BIORAMA Nº. 51
KONSUMIERTE NATUR
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wenn politische Ziele mit Relikten der Naturrechtslehre wie der göttlichen Ordnung gerechtfertigt werden. Gleichzeitig wird auch Natur immer wieder als etwas der Geschichte Enthobenes, Außerzeitliches betrachtet. Solche Vorstellungen fordern zum Widerspruch heraus. Der Begriff »Naturgeschichten« wurde für die Ausstellung gewählt, weil Natur und Geschichte in ihm verknüpft sind und man ihn auch politisch verstehen kann. Es geht also um Politik, Geschichte und Natur. Worin besteht die Verknüpfung? Hier geht es um historische und zeitgeschichtliche Entwicklungen, die mit Kolonialismus und Imperialismus, mit totalitären Ideologien oder mit gesellschaftlichen Übergangssituationen zu tun haben. Neoimperiale Entwicklungen gibt es ja nach wie vor. Was wir heute erleben – die Migration zum Beispiel –, kann auch als Folge imperialistischer Politik begriffen werden, worin sich zeigt, dass Vergangenheit in der Gegenwart fortwirkt. Anhand der Naturthematik in der Kunst lässt sich das sehr gut zeigen – wenn auch vielleicht nicht immer auf den ersten Blick. Wie wird diese Verknüpfung in der Kunst zum Thema? In den 1960er- und 1970er-Jahren gab es in der konzeptuellen Kunst eine Reflexion der Kunst über ihre eigenen Rahmenbedingungen. In dieser Zeit kamen viele Bezüge zur Natur als gesellschaftskritischem Motiv auf. Das zeigt in der Ausstellung zum Beispiel Marcel Broodthaers mit seinem »Jardin d’hiver II« (1974). Da geht es um Kolonialismus und darum, wie sehr wir diese ganzen tropischen Idyllen verinnerlicht haben. Die idealisierten Bilder der Werbung und des Tourismus sollten verdecken, dass ja auch Gier und Ausbeutung in Verbindung mit den Kolonien stehen. Broodthaers zeigt diese Widersprüche auf. Es geht in seiner Arbeit darum, dem verklärten und idealisierten Naturbild ein kritisches, analytisches entgegenzustellen, das mehr dazu beiträgt, unsere Gegenwart zu verstehen. Das ist auch der Ansatz der Ausstellung. Auf welche Weise hat denn Kunst versucht, aus der Realität in die Natur zu fliehen, bevor sie die Widersprüche dieser Flucht zum Thema gemacht hat? Diese Natur als Gegenentwurf zur Realität entsteht schon zur Zeit der Industrialisierung. Denken Sie an Paul Gauguin zum Beispiel mit seinem Rückzug auf die Südseeinseln oder an die Expressionisten mit ihrer Vorliebe für primitive und außereuropäische Kulturen. Dieses Ausbrechen aus der Zivilisation, dieser Eskapismus, der sich auf ferne Länder und vorindustrielle Kulturen bezieht, ist typisch für die Moderne. Es war der Versuch, einer durch die Industrialisierung verursachten Entfremdung und Oberflächlichkeit zu entgehen.
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Kann man das bis heute weiterverfolgen, den Eskapismus, die Sehnsucht nach Exotik, die Flucht in die Natur? Weltflucht und Realitätsverdrossenheit wird es immer geben. Aber es hat sich in den letzten hundert Jahren auch vieles verändert. Allein schon durch die »postcolonial theories«. Die Theorie bestimmt nun einmal auch die Wirklichkeit. Da ist schon eine ganz neue Situation entstanden, die man nicht einfach mit der Zeit um 1900 vergleichen kann. Die damals unterdrückten Völker haben sich, auch mitgetragen von europäischen Forschern und Philosophen, Gehör und Stimme verschafft. Aber Eskapismus in die Natur lässt sich schon noch beobachten. Natürlich. In der Werbung oder im Tourismus ist er zum Beispiel ständig präsent. Einen massenwirksamen, populistischen Natur-Eskapismus wird es immer geben, solange die Freizeitindustrie boomt. Eine folkloristisch zurechtgeputzte Natur und Landschaft verfolgt uns auf Schritt und Tritt. Die Wohlfühlindustrie schläft nicht. Kann man denn in der Ausstellung auch etwas über heutige Natur-Projektionen lernen? Grundsätzlich fragt die Ausstellung nach dem Fortwirken und nach der Aktualisierung gesellschaftsgeschichtlicher Entwicklungen im Heute. Dies wird besonders in den Arbeiten der jüngeren Künstlergeneration deutlich. Es gibt in der Ausstellung auch einen ausgestopften Flamingo mit Teer-Überzug von Mark Dion. Mark Dion stellt museale Praktiken infrage und das auf sehr ironische Weise. Was er mit den geteerten Tieren bezweckt, ist ein Nachdenken über Musealisierung und Lebensferne. Er weist darauf hin, dass man anhand von ausgestopften Tieren im Museum nicht unbedingt gleich wahrnimmt, dass die tot sind. Die sind ja schließlich so präpariert, als ob sie lebendig wären. Erst durch den Teer-Überzug wird die Idee von verendeten, getöteten Tieren augenscheinlich. Erst dadurch sieht man sich mit dem Tod konfrontiert. Dions Arbeit verdeutlicht durch eine Art buchstäblich schwarzen Humor das Vortäuschen einer Wirklichkeit, die eigentlich gar nicht existiert. Die Arbeiten hinterfragen also den oberflächlichen, konsumierenden Blick auf Natur. Ja. Die Ausstellung dient ja dem Zweck, die Wirklichkeit differenzierter zu betrachten. Bevor man mithilfe vorgetäuschter Idyllen irgendeine Flucht unternimmt, die sinnlos ist, sollte man schauen, dass man sich in der Realität besser zurechtfindet. Solchen Zwecken sollte Kunst immer dienen – nicht nur diese Ausstellung.
02.10.17 19:08