Die ANT sei eine „Variante des Obskurantismus, bei dem das Konzept des Subjekts abstrakt negiert wird.“248 Er wirft Latour vor, zu ignorie ren, „dass Menschen durch intersubjektive Verständigung und entsprechende Pra xis zum Kollektiv-Subjekt ihrer selbstbestimmten gesellschaftlichen Beziehungen werden könnten“.249 Laut Schweppenhäuser argumentiert Latour für ein postmo dernes Design250 – was Latour selbst wohl entschieden bestreiten würde – ein Re design ohne utopisches Potenzial. Er stellt fest, „dass eine immanente Sozialkritik an Phänomenen der kulturellen Moderne [also etwa am Funktionalismus im Design, Anm. d. Verf.] weiter führt als die postmoderne Verabschiedung ihres norma tiven Potenzials.“251 Die mögliche Freiheitsfähigkeit des Subjekts zu negieren, sei für das Design keine produktive Haltung. „Denn das hieße, die soziale Geschäfts grundlage von Design zu kündigen und seine immanente Ethik zu ignorieren.“252

102 WANDEL DER OBJEKTWELT UND DER NEUE MATERIALISMUS

Auch Sissel Olander macht Latours Kritikbegriff für das Design frucht bar. Sie erarbeitet den Begriff „Post-Criticality“ aus der Perspektive des Co-De signs und unterscheidet hierfür zwischen „Kritik als Kommentar“ und „Kritik als

Dieses neue kritische Design definieren sie wie folgt: „[A] criticality that is orien ted towards a non-reductive empirical realism tracing the complex messy entan glements of societies with all their strange, weird and wonderful hybrid objects.“256 Sie entwickeln eine Workshop-Serie für Studierende mit dem Titel Mapping Socie ties, bestehend aus vier Workshop-Typen. Jeder Workshop konzentriert sich auf eine eigene Forschungsmethode, die aus der ANT abgeleitet wurde. Ward und Wil kie gehen davon aus, dass im Design neben den Techniken des Zeichnens und des Modellbauens auch andere Fähigkeiten trainiert werden sollten, denn „societies, or assemblies, are another necessary material for design students.“257 Der Bericht über die Workshops geht allerdings nicht ins Detail, sodass nur vage verständlich wird, wie sie, um es in den Worten Latours zu sagen, „Kontroversen entfalten“, „Ge sellschaften versammeln“ und „Akteure verfolgen“. Nur einen der Workshops be schreiben die Autoren genauer. Hier forderten sie Studierende auf, Zeitungsartikel als Grundlage zu nehmen, um komplexe Zusammenhänge zwischen unterschied lichen Akteuren, Argumenten und Gegenargumenten zu entwirren. Es entstanden Pinnwände, die komplexe Inhalte relational darlegten.258 Matt und Wilkie interes sieren Netzwerke, die sich noch nicht stabilisiert haben. Diese sollen Designer*in nen als Gestaltungsgrundlage dienen. „After each mapping activity the students are asked to imaginatively interfere and intervene with the societies that they have mapped: to start making design decisions.“259 Die Studierenden entwickeln vor dem Hintergrund bestehender Komplexitäten und Relationen neue Akteure und neue Beziehungen. Ward und Wilkie sehen in dieser Praxis Potenzial, fiktive Welten zu ersinnen und damit dann einen neuen Beitrag für kritisches, spekulatives Design zu schaffen: „[D]esign students participate in the production of future, fictional networks.“260 Aufbauend auf die Mindmaps entwickeln Studierende also Zukunfts szenarien, die dann wieder befremden und zum Nachdenken anregen sollen, ähn lich wie es das Critical Design von Dunne und Raby tut, auf die sich Ward und Wilkie tatsächlich beziehen.

Design müsse hingegen „stellvertretend für das Interesse an einem freien, vernunft bestimmten und ästhetisch erfüllten Leben einstehen“253. Das Konzept der Eman zipation dürfe nicht durch die Latour’schen Konzepte der Bindung und Fürsorge ersetzt werden, sondern müsste durch diese ergänzt werden.

NICHT-ANTHROPOZENTRISCHES DENKEN ALS CHANCE UND PROBLEM FÜR DAS DESIGN 103

In einer Publikation aus dem Jahr 2009 nutzen die Autoren Matt Ward und Alex Wilkie Latours Kritikbegriff als Grundlage für eine neue Version kritischer De signpraxis.254 Sie argumentieren primär aus designpädagogischer Perspektive und suchen nach neuen Ansätzen für die Designausbildung. Hierfür wenden sie bewusst den Blick von Theorien ab, die im Zusammenhang mit kritischem Design in der Lehre gewöhnlich als Grundlage besprochen werden.255 Es geht ihnen darum, eine neue Form kritischen Designs zu betrachten und in die Designlehre einzubinden.

Mit dieser kritischen Designhaltung wird weniger offensichtlich Stellung be zogen als etwa beim Critical Design. Die Haltung scheint auf den ersten Blick neu traler und beobachtender. Ward und Wilkie sowie Olander betonen allerdings, dass es darum gehe, selbst zu interagieren und innerhalb des Eingriffs eine Position ein

104 WANDEL DER OBJEKTWELT UND DER NEUE MATERIALISMUS Engagement“. Es geht ihr in ihrer Arbeit um eine angewandte Form der Kritik, in der sich Personen kritisch involvieren, kollaborieren und praktisch aktiv werden.261 Sie wendet sich damit auch explizit gegen konventionelle Formate des kritischen Designs (Critical Design) wie die Ausstellung oder die Publikation. Sie diskutiert und definiert den Begriff der Post-Criticality am Beispiel eines Co-Designprojekts mit Jugendlichen, das sie selbst durchführt: Jugendliche, die den Keller einer Stadt bibliothek zum „Herumhängen“ nutzen und immer wieder in Konflikte mit den Mitarbeiter*innen der Stadtbibiliothek geraten, werden in ein stadtplanerisches Projekt einbezogen. Sie stellt während der Arbeit fest: [T]he idea of post-criticality emerges in a complex socio-material landscape that the re searcher through her explorative efforts takes actively part in shaping. Yet this work is not located one step further into abstraction, instead it is a work that attempts to ac tively push knowing and critique out into the field encounter.262

Letztlich initiiert sie als postkritische Designerin in erster Linie Dialoge zwischen den Jugendlichen, den Mitarbeiter*innen der Stadtbibliothek und den Stadtpla ner*innen. Es entstehen neue Konstellationen der Interaktion. Post-Criticality im Design bedeutet bei Olander demnach, sich explizit nicht gegen etwas zu wenden, sondern Dialoge zwischen Akteuren zu ermöglichen: Therefore, to develop modes of analyses and engagements that go beyond debunking or deconstruction, the design anthropological post-critical response is not to leave the world alone, rather, the starting point is the practical work of building a platform where actors and their differing cosmos can be rendered visible and distributed in time and space.263

Während also Schweppenhäuser die Freiheitsfähigkeit des Subjekts mit Latours neuem Kritikverständnis schwinden sieht und seine Haltung als problematisch für das Design wertet, schlagen sowohl Ward und Wilkie als auch Olander mithilfe der ANT ein neues Kritikverständnis für das Design vor. Kritik steht für sie nicht mehr im Zusammenhang mit Distanzierung von etwas, sondern vielmehr mit Einsicht und Involvierung in etwas. Während Matt und Ward Wechselwirkungen zwischen Akteuren nachvollziehen und sie an Pinnwänden visualisieren, geht es bei Olander darum, Wechselwirkungen zwischen Akteuren zu erlauben, indem sie Bühnen als Orte der Begegnung schafft. Kritisches Designverhalten heißt hier also nicht, etwas zu kommentieren und zu bewerten, sich abzugrenzen oder andere aufzuklären, son dern Komplexität zu verstehen und verhandelbar zu machen.

Hubert Matt beispielsweise erkennt in der Vorstellung von Relationen ohne Relata großes Potenzial für das Design: Hier eröffnen sich philosophisch und designtheoretisch völlig neue Perspektiven. In der Designtheorie gehen wir ständig von Relata aus Zielgruppen, Typografie, Layout, Bild, Text, Sendegefäße etc. –, ohne zu berücksichtigen, dass diese erst das Ergebnis der Kommunikation der menschlichen und nicht-menschlichen Akteure sind.266 Es existieren zudem designtheoretische Auseinandersetzungen mit dem für diese Arbeit relevanten Begriff der response-ability. Lucy Suchman etwa übertrug schon 2007 Barads Theorie verteilter Verantwortung auf die HCI -Forschung. Suchman sieht im AR einen fruchtbaren Denkansatz für die Auseinandersetzung mit intelli genter Technologie und interaktiven Interfaces. „Barad’s agential realism reminds us that boundaries between humans and machines are not naturally given but cons tructed in particular historical ways and with particular social and material con sequences.“267 Statt autonome Handlungsmacht als Identifikationsmerkmal des Menschen zu erachten und zu überlegen, ob Maschinen mittlerweile genau diese menschliche oder zumindest eine menschenähnliche Handlungsmacht erreich ten, verschiebe Barads Theorie die Fragestellung. Wenn Grenzen zwischen Wesen nicht natürlich und final festgelegt sind, ist der Mensch kein Wesen mit unabhängigen und damit auf Maschinen übertragbaren Eigenschaften. Suchman folgert aus Barads Ansatz, dass man dem Menschen keine Agency aberkennen müsse, nur weil man Artefakten eine eben solche zuspreche. Die Agency und die mit ihr verbun dene Verantwortung liege zwischen Menschen und Artefakten in der Intra-aktion.

NICHT-ANTHROPOZENTRISCHES DENKEN ALS CHANCE UND PROBLEM FÜR DAS DESIGN 105

zunehmen. Wards und Wilkies Designstudierende greifen beispielsweise nach dem Visualisierungsprozess durch gestalterische Entwürfe in die dargelegte Komplexi tät ein, Olander selbst wird im Co-Designprozess Teil ihrer eigenen Feldforschung und übernimmt damit selbst eine Rolle auf ihrer Bühne. Kritik funktioniert in bei den Fällen nicht durch Distanz zum Gegenstand, sondern durch ein Beteiligtsein. 2.4.2

Der Agentielle Realismus im Design Karen Barads Agentieller Realismus wird seit der Veröffentlichung Meeting the Uni verse Halfway264 im Jahr 2007 in der Technik- und Wissenschaftsforschung und in der feministischen Theorie, aber im Anschluss auch disziplinübergreifend disku tiert. Viele erkennen im AR ein neues Paradigma. Auch in der Design- und HCI -For schung findet Barads Ansatz Beachtung, allerdings meist nur als einer von vielen weiteren Ansätzen des Neuen Materialismus oder der Praxistheorie.265 Die Ausein andersetzung mit dem AR ist im Design nicht so ausgeprägt wie mit der ANT , Barads Kausalitätskonzept und der Begriff der Intra-aktion werden allerdings aufgegriffen.

Suchman erachtet den AR als hilfreich, um Differenzen zwischen Mensch und Ma schine zu identifizieren, aber nicht als vorab festgelegte Unterschiede, sondern als etwas, das durch Intra-aktion verhandelbar bleibt. Verantwortungsvolles Handeln lasse sich weder durch Kontrolle noch durch Ablehnung herstellen, sondern durch praktische und kritische Teilhabe. „The question, following Barad, is how to con figure assemblages in such a way that we can intra-act responsibly and generatively with and through them.“268 Teilhabe an Intra-aktion wird zu einem ethischen oder politischen Akt, den Suchman im Kontext der Mensch-Maschine-Verhältnisse ins besondere im Designprozess verortet: The alternative perspective suggested here takes persons and machines as contin gently stabilized through particular, more and less durable, arrangements whose reiter ation and/or reconfiguration is the cultural and political project of design in which we are all continuously implicated.269 Auch die Designwissenschaftlerin Susanne Witzgall betrachtet Barads verteilte Ver antwortung aus gestalterischer Perspektive. Aus dieser Betrachtung folgt für Witz gall ein „Relationales Design“, das sich verantwortungsvoll und experimentell auf Beziehungen zwischen allen Körpern und Phänomenen einlässt und nicht von au ßen, sondern immer involviert agiert: Relationales Design erkennt die relationalen Verschränkungen des Seins als ‚Beziehung der Verpflichtung‘ und lässt sich darauf ein, die transformativen ‚Intra-aktionen‘, die ge meinsame, eng miteinander verwobene Dynamik des Werdens von Dingen und Körpern, Materie und Gesellschaft, Menschlichem und Nichtmenschlichem in einem verantwor tungsvollen offenen Experiment zu erkunden.270

106 WANDEL DER OBJEKTWELT UND DER NEUE MATERIALISMUS

Demnach soll Relationales Design nicht politisch entscheiden, sondern Zusammen hänge erforschen. Witzgall stellt fest, „dass das Bewusstsein für die ‚Intra-aktionen‘ des Selbst und der Anderen, für das Relationale des Seins sich nicht unmittelbar in ethisches Handeln übersetzen lassen“271. Die Vertreter*innen des Neuen Materia lismus klären laut Witzgall nicht, wie genau relationale, politisch-ethische Hand lungsfähigkeit erzeugt werden kann. Nachdem man sich über die Intra-aktion be wusst wird und mit den wechselseitigen Dynamiken experimentiert, was, wie Barad feststellt, response-ability schafft, müssen nach wie vor in einem weiteren Schritt Entscheidungen von Menschen intentional getroffen und durchgesetzt werden. Nach Witzgall öffnet Relationales Design in erster Linie Möglichkeitsräume und definiert keine klaren Antworten und Richtlinien für das Design. Die ethischen Entscheidungen, also das politische Handeln, findet erst nachgelagert statt. Relationa les Design „könne in Modellexperimenten eine geeignete Basis schaffen, auf der in tentionale Designentscheidungen getroffen werden“272.

Der AR wird in erster Linie aufgrund seines neuen Kausalitätsprinzips, der Intra-aktion, rezipiert. Stärken der Theorie liegen laut den Rezipient*innen darin, dass durch Intra-aktion keine Kategorien an sich vorab definiert werden, sondern Aktion, Performanz, Events und Praktiken als Ursprung aller Entitäten neue Auf merksamkeit zukommt. Die theoretische Fokussierung auf Offenheit wird von vie len Rezipient*innen als größte Stärke des AR gewertet, schließlich bereite Offen heit auf das Neue und Unvorhersehbare vor.273 Das Neue am Neuen Materialismus sei nicht, dass er eine neue gesellschaftliche Vision habe, sondern dass er auf das Neue, das Ankommende gefasst sei.274 Diese Offenheit impliziere, dass etwas, was zuvor nicht als etwas Politisches oder Soziales erachtet wurde, plötzlich als poli tisch oder sozial wahrgenommen werden könne. „Der neue Materialismus braucht die Fähigkeit, sich von der Potentialität der Materie verwundern zu lassen, um das, was gestern noch ‚dunkle Materie‘ war, morgen schon zu einem politisches Thema zu machen.“275DieANTerhält disziplinübergreifend mehr Aufmerksamkeit als der AR , vor al lem im Zusammenhang mit technischen Entwicklungen. Eine Theorie, in der nicht a priori zwischen Objekt und Subjekt und damit auch nicht grundsätzlich zwischen Technik und Mensch unterschieden wird, lässt die ANT aus techniksoziologischer Perspektive reizvoll erscheinen. In einer durch und durch technisierten Gesellschaft mit einer zunehmend sozialisierten Technik gilt die ANT als Vorreiter eines Para digmenwechsels, so Andréa Belliger und David J. Krieger: Mensch und Technik sind derart untrennbar geworden, dass eine Theorie wie die ANT, die das Zusammenleben und Zusammenwachsen von Mensch und Technik in den Vor dergrund stellt, zwangsläufig zur Schlüsseltheorie wird.276

NICHT-ANTHROPOZENTRISCHES DENKEN ALS CHANCE UND PROBLEM FÜR DAS DESIGN 107

Verantwortung wird in den designwissenschaftlichen Texten, die sich auf Ba rad berufen, als eine Grundhaltung beschrieben, die sich in „Offenen Experimen ten“ im Dialog mit Material, anderen Menschen und Wesen trainieren lässt. Sich involvieren, sich als gemeinschaftliches Gefüge im Werden begreifen und im Intraagieren beobachten, die Wahrnehmung für Zusammenhänge schärfen – all dies ist für Designwissenschaftler*innen inspirierend und wird als Voraussetzung für ver antwortliches Handeln und Gestalten erachtet. 2.4.3 Das Potenzial nicht-anthropozentrischen Denkens Um die Stärken nicht-anthropozentrischen Denkens für das Design weiter zu eva luieren, folgt eine Auseinandersetzung mit der Rezeption von ANT und AR aus Per spektive anderer Disziplinen.

Die Theorien des Neuen Animismus haben gemein, dass sie den Animismus „ernst nehmen“, um so einen Dialog zwischen westlichen und indigenen Ontolo gien zu ermöglichen. Wie Viveiros de Castro darstellt, bedeutet „ernst nehmen“ al lerdings nicht, das zu glauben, was andere sagen, oder die Überzeugungen anderer Menschen neben den eigenen zu respektieren. Er beschreibt seine Forderung an die Anthropologie wie folgt: [I]t [anthropology, Anm. d. Verf.] must construct a concept of seriousness (a way of tak ing things seriously) that is not tied to the notion of belief or of any other ‚propositional attitudes‘ that have representations as their object. The anthropologist’s idea of seri ousness must not be tied to the hermeneutics of allegorical meanings or to the immedi

Alle Ansätze des Neuen Animismus sind von einem Interesse an nicht-mo dernen Weltbildern gekennzeichnet. Die entsprechenden Anthropolog*innen und Ethnolog*innen verhandeln die Frage, wie die alten Interpretationen des Animis mus neu verstanden werden können, aber auch, was man konkret von Gemeinschaf ten lernen kann, die die Welt nicht dichotom begreifen, d. h. welche Erkenntnisse man gewinnen kann, wenn man nicht-menschliche Lebewesen oder gar Unbeleb tes als animiert, beseelt oder handlungsfähig erachtet. Die Theorien basieren auf Feldforschungen innerhalb indigener Gemeinschaften in Sibirien (Rane Willers lev), Indien (Nurit Bird-David), Papua Neuguinea (Marilyn Strathern), Nordamerika (Tim Ingold) oder Südamerika (Eduardo Viveiros de Castro). Ungeachtet der Unter schiede zwischen den Weltbildern kristallisieren sich zahlreiche Überschneidun gen heraus, die vom modernen Weltbild abweichen.

Seit den späten 1980er Jahren erfährt die Debatte um den Animismus in der An thropologie neue Aufmerksamkeit. Als einer der ersten griff Philippe Descola das Phänomen erneut auf und sah im Animismus einen Ansatz jenseits der modernen Dichotomien zwischen Natur und Kultur.62 Es folgten zahlreiche weitere anthro pologische Untersuchungen mit neuem Blick auf den Animismus.63 Diese seit den späten 1990er Jahren populärer werdenden Auslegungen werden unter dem Begriff Neuer Animismus subsummiert.64

Der Animismus wird – und hier unterscheiden sich die Ansätze grundlegend von ihren Vorläufertheorien des Alten Animismus – nicht mehr als Negativ und zur Abgrenzung von „den Anderen“ verstanden. Animismus wird nicht als Glaube/Irr glaube oder als eine angeborene, natürliche oder evolutionär entstandene Verhal tensweise begriffen.65 Er ist für die Vertreter*innen des Neuen Animismus außer dem keine Metapher und es wird niemandem unterstellt, nur so zu tun, als ob etwas lebendig wäre.66 Animismus ist für sie hingegen eine lernbare Praxis.

148 ÜBER DEN3.2ANIMISMUSNEUER ANIMISMUS 3.2.1 Den Animismus „ernst nehmen“

Der Animismus wurde nicht nur in der Anthropologie neu betrachtet, sondern fand auch in der Wissenschaftsphilosophie,73 der Feminismusdebatte,74 der Kunst und den Kunstwissenschaften75 verstärkte Aufmerksamkeit.

Es wird also nicht angestrebt, den Animismus in irgendeiner Form wieder einzu führen. Dies ist aus Perspektive des Neuen Animismus sowieso unmöglich, da Ani mismus in jeder Gesellschaft existiere.71 Anselm Franke macht diese Haltung wie folgt anschaulich: Es gibt keine animistischen und nicht-animistischen Gesellschaften, und es kann sie auch nicht geben. Es gibt nur verschiedene Arten der Organisation von Differenzen und des Umgangs mit Grenzen, die wiederum verschiedene Arten der Kanalisierung des Ani mismus und des Umgangs mit dem Ausgeschlossenen und nicht Äußerungsberechtig ten nach sich ziehen.“2

NEUER ANIMISMUS 149 ative illusion of discursive echolalia. Anthropologists must allow that ‚visions‘ are not beliefs, not consensual views, but rather worlds seen objectively: not worldviews, but worlds of vision (and not vision only – these are worlds perceivable by senses other than vision and are objects of extrasensory conception as well).67

Im Neuen Animismus wird der Animismus nicht im Sinne eines Kulturrelativismus einfach respektiert und akzeptiert, sondern als ein Ansatz verstanden, der das Po tenzial hat, modernes oder postmodernes Denken zu wandeln.68 „Ernst nehmen“ bedeutet dann, einem anderen Denken und Wahrnehmen die Macht zuzugeste hen, das Eigene zu verändern und Neues zu kreieren.69

Die Vertreter*innen des Neuen Animismus identifizieren im Animismus an derer Gesellschaften grundsätzlich andere Konzepte von Objekt und Subjekt, die in der Lage sind, das eigene moderne Weltbild zu irritieren. Die modernen Grund annahmen, insbesondere über Subjektivität, werden durch den Animismus ande rer herausgefordert.Eswirdeineneue Perspektive auf den Animismus versucht, ohne das Andere jedoch zu glorifizieren – es entstehen also nicht nur keine denunzierenden, son dern auch keine verklärenden Darstellungen des Animismus, wie im Alten Animis mus ebenfalls üblich. Die Weltbilder anderer Kulturen werden nicht als besser oder richtig erachtet. So stellt etwa Willerslev, der bei der Gemeinschaft der Yukaghir forschte, fest: This does not imply exoticizing the Yukaghirs as being somehow more knowledgeable or wiser than us. Nor does it imply adopting their beliefs or accepting these beliefs without question. Rather, it involves an honest effort to draw attention to complex patterns of common features and differences between Yukaghirs and ourselves by placing their animistic beliefs and practices in a critical dialogue with our theories of knowledge.70

Im Folgenden werden in erster Linie die Studien der Anthropolog*innen Nurit Bird-David und Eduardo Viveiros de Castro vorgestellt. Diese Ansätze eignen sich für eine exemplarische Gegenüberstellung, da Bird-David eine epistemologische und Viveiros de Castro eine ontologische Perspektive auf den Animismus einnimmt, sodass sich in wichtigen Punkten Abweichungen oder Ergänzungen ergeben. Im Anschluss werden beide Theorien auf ihre Erkenntnisse bzgl. der ontologischen Grenzen und Widerständigkeiten zwischen Subjekt und Objekt befragt. Dafür wer den die Sichtweisen der Anthropologen Ingold und Willerslev einbezogen. Im Fo kus der Analysen steht die Frage, inwiefern der Animismus eine Grenzziehungs praxisErstdarstellt.imAnschluss

an die Vorstellung und Einordnung der Theorien rücken die spezifischen animistischen Praktiken, die sich hauptsächlich aus der Arbeit von Bird-David, Viveiros de Castro und Willerslev ableiten lassen, in den Blick. Die iden tifizierten Praktiken – die in dieser Arbeit als „Dividuieren“, „Subjektivieren“, „Imi tieren“ und „Humorisieren“ bezeichnet werden – dienen dazu, Grenzen zwischen Subjekt und Objekt zu verhandeln, um Wissen zu generieren, um Selbstbewusst sein zu stiften und um kritische Subjektivität zu ermöglichen. Sie unterscheiden und ergänzen Herangehensweisen, die in der westlichen Moderne zu eben diesen Zwecken üblich sind, wie die Praktik des Objektivierens. 3.2.2 Relationale Epistemologie

Der Personenbegriff der Nayaka basiere nicht auf der Idee eines geschlosse nen Individuums für sich, sondern auf der Vorstellung eines durch Beziehungen konstituierten „Dividuums“77. Bei einem Dividuum seien Beziehungen, durch die eine Person konstituiert ist, immer im Werden begriffen und könnten daher in so zialen Prozessen herausgearbeitet werden. Ein Dividuum entwickle sich emergent und situationsbedingt. Bird-David führt das Verständnis von Personen bzw. von Di viduen auf ein Lebenskonzept der Nayaka zurück, das von Teilen und Teilhabe be stimmt sei. Das Leben auf engem Raum, habitualisierte Praktiken des Austauschs von Dingen und das gemeinschaftliche Handeln führten dazu, dass die Nayaka an dere nicht als autonom wahrnehmen. Sie erwerben hingegen kontextualisiertes Wissen voneinander:

Nurit Bird-David identifiziert auf Grundlage von Feldforschung bei den Nayaka,76 ei ner Jäger- und Sammlergemeinschaft in Südindien, einen erkenntnistheoretischen Ansatz, der sich fundamental von der modernen Epistemologie unterscheidet, und bezeichnet diesen als „Relationale Epistemologie“. Diese Relationale Epistemolo gie gründe auf einem relationalen Weltbild, mit dem sowohl ein anderer Personen begriff als auch ein anderes Objektverständnis einhergehe.

150 ÜBER DEN ANIMISMUS

Es werde nichts an sich und kategorisch bestimmt. Ähnlich wie ein Mensch nicht an sich Vater oder Mutter sein kann (also ohne ein Kind zu haben), sind bestimmte Wesen oder Kategorien von Wesen, wie beispielsweise Steine oder Vögel, nicht an sich beseelt oder unbeseelt. Die Nayaka-Frauen erachten nur jene Steine als leben dig, die mit ihnen in eine Beziehung treten, indem sie ihnen beispielsweise beim Graben entgegenspringen. Alle anderen Steine bleiben ganz einfach unbelebte Steine.82 Es sind Ereignisse oder Situationen, die darüber entscheiden, ob etwas Person ist oder nicht.

Das Denken in Beziehungen bringt, wie Bird-David verdeutlicht, eine von der modernen Idee abweichende Vorstellung von Beseeltheit, Lebendigkeit und Sub jektivität mit sich. Der Personenstatus entstehe situationsbedingt und durch Inter aktion:

NEUER ANIMISMUS 151

Alle, die Teil dieses Beziehungsnetzwerkes seien, könnten potenziell zu Verwand ten werden, denn die Nayaka würden die, mit denen sie teilten, unabhängig von ei ner Blutsverwandtschaft, als Verwandte sehen. „Ihre Verwandtschaft wurde in ers ter Linie durch wiederkehrende soziale Handlungen des Teilens und des Pflegens von Beziehungen gestiftet und erhalten, nicht durch Blut oder Abstammung; nicht biologisch, mythisch oder generalogisch.“79 Entsprechend könnten auch nichtmenschliche Wesen, mit denen die Nayaka ihr Leben intensiv teilen, Verwandte sein. Die ursprüngliche Bedeutung des englischen Worts „relatives“ verdeutlicht dieses Denken. Die Relation, die Beziehung, bestimmt, dass jemand oder etwas Verwandter ist.80

Die Nayaka unterhalten ihre sozialen Beziehungen mit anderen Wesen nicht deshalb, weil sie sie – wie Tylor meint – als Personen betrachten. Sie konstituieren diese Wesen vielmehr als bestimmte Personen, während und weil sie mit ihren Beziehungen unter halten: Sie machen sie zu ‚Verwandten‘, indem sie mit ihnen teilen und sie damit perso nalisieren.81

Um nun also Wissen erlangen zu können, muss, so Bird-David, das komplexe Gewebe an Beziehungen zwischen Wesen verstanden werden. Es gehe den Nayaka darum, „wechselseitig bedingte Veränderungen bei sich selbst und den Dingen, mit denen sie Umgang haben, zu erkennen“83 und entsprechend die eigene Auf merksamkeit zu schulen, also sensibel für die Reziprozität zu werden. Hier nun grenzt Bird-David die Relationale Epistemologie von der modernen Epistemo logie ab. Während moderne Wissenschaftler*innen den Regenwald studierten,

Sie erkannten mit der Zeit nicht nur, wie jede/r sprach, sondern wie jede/r mit den ande ren sprach, nicht nur, wie jede/r arbeitete, sondern wie jede/r mit den anderen arbeitete, nicht nur, wie jede/r teilte, sondern wie jede/r mit den anderen teilte, usw. Sie lernten nicht andere Nayaka ‚für sich‘ kennen, sondern Nayaka in Wechselbeziehung miteinan der, Nayaka-in-Verbundenheit mit anderen Nayaka.78

Eduardo Viveiros de Castro forschte bei indigenen Gemeinschaften im Amazonas gebiet und wendet sich explizit gegen eine epistemologische Lesart des Animismus.

Es gehe bei der Relationalen Epistemologie nicht um Erkenntnis von einem objek tiven und getrennten Standpunkt aus, sondern um „das Verstehen von Bezogenhei ten, von einem Gesichtspunkt aus, der selber als bezogen und innerhalb sich ver schiebender Horizonte dieses bezogenen Betrachters gedacht wird“.85 Die Nayaka generierten Wissen durch einen Dialog und nicht durch objektivierende Distanz.

152 ÜBER DEN ANIMISMUS

zerhackten und klassifizierten, suchten Nayaka nach Erkenntnis durch die Ver bundenheit: Im ersten Fall bedeutet Erkenntnis, Repräsentationen von Dingen-in-der-Welt zu besit zen, zu erwerben, anzuwenden und zu verbessern. Im zweiten Fall bedeutet es, Fertig keiten für das Zusammen-mit-anderen-Dingen-in-der-Welt-Sein zu entwickeln und das Bewusstsein von der eigenen Umwelt und vom eigenen Selbst zu verfeinern, erwei tern, vertiefen, aufzufächern usw.84

Denn „der Animismus ist ganz sicher eine Ontologie, etwas, bei dem es um das Sein geht und nicht darum, wie wir davon wissen“.89 Für Viveiros de Castro ist die Um wandlung ontologischer in epistemologische Fragen „eines der Markenzeichen der Philosophie der Moderne“90. Epistemologische Fragen seien Repräsentationsfra gen, die auf der cartesianischen Trennung zweier Substanzen – Geist und Materie –basierten. Seine Perspektivierung stimmt mit den Überlegungen Wolfgang Welschs überein, der darauf hinweist, dass der „Duktus des Erkennens“ auf einem dualisti schen Weltbild basiere. Nur wenn der Mensch, wie in der Moderne üblich, als der Welt gegenüberstehend und als ihr fremd begriffen werde, sei es nötig, durch Er kenntnisoperationen eine Verbindung zu ihr herzustellen.91

Laut Viveiros de Castro baut die animistische Ontologie auf einer Schöp fungsgeschichte auf, die konträr zur modern-westlichen Fassung verstanden wer

Unter Berücksichtigung des von Bird-David identifizierten relationalen Welt bildes kann neu verstanden werden, warum indigene Völker mit anderen Wesen reden. Sie sprechen nicht einseitig beispielsweise mit einem Stein, als ob er sie verstehen könnte.86 Das „Reden mit“ ist vielmehr eine wechselseitige Technik, ein Dialog, der Verbundenheit erzeugt. „‚Mit einem Baum zu reden‘, statt ‚ihn umzu hauen‘, heißt wahrzunehmen, was er tut, während man mit ihm zu tun hat.“87 Für Bird-David bedeutet dieses Vorgehen „das Augenmerk auf die Differenzen aufhe bende ‚Wir-heit‘ statt auf die sie hervorhebende Gemeinsamkeiten verdeckende ‚Andersheit‘ zu lenken“88. 3.2.3 Perspektivischer Multinaturalismus

den kann. In dieser Geschichte, die eine universelle indianische Vorstellung sei, stammt das Tier ursprünglich vom Menschen ab. Nicht die Tierheit, sondern die Menschheit ist diesem Mythos nach Ursprung allen Seins. Wenn nicht der Mensch vom Tier abstammt, wie es die modernen Evolutionstheorien belegen, muss nicht die ursprüngliche Tiernatur des Menschen durch Kultur gebändigt werden (eine westliche Schlussfolgerung), sondern kann das ursprünglich Menschliche in Tie ren (aber auch in anderen Lebewesen oder sogar bei unbelebten Phänomenen) ent deckt werden.92 Auch in der indigenen Vorstellung existiert, wie Viveiros de Castro zeigt, eine Trennung zwischen Kultur und Natur, doch sei der Ursprung bzw. das ur sprünglich Gemeinsame die Kultur, das Menschliche oder das Soziale. Die Schnitt stelle zwischen Mensch und Nicht-Mensch ist der animistischen Ontologie nach also sozial (die Natur ist auch sozial), während sie der modernen, naturalistischen Vorstellung nach natürlich ist (der Mensch hat auch eine Natur).93

Wie Viveiros de Castro verdeutlicht, erklärt die zur modernen Vorstellung kon träre Ontologie und die ihr zugrundeliegende Schöpfungsgeschichte, wieso im Ani mismus Beziehungen zwischen allen Wesen als soziale, intersubjektive Beziehun gen erachtet werden: „Da Tiere und andere Wesen einmal Menschen waren, bleiben sie es hinter ihrem äußeren Erscheinungsbild auch weiterhin.“95 Worte, die aus indianischen Sprachen vielfach mit „Mensch“ übersetzt wer den, meinen allerdings nicht den Menschen als Spezies. Wie Viveiros de Castro aber auch Bird-David und Descola zeigen,96 handelt es sich nicht um Substantive, son dern um eine Form von Pronomen. Die Worte „geben die Position des Sujektes an und sind nicht ein Name, sondern ein enunziativer Markierer“.97 Was mit „Mensch“ übersetzt wurde, meint die soziale Bedingung der Person, die nicht an eine Spe zies gebunden ist. Lebewesen und Unbelebtes sind nicht Menschen, sondern ihnen wird eine eigene subjektive Perspektive zuerkannt. Sie sind nicht-humane Personen. Was auf den ersten Blick an Anthropozentrismus und Anthropomorphismus erinnert, schließlich scheinen hier Menschen anderen Wesen menschenähnliche Eigenschaften zuzuschreiben, ist auf den zweiten Blick komplizierter. Laut Viveiros de Castro handelt es sich bei Anthropozentrismus und Anthropomorphismus um grundsätzlich unterschiedliche Konzepte. So sei etwa die westliche Evolutionslehre absolut anthropozentrisch, aber nicht anthropomorph, der Animismus da gegen anthropomorph, aber in keiner Hinsicht anthropozentrisch.98 Denn: „Wenn neben dem Menschen noch viele andere Wesen ‚menschlich‘ sind, dann sind wir Menschen nichts Besonderes.“99 Der Mensch sei nicht hierarchisch höhergestellt.

NEUER ANIMISMUS 153

Aus dieser Perspektive machen die unterschiedlichen Körper die Differenz zwischen den Wesen aus, denn eine universelle Materie bzw. eine materielle Objek tivität existiert nicht. Der Animismus ist, so Viveiros de Castro, multinaturalistisch (viele Naturen, eine Kultur) im Gegensatz zur modernen Ontologie, die multikultur alistisch argumentiert (viele Kulturen, eine Natur). „Der europäische Ethnozentris mus verneint, dass andere Körper dieselben Seelen wie sie haben; der indianische bezweifelt, dass andere Seelen denselben Körper haben.“94

Der Multinaturalismus (eine Kultur, viele Naturen) indigener Gemeinschaften führt zu einer Haltung, die Viveiros de Castro als „Multinaturalistischen Perspek tivismus“ bezeichnet.101 Demnach nehmen alle Wesen, abhängig von ihren Kör pern, die Welt aus unterschiedlichen Perspektiven wahr: Menschen sehen andere Menschen als Menschen, Fische als Fische oder Maniokbier als Maniokbier. Tiere und Pflanzen sehen sich selbst allerdings ebenso als Menschen und ihre Nahrung als menschliche Nahrung. So ist für einen Jaguar beispielsweise das, was für Men schen Blut ist, Maniokbier. Die Welt wird bei allen Spezies mit den gleichen Kate gorien belegt bei allen existieren etwa Menschen, Fische und Maniokbier – oder wie Viveiros de Castro zusammenfasst: „Da sie in ihrem eigenen Lebensraum Per sonen sind, sehen Nichtmenschen die Dinge auf die gleiche Weise wie Menschen. Aber die Dinge, die sie sehen, sind verschieden.“102 Die unterschiedlichen Perspek tiven seien durch die unterschiedlichen Körper der Spezies bedingt.

Der indigene Perspektivismus dürfe nicht mit dem modernen Relativismus verwechselt werden. Zwar bestehe eine Vielzahl von Subjektpositionen, allerdings konstruiere nicht der Geist jeweils andere Vorstellungen von der immer gleichen Natur. Vielmehr erzeugten unterschiedliche Gesichtspunkte, die im Körper veror tet seien, gleiche Vorstellungen von unterschiedlichen Naturen. „Da der Geist oder die Seele in allen Spezies formal identisch ist, kann er überall nur dasselbe wahr nehmen. Der Unterschied liegt in der Spezifität der Spezies.“103 Für den Multinatu ralistischen Perspektivismus sei, anders als für den modernen bzw. postmodernen Relativismus, ganz wesentlich, dass indigene Gemeinschaften die Welt relational begreifen (was Bird-David ebenfalls feststellte). Auch Viveiros de Castro themati siert die Relationalität, die Verwandtschaftsbegriffen inherent ist (z. B. Bruder für eine Schwester), und stellt eine Analogie zu dem von ihm identifizierten indigenen Perspektivismus her (z. B.Maniokbier für die Jaguare). Verwandtschaftsbegriffe be stimmen ein Verhältnis. Man kann nur Bruder sein, wenn es ein Geschwisterteil gibt, für das man Bruder ist. Im indianischen Denken zeige sich deutlich: Das relationale Denken ist nicht arbiträr. Etwas kann nur Maniokbier sein, wenn es dies für jemanden ist. Entsprechend existiere Maniokbier weder an sich, noch sei es eine be liebige Projektion. Denn eine Perspektive ist keine Repräsentation:

Der Gesichtspunkt der menschlichen Spezies sei nur einer unter vielen weiteren menschlichen, gleichberechtigten Gesichtspunkten. Animismus ist dieser Lesart nach alles andere als narzisstisch: Der Animismus ist keine Projektion des Menschen auf das Tier, sondern eine reale Äqui valenz der Beziehungen, die Menschen und Tiere unter sich führen. Wenn wir festge stellt haben, dass die den Menschen und Tieren gemeinsame Bedingung diejenige der Menschheit und nicht diejenige der Tierheit ist, so deswegen, weil ‚Menschheit‘ die ge nerelle Benennung des Subjekts ist.100

154 ÜBER DEN ANIMISMUS

NEUER ANIMISMUS 155

[M]an kann sicher davon ausgehen, dass die Makuna in Bezug auf die Menschen eigent lich nur von einer richtigen und wahren Repräsentation der Welt sprechen würden. Wür den wir zum Beispiel Maden in verwesendem Fleisch als gegrillte Fische zu sehen be ginnen, wäre das ein untrügliches Zeichen, dass wir in ziemlichen Schwierigkeiten stecken, aus der Sicht von Geiern aber sind es tatsächlich gegrillte Fische. Die Perspek tiven müssen auseinandergehalten werden. Nur Schamanen, die quasi artenandrogyn sind, können Perspektiven miteinander verbinden, und auch sie nur unter ganz be stimmten, kontrollierten Bedingungen.104

Wenn dagegen Blut beispielsweise für den Menschen zu Maniokbier wird, dann stimmt etwas nicht. Dann hat, laut der indigenen Vorstellung, eine beunruhigende körperliche Transformation stattgefunden, eine Verwandlung. 3.2.4 Animismus als Grenzziehungspraxis Relationale Epistemologie und Perspektivischer Multinaturalismus verdeutlichen, dass Subjekt und Objekt in den diesbezüglich beobachteten indigenen Gemein schaften, anders als im westlichen Kulturkreis, nicht kategorial gedacht werden.

Die Vertreter*innen des Neuen Animismus Bird-David und Viveiros de Castro legen den Animismus und dessen Umgang mit Grenzen allerdings unterschiedlich aus. In den folgenden Vergleich werden zusätzlich Überlegungen der Animismus-For schenden Tim Ingold und Rane Willerslev einbezogen. Ingolds Zugang steht in un mittelbarem Zusammenhang mit Bird-Davids Ansatz und ergänzt diesen produktiv. Willerslev formuliert eine für diese Arbeit produktive Kritik an Bird-David sowie In gold und arbeitet Viveiros de Castros Ansatz weiter aus. Bird-Davids Relationale Epistemologie basiert auf Zuständen der Verbunden heit. Sie interessiert sich für das Beziehungsgeflecht, das Verbindende, zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Personen. Wenn sie feststellt, dass indi gene Gemeinschaften ihre Umwelt nicht dichotomisieren, dann meint sie, dass Dif ferenzen zwischen Wesen aufgehoben werden und eine „Wir-heit“ entsteht. Die Be schreibung dieser „Wir-heit“ irritiert insofern, als sie an einen idealisierten Alten

Folgt man Viveiros de Castro, so sind im Animismus nicht alle Wesen gleich, ob wohl sich alle als Menschen sehen. Die Differenz im Perspektivismus entsteht durch die Differenz der Körper. Körper sind allerdings nicht physiologisch zu ver stehen, sondern als Gesamtheiten der Gewohnheiten, Fähigkeiten und Affekte, die einen jeden Körper kennzeichnen.105 Gäbe es keine körperliche Differenz, würden beispielsweise Jaguare auch die Spezies Mensch als Menschen sehen. Doch Jaguare sind nur für sich selbst Menschen. Für sie ist die Spezies Mensch dagegen ein Tier, evtl. ein Beutetier. Unter normalen Bedingungen sehen auch Menschen andere We sen nicht als Menschen und können die Kategorien der anderen nicht erfassen.

detaillierte bibliografische Daten

Vorliegende Publikation wurde 2020 von Judith Dörrenbächer (geboren in Saarbrücken) unter dem Titel „Animistische Praktiken für kritisches Design. Über das Aushandeln der Beziehung zwischen Mensch und Artefakt“ dem Fachbereich Gestaltung der Folkwang Universität der Künste zu Essen als Dissertation zum Erwerb des Grades Dr. phil. vorgelegt und am 11.05.2021 Erstgutachterin:verteidigt.

©e-ISBN978-3-0356-2636-0(PDF)978-3-0356-2639-12022BirkhäuserVerlagGmbH,BaselPostfach44,4009Basel,Schweiz Ein Unternehmen der Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston 9 8 7 6 5 4 3 2 1 www.birkhauser.com

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbe sondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbil dungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbe stimmungen des Urheberrechts. ISBN

http://dnb.dnb.de abrufbar.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; sind über

im Internet

Projektkoordination: Freya Mohr Herstellung: Anja Haering Layout, Covergestaltung und Satz: Sven Schrape Designkonzept BIRD: Christian Riis Ruggaber, Formal Papier: 110g/m2 Offset Lithografie: Repromayer GmbH, Reutlingen Druck: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza

Prof. Dr. Cordula Meier Zweitgutachterin: Prof. Dr. Kerstin Plüm Library of Congress Control Number: 2022939295 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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