change 2-2024

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Unser Profil

DIE BERTELSMANN STIFTUNG

Die Bertelsmann Stiftung wurde 1977 von Reinhard Mohn errichtet und verfolgt ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige Zwecke. Sie ist eine operative Stiftung, die alle Projekte eigenständig konzipiert, initiiert und sie bis zur Umsetzung begleitet.

DIE STIFTUNGSORGANISATION

Die Geschäftsführung der Stiftung durch ihre Organe muss mit dem Ziel erfolgen, den Stifterwillen zu erfüllen.

PROGRAMME UND ZENTREN

bildung und next generation

demokratie und zusammenhalt

digitalisierung und gemeinwohl

europas zukunft

gesundheit nachhaltige soziale marktwirtschaft

zentrum für nachhaltige kommunen

Für lebenswerte und zukunftsfähige Städte, Kreise und Gemeinden

WEBLINKS

www . bertelsmann - stiftung . de

www.bertelsmannstiftung.de/podcast

www.x.com/ BertelsmannSt

www.facebook.com/ BertelsmannStiftung

www.xing.com/companies/ bertelsmannstiftung

zentrum für datenmanagement

Für ein wachsendes und offenes Datenökosystem in Deutschland

www.instagram.com/ bertelsmannstiftung

www.youtube.com/user/ BertelsmannStiftung

www.linkedin.com/company/ bertelsmann-stiftung

Prof. Dr. Daniela Schwarzer
Dr. Ralph Heck Dr. Brigitte Mohn

Liebe Leser:innen,

Die Lösung sind wir

die Auseinandersetzung mit dem Thema „Einsamkeit junger Menschen in unserer Gesellschaft“ für die vorliegende change Ausgabe hat das Team und mich tief berührt. Die jüngste repräsentative Befragung der Bertelsmann Stiftung dazu hat das Leid der Betroffenen und die gesellschaftlichen Auswirkungen in den Fokus gerückt. Doch es gibt erfolgreiche Initiativen, die hier ansetzen und Hilfe bieten, wie „Join Us“ in den Niederlanden. Daran sollten wir uns ein Beispiel nehmen, denn einsame und isolierte Menschen sind gefährdet und besonders ansprechbar für populistische Kräfte.

Womit wir beim Thema „Social Media“ wären: Hass und Hetze sind Grundlagen für Geschäftsmodelle. Bei den vielen Vorteilen, die soziale Netzwerke definitiv bieten – Desinformation und Verschwörungstheorien stellen insbesondere in Zeiten von weichenstellenden Wahlen weltweit eine Gefahr dar. Imran Ahmed analysiert und kämpft gegen die

negativen Mechanismen von Facebook, Instagram, TikTok und Co. bzw. die dahinterstehenden Konzerne. In der Technologie selbst sieht er nicht die Lösung, sondern in Transparenz und der Durchsetzung von moralischen Maßstäben. „Es gibt keinen rassistischen Algorithmus, es gibt nur einen Algorithmus, der von Rassist:innen programmiert wurde.“

Zugegeben, die Herausforderungen sind groß, doch der Einsatz vieler Protagonist:innen in dieser change Ausgabe ist es ebenfalls. Es geht dabei um die urbane Resilienz von Städten, um die Frage, wer in Deutschland eigentlich gründet, und um das Jahresthema „Demokratie stärken!“ der Bertelsmann Stiftung.

Eine inspirierende Lektüre wünscht Ihnen Ihre Malva Sucker

Dr. Malva Sucker Besim Mazhiqi

Münster

Jede:r kann gründen!

Seite 54

Washington

Hass im Netz –

Moral gegen Profit

Seite 12

Neue Geschichten entdecken. Neue Perspektiven gewinnen.

02 UNSER PROFIL

03 EDITORIAL

Die Lösung sind wir

06 AUSBLICK

Demokratie stärken, Desinformation begegnen

07 INTERVIEW: DR. DANIELA SCHWARZER

Reinhard Mohn Preis – Drei Fragen an ...

10 WERKSTATT

Weniger Hype, mehr Substanz: KI für alle

12 DEMOKRATIE

Hass im Netz – Moral gegen Profit

20 BLICK ÜBER DEN ZAUN

Der neue Rahmen der Public Diplomacy

24 GESELLSCHAFT

Jung und einsam

32 UMFRAGE

Was sagen Jugendliche in Deutschland dazu?

Gütersloh

Über neue Perspektiven und magische Sonnenuntergänge

Seite 64

Gütersloh

Demokratie stärken, Desinformation begegnen

Seite 06

Niederlande Jung und einsam

Seite 24

36 ESSAY: DR. ECKART VON HIRSCHHAUSEN

Vermögen bedeutet: Ich vermag etwas zu bewegen!

38 KOMMUNEN

Die Stadt der Zukunft ist resilient

47 INTERVIEW: DR. BRIGITTE MOHN

Urbane Resilienz – Beispiel Köln

52 KOMMENTAR: DR. RALPH HECK

Unternehmensnachfolge gesucht!

54 WIRTSCHAFT

Jede:r kann gründen!

62 BILDUNG

Zehn Jahre „Leon und Jelena“

64 DIE LETZTE MACHT DAS LICHT AUS

65 PDF-AUSGABE IM ABONNEMENT

DIGITALER LESESPASS

Um die Vorteile des Online-Magazins richtig auszunutzen, achten Sie auf unsere Links. Diese helfen innerhalb der Ausgabe zu navigieren, beispielsweise über das Haussymbol oben auf jeder Seite sowie über Fotos und Seitenverweise im Inhaltsverzeichnis. Verlinkungen zu weiterführenden Informationen oder zum Weiterempfehlen von Inhalten erreichen Sie über die entsprechenden Icons: Download, Kontakt, Podcast, Teilen, Video, Weblink. Lesen Sie am Laptop oder am PC, ändert sich an solchen Positionen der Cursor vom Pfeil zur Hand. Einfach draufklicken!

Köln

Die Stadt der Zukunft ist resilient

Seite 38

Deutschland Was sagen Jugendliche in Deutschland dazu? Seite 32

Frankfurt Vermögen bedeutet: Ich vermag etwas zu bewegen!

Seite 36

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Demokratie stärken, Desinformation begegnen

Im Februar 2025 verleiht die Bertelsmann Stiftung den Reinhard Mohn Preis (RMP). Der Festakt markiert den Höhepunkt und zugleich den Abschluss eines Projektes, das sich bereits seit 2023 mit der Weiterentwicklung der Demokratie auseinandersetzt. Dabei spielt der Einsatz gegen zunehmende Desinformationskampagnen eine zentrale Rolle.

Nur wenige Wochen nach dem Jahreswechsel wartet der erste Höhepunkt im Veranstaltungskalender der Bertelsmann Stiftung für 2025: Im Februar 2025 verleiht die Stiftung mit einem feierlichen Rahmenprogramm im Theater Gütersloh den Reinhard Mohn Preis (RMP). Angelehnt an das Jahresmotto „Demokratie stärken!“, setzt die Bertelsmann Stiftung ein Zeichen und würdigt erstmals zwei Persönlichkeiten, die sich seit Langem für demokratische Werte und eine freiheitliche, pluralistische Gesellschaft einsetzen: die im Oktober 2024 wiedergewählte Staatspräsidentin der Republik Moldau, Maia Sandu, sowie der Philanthrop und langjährige Unternehmer Michael Otto. Sie zeigen auf herausragende Weise, wie Demokratie durch Engagement und mutige Führung gestärkt werden kann. Beide tragen dazu bei, die Resilienz der Demokratie

zu fördern – Sandu im politischen Raum, Otto in der Zivilgesellschaft und Wirtschaft.

Der Festakt markiert zwar die publikumswirksamste, aber bei Weitem nicht die einzige Aktivität zum Reinhard Mohn Preis, denn schon seit 2023 setzt sich das mit dem Preis verknüpfte Projekt „Upgrade Democracy“ mit einer bislang weitgehend unterschätzten Herausforderung für Demokratien auseinander: dem Risiko durch Desinformation. Durch vorsätzlich verbreitete Falschinformationen möchten die Absender:innen Ängste und Verunsicherung schüren und Stück für Stück das Vertrauen in demokratische Prozesse zersetzen. Wenn die faktenbasierte Meinungsbildung als ein Eckpfeiler eines Gemeinwesens wegbricht, werden die Schleusen für Aufwiegelung und

Hendrik Baumann
Sebastian Pfütze

Drei Fragen an … Dr. Daniela Schwarzer

change | Der Reinhard Mohn Preis geht Hand in Hand mit dem Jahresthema der Stiftung „Demokratie stärken!“. Ist die Demokratie gefährdeter als noch vor einigen Jahren?

dr daniela schwarzer | Demokratien verlieren weltweit an Boden. Unser Bertelsmann Transformation Index zeigt, dass in den vergangenen 20 Jahren zu keinem Zeitpunkt so wenige Staaten demokratisch regiert wurden wie heute. Liberale Demokratien stehen unter Druck, denn Herausforderungen im Inneren fließen zusammen mit globalen, transnationalen Risiken und Aufgaben ungekannten Ausmaßes. Europäische Demokratien müssen ihre Sicherheit angesichts zunehmender Kriege und Bedrohungen, auch auf dem eigenen Kontinent, neu denken. Sie müssen

ebenso Antworten auf den Klimawandel finden, die digitale und grüne Transformation gestalten, zunehmende transnationale Migration regeln und wachsende gesellschaftliche Ungleichheiten bekämpfen.

Zusätzlich sinkt in vielen Demokratien das Vertrauen in demokratische Strukturen. In Deutschland unterstreichen die jüngsten Wahlergebnisse, dass viele Bürger:innen demokratischen Institutionen und Parteien nicht zutrauen, ihre Probleme zu lösen. Neben externen Herausforderungen müssen wir daher neue Wege der politischen Teilhabe schaffen. Mit Praxisprojekten wie dem „Forum gegen Fakes“ wollen wir als Stiftung dazu beitragen.

Dr. Daniela Schwarzer Sebastian Pfütze

Im Rahmen des RMP haben Sie einige Recherchereisen begleitet, bei denen weltweit Lösungsansätze zum Umgang mit Desinformation gesucht wurden. Welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten haben Sie beim Kampf gegen Desinformation wahrgenommen?

Zu den Gemeinsamkeiten zählt, dass zahlreiche Länder auf eine verstärkte Regulierung sozialer Medien setzen, um die Verbreitung von Falschinformationen einzudämmen. Auch Bildungsinitiativen, die Bürger:innen in Medienkompetenz schulen, gewinnen global an Bedeutung. Unsere internationale Recherche zeigt außerdem, dass Fact-Checking-Initiativen weit verbreitet sind. So gibt es zum Beispiel immer mehr Vereinbarungen zwischen unabhängigen Faktenprüfer:innen und großen Online-Plattformen.

Unterschiede zeigen sich etwa bei rechtlichen Rahmenbedingungen. Während in der EU der Digital Services Act klare Regeln für Plattformen festlegt, setzen Länder wie die USA stärker auf Selbstverpflichtungen von Social-Media-Plattformen. Auch die Rolle des Staates wird weltweit kontrovers diskutiert. Während wir in Europa dazu neigen, Regierungen als Verbündete im Kampf gegen Desinformation zu betrachten, sind auf einigen anderen Kontinenten etablierte politische Parteien oft selbst an der Verbreitung beteiligt.

Im September lud die Bertelsmann Stiftung im Kontext des RMP zur Konferenz „Countering Disinformation, Strengthening Democracy“ internationale Expert:innen der Desinformationsbekämpfung und Demokratiearbeit ein. Wie wichtig ist länderübergreifende Zusammenarbeit im Bereich der Desinformationsbekämpfung? Desinformation macht keinen Halt an Landesgrenzen – deshalb müssen auch Gegenmaßnahmen international und ineinandergreifend organisiert sein. Dies ist besonders wichtig, weil die digitalen Diskursräume, in denen sich Desinformationen verbreiten und die unsere nationalen Debatten beeinflussen, global vernetzt sind. Sie finden weitestgehend auf großen privatwirtschaftlichen Plattformen wie TikTok, Instagram oder WhatsApp statt und werden von Desinformationsakteur:innen zunehmend professionell manipuliert.

Es braucht also ein globales Netzwerk von AntiDesinformationsakteur:innen und Strategien, die

„Desinformation macht keinen Halt an Ländergrenzen.“
DR. DANIELA SCHWARZER

sektorenübergreifend und koordiniert agieren, denn kein:e Einzelne:r kann digitale Diskurse allein schützen. Unsere Netzwerkkonferenz brachte deshalb Akteur:innen aus zahlreichen Ländern zusammen, um Herausforderungen wie generationenübergreifende Medienkompetenz, die Verantwortung von Social-Media-Plattformen und den Einsatz von KI und Transparenz von Maßnahmen zu diskutieren.

Deutlich wurde, dass die Regulierung von Plattformen und der Einsatz von KI eine Schlüsselrolle spielen. Social-Media-Plattformen müssen stärker in die Verantwortung genommen werden, um Transparenz zu gewährleisten und Desinformation einzudämmen. KI birgt Risiken, wie Deepfakes und automatisierte Desinformationskampagnen. Internationale Kooperation und ein kritischer Blick auf unsere digitale Infrastruktur sind entscheidend, um gemeinsame Standards zu entwickeln und diese Technologien verantwortungsvoll zu nutzen. Nur so können wir die Chancen der KI nutzen und ihre Gefahren minimieren, um eine informierte und resiliente Gesellschaft zu fördern.

Mitglied des Vorstandes der Bertelsmann Stiftung

Daniela Schwarzer ist eine führende Expertin für europäische und internationale Angelegenheiten und blickt auf eine 20-jährige Karriere bei renommierten Think-Tanks, Stiftungen und Universitäten zurück. Seit Mai 2023 gehört sie dem Vorstand der Bertelsmann Stiftung an. Zuvor war sie als Executive Director für Europa und Zentralasien bei den Open Society Foundations tätig.

@D_Schwarzer

Agitation geöffnet. Zwar hat es im politischen Kontext schon immer Desinformation gegeben, doch durch die Reichweite und Geschwindigkeit digitaler Medien und sozialer Netzwerke hat die mit ihnen einhergehende Gefahr eine neue Dimension erreicht.

Global gegen Desinformation vorgehen Ausgehend vom Prinzip seines Namensgebers, „Von der Welt lernen“, legte der Reinhard Mohn Preis von Beginn an großen Wert darauf, in anderen Ländern und Regionen nach exemplarischen Lösungsansätzen für zentrale Herausforderungen zu suchen. Eine solche internationale Vor-Ort-Recherche erfolgte auch dieses Mal. Das Team von „Upgrade Democracy“ organisierte über mehrere Monate hinweg fünf Workshops in Nairobi, Bangkok, Buenos Aires, Washington und Brüssel. In diesen Formaten kamen unsere Expert:innen mit Initiativen, Forschungseinrichtungen, Nichtregierungsorganisationen und anderen Akteur:innen aus der jeweiligen Region zusammen, die sich ebenfalls mit dem Thema Desinformation beschäftigen.

Die Ergebnisse aus diesem reichhaltigen Erfahrungsaustausch bereitete das Team zunächst in einer Reihe von Regionalberichten sowie einem übergreifenden Report auf, in dem die wichtigsten gemeinsamen Probleme und Lösungsansätze beim Kampf gegen Desinformation aufgeführt sind. Darüber hinaus flossen die Erkenntnisse in eine international besetzte Netzwerkkonferenz ein, die „Upgrade Democracy“ im September 2024 in Berlin ausrichtete. Mehr als 130 Teilnehmende aus 25 Ländern – darunter renommierte Expert:innen aus Politikwissenschaft und Demokratiearbeit – tauschten sich dabei insbesondere zu Strategien gegen die Verbreitung von Desinformation aus.

REINHARD MOHN PREIS 2025

Im Februar 2025 wird der Reinhard Mohn Preis an Maia Sandu und Michael Otto für ihre herausragenden Beiträge zur Stärkung der Demokratie verliehen. Maia Sandu, Staatspräsidentin der Republik Moldau, setzt sich für die Souveränität und die Förderung der liberalen Demokratie in ihrem Land ein. Michael Otto, ehemaliger Vorstandsvorsitzender der Otto Group, engagiert sich für Klimaschutz, Entwicklungshilfe und soziale Projekte. Beide Preisträger:innen werden für ihr Engagement und ihre mutige Führung geehrt. Die Preisvergabe basiert auf einer weltweiten Recherche nach innovativen Konzepten und exemplarischen Lösungsansätzen.

Reinhard Mohn Preis

Demokratie stärken!

Netzwerkkonferenz: „Countering Disinformation, Strengthening Democracy“

Weniger Hype, mehr Substanz: KI für alle

Vor knapp zwei Jahren brach der Hype um ChatGPT los – eine Anwendung, die bereits vor über 50 Jahren in Form des Chatbots ELIZA des Computer-Pioniers Joseph Weizenbaum auf einer ähnlichen Logik basierte. Doch während Weizenbaum ELIZA schnell wieder einstellte, sind generative KI-Systeme, die Texte, Bilder oder andere Inhalte automatisch generieren, heute nicht mehr wegzudenken und stehen im Zentrum von Diskussionen über die Zukunft der Arbeit, Wirtschaft und Gesellschaft.

Täglich gibt es neue Berichte: Wirtschaftswissenschaftler:innen schwärmen von gesteigerter Produktivität ↗ und Kreativität, die Aktienkurse der beteiligten Firmen schießen in schwindelerregende Höhen. Chatbots wie ChatGPT oder Copilot und Bildgeneratoren wie DALL-E scheinen überall zu sein – im Arbeitsleben, in privaten Gesprächen und in den Medien. Die öffentliche Debatte lässt uns fast glauben, all unsere Probleme seien bald gelöst: von der Klimakrise bis hin zu Krebsbehandlungen. Dabei sind es nicht selten Tech-Unternehmer:innen selbst, wie Sam Altman, CEO von OpenAI, die solche Hoffnungen schüren, während sie gleichzeitig vor apokalyptischen Szenarien warnen – Altman sprach gar vom Aussterben der Menschheit ↗ durch KI. Obwohl scheinbar gegenläufige – also utopische oder dystopische – Betrachtungsweisen, dienen sie dem gleichen Zweck: Sie fachen den Hype an.

Wem nützt die Aufregung?

Zeit also, einen Blick hinter diesen Hype zu werfen und sich zu fragen: Cui bono? Wem nützt die ganze Aufregung? Dabei stößt man auf altbekannte Muster: Es sind vor allem die großen Tech-Unternehmen, die vom Hype profitieren. Der Mechanismus dahinter ist nicht neu: Ein Produkt wie ChatGPT wird auf den Markt geworfen, häufig ohne ausreichende Sicherheitsvorkehrungen, dann wird das Produkt durch ge-

zielte Marketingstrategien zu einer Art Wundermittel für alle möglichen Probleme stilisiert – vom automatisierten Kund:innenservice über kreatives Schreiben bis hin zum Coden. Doch dann muss sich das Produkt in der Realität behaupten, und es treten Probleme auf wie Desinformation ↗ , rassistische Ratschläge ↗ oder andere völlig unsinnige Antworten ↗. „Move fast and break things“ – „Erst handeln, dann denken“ beschreibt dieses Vorgehen ganz treffend. Anstatt sichere Produkte zu entwickeln, geht es darum, schnell auf dem Markt zu sein, unsere Aufmerksamkeit dafür zu maximieren und die potenziellen Risiken gegebenenfalls im Nachgang zu adressieren.

Aufmerksamkeit als Geschäftsmodell

Das Geschäftsmodell der Unternehmen, die diese Technologien entwickeln, ist bislang noch nicht rentabel. Deswegen sind sie auf den Hype angewiesen – unsere Aufmerksamkeit und unsere Daten sind derzeit ihr Geschäftsmodell. Denn die Technologien, so beeindruckend sie auch sind, verbrauchen riesige Mengen an Ressourcen und Energie. Diese Kosten müssen sich rentieren, und das gelingt oft nur durch diese massive Aufmerksamkeit, die den Investor:innen das erhoffte Geld einbringen soll. Doch auch sie werden bei übersteigerten Versprechen des Allheilmittels KI skeptisch: Der Börsenwert von NVIDIA, dem größten Hersteller von KI-Chips, bricht Anfang September um 279 Milliarden Dollar ↗ ein. Ebenso erleben die Werte anderer Tech-Unternehmen, die stark in KI investiert haben, einige Talfahrten. Und auch eine aktuelle Studie ↗ kommt zu dem Schluss, dass sich die Produktivitätsversprechen derzeit nicht bewahrheiten.

Technikgläubigkeit verschleiert die Realität

Gleichzeitig fördert der Hype eine fast schon religiös anmutende Technologiegläubigkeit. Diese übersteigerten Erwartungen verhindern eine kritische Aus-

Teresa Staiger

einandersetzung mit den tatsächlichen Fähigkeiten der Technologie. Wir beginnen, den Anwendungen blind zu vertrauen, ohne zu hinterfragen, was sie wirklich leisten können. Sprachmodelle wie ChatGPT beeindrucken zwar durch ihre Fähigkeit, menschliche Sprache und Kommunikation zu simulieren, doch im Kern beruhen sie auf der Vorhersage von Wörtern auf Basis statistischer Wahrscheinlichkeiten. Das führt dazu, dass – neben nützlichen Antworten – auch viel Unsinn produziert wird. Die Technologie ist also alles andere als unfehlbar, ihre Möglichkeiten werden aber durch den Hype oft stark überhöht.

Erwartungen an die Technologie

Was sollten wir stattdessen hypen? Die Antwort: Wir brauchen mehr Technologie, die dem Gemeinwohl dient. Anstelle von blindem Fortschrittsglau-

ben, überzogenen Erwartungen und Machtkonzentrationen bei einigen großen Playern sollten wir uns auf die eigentlichen Probleme konzentrieren und dann prüfen, ob technologische Lösungen tatsächlich zur Lösung beitragen können. Der Mensch und seine Bedürfnisse sowie der Schutz der Natur und Umwelt müssen im Mittelpunkt stehen, nicht die Technologie an sich und der Profit.

Am Ende lohnt sich ein Blick zurück zu ELIZA. Weizenbaum stellte das Experiment deswegen so schnell wieder ein, da ihn die Leichtgläubigkeit der Menschen Sorgen bereitete, die ELIZA ihre privatesten Geheimnisse anvertrauten und den Bot als menschlich-intelligent wahrnahmen ↗. Anwendungen wie ChatGPT dagegen sind gekommen, um zu bleiben – das lässt sich nicht leugnen. Wie wir jedoch mit den Erwartungen an diese Technologien umgehen, liegt in unserer Hand. Es ist entscheidend, dass wir die Möglichkeiten nüchtern betrachten und nicht zu Wegbereiter:innen für immer größere Profite ein paar weniger Unternehmen werden. Stattdessen sollten wir Technologien einfordern, die dem Gemeinwohl dienen und dabei helfen, gesellschaftliche Probleme anzugehen. Dann sind Tools wie ChatGPT am Ende des Tages eines: wirksame Alltagshelfer, nicht aber Allheilmittel.

PROJEKT DER BERTELSMANN STIFTUNG

reframe [ Tech ]

Im Projekt „reframe[Tech] – Algorithmen fürs Gemeinwohl“ setzen wir uns dafür ein, dass sich die Entwicklung und der Einsatz von Algorithmen und KI stärker am Gemeinwohl ausrichten: Wir entwickeln dafür Lösungen für eine wirksame Kontrolle algorithmischer Risiken und motivieren zur Anwendung von Algorithmen für gemeinwohlorientierte Zwecke. Die „Tech-Exploration in der Wohlfahrt“, gefördert von der Robert Bosch Stiftung, war Teil dieses Fokus auf gemeinwohlorientierter Technologieentwicklung.

teresa.staiger@bertelsmann-stiftung.de www.reframetech.de

Tech-Exploration: „Vom Problem zur Anwendungsidee“

Demonstrant:innen vor dem Weißen Haus. Die Spaltung der Gesellschaft wird nicht nur in den USA durch unkontrolliert verbreiteten Hass in den sozialen Medien vorangetrieben.

Mit seiner Arbeit beim CCDH will Imran Ahmed, dass immer mehr Menschen verstehen: Dieses Problem betrifft mich auch.

Hass im Netz –

Moral gegen Profit

Weltweit stehen liberale Demokratien unter Druck – vor allem durch Desinformation, Hass und Verschwörungserzählungen, die im Netz verbreitet werden. Imran Ahmed stellt sich den negativen Einflüssen von sozialen Medien mit dem von ihm gegründeten Center for Countering Digital Hate entgegen. Wie erfolgreich das sein kann, ist für ihn unter anderem eine Frage der Moral.

Katja Guttmann David Hills September 2024 bewölkt, 25 °C

change | Imran Ahmed, was hat Sie veranlasst, das Center for Countering Digital Hate (CCDH) zu gründen? imran ahmed | Während des Brexit-Referendums habe ich als politischer Berater für die Labourpartei gearbeitet. 2016 starb meine Kollegin Jo Cox in ihrem Wahlkreis im Norden Englands, wo ich herkomme, durch einen brutalen Angriff eines Brexit-Hardliners. Der Täter hatte auf sie mehrmals geschossen und brutal eingestochen. Er war teilweise im Netz radikalisiert worden. Das hat mir das Herz gebrochen. Mir wurde klar, was mit unserem Informationsökosystem geschehen war: Wir hatten aus den Augen verloren, was wirklich im Land passiert. Wie wir Informationen teilen, wie wir unsere Normen, unser Verhalten, unseren sozialen Moralkodex, unsere Werte verhandeln, sogar was wir als Fakten betrachten – alles hat sich in Online-Räume verlagert. Und dort gelten andere Regeln.

Welche Konsequenzen haben Sie daraus gezogen?

Ich bin aus der Politik ausgestiegen und direkt zu den Online-Plattformen gegangen. Dort hieß es: Wir haben verstanden und werden es in Ordnung bringen. Ich brauchte drei Jahre, um zu erkennen, dass nichts passiert. Und deshalb beschloss ich aus Frustration und Wut: Wenn das, was sie mir privat erzählen, nichts verändert, dann bringe ich es an die Öffentlichkeit. Ich habe das Center for Countering Digital Hate (CCDH) im September 2019 gegründet, um Einfluss auf diese Unternehmen auszuüben. Um sie zu zwingen, Verantwortung zu übernehmen, ihre Algorithmen zu überdenken, ihre eigenen Inhaltsrichtlinien durchzusetzen, gegen das Problem vorzugehen, das sie mitverursacht haben.

Welche Chancen gibt es, gegenzusteuern?

Unsere Theorie der Veränderung ist einfach: Wir recherchieren, wir machen öffentlichkeitswirksame Kampagnen und gehen an die Medien. Wir bauen ein öffentliches Bewusstsein auf, das wiederum politische Akteur:innen zum Handeln bewegen soll. Es geht schlicht um ausreichende Kontrollen, die echte Auswirkungen auf das Endergebnis haben.

Wie sieht die Arbeit des CCDH konkret aus?

Wir haben zwei Möglichkeiten: Wenn den Unternehmen derzeit keine Kosten für die negativen Effekte entstehen, muss man erstens Regulierungen einführen. Zweitens muss man ihre Einnahmen reduzieren, die zu 90 Prozent aus der Werbung kommen. Man muss also den Markt dazu bringen, keine Gelder

mehr in ihre Portemonnaies fließen zu lassen. Das ist eines der mächtigsten Instrumente.

Beispielsweise hatte X während der gewaltsamen Ausschreitungen in Großbritannien (Anmerkung: nach dem tödlichen Messerangriff auf drei Mädchen in Southport im Juli) Anzeigen für das Internationale Olympische Komitee, GlaxoSmithKline und die British Medical Association geschaltet. Wir sind sehr gut darin, mit diesen Werbepartnern in Kontakt zu treten und zu fragen: Wollt ihr wirklich auf einer Plattform werben, die Kinder tötet oder unsere Demokratie zerstört? Und viele von ihnen sagen dann: Nein, wir gehen.

Was bedeutet es für Sie, dass ein kalifornischer Richter die Klage von Elon Musk gegen das CCDH verworfen hat? Wir sind die natürliche Reaktion auf eine Industrie, die davon profitiert, Hass und Desinformation in unserer Gesellschaft zu erzeugen. Und dass uns X verklagt hat, ist wiederum die natürliche Reaktion dieser Firmen darauf, dass wir ihre Einnahmen angreifen und ihre Profitabilität reduzieren. Das mögen sie nicht.

Wir haben X zwar geschlagen. Aber wir können unsere Datenforschung zur Plattform immer noch nicht durchführen. Auch nicht im öffentlichen Interesse, selbst mit dem Sieg vor Gericht. Denn solange es nicht durch die Berufungsgerichte in den USA geht, gibt es kein rechtskräftiges Urteil.

PROJEKT DER BERTELSMANN STIFTUNG

UPGRADE DEMOCRACY

Im Rahmen des Projekts „Upgrade Democracy“ suchen wir weltweit nach Initiativen, Strategien und innovativen Tools, die digitale Diskurse präventiv stärken, zur Resilienz unserer Demokratien beitragen oder Desinformation erfolgreich begegnen. Wir bauen Brücken zwischen internationalen Akteur:innen und suchen nach Lösungen, die unser digitales Informationsökosystem langfristig stärken. Das Team hat im September zentrale Handlungsempfehlungen aus einer weltweiten Recherche in einem „10-Ideen-Papier“ veröffentlicht.

www.upgradedemocracy.de „Zeit zu handeln: Desinformation begegnen, um Demokratie zu stärken“

In Washington haben die Social-Media-Unternehmen alles im Griff – auch praktisch alle Anwaltskanzleien. Um sich gegen Elon Musk zur Wehr zu setzen, musste sich das CCDH juristischen Beistand außerhalb des Bundesstaates holen.

„Wir sind die natürliche Reaktion auf eine Industrie, die davon profitiert, Hass und Desinformation in unserer Gesellschaft zu erzeugen.“
IMRAN AHMED

Seit Jahrhunderten hart erkämpft: liberale Demokratien, freie Märkte und offene Gesellschaften. Diese Form der Zivilisation zu schützen, sieht Imran Ahmed als seine moralische Verantwortung an.

Für wie gefährlich halten Sie Elon Musk?

Er ist sowohl die größte Bedrohung als auch das größte Geschenk. Musk zeigt buchstäblich die Logik des Systems in den USA. Wenn du null Kosten für deine negativen Effekte hast, dann mach doch, was du willst. Wenn dich niemand zwingen kann zu zahlen, dann verbreite eben mehr Hass. Musk macht, was alle anderen tun: wie Zuckerberg bei Facebook, wie Pichai bei YouTube, wie Shou Zi Chew bzw. Xi Jinping bei TikTok. Musk hat nur bestätigt, was wir schon die ganze Zeit sagen, nämlich dass ihnen alles egal ist. Sie finden es gut, mit Hass und Desinformation Geld zu machen. Musk hat nur gezeigt, wohin das führt. Und hat damit die Wahrheit hinter allen Verharmlosungsversuchen dieser Unternehmen offengelegt. Das ist so brillant an ihm.

Für das Projekt „Upgrade Democracy“ haben sich die Kolleg:innen der Bertelsmann Stiftung angeschaut, wie Organisationen auf verschiedenen Kontinenten gegen Hetze und Desinformation im Netz vorgehen. Was können NGOs weltweit tun?

Ganz ehrlich: Das ist eine amerikanische Krankheit. Es sind amerikanische Online-Plattformen. Es sind

die amerikanischen Gesetzgeber, die nicht gehandelt haben. Was sollen Simbabwe oder Neuseeland dagegen tun? Klar, man kann versuchen, sich zu wehren. Aber es ist nicht genug. Man muss es in diesem Land hier in Ordnung bringen. Das ist der Riesenunterschied zum Klimawandel: Beim Klimawandel ist die ganze Welt gefordert. Um das zu lösen, müssen wir gemeinsam handeln. Bei diesem Problem stammt Patient Zero aus den USA. Der Ursprung dieser Krankheit, diese Pandemie der Desinformation, stammt vom Straßenmarkt in Washington, D. C. Und hier müssen wir das auch wieder beheben.

Das CCDH hat geholfen, den Online Safety Act in Großbritannien und den Digital Services Act (DSA) der EU mitzugestalten. Gehen diese staatlichen Regulierungswerkzeuge weit genug? Nein, natürlich nicht. Wir sollten trotzdem stolz darauf sein, dass Europa der erste Ort auf der Welt ist, wo eine systematische Gesetzgebung vorangetrieben wurde. Aber Gesetze ohne gute Regulierungen sind nutzlos. Ich fürchte, der Regulierungsprozess wird durch massive Lobby-Arbeit von Big Tech korrumpiert. Die größte Industrie in Brüssel ist jetzt die Tech-Industrie.

IMRAN AHMED

Imran Ahmed, 45 Jahre alt, Brite aus Manchester mit Familienwurzeln in Afghanistan und ältester Sohn einer Familie mit sieben Kindern. Er hat Sozial- und Politikwissenschaften in Cambridge studiert und zunächst für die Investmentbank Merrill Lynch gearbeitet, bevor er in Großbritannien in die Politik einstieg. Dort arbeitete er während des Brexit-Referendums als politischer Berater für die Labourpartei.

2019 gründete Ahmed das Center for Countering Digital Hate (CCDH) mit dem Ziel, die Verursacher:innen von Hass- und Desinformationskampagnen zu entlarven. Sein mittlerweile 40-köpfiges Team in Washington, London und Brüssel versucht, Öffentlichkeit und Werbetreibende für eine Reform von Big Tech zu mobilisieren und politische Veränderungen voranzutreiben.

www.counterhate.com/research

Dass eine Demokratie auch zerstört werden kann, kennt Imran Ahmed aus der eigenen Familiengeschichte: Er stammt aus Afghanistan und sein Großvater hat das dort in den siebziger Jahren selbst miterlebt, sagt er im Gespräch.

Sind die Politiker:innen in EU und UK darauf eingegangen, was Sie als CCDH im Vorfeld vorgeschlagen haben?

Meiner Meinung nach fehlen im britischen Online Safety Act Algorithmen, Werbung und künstliche Intelligenz. Auch beim DSA gibt es weiteres Verbesserungspotenzial. Aber unsere Aufgabe besteht vor allem darin, den Regulierungsbehörden bei der weiteren Gestaltung zu helfen: Was fehlt? Wie sollen der Online Safety Act 2.0 und der Digital Services Act 2.0 aussehen? Wir haben Teams, die daran arbeiten.

In den USA engagieren Sie sich für die Reform von Section 230, einer Gesetzesklausel von 1996, die den sozialen Netzwerken weitgehende Immunität gewährt. Wie sind die Erfolgschancen?

1.000 Leute haben mir gesagt, dass eine Reform unmöglich sei. Aber vor Kurzem haben zwei einflussreiche Mitglieder des Energie- und Handelsausschusses im US-Repräsentantenhaus, dem wichtigsten Gesetzgebungsausschuss für soziale Medien – Frank Pallone als Demokrat und Cathy McMorris Rodgers als Republikanerin –, einen gemeinsamen Leitartikel im „Wall Street Journal“ geschrieben und betont: Die Zeit für eine Reform von Section 230 sei

jetzt gekommen. Im aktuellen Wahlkampfprogramm der Demokraten sprechen sie über die Reform. Selbst im Trump-Lager ist das ein Thema. Die Reform ist nicht unmöglich, sie ist unvermeidlich. Und wir wollen hier in Washington an der Spitze stehen, um sie voranzutreiben.

„Ich bin sehr froh, dass Europa und Großbritannien gehandelt haben.“

Hinken politische Maßnahmen der technischen Entwicklung hinterher?

Ja, aber wollen wir den Politiker:innen die Schuld dafür geben? Der US-Präsident denkt darüber nach, wie er die Ukraine bewaffnen kann, und über China und über Armut und über die Obdachlosenkrise. Politiker:innen haben viele Probleme. Aber wenn sie das Versagen der sozialen Medien erst mal erkannt haben, sollten sie weniger zögern, ihnen Grenzen zu setzen. Ich bin also sehr froh, dass Europa und Großbritannien gehandelt haben. Es gibt ein Zeitfenster, ähnlich wie beim Klimawandel: Es hat keinen Sinn mehr, wenn wir es zu lange hinauszögern.

„Checks and Balances“, das System zur Herstellung und Aufrechterhaltung staatlicher Gewaltenteilung, wie es in der US-amerikanischen Verfassung verankert ist, funktioniert im Netz noch zu wenig. Das CCDH kämpft darum, Big Tech stärker in die Verantwortung zu nehmen.

„Die Lösung für das Problem ist nicht technologisch, sondern moralisch.“
IMRAN AHMED

Wie kann die Arbeit der Zivilgesellschaften und NGOs stärker unterstützt werden?

Wir brauchen mehr Ressourcen. Die Ironie ist, dass im Moment unseres Erfolgs Geldgeber:innen unserem Sektor die Mittel entziehen. Gerade jetzt – ein Jahr nach der Verabschiedung der europäischen Digital-Gesetze und nachdem wir endlich Werbepartner:innen zu Massenaktionen gegen die Plattformen mobilisieren konnten. Nicht beim CCDH allerdings, wir sind doppelt so groß wie im Vorjahr und müssen weiter stark expandieren, weil wir gebraucht werden. Im Moment wird die Finanzierung wie mit der Schrotflinte gestreut. Dieser Ansatz führt zu Wettbewerb.

Geldgeber:innen sagen uns: „Ihr müsst zusammenarbeiten.“ Deshalb habe ich eine Skala entwickelt, mit der wir Investor:innen dabei helfen, die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Wäre es einfacher, soziale Medien total zu verbieten?

Die Digitalisierung rückgängig zu machen, wäre enorm regressiv. Soziale Medien bleiben ein mächtiges Werkzeug. Ich bin das älteste von sieben Kindern. Meine Welt war winzig: mein Haus, meine Straße, meine Schule. Ich mochte die Vorteile, die das Internet versprochen hat: die Chance auf Kameradschaft, ein globales Verständnis füreinander, das Menschen und Kulturen zusammenbringt. Stattdessen haben sich innerhalb unserer Gesellschaften immer mehr Eigen- und Fremdgruppen gebildet. Das hat Brüche und Spaltungen erzeugt. Aber nicht die Technologie, sondern wir Menschen haben den Schlamassel verursacht. Es gibt keinen rassistischen Algorithmus, es gibt nur einen Algorithmus, der von Rassist:innen programmiert wurde.

Welche innovativen Tools für Gegenmaßnahmen gibt es?

Was müsste noch erfunden werden?

Die Lösung für das Problem ist nicht technologisch, sondern moralisch. Haben wir die Mittel, die Online-Plattformen zum Handeln zu zwingen? Ja, die haben wir. Sind die Werkzeuge robust genug? Nein, denn sie haben einen strategischen Schwachpunkt: Die Transparenz fehlt. Es gibt keine gesetzlich vorgeschriebenen Zugriffswege auf Daten, die Zivilgesellschaften oder akademischen Forscher:innen die Analyse ermöglichen, was auf den Plattformen passiert. Wenn man keine Beweise hat, geht das nicht. Aber diese Werkzeuge sind grundsätzlich sehr, sehr mächtig. Sobald sie vollständig einsatzfähig sind, müssen wir sie auch benutzen.

Interview mit anderen teilen

4,4 Mrd.

Menschen haben einen Internetzugang, Das heißt jede:r zweite weltweit.

93 %

davon nutzen die sozialen Medien.

In der Altersgruppe zwischen 14 und 29 Jahren verbringen sie dort täglich über

4 Std.

57 %

der Deutschen sehen Handlungsbedarf beim Schutz vor Desinformation.

DEMOKRATIE UND ZUSAMMENHALT

DIGITALISIERUNG UND GEMEINWOHL

Erstmals setzen wir unsere Aktivitäten gezielt programmübergreifend um. Globalisierung, Migration und Digitalisierung polarisieren, bieten aber auch neue Chancen. Deshalb entwickeln wir Konzepte und Projekte, die die Demokratie in Deutschland und Europa vielfältiger und inklusiver machen und den Zusammenhalt stärken. Gleichzeitig beleuchten wir technologische Trends und untersuchen, wie eine digitalisierte Öffentlichkeit gestärkt und am Gemeinwohl ausgerichtet werden kann.

Demokratie und Zusammenhalt

Digitalisierung und Gemeinwohl

PROGRAMME DER BERTELSMANN STIFTUNG

Der neue Rahmen der Public Diplomacy

Laird Erstveröffentlichung im Magazin ‚Transponder Nr. 5 ‘

2021 veröffentlichte die französische Regierung mit der „Feuille de route de l’influence“ einen Fahrplan für ihre künftige Soft-Power-Strategie. Zu dieser gehört als ein zentrales Konzept die „Diplomatie der Ideen“, die darauf abzielt, den internationalen Diskurs zu fördern und gleichzeitig Desinformation, die die französische Demokratie gefährdet, zu bekämpfen. Eine der Hauptprioritäten des Plans ist, dass der französische Staat „überall da präsent sein muss, wo Einfluss ausgeübt werden kann“. Außerdem werden allgemein mehr Investitionen in die digitale Einflussnahme gefordert. Diese Kombination bietet ideale Voraussetzungen, um Frankreichs Präsenz in den sozialen Medien im diplomatischen Bereich zu stärken.

Die neue Ära des Storytelling „Die beste Idee, die wir je hatten, war die Entscheidung, Geschichten zu erzählen, die die Menschen ansprechen“, erklärt Pierre Leonard, Kommunikationsleiter in der französischen Botschaft in Washington, D. C. „Wir passen uns ständig an, aber unser Ziel bleibt immer, die französisch-amerikanischen Verbindungen zu stärken und diese Beziehung in den Vordergrund zu rücken. Und dafür sind soziale Medien extrem wichtig.“ Mit den unterschiedlichen Plattformen der sozialen Medien hat die französische Botschaft in den USA einen neuen Kanal geschaffen, um Gespräche mit den „mehreren Hunderttausend Amerikaner:innen“ zu führen, die ihr folgen (zum Zeitpunkt des Schreibens hatte ihr X-Account, vormals Twitter, über 65.000 Follower:innen).

„Zu verstehen, dass eine überzeu -

gende Online-Präsenz sowohl Stil als auch Substanz erfordert, ist ein entscheidender Schritt nach vorn.“

„Die beste Idee, die wir je hatten, war die Entscheidung, Geschichten zu erzählen, die die Menschen ansprechen.“

Die Geschichten gehen weit über die von Präsidentenbesuchen hinaus. So gibt es ein Podcast-Interview mit Nicolas Maubert, Raumfahrtberater an der französischen Botschaft. Maubert erzählt über seine Atlantik-Überquerung in einem Ruderboot – und seine persönliche Geschichte ist nur eine von vielen, die ein neues Licht auf Frankreich werfen. Andere Beispiele mit persönlicher Note sind InstagramPosts der französisch-amerikanischen Influencerin Léanne Ansar, die den 8o. Geburtstag des beliebten französischen Kinderbuchs „Der kleine Prinz“ online feierte und seine Entstehungsgeschichte teilte. Solche Geschichten, historische Einblicke und Anekdoten bringen Frankreich einem amerikanischen Publikum näher, dem sonst vielleicht der Einfluss dieses europäischen Staates nicht so bewusst wäre.

Der gezielte Einsatz von Influencer:innen ist eine mutige Entscheidung, die aber bewusst getroffen wurde. Leonard erklärt sie als einen logischen Schritt für das Social-Media-Team der französischen Botschaft: „Wir sind in den Medien aktiv, es macht also Sinn, uns mit denen zusammenzutun, die ebenfalls schon dort aktiv sind. Die Influencer:innen, mit denen wir zusammenarbeiten, sind oft Personen, die sich bereits bei unseren Veranstaltungen engagieren.“ So erreicht das Team sein zentrales Ziel, die einzigartigen französischen Geschichten direkt vom französischen Ursprung in die amerikanischen Köpfe zu übermitteln.

Warum es funktioniert

Präsenz im digitalen Raum bringt nur dann etwas, wenn der vermittelte Inhalt die Zielgruppe anspricht. Der Erfolg der Strategie @FranceintheUS liegt unter anderem in der Zusammensetzung des Social-MediaTeams: Ein Mix aus Amerikaner:innen, Französinnen und Franzosen sowie Franco-Amerikaner:innen

arbeitet an der Strategie. Sie verstehen das Publikum, das sie erreichen möchten, weil sie selbst dieses Publikum sind. Der Inhalt wird bis ins Detail aufbereitet und dabei genau analysiert, was funktionieren könnte und was nicht. Der richtige Einsatz von Sprache, das Verfolgen der neuesten Social-Media-Trends in den USA und ein Verständnis für den Humor und die Emotionen der Zuschauer:innen – all das ist wichtig für eine wirkungsvolle Ansprache.

Eine andere erfolgreiche, wenngleich unkonventionelle Entscheidung ist das anhaltende Engagement der Botschaft auf TikTok. Stand November 2023 sind in den USA nur die Botschaften von Frankreich und Israel auf der chinesischen Plattform präsent. Leonard erläutert, dass die über 100 Millionen Amerikaner:innen, die diese Plattform nutzen, es für das Team notwendig machten, sie in seinen Social-Media-Plan einzubeziehen. Natürlich ist das Verständnis dafür, wo das eigene Publikum Inhalte konsumiert, für den Erfolg entscheidend.

Es ist schwierig, die Wirkung einer digitalen SoftPower-Strategie zu bewerten, aber es gibt einige Indikatoren. So zählt Französisch weiterhin zu den beliebtesten Sprachen in Amerikas Schulen, Frankreich ist nach wie vor eines der häufigsten Ziele für ein Auslandsstudium, und die USA bleiben der größte ausländische Investor in Frankreich, insbesondere im Bereich Arbeitsplatzschaffung.

Warum es wichtig ist

Wir leben in einer Zeit des Wettbewerbs um digitale Narrative, in der Desinformation weit verbreitet ist. Regierungen bedürfen einer ausgeprägten Sensibilität und eines genauen Verständnisses der digitalen Welt, um in dieser modernen, digitalen Zeit mithalten zu können.

Dies ist besonders wichtig, weil andere Regierungen bereits aktiv in diesem Bereich investiert haben. Präsident Xi Jinping erklärte 2017 die Notwendigkeit, „Chinas Geschichten gut zu erzählen, eine wahre, vielschichtige und breit gefächerte Sicht auf China zu präsentieren und die kulturelle Soft Power unseres Landes zu stärken“. Die chinesische Influencerin Li Ziqi zeigt ihren elf Millionen YouTube-Follower:in-

nen ihr beschauliches Leben auf dem chinesischen Land. Sie erzielt in wenigen Wochen über zehn Millionen Aufrufe eines einzigen Videos. China Central Television, der offizielle Rundfunksender der chinesischen Regierung, gratulierte der YouTuberin dazu, „der Welt chinesische Kultur“ vorzustellen, „Chinas Geschichten zu erzählen und das Vertrauen und wundervolle Leben von Chinas Jugend zu zeigen“. Diese Strategie trägt dazu bei, dass eine jüngere Generation von Amerikaner:innen China freundlicher gegenübersteht als ältere Generationen. In einer Umfrage sahen etwa 25 Prozent der 18- bis 44-Jährigen China als Feind der USA – verglichen mit 52 Prozent der über 45-Jährigen. Schritt zu halten im Wettbewerb um Ideen ist in dieser neuen Ära der Social-MediaDiplomatie von entscheidender Bedeutung.

Wie wir wissen, informiert sich die jüngere Bevölkerungsgruppe von Digital Natives größtenteils durch soziale Medien. Die Macht von Einzelpersonen und ihren einzigartigen Geschichten auf diesen Plattformen sollte man nicht unterschätzen. Der Erfolg dieser Geschichten ist längst nicht mehr auf Influencer:innen mit Hunderttausenden oder Prominente mit Millionen von Follower:innen beschränkt. An jedem einzelnen Tag wird eine durchschnittliche persönliche Geschichte über Nacht eine Sensation, die millionenfach aufgerufen wird und wichtige Einblicke in eine gemeinsame Kultur, die Geschichte eines Ortes oder wirtschaftliche Auswirkungen geben kann. Das ist unser neues Zeitalter des Einflusses.

„Die Diplomatie des Einflusses besteht nicht nur in der Aktion –sie besteht auch in der Erzählung.“

Die „Feuille de route de l’influence“ erkennt diese Realität deutlich: „Die Diplomatie des Einflusses besteht nicht nur in der Aktion – sie besteht auch in der Erzählung.“ Die Einsätze sind hoch, denn „der Kampf um Einfluss ist auch ein Kampf um Narrative. Heute, und mehr noch im Zeitalter der sozialen Medien und ihrer viralen Wirkung, ist eine Sache, ein Ereignis, eine Handlung des Staates auch – und manchmal vor allem – das, was darüber gesagt wird.“ Heute „werden Diplomatie und Außenpolitik vornehmlich durch Reden, Erzählungen, Narrative entfaltet“. Und „Einflussdiplomatie“ ist nicht länger eine Option, sondern eher, wie die französische Regierung betont, „ein integrales Element der Außenpolitik von Staaten, die auf der internationalen Bühne Spuren hinterlassen wollen“.

Zeit in die Präsentation von Geschichten und die Personen, die sie erzählen, zu investieren, ist eine konstruktive digitale Strategie, in die – neben Frankreich – mehr demokratische Regierungen aktiv investieren sollten. Zu verstehen, dass eine überzeugende Online-Präsenz sowohl Stil als auch Substanz erfordert, ist ein entscheidender Schritt nach vorn.

„Der neue Rahmen der Public Diplomacy“ wurde unter dem Titel „The New Frontier of Public Diplomacy“ zuerst im Magazin „Transponder“ der Bertelsmann Foundation North America (BFNA) veröffentlicht.

BERTELSMANN FOUNDATION NORTH AMERICA

Die BFNA ist ein unabhängiger, unparteiischer und gemeinnütziger Think-Tank in Washington, D. C., der sich mit transatlantischen Perspektiven auf globale Herausforderungen beschäftigt. Sie wurde 2008 als Schwesterstiftung der Bertelsmann Stiftung gegründet. Als Brücke zwischen Europa und Amerika zeigt sie Best-Practice-Beispiele aus der Außen-, Wirtschafts- und Sozialpolitik auf beiden Seiten des Atlantiks auf. Dahinter steht der Gedanke, dass Europäer:innen und US-Amerikaner:innen früher oder später vor den gleichen Herausforderungen stehen und von den Lösungsansätzen des anderen lernen können.

Jung und einsam

Sich einsam zu fühlen, gilt als Tabu, vor allem bei jungen Menschen. Dabei ist die Zahl junger Erwachsener, die unter Einsamkeit leiden, seit der Covid-19-Pandemie stark gestiegen. Eine Initiative in den Niederlanden kämpft dagegen an, indem sie Betroffene zusammenbringt – denn Einsamkeit gefährdet nicht nur ihre Gesundheit, sondern auch die Demokratie.

’S-HERTOGENBOSCH, NIEDERLANDE

Anja Tiedge Valeska Achenbach Juli 2024 sonnig, 30 °C

Matthew Hudson hatte als Teenager große Probleme, Anschluss zu finden. Mithilfe der Stiftung Join Us lernte der Niederländer Gleichaltrige kennen, denen es ähnlich ging, und fand unter ihnen Freunde.

„Wir wollen den Jugendlichen die nötigen sozialen Kompetenzen mitgeben, die sie ihr ganzes Leben lang nutzen können.“

„Wer weiß, ob ich ohne die Hilfe von Join Us noch hier wäre.“ Jan Timmers lächelt, als er diesen Satz sagt. Der 30-Jährige wirkt erleichtert, aber auch angespannt. Er erinnert sich noch gut an die Gefühle, die ihn vor einigen Jahren dominierten: Angst, Überforderung, Einsamkeit. Schon in der Schule im niederländischen Uden wurde er von seinen Mitschüler:innen schikaniert; die Pausen verbrachte er allein und wartete, bis der Unterricht wieder begann. Während seiner Studienzeit erreichte seine Einsamkeit den Höhepunkt. Als er suizidale Gedanken entwickelte, vertraute er sich seinen Eltern an. Sie kümmerten sich um psychologische Beratung und brachten ihren Sohn mit Join Us in Kontakt.

Die niederländische Stiftung bringt junge Menschen im Alter von 12 bis 25 Jahren zusammen, die sich einsam fühlen. Alle zwei Wochen treffen sie sich in landesweit 83 Jugendzentren. Mit dabei sind Sozialarbeiter:innen, die von Join Us speziell geschult werden. Das Ziel: Die Teilnehmer:innen haben mit Gleichgesinnten eine gute Zeit und finden neue Freund:innen. Bei Jan Timmers hat das funktioniert. „Das erste Mal in meinem Leben fühlte ich mich angenommen und willkommen.“ Heute, rund sieben Jahre später, nennt er einige der einstigen Teilnehmer:innen gute Freund:innen. Auch seine Freundin lernte er bei einem „Join Us“-Treffen kennen.

Stärkung der sozialen Gesundheit

Mit Gleichaltrigen Spaß zu haben, sei der erste Schritt heraus aus der negativen Gedankenspirale, in der sich Menschen mit Einsamkeitsgefühlen oft befinden, sagt Jolanda van Gerwe, die Gründerin von Join Us. „Im zweiten Schritt möchten wir sie befähigen, sich auch außerhalb von Join Us ein Netzwerk aufzubauen und zu erhalten. Das ist Teil ihrer sozialen Gesundheit.“ Neben der physischen und der mentalen Gesundheit bekomme diese in der Öffentlichkeit zu wenig Aufmerksamkeit. „Wir wollen den Jugendlichen die nötigen sozialen Kompetenzen mitgeben, die sie ihr ganzes Leben lang nutzen können.“

Die Sozialarbeiter:innen sprechen mit ihnen persönlich über ihre Herausforderungen oder stellen ihnen Aufgaben, die sie in der Gruppe lösen. So bekommen die Teilnehmer:innen etwa einen Apfel, den sie gegen etwas Größeres eintauschen sollen. Dafür müssen sie auf der Straße fremde Menschen ansprechen oder an Türen klingeln – für die meisten eine gewaltige Herausforderung, die sich im Team leichter lösen lässt und für Erfolgserlebnisse sorgt, die das Selbstbewusstsein stärken.

Gesellschaftliches Problem – länderübergreifend Als Pädagogin, die früher Jugendliche therapeutisch beriet, begegnete van Gerwe vielen, die sich über lange Zeit einsam fühlten. „Im persönlichen Gespräch konnte ich nicht genug für sie tun“, sagt sie. Deshalb startete sie 2016 die erste „Join Us“-Gruppe. Das Projekt wurde so gut angenommen, dass sie 2018 eine Stiftung gründete.

Bereits damals gaben in den Niederlanden 39 Prozent der 18- bis 35-Jährigen an, sich einsam zu fühlen. Unter anderem durch die Covid-19-Pandemie erhöhte sich dieser Wert auf 46 Prozent. Die niederländische Regierung bezeichnet Einsamkeit in ihrem Aktionsplan „Zusammen gegen Einsamkeit“ als ein „gesellschaftliches Problem von noch nie da gewesenem Ausmaß“ und fokussiert zunehmend die Jüngeren.

„Fast jede:r erlebt irgendwann einmal Einsamkeit“, heißt es darin. „Normalerweise geht das Gefühl vorüber. Wenn die Einsamkeit jedoch andauert […], kann sie zu schwerwiegenden körperlichen, psychischen und finanziellen Folgen führen.“ Schlafprobleme, Depressionen oder Sucht seien einige dieser Konsequenzen. Oft entstehe ein negativer Kreislauf: Die Betroffenen ziehen sich zurück, was ihre Isolation wiederum verschlimmert. „Einsamkeit wirkt sich auch auf die Gesellschaft als Ganzes aus, indem sie das soziale Engagement verringert und die öffent-

„Das erste Mal in meinem Leben fühlte ich mich angenommen und willkommen.“
JAN TIMMERS

DIE NIEDERLANDE – PIONIER IM KAMPF GEGEN EINSAMKEIT

Vor zehn Jahren riefen die Niederlande als erstes Land ein nationales Programm gegen Einsamkeit ins Leben. Gemeinsam mit Gemeinden erstellte das Ministerium für Gesundheit, Wohlfahrt und Sport den „Reinforced action plan against loneliness“. 2018 stellte die Regierung das Programm „Zusammen gegen Einsamkeit“ mit einem Budget von 26 Millionen Euro vor, das vorrangig auf Senior:innen abzielte. Das Folgeprogramm von 2022 bis 2025 weitete die Zielgruppe auf die gesamte Bevölkerung aus. Die Regierung verpflichtete sich darin, jährlich weitere 10 Millionen Euro für Maßnahmen gegen Einsamkeit zur Verfügung zu stellen.

„Ministerium für Gesundheit, Wohlfahrt und Sport der Niederlande“

Inzicht in de impact van Join Us

E-learnings voor ouders en professionals

„Samen laten we jongeren meedoen“ heißt übersetzt „Gemeinsam beziehen wir Jugendliche ein“. Das ganzheitliche und methodische Vorgehen von „Join Us“ schafft eine unterstützende Community als starke soziale Basis vor Ort.

Regionale en landelijke campagnes

Netwerkmeeting eenzaamheid

JOIN US ONLINE GROEP(EN) JOIN US COMMUNITY

E-TOOLS VOOR JONGEREN

Masterclasses voor jeugdprofessionals

JOIN US IN REAL LIFE GROEPEN

SAMEN LATEN WE JONGEREN MEEDOEN

ERKENDE METHODIEK & WERKWIJZE

Training Join Us methodiek voor jeugdprofessionals

Advies en ondersteuning bij het bereiken van jongeren

liche Gesundheit untergräbt“, heißt es in dem Papier weiter. Eine frühzeitige Behandlung könne dazu beitragen, diese Probleme einzudämmen.

Auch in Deutschland ist Einsamkeit unter jungen Menschen weitverbreitet. Eine repräsentative Umfrage der Bertelsmann Stiftung mit rund 2.500 Teilnehmer:innen zeigt ein ähnliches Bild wie in den Niederlanden: 46 Prozent der 16- bis 30-Jährigen fühlen sich demnach einsam. In dieser Gruppe fühlen sich 35 Prozent moderat einsam und etwa 10 Prozent sogar stark einsam – und damit mehr als in allen anderen Altersgruppen.

„Einsamkeit betrifft längst nicht nur ältere Menschen.“

„Einsamkeit betrifft längst nicht nur ältere Menschen“, sagt Dr. Anja Langness, Expertin für Jugend und Gesundheit bei der Bertelsmann Stiftung. „Während der Covid-19-Pandemie waren junge Menschen am stärksten von Einsamkeit betroffen. Unsere aktuelle Umfrage zeigt, dass diese Belastung nach wie vor sehr hoch ist.“ Diese Entwicklung erfordere eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung, denn wenn ein Teil der jungen Menschen unter Einsamkeit leidet, habe das Folgen für alle. Dabei stünden die Belastungen durch Einsamkeit nicht nur mit einer schlechteren Gesundheit in Verbindung, sondern sei-

en auch eine Gefahr für unsere Demokratie. „Einsame Menschen neigen eher zu extremen politischen Einstellungen und glauben eher als Nichteinsame an politische Verschwörungserzählungen“, so Langness. „Um dieser Herausforderung erfolgreich zu begegnen, brauchen wir in Deutschland mehr konkrete Ideen und innovative Initiativen, so wie Join Us es in den Niederlanden vormacht.“

Konkrete Initiativen und Finanzierungsfragen

Die dortige Regierung investiert derzeit jährlich 10 Millionen Euro in den Kampf gegen Einsamkeit. So wolle sie sicherstellen, „dass das Problem der Einsamkeit die Aufmerksamkeit erhält, die es wirklich verdient“, heißt es im Aktionsplan. Davon profitiert auch Join Us. „Ohne staatliche Unterstützung könnten wir nicht arbeiten“, sagt Gründerin van Gerwe. Die Stiftung finanziert sich zu circa einem Drittel aus Zuschüssen von der Regierung.

Auch die deutsche Bundesregierung hat Einsamkeit als politische Herausforderung erkannt. In ihrer „Strategie gegen Einsamkeit“ sichert sie unter anderem zu, dass Praktiker:innen in der Sozialen Arbeit bei der Vorbeugung und Linderung von Einsamkeit gestärkt werden. Als Maßnahmen nennt sie zum Beispiel die Förderung des Projekts „Kompetenznetz Einsamkeit“, das Wissen zum Thema bündeln soll, um gewonnene Erkenntnisse in die politische und gesellschaftliche Praxis einfließen zu lassen.

Sie möchten die soziale Gesundheit junger Menschen stärken: Ex-Teilnehmer und IT-Experte Jan Timmers im Gespräch mit „Join Us“-Kollegin Judith Versteden; Tine Daamen, Operative Leiterin, und Kyra Haerkens, Impact and Development Manager bei Join Us (von links); Teilnehmer Matthew Hudson im Gespräch mit Sozialarbeiterin Anne van Esch (unten).

Viele der im Strategiepapier angeführten Maßnahmen sind Forschungsprojekte oder Vorhaben, die auf lange Sicht Wirkung zeigen sollen. Auch werden keine Summen genannt, die in die Bekämpfung von Einsamkeit fließen. Konkrete Initiativen und Fördergelder seien aber nötig, um jungen Menschen zu helfen, sagt Jolanda van Gerwe, die vor einigen Monaten in Berlin eine Rede von Familienministerin Lisa Paus zum Thema Einsamkeit hörte. „Wenn sich Jugendliche stark einsam fühlen, brauchen sie jetzt Hilfe, ohne Hürden oder Kosten. Sich vorrangig auf langfristige Auswirkungen der politischen Arbeit gegen Einsamkeit zu konzentrieren, wird ihnen nicht gerecht.“

Anne van Esch weiß, wie dringend der Bedarf der Jugendlichen ist. Sie ist eine von rund 250 Sozialarbeiter:innen, die landesweit mit den „Join Us“-Gruppen arbeiten. „Als wir die Gruppe 2023 ins Leben riefen, haben sich direkt 20 Jugendliche gemeldet, die mitmachen wollten. Es war dringend nötig, anzufangen“, sagt die 36-Jährige, die in Oss im Süden der Niederlande tätig ist. „In der Pubertät will man herausfinden, wer man ist und was einen ausmacht.“ Bei Join Us können die Teilnehmer:innen das in einem geschützten Rahmen tun.

„Sie üben zum Beispiel, in der Gruppe zu sprechen, was für viele wahnsinnig schwierig ist. Wenn sie

scheitern, können sie es noch mal versuchen, ohne von den anderen verurteilt zu werden. Das ist woanders nicht unbedingt der Fall.“ Neben den Treffen in Jugendzentren gibt es auch Online-Gruppen, falls der nächste „Join Us“-Standort zu weit entfernt ist.

Einsamkeit das Stigma nehmen

Matthew Hudson ist einer der Teilnehmer in Oss. Als Teenager hatte er große Schwierigkeiten, Anschluss zu finden und sich anderen anzuvertrauen. „Ich versuchte, meine Probleme zu verdrängen, indem ich mich in mein Zimmer einschloss und am Computer spielte. Aber das hat nicht funktioniert.“ Schließlich sprach er mit seiner Ärztin über seine Einsamkeit. Sie machte ihn auf die „Join Us“-Gruppe aufmerksam. „Hier fällt es mir leichter, mit anderen ins Gespräch zu kommen, weil es ihnen ähnlich geht wie mir.“

„Hier fällt es mir leichter, mit anderen ins Gespräch zu kommen, weil es ihnen ähnlich geht wie mir.“

Hudson mag nach wie vor keine großen Gruppen und hält sich bei den Treffen eher zurück. „Damit können die anderen aber gut umgehen.“ Vor einigen Monaten war der 24-Jährige zum ersten Mal in einer Bar. Während der Fußball-EM hat er dort mit einem Freund von Join Us ein paar Spiele geschaut. „Es war besser, als ich dachte, weil nicht so viel los war. Wenn jemand mitkommt, würde ich es noch mal machen.“

Für die jungen Menschen ist es sehr wichtig, Geschichten von anderen zu hören, in denen sie sich wiedererkennen, sagt „Join Us“-Gründerin van Gerwe. „Die meisten denken, dass sie die Einzigen sind, die sich einsam fühlen.“ Leider sei Einsamkeit in der Gesellschaft mit einem Stigma behaftet. Dieses Tabu langfristig zu brechen, ist ein erklärtes Ziel der Stiftung. „Im Moment ist es aber noch so, dass niemand den Stempel ‚einsam‘ aufgedrückt bekommen will – schon gar nicht junge Menschen.“ Auf dem TikTok- und Instagram-Kanal der Stiftung ist der

„ Anfangs sind sie ängstlich, dann kommen sie her und passen genau rein – etwas, das sie vorher noch nie erlebt haben. Ich finde das wirklich wunderbar.“

JAN TIMMERS

Begriff „einsam“ deshalb nur selten zu finden. Vielmehr macht sie mit positiven Botschaften wie „Hast du Lust, neue Leute kennenzulernen und gemeinsam etwas zu unternehmen?“ auf sich aufmerksam. „Über Social Media und Google finden die meisten Teilnehmer:innen zu uns, gefolgt von Sozialarbeiter:innen und Ärzt:innen“, so van Gerwe.

Ein Hinweis ihrer Psychotherapeutin führte auch Lizzy Oostermeijer zu Join Us. Mit zwölf Jahren wurde bei ihr Autismus festgestellt, eine Diagnose, mit der sie sich schwertat. „Die Eltern einer Freundin wollten danach nicht mehr, dass ich mit ihrer Tochter spiele“, berichtet sie. „Dabei wollte ich einfach normal sein.“ Sie fühlte sich ausgeschlossen und wurde depressiv. Auf einer Förderschule war sie zwischenzeitlich das einzige Mädchen. Mittlerweile hat die 20-Jährige die Schule abgebrochen. „Wenn du nicht ins System passt, giltst du als schwierig und wirst zurückgelassen.“

Der Schritt, bei Join Us mitzumachen, fiel ihr anfangs sehr schwer. „Es war total beängstigend herzukommen. Mir schwirrten 1.000 Fragen durch den Kopf: Was, wenn mich die anderen nicht mögen? Wenn ich zu viel bin?“ Doch sie überwand ihre Zweifel und ging zu einer Gruppe in ’s-Hertogenbosch, wo sich auch der Sitz von Join Us befindet. Eine Sozialarbeiterin hieß sie willkommen und stellte sie der Gruppe vor. „Alle waren sehr entgegenkommend und haben mich mit offenen Armen empfangen. Das war ein neues und sehr gutes Gefühl.“ Das war vor zehn Monaten. Inzwischen gehören einige der Teilnehmer:innen zu Oostermeijers Freund:innen. „Ich würde sagen, Join Us hat mir das Leben gerettet. Das sind große Worte, aber es stimmt.“

Vom Teilnehmer zum Mitarbeiter

Auch Jan Timmers erinnert sich noch gut an sein erstes „Join Us“-Treffen vor sieben Jahren. Vor der Tür wäre er fast wieder umgedreht, weil er so nervös war. Doch er trat ein – und war geschockt. „Auf positive Art“, sagt er lachend. „Die Teilnehmer:innen mach-

ten Platz für mich, damit ich mich setzen konnte. Das war mir vorher noch nie passiert.“ Die Gruppe spielte ein Brettspiel und überließ es ihm, ob er mitmachen oder erst mal nur zugucken wollte. Timmers entschied sich für Letzteres.

Seitdem hat sich sein Selbstbewusstsein stark verbessert. Er hat gelernt, sich anderen Menschen gegenüber zu öffnen, und weiß sich zu helfen, wenn er sich in einer sozialen Situation überfordert fühlt. Mittlerweile nimmt er zwar nicht mehr an Treffen teil, ist nun aber Mitarbeiter der Stiftung: Als IT-Experte programmiert er unter anderem die Website von Join Us. Und er hilft gelegentlich bei Gruppentreffen mit, damit sich die Teilnehmer:innen willkommen fühlen. In ihnen erkennt er sich selbst wieder: „Anfangs sind sie ängstlich, dann kommen sie her und passen genau rein –etwas, das sie vorher noch nie erlebt haben. Ich finde das wirklich wunderbar.“ Reportage mit anderen teilen

PROJEKT DER BERTELSMANN STIFTUNG

JUNGE MENSCHEN UND GESELLSCHAFT

Das Projekt „Junge Menschen und Gesellschaft“ der Bertelsmann Stiftung stärkt die gesellschaftliche Teilhabe junger Menschen (16–30 Jahre) in Deutschland. Ziel ist es, politische Mitgestaltung und zivilgesellschaftliches Engagement junger Menschen zu fördern, um langfristige gesellschaftliche Veränderungen anzustoßen. Ein wichtiger Fokus liegt auf der mentalen Gesundheit, da junge Menschen aufgrund multipler Krisen besonders belastet sind. Die Studienlage zeigt, dass junge Menschen die von Einsamkeit am stärksten betroffene Gruppe in Deutschland sind.

www.bertelsmann-stiftung.de/nextgen-gesellschaft „Wie einsam sind junge Erwachsene im Jahr 2024?“

STECKST DU IN EINER AKUTEN KRISE?

Wir hören dir zu und können über deine Situation sprechen. Wir ermutigen dich und halten mit dir aus, was in deinem Leben gerade schwer, traurig oder unerträglich ist. Du bist nicht allein!

Suizidprävention: Wir sind für dich da! www.online.telefonseelsorge.de

„Ich würde sagen, Join Us hat mir das Leben gerettet.“ Lizzy Oostermeijer (unten rechts) fühlte sich von der Sozialarbeiterin Britt Hilliger mit offenen Armen empfangen. Für Teilnehmer Matthew Hudson (oben) sind Menschenmengen eine Herausforderung, im Sommer war er das erste Mal in einer Bar: „Es war besser, als ich dachte.“

WAS SAGEN JUGENDLICHE IN DEUTSCHLAND DAZU?

Jeder zehnte junge Mensch in Deutschland fühlt sich stark einsam. Die Ursachen reichen vom Corona-Lockdown über Social Media bis hin zu Mobbing. Vier junge Erwachsene erzählen, was die Einsamkeit bei ihnen ausgelöst hat, wie sich das Gefühl bei ihnen äußert und was Politik und Gesellschaft tun können, um das Problem zu bekämpfen.

Finn, 21

Finn Siebold, 21, Auszubildender aus Berlin

Wann hast du dich zum ersten Mal einsam gefühlt?

Das Gefühl begleitet mich seit der Grundschule. Ich bin auf dem Land aufgewachsen und wurde schon als Kind gemobbt. Da habe ich mich zum ersten Mal einsam gefühlt. Später in der weiterführenden Schule hatte ich viel Kontakt zu Mitschüler:innen, weil ich in der Schüler:innenvertretung aktiv war, auch auf Kreis- und Landesebene. Die Kontakte blieben aber oberflächlich, weil ich Angst hatte, zurückgewiesen oder gemobbt zu werden.

Heute wohnst du in Berlin. Ist es in der Großstadt einfacher, Freund:innen zu finden?

Nein. Ich bin mit 17 allein nach Berlin gezogen.

Damals war die Pandemie in vollem Gange, weshalb der Start sehr schwierig war. Aber auch jetzt, nach vier Jahren, habe ich noch keine engen Freundschaften geschlossen. Ich dachte immer, in einer Großstadt findet man schnell Anschluss – aber das große Angebot überfordert mich zum Teil. Berlin ist wie ein Kleiderschrank, der so viele Möglichkeiten bietet, dass man am Ende nicht weiß, was man anziehen soll. Außerdem kosten die meisten Aktivitäten etwas – das können sich nicht alle leisten.

Was sollte deiner Meinung nach getan werden, damit sich weniger junge Menschen einsam fühlen?

Die Politik müsste Geld zur Verfügung stellen, um Orte und Personal zu finanzieren, wo junge Leute zwanglos zusammenkommen können, die Gesellschaft suchen. Gerade nach Corona muss die Jugend besonders gefördert werden, damit sie eine Chance hat, sich zu entfalten.

„Ich hatte das Gefühl, dass mich niemand versteht und dass ich anders bin als alle anderen.“

Marlén, 15

Marlén Wolfrum, 15, Schülerin aus Detmold

Wann ist Einsamkeit für dich zum Problem geworden?

Ich hatte das Gefühl, dass mich niemand versteht und dass ich anders bin als alle anderen. Solche Gefühle sind in der Pubertät ja normal. Aber als der CoronaLockdown kam und ich keine Chance mehr hatte, soziale Kontakte zu knüpfen, fühlte ich mich über Wochen oder Monate hinweg einsam. Ich dachte, dass niemand für mich da ist und die Leute nur so tun, als würden sie mich mögen.

Ist das heute anders?

Ich habe ein paar Freund:innen, aber selbst meiner besten Freundin sage ich nicht alles, was mich beschäftigt. Ich hätte Angst davor, dass sie mich irgendwann verlässt und meine Geheimnisse weitersagt. Das ist mir in ähnlicher Form schon passiert. Aber nicht nur ich habe Vertrauensprobleme. Viele in meinem Alter haben Angst, neue Leute kennenzulernen und Vertrauen zu fassen. Wir haben das während der Coronapandemie nicht gelernt.

Was wünschst du dir, damit sich weniger junge Menschen einsam fühlen?

Als Jugendliche wird man von der Politik kaum wahrgenommen. Die psychischen Probleme, die die Pandemie ausgelöst hat, wurden vergessen. Wir brauchen mehr öffentliche Räume, wo sich Jugendliche treffen und connecten können. Orte mit freiem WLAN, Kickertischen, Billardtischen oder wo man Sport treiben kann. So wie der Skatepark hier in Detmold. Mit meinen Eltern habe ich einen SkateVerein gegründet. Wir wollen uns dafür einsetzen, dass wir eine Skate-Halle bekommen, damit die Skate-Community auch im Winter zusammenkommen kann.

„Ich wünsche mir aber auch, dass Einsamkeit ihr Stigma verliert.“

Miri, 22

Miri Weber, 22, studiert in Berlin

Wann hast du dich zum ersten Mal einsam gefühlt?

Ich hatte schon im Kindergarten Schwierigkeiten, Anschluss zu finden. Mir fällt es zum Beispiel schwer, in Gesprächen herauszufinden, wann ich dran bin zu sprechen. Deshalb wirke ich oft abwesend, was meine Mitmenschen manchmal als respektlos empfinden. Dieses Gefühl, anders oder falsch zu sein, führte bei mir zu Einsamkeit. Es folgte eine jahrelange Suche nach den Ursachen für mein „Anderssein“. Mittlerweile weiß ich, dass ich verschiedene psychiatrische Krankheitsbilder habe. Derzeit lasse ich mich deshalb in einer Klinik stationär behandeln.

Welche Rolle spielte Social Media für dich?

Zwei sehr verschiedene: Einerseits habe ich durch Social Media herausgefunden, dass ich mit meinen

Gefühlen nicht die Einzige bin. Mir hat geholfen, dass viele Menschen dort ihre Erfahrungen teilen. Andererseits habe ich dort Bestätigung gesucht und gefunden, was letztlich wie eine Sucht und destruktiv war.

Was wünschst du dir für junge Menschen, die sich einsam fühlen?

Dass es mehr Angebote für sie gibt, die da sichtbar gemacht werden, wo sich junge Menschen aufhalten, zum Beispiel in Social Media. Ich wünsche mir aber auch, dass Einsamkeit ihr Stigma verliert. „Warum geht’s dir nicht gut? Du hast doch alles!“, habe ich oft gehört. Außerdem sollte es in der Schule Möglichkeiten geben, über mentale Gesundheit zu sprechen und wohin man sich wenden kann, wenn es einem schlecht geht.

Als Mitglied des Jugendparlaments und Stipendiat der Deutschlandstiftung Integration bist du viel in Deutschland unterwegs und tauschst dich mit Menschen aus. In welchen Momenten fühlst du dich einsam?

Ich bin ein sozialer Mensch und gehe gern raus. Andere spielen gern Fußball, ich bin politisch aktiv, fahre zu Konferenzen und Vorträgen. Als all das durch Corona nicht mehr ging, bin ich in ein tiefes Loch gefallen. Ich habe mich im Lockdown sehr einsam gefühlt und bin in eine Depression gerutscht.

War dir damals bewusst, dass du depressiv warst?

Nein, das habe ich erst später rausgefunden. Wenn man eine Depression hat, heißt das nicht zwangsläufig, dass man traurig in der Ecke sitzt. Ich habe versucht, weiter aktiv zu sein, habe mit einem Kumpel eine Initiative gegründet und Masken an Altenheime und Diakonien verteilt. Nach außen war ich unverändert, war sogar Schülersprecher. Innerlich fühlte ich mich leer und ausgebrannt.

Wie äußert sich die Einsamkeit bei dir?

Sie zeigt sich in verschiedenen Alltagssituationen. Selbst wenn ich mit Leuten unterwegs bin, fühle ich mich oft allein. Auch die politische Lage macht mir zu schaffen, wie der Aufschwung der AfD. Ich habe ein krasses Ohnmachtsgefühl, weil viele Menschen nicht interessiert, was in unserem Land passiert. Ich habe selbst Erfahrungen mit Rassismus gemacht, seitens Mitschüler:innen und Lehrer:innen.

Was wünschst du dir von der Politik?

Wir leben in einer Ellenbogengesellschaft, weil schon in der Schule eine krasse Konkurrenz untereinander gefördert wird. Das ist ein Problem, weil alle nur noch an sich denken und sich nicht mehr um ihre Mitmenschen kümmern. Die Politik sollte mehr dafür tun, dass die Gesellschaft zusammenrückt und die Menschen solidarischer miteinander sind. Das würde auch die mentale Gesundheit vieler verbessern.

Omar, 20

Was bleibt von diesem Sommer? Von den Großereignissen denke ich an den Starkregen bei der FußballEM, die Seine, die topfitte Olympia-Athlet:innen krank machte, und all die neuen Hitzerekorde im Meer, in den Polregionen und in vermeintlichen „Urlaubsparadiesen“. Die Einschläge kommen näher. Und im Kleinen denke ich an einen intensiven Tag in Berlin in der Repräsentanz der Bertelsmann Stiftung mit „Next Gen“-Familienunternehmen, -Investor:innen und -Erb:innen sowie mit der Bundesinitiative Impact Investing und meiner Stiftung Gesunde Erde – Gesunde Menschen. Wir leben in einem der reichsten Länder der Welt – mit über 7.000 Milliarden Euro Privatvermögen, Tendenz steigend. Niemand kann sich seine eigene Außentemperatur kaufen. Auch kein Privatversicherter. Wir sind verletzlicher, als wir glauben. Hitze tötet. 42 Grad Körperkerntemperatur sind das Ende des Thermometers und allen menschlichen Lebens. Unsere Lebensgrundlagen zu bewahren, „gehört“ nicht einer Generation, geschweige denn einer Partei. Wir schaffen es gemeinsam oder gar nicht.

Was alle wollen: Gesundheit. Und die beginnt nicht mit einer Tablette, Operation oder einem MRT. Gesundheit beginnt mit der Luft, die wir atmen, mit dem Wasser, das wir trinken, leckeren Pflanzen zum Essen, erträglichen Temperaturen und einem friedlichen Miteinander. Alle fünf Grundlagen sind akut in Gefahr. Nichts davon wird von allein besser. Und nichts davon regelt der Markt, solange eine Tonne CO2 75 Euro kostet, der Schaden aber uns alle über 1.000 Euro. Umso absurder, dass wir weiter mit Milliarden Steuermitteln fossile Energie und ein zerstörerisches Agrarsystem subventionieren.

mus. Die fossile Lobby hat Desinformation, falsche Expert:innen und Scheindebatten extrem wirkungsvoll finanziert. Wollen Sie nicht lieber die Lobby der Zukunft stark machen? Deshalb bin ich seit Gründung im Beirat von PHINEO und freue mich auch über Spenden und Zusammenarbeit mit Gesunde Erde – Gesunde Menschen – nicht für mich,

„Es ist schwer, die Welt ehrenamtlich zu retten, solange andere sie hauptberuflich zerstören.“

sondern für mein multiprofessionelles Team. Es ist schwer, die Welt ehrenamtlich zu retten, solange andere sie hauptberuflich zerstören. Das Wichtigste, was eine Einzelne oder ein Einzelner jetzt tun kann, ist: nicht allein zu bleiben! Alle, die dies hier lesen, haben einen Handabdruck – wichtiger als ihr Jutebeutel. Sie haben Einfluss auf „jute“ Politik! Auf Investitionsentscheidungen, auf Geldanlagen, auf nationale und internationale Rahmenbedingungen, die das Zerstören unserer Lebensgrundlagen teurer und das Bewahren der Schöpfung attraktiver machen.

Wir brauchen die Erde mehr als die Erde uns. Investieren in die letzten intakten Lebensräume ist „the next hot shit“! Ob eine Aktie in 10 oder 20 Jahren noch werthaltig ist, weiß niemand. Aber dass Gebiete mit zusammenhängender artenreicher Natur und gesunder, unversiegelter Boden seltener und immer kostbarer werden, ist ein „No-Brainer“. Positive Beispiele aus Deutschland sind der Legacy Landscape Fund der KfW, NatureRe oder die Landbanking Group.

Menschen sind soziale Wesen. Wir brauchen Rollenmodelle, Lösungen und Vorreiter:innen. Tue Gutes –UND REDE DARÜBER! Advocacy, Kommunikation und Vernetzung der Stakeholder:innen werden in Deutschland sträflich unterschätzt. Dabei sind sie oft die allerbeste Investition und effektiver Altruis-

Was mir in den letzten Jahren immer deutlicher geworden ist: Es braucht auch den Herzabdruck. Wir können nur schützen, was wir schätzen. Um Change um uns und in uns zu bewirken, brauchen wir einen inneren Kompass, Begeisterung und Lust auf Zukunft. Was waren Ihre fünf glücklichsten Momente?

Die besten Dinge im Leben haben oft eins gemeinsam: das Gefühl, verbunden zu sein, mit sich selbst, mit anderen Menschen, mit der Natur. Wir verbrauchen so viel, weil wir nicht spüren, was wir wirklich brauchen. Und wann es genug ist.

Sich zu engagieren, verändert die Welt. Es verwandelt auch Sie. Diese persönliche Reise ist die eigentliche „Rendite“. Die Gespräche, die Inspiration, die Freude. Vermögen bedeutet nicht, auf Geld zu hocken. Vermögen bedeutet: Ich vermag etwas damit zu bewegen. Etwas, auf das ich wirklich stolz sein kann. Etwas in die Welt zu bringen, was es sonst nicht gegeben hätte, fühlt sich verdammt gut an. Probieren Sie es aus! Heute! Essay mit anderen teilen

Die Stadt der Zukunft ist resilient

„Urbane Resilienz“ ist das Stichwort der Stunde. Sie handelt davon, die Bewohner:innen der Städte vor Gefahren zu schützen und dabei der Verantwortung des Klimaschutzes gerecht zu werden. Eine Momentaufnahme am Beispiel Kölns und seiner Oberbürgermeisterin Henriette Reker.

KÖLN, DEUTSCHLAND
Ralf Johnen Enno Kapitza August 2024 sonnig, 24 °C

Leuchtturmprojekte für den Klimaschutz dürfen ruhig unauffällig sein: Unbemerkt von der Bevölkerung bereichert die größte Photovoltaikanlage Kölns seit August 2024 vom Dach der Koelnmesse aus die Energieversorgung.

„Wir müssen jetzt ambitionierte Maßnahmen einleiten, um unseren Nachfahr:innen eine lebenswerte Stadt zu hinterlassen.“
HENRIETTE REKER

Metropolen der Zukunft müssen sich auf Rekordtemperaturen und Hitzewellen einstellen. Das Wasser könnte knapp werden. Oder aber es stürzt in unkontrollierbaren Mengen vom Himmel. Hinzu kommt die Herausforderung, den wachsenden Mobilitätsdrang der Bewohner:innen aufzufangen und deutlich verträglicher zu gestalten. Dabei wird von den Städten erwartet, dass sie ihrer eigenen Popularität gerecht werden, indem sie zusätzlichen Wohnraum schaffen –am besten ohne Ressourcen zu verschwenden. Und natürlich sollen sie so lebenswert bleiben, dass die Städter:innen, die Rekordpreise für Immobilien und Mietwohnungen zahlen, mit der Wahl ihres Lebensmittelpunktes zufrieden sind.

Dies ist nur ein Auszug einer Liste von Anforderungen, die auch in Köln endlos fortgesetzt werden könnte. Dennoch ist Oberbürgermeisterin Henriette Reker zuversichtlich, dass es ihr und ihrem Team gelingen wird, Deutschlands kleinste – und älteste –Millionenstadt zukunftsfähig zu machen. „Urbane Resilienz“ lautet der Fachbegriff, der die Widerstandsfähigkeit der Ballungsräume in Zeiten des Klimawandels definiert. Ein noch recht neuer Begriff, der aber rasend schnell Eingang ins Vokabular der Gegenwart gefunden hat.

Langfristige Planung notwendig

Auf Einladung von Papst Franziskus hat Reker im Mai dieses Jahres als eine von 25 Verwaltungs-

Mehr Platz für Radfahrer und mehr Lebensqualität durch zusätzliche Grünflächen: Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker ist zuversichtlich, die hochgesteckten Ziele der Stadt ausnahmslos zu erreichen.

chefinnen und -chefs aus aller Welt im Vatikan an einer Konferenz zum Thema „Urbane Resilienz“ teilgenommen. Auch Wissenschaftler:innen, Politikberater:innen und andere Expert:innen waren zugegen, als sie in Rom einen viel beachteten Vortrag hielt. Darin ging sie auf die Notwendigkeit ein, dass die Verwaltung einer Metropole künftig nicht wie gewohnt das Leben ihrer Bewohner:innen begleitet, sondern diese vor schwer kalkulierbaren Kräften in Schutz nehmen muss.

Im Historischen Rathaus Kölns erläutert Henriette Reker im Gespräch, dass der Schlüssel zur Widerstandsfähigkeit aus ihrer Sicht in einer langfristigen Planung liegt: „Wir müssen jetzt ambitionierte Maßnahmen einleiten, um unseren Nachfahr:innen eine lebenswerte Stadt zu hinterlassen.“ Was wie eine typische Politiker:innenphrase klingen mag, hat in ihrem Fall Hand und Fuß, denn vor ihrer Zeit als Oberbürgermeisterin war Reker von 2010 bis 2015 als Dezernentin für Umwelt, Soziales und Integration tätig.

Rückblickend sagt sie über diese Zeit: „Als ich das Amt abgegeben habe, war ich der Meinung, die schlechteste Dezernentin aller Zeiten gewesen zu sein, da ich kaum Ergebnisse vorweisen konnte. Neun Jahre danach ordne ich das anders ein: Immer mehr Menschen nehmen das ernst, was ich seinerzeit gefordert habe.“ Das resultiert unter anderem darin, dass die parteilose Verwaltungschefin beim Thema „Klimaschutz“ Planungssicherheit besitzt: „Die Kölner Politik hat uns dazu verpflichtet, uns bis 2035 klimaneutral aufzustellen.“ Ein ehrgeiziges Vorhaben, das der Stadtrat bis auf wenige Stimmen mitträgt.

„Die Kölner Politik hat uns dazu verpflichtet, uns bis 2035 klimaneutral aufzustellen.“
„Alle schätzen die Vorteile einer lebenswerten Stadt. Doch ohne Einschränkungen wird das kaum möglich sein.“

HENRIETTE REKER

„Aktionsplan Klimaschutz“

Auf dieser Basis hat die Verwaltung Ende 2023 den „Aktionsplan Klimaschutz“ vorgelegt. Das Papier soll dafür bürgen, dass Köln sein individuelles Klimaziel erreicht. „Dazu“, so Reker, „müssen wir neun Millionen Tonnen Kohlendioxid pro Jahr einsparen.“ Eine konkrete Zahl, mit der die rheinische Metropole ihren Beitrag dazu leistet, dass sich die Erdatmosphäre um nicht mehr als 1,5 bis 1,75 Grad aufheizt – und doch ist sie für viele eine abstrakte Größe.

Um diesem Anspruch gerecht werden zu können, sind aus Rekers Sicht eine erhebliche Senkung des Energiebedarfs und die Dekarbonisierung der Wärmeversorgung unumgänglich. Vor allem bei Letzterem sieht sie Köln auf einem guten Weg, denn im Stadtteil Nippes wird 2027 Europas leistungsstärkste Großwärmepumpe ihren Betrieb aufnehmen. Sie kann 50.000 Haushalte mit Fernwärme versorgen.

Auch die Verkehrswende stellt die Stadt vor Herausforderungen. Dabei sind laut Reker sowohl der Ausbau des U-Bahn-Netzes mit der Verstärkung der Ost-West-Achse als auch die Erweiterung des Radwegenetzes ebenso notwendig wie heikel. Zwar sei ihr Nutzen unbestritten, doch die Kosten seien hoch und alles müsse gut abgewogen werden, da Bauarbeiten und Fahrspuränderungen auch Probleme verursachen. „Es ist an uns, die Menschen von der Notwendigkeit solcher Maßnahmen zu überzeugen. Alle schätzen die Vorteile einer lebenswerten Stadt. Doch ohne Einschränkungen wird das kaum möglich sein.“ Also schreitet die Stadt mit gutem Beispiel voran: Der Fuhrpark wird sukzessive auf Elektroantrieb umgestellt. Und die Koelnmesse,

eine städtische Gesellschaft, hat soeben eine leistungsfähige Photovoltaikanlage auf dem Dach in Betrieb genommen.

Doch es sind nicht nur die langfristigen Projekte, die zum Wandel beitragen. So hat Köln einen Hitzeaktionsplan aufgelegt, der ältere Menschen im Falle von Hitzewellen vor gesundheitlichen Risiken schützt. Entsprechende Flyer liegen in den „Veedeln“ aus, wie die Kölner:innen ihr Lebensumfeld liebevoll bezeichnen. Auch können sich Einheimische und Besucher:innen neuerdings vielerorts an Trinkwasserbrunnen versorgen, die zum Beispiel an der Bonner Straße oder an der Eigelsteintorburg rege Nutzung finden.

So macht das Stadtleben Spaß: Trinkwasser fließt neuerdings in allen Kölner „Veedeln“ auch auf öffentlichen Plätzen. Rund um den Dom genießen Fahrradfahrer nun Vorfahrt – und der Panoramablick am Deutzer Rheinufer ist Fußgängern vorbehalten.

Mit Weitsicht planen: Halbkreisförmig umschließt der Innere Grüngürtel das linksrheinische Köln. Die Parkanlage geht auf Konrad Adenauer zurück, der von 1917 bis 1933 Oberbürgermeister war.

DR. KIRSTEN WITTE ÜBER DAS

ZENTRUM FÜR NACHHALTIGE KOMMUNEN

Das Zentrum für Nachhaltige Kommunen der Bertelsmann Stiftung beschäftigt sich mit dem Thema „Urbane Resilienz“. Erklärtes Ziel ist es, lokale Akteure bei ihrem aktiven Engagement zur Umsetzung der Agenda 2030 der Vereinten Nationen zu unterstützen.

Die in der Reportage aufgeführten Beispiele zeigen für Dr. Kirsten Witte, Leiterin des Zentrums für Nachhaltige Kommunen, dass resiliente Städte den Menschen in den Mittelpunkt stellen. Dies müsse die künftige Richtschnur kommunalen Handelns sein: „Eine Stadt ist immer nur so stark wie ihre Bewohner:innen.“ Dabei ist nachhaltige Kommunalentwicklung auf Zahlen, Daten und Fakten angewiesen. Aus diesem Grund wurde im Zentrum für Nachhaltige Kommunen das SDG-Portal entwickelt, das umfassende Auskünfte für alle Kommunen mit mehr als 5.000 Einwohner:innen und alle Landkreise liefert. Momentan wird es zu einer digitalen Plattform für nachhaltige Kommunen weiterentwickelt. Die Stadt Köln ist dabei eine der Modellkommunen.

www.sdg-portal.de

Gute Lebensbedingungen dürfen keine Insel der Privilegierten sein. Daher freut sich Andrea Fischer-Hotzel, wenn urbane Resilienz auch an Sporteinrichtungen in Vierteln greift, in denen Kinder aus einfachen Verhältnissen leben.

„Der Klimawandel ist heute

Bestandteil aller Schulcurricula.

Wir können nur hoffen, dass die Notwendigkeiten unserer Zeit es künftig gegen die Konsumideale aufnehmen können.“

Kleine Maßnahmen, große Wirkung

Andrea Fischer-Hotzel ist der Meinung, dass der Hitzeaktionsplan „clever aufgestellt“ ist. Die Politologin (42) ist Projektleiterin des Forschungsbereichs Umwelt beim Deutschen Institut für Urbanistik (Difu), das in Köln eine Zweigstelle unterhält. Als solche berät sie Kommunen auf dem Weg in die resiliente Zukunft. „Auch kleine Maßnahmen wie diese machen direkt einen Unterschied“, betont sie. „Doch es sind auch weniger sichtbare Projekte, durch die eine Stadt widerstandsfähiger wird.“ Im rechtsrheinischen Porz-Eil etwa haben Verwaltung und Stadtentwässerungsbetriebe (StEB) zwei öffentliche Plätze so umgestaltet, dass sie bei starkem Regen zu Rückhaltebecken werden, die mehr als 700 Kubikmeter Wasser auffangen. Ein kleiner, aber womöglich entscheidender Baustein zur Vermeidung von Hochwasser, dessen potenzielle Gefahr die Flutkatastrophe im nur 60 Kilometer entfernten Ahrtal im Juli 2021 vor Augen geführt hat.

„Überhaupt“, so Fischer-Hotzel, „gibt es viel mehr Möglichkeiten zum Umbau unserer Städte, als vielen bewusst ist.“ Der Rückbau versiegelter Flächen etwa sei ein sehr effektives Instrument, um in dicht besiedelten Räumen verträglichere Temperaturen zu bewirken. Parkplätze für den Individualverkehr kommen ihr dabei als Erstes in den Sinn – auch wenn das mit Interessenkonflikten einhergehe. Gleiches gelte für die Begrünung von Dächern und Fassaden, die die Stadt neuerdings auch für Privathaushalte mit bis zu 40 Euro pro Quadratmeter fördere. Letztlich aber weiß auch sie, dass die Unterstützung aus der Bevölkerung enorm wichtig ist: „Der Klimawandel ist heute Bestandteil aller Schulcurricula. Wir können nur hoffen, dass die Notwendigkeiten unserer Zeit es künftig gegen die Konsumideale aufnehmen können.“

Urbane Resilienz –Beispiel Köln

change | Warum ist Urbane Resilienz ein Zukunftsthema für die Kommunen?

„Die Kommunen wappnen sich und haben Fähigkeiten entwickelt, sich diesen Herausforderungen zu stellen.“

dr . brigitte mohn | Urbane Resilienz heißt, die Fähigkeit der Kommunen zu stärken, angesichts der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu bestehen, sich anzupassen und zu gedeihen. Eine Stadt ist niemals fertig. Sie befindet sich in einem Prozess stetiger Veränderung und Anpassung an wechselnde Rahmenbedingungen. Die aktuellen Herausforderungen sind mit den Auswirkungen des Klimawandels, der Coronapandemie, des Krieges in der Ukraine, aber auch der Finanzkrise riesig. Köln zeigt: Die Kommunen wappnen sich und haben Fähigkeiten entwickelt, sich diesen Herausforderungen zu stellen. Aktives und kollaboratives Handeln machen eine Stadt widerstands- und anpassungsfähig und damit resilient.

Was genau bedeutet „kollaboratives Handeln“ in diesem Zusammenhang?

Partizipativen Prozessen kommt im Aufbau urbaner Resilienz z. B. gegenüber Klimafolgen eine zentrale Bedeutung zu. Kollaboratives Handeln bedeutet, dass Bürger:innen, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Kommunen eng zusammenarbeiten und gemeinsam mehr erreichen, als sie das jeweils einzeln könnten. Bei der Verantwortungsteilung zwischen staatlichen und privaten Akteuren sind Kollaborationsprozesse unverzichtbar. Sie erhöhen die Legitimität und Akzeptanz des kommunalen Handelns. So können Vertrauen und Vernetzung zwischen unterschiedlichen Akteuren aufgebaut werden.

Wie unterstützt die Bertelsmann Stiftung Kommunen bei der nachhaltigen Entwicklung?

Mit unserem Zentrum für Nachhaltige Kommunen haben wir eine Querschnittseinheit geschaffen, die Kommunen beim Aufbau ihres Nachhaltigkeitsmanagements unterstützt. Etwa bei der Entwicklung von Nachhaltigkeitsstrategien oder der Erstellung von Nachhaltigkeitsberichten. Mit dem KECK-Atlas, dem Wegweiser Kommune und dem SDG-Portal stellen wir Daten zur Verfügung, die für eine nachhaltige kommunale Entwicklung unerlässlich sind. Alle unsere Instrumente entwickeln wir in enger Abstimmung mit der Praxis. Wir freuen uns sehr, dass die Stadt Köln eine unserer Modellkommunen ist.

Mitglied des Vorstandes der Bertelsmann Stiftung

Brigitte Mohn promovierte nach ihrem Studium und absolvierte ein MBA-Studium an der WHU Koblenz und am Kellogg Institute in den USA. Sie ist Vorsitzende des Kuratoriums der Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe. Seit 2005 gehört sie dem Vorstand der Bertelsmann Stiftung an.

linkedin.com/in/brigitte-mohn

Soziale Widerstandsfähigkeit

Der Umbau unserer Städte ist aber nicht nur eine Frage von Verkehr oder intakten Grünflächen. Dies zumindest meint Claudia Walther (61), die bei der Bertelsmann Stiftung als Projektmanagerin für Demokratie und Zusammenhalt arbeitet und zugleich Co-Vorsitzende der Kölner SPD ist. „Aus meiner Sicht“, erklärt sie auf dem belebten Alter Markt, „gehören auch soziale Komponenten zur Widerstandsfähigkeit.“ Bezahlbarer Wohnraum etwa. Dieser sei immer knapper geworden, doch eine funktionierende Gesellschaft müsse Sorge dafür tragen, dass es sich auch Pfleger:innen oder Polizist:innen leisten können, in der Stadt zu leben.

„Aus meiner Sicht gehören auch soziale Komponenten zur Widerstandsfähigkeit.“

PROJEKT DER BERTELSMANN STIFTUNG

KOMMUNALES NACHHALTIGKEITSMANAGEMENT

Kommunen spielen bei nachhaltiger Entwicklung eine entscheidende Rolle. Wir unterstützen daher Städte, Kreise und Gemeinden bei der Entwicklung und Weiterentwicklung eines wirkungsorientierten Nachhaltigkeitsmanagements. Dabei arbeiten wir eng mit den kommunalen Spitzenverbänden und weiteren Akteuren zusammen.

www.nachhaltigekommunen.de

Zukunft gestalten – Der Podcast der Bertelsmann Stiftung: „Städte des guten Lebens – Warum Kommunen Vorreiter der Nachhaltigkeit sind“

Die Stadt der Zukunft ist auf das Engagement der Bevölkerung dringend angewiesen. Diese Meinung vertritt Claudia Walther, Co-Vorsitzende der Kölner SPD. Wie das aussehen kann, erfahren Julia Chenusha (l.) und Nadiia Khmeliuk vom Blau-Gelbes Kreuz e. V. Tag für Tag.

Ähnliches gelte für Migrant:innen: „Ich fürchte, dass uns insbesondere die herausfordernde Fluchtmigration dauerhaft begleiten wird.“ Damit meint die studierte Politologin die hohe Anzahl Geflüchteter, wie sie zuletzt aus Syrien und der Ukraine nach Deutschland gekommen sind. „Für diese Menschen müssen wir Unterkünfte bauen. In ruhigen Zeiten, in denen es keine Geflüchteten gibt, können Studierende diese Appartements beziehen.“

Als Paradebeispiel für soziale Resilienz fällt Claudia Walther das Blau-Gelbes Kreuz Deutsch-Ukrainischer Verein e. V. ein. Die Hilfsorganisation macht sich seit der russischen Annektierung der Krim 2014 für eine freie, demokratische Ukraine stark und gehört deutschlandweit zu den größten ihrer Art. Ihren Sitz hat sie in einer Lagerhalle am Rande der Südstadt, wo Geschäftsführerin Julia Chenusha ein umtriebiges Team leitet: „Im Schnitt nehmen 1,6 Lkw pro Tag von hier aus Kurs auf die Ukraine, oft fahren wir in die unmittelbare Nähe der Front.“ An Bord befinden sich Hilfsgüter wie Plastiktanks zur Trinkwasserversorgung. Auf zwei Artikel ist Chenusha aber besonders stolz: Pakete für die Bedürfnisse junger Mütter und „Rescue-Backpacks“ zur Behandlung schwer verletzter Frontsoldat:innen. Die Hilfsgüter werden durch Spenden aus allen Bereichen der Gesellschaft finanziert, seien es regelmäßige Unterstützer:innen des Vereins oder die Kund:innen eines Drogeriemarkts. „Es geht hier um die Zukunft der Ukraine“, sagt Chenusha, „doch nicht nur das. Ich bin davon überzeugt, dass unser aller Freiheit auf dem Spiel steht.“ Die Kölner:innen seien sich dieser Verantwortung bewusst und machten das super, so die 36-Jährige. „Da sieht man, was für eine Gesellschaft wir wirklich sind.“

KÖLN

1.087.353

Einwohner:innen – viertgrößte Stadt Deutschlands

2.685 86 9

Einwohner:innen je km2 –Platz 20 bei Gemeinden mit höchster Bevölkerungsdichte

Stadtteile Stadtbezirke

Kölns Straßennetz folgt teilweise noch den 1.300 Jahre alten römischen Stadtplanungen.

„Wir müssen unsere Städte ausgehend vom Bestand umbauen.“
PETER BERNER

Die Seilbahn gilt in immer mehr Metropolen als Fortbewegungsmittel der Zukunft. In Köln existiert sie bereits seit 1957 – zwar für touristische Zwecke gedacht, aber dennoch ein Beitrag zur innerstädtischen Mobilität. Der Weingarten an der Severinstorburg in der Südstadt ist deutlich jüngeren Datums.

Umbau aus dem Bestand Nicht viel mehr als einen Steinwurf entfernt beschäftigt sich Peter Berner in der lebenswerten Südstadt mit den praktischen Aspekten der urbanen Neuausrichtung. Der Architekt und Stadtplaner ist geschäftsführender Gesellschafter und Gründungspartner von ASTOC Architects and Planners. Sein privatwirtschaftliches Büro war es, das gemeinsam mit einem niederländischen Partner die Ausschreibung für die Gestaltung der Hamburger HafenCity gewonnen hat.

Auch zu seiner Heimatstadt äußert sich Berner regelmäßig. So ordnet er bei der Veranstaltungsreihe „Kölner Perspektiven 24“ die Beiträge der Referent:innen zum Thema „Stadt und Resilienz“ fachlich ein. War seine Zunft bislang in erster Linie mit der Planung von Neubauten beschäftigt, sieht er die Herausforderungen nunmehr an anderer Stelle: „Wir müssen unsere Städte ausgehend vom Bestand umbauen. Dabei können wir auf einen Erfahrungsschatz zurückgreifen, müssen aber im System ganz anders denken.“

In seiner Analyse attestiert er Köln eine große Stärke: das radiale System an Grünflächen. Damit meint er den Inneren und den Äußeren Grüngürtel, deren Anlage unter der Ägide von Bürgermeister Konrad Adenauer (1917–1933) beschlossen wurde. „Eine sehr weitsichtige Entscheidung.“ Gleichzeitig aber besitze Köln eine historisch bedingte Physiognomie: „Als über 2.000 Jahre alte Stadt ist Köln langsam gewachsen und hochverdichtet, was nachträgliche Eingriffe erschwert.“

Zunehmend wichtiger werden somit Umwidmung und Umgestaltung vorhandener Bausubstanz. Wie das aussehen kann, erfahren Besucher:innen vor Ort: Das Großraumbüro von ASTOC befindet sich in einer

stillgelegten Metallwarenfabrik, einem lichtdurchfluteten Bau in einem Innenhof, der seit über 20 Jahren Berners Wirkungsstätte ist. Entsprechend regt der 61-Jährige auch im größeren Kontext kreative Lösungen bei Folgenutzungen an, etwa für leer stehende Kaufhäuser oder nicht mehr benötigte Bürotürme, um die Verschwendung von Ressourcen zu minimieren. „Ich bin überzeugt, dass das alles möglich ist. Aber ich bin eben auch ein gnadenloser Optimist.“

„Ich bin überzeugt, dass das alles möglich ist. Aber ich bin eben auch ein gnadenloser Optimist.“

Schnellere Entscheidungen

Jenseits davon beobachtet Berner in der Praxis einen rapiden Anstieg klimazertifizierter Bauten mit optimierten Belüftungssystemen und konsequenter Regenrückhaltung. „Und auch auf unseren Dächern ist einiges los“, sagt er mit Verweis auf jene Flächen, die in der Vergangenheit meist achtlos zu Brachen degradiert wurden. Auf die Frage nach der Realisierung eines Wunschprojekts, das seine Stadt wirklich nach vorne bringen würde, reagiert der Planer denn auch mit Weitsicht: „Ich würde mir kein einzelnes Projekt wünschen, sondern – aufbauend auf einem kompakt geführten Diskurs – allgemein schnellere Entscheidungen und eine raschere Umsetzung.“

Dies wäre wohl auch im Sinne Henriette Rekers. Ob sie denn als Verwaltungschefin ein Wunschvorhaben für ihre Stadt habe? „Nein“, sagt sie mit energischer Stimme. „Ich möchte nicht nur zwei oder drei Projekte umsetzen, sondern all das, was wir beschlossen haben. Und ich bin fest davon überzeugt, dass uns dies gelingen wird.“

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Unternehmensnachfolge gesucht!

Dr. Ralph Heck Besim Mazhiqi

DR. RALPH HECK

Vorsitzender des Vorstandes der Bertelsmann Stiftung

Ralph Heck, der aus dem deutschsprachigen Teil Belgiens stammt, studierte Wirtschaftsingenieurwesen. Während seiner Promotion war er zeitweise beim Internationalen Währungsfonds tätig, danach arbeitete Ralph Heck bis 2016 bei der Unternehmensberatung McKinsey und ist seitdem unter anderem in diversen Aufsichtsräten tätig. Seit 2012 war Ralph Heck Mitglied im Kuratorium der Bertelsmann Stiftung. Im August 2020 wurde er Vorstandsvorsitzender der Stiftung.

ralph.heck@bertelsmann-stiftung.de

Für viele Unternehmer:innen ist bzw. wird die Frage der Unternehmensnachfolge schwierig. Deshalb ist es wichtig, frühzeitig die richtigen Hebel zu nutzen. Komplementär zur Förderung von Gründer:innen und Gründungsinteressierten ist die Sicherung von genug qualifiziertem Nachwuchs in der Unternehmensnachfolge ein wichtiger Erfolgsfaktor für den Wirtschaftsstandort Deutschland.

Laut einer 2024 erschienenen KfW-Studie streben im Zeitraum 2023 bis Ende 2027 rund 626.000 der 3,8 Millionen mittelständischen Unternehmen in Deutschland eine Nachfolge an. Das wären durchschnittlich rund 125.000 Nachfolgen jährlich – sofern sie alle tatsächlich umgesetzt werden. Doch die Suche nach geeigneten Nachfolger:innen ist oft herausfordernd: Laut DHIK-Nachfolgereport 2024 kommen in der IHK-Beratung etwa drei Nachfolge-Unternehmen auf eine:n Nachfolgeinteressierte:n. Je nach Studie erwägt bis zu ein Drittel der deutschen Unternehmen vorzeitige Schließungen aufgrund fehlender Nachfolge. Diese hätte gravierende Folgen.

„Deshalb ist es wichtig, frühzeitig die richtigen Hebel zu nutzen.“

Die Gründe für den Nachfolger:innenengpass sind vielfältig und können hier nur angerissen werden: Aufgrund der demografischen Entwicklung steigt die Anzahl der Unternehmen mit älteren Inhaber:innen – 2023 waren bereits 30 Prozent der mittelständischen Unternehmensinhaber:innen über 60 Jahre alt. Das erhöht den Nachfolger:innenbedarf und wird ihn weiter erhöhen. Demgegenüber verknappen die demografische Entwicklung und der allgemeine Fachkräftemangel die Zahl der Nachfolgeinteressierten. Zusätzlich senken die aktuelle Verunsicherung aufgrund der zahlreichen Krisen, eine als unberechenbar wahrgenommene Wirtschaftspolitik und teils überzogene Preisvorstellungen der Unternehmensinhaber:innen die Attraktivität von Übernahmen. Mangels Ansprechpersonen und überregionaler Netzwerke ist zudem das Zusammenfinden von Unternehmen und Nachfolgeinteressierten oft schwierig.

Um mehr geeigneten Nachwuchs zu finden, sollten vor allem folgende Hebel genutzt werden:

1. Die flächendeckende Etablierung strukturierter Prozesse zur Information und Vernetzung von Unternehmen und Nachfolgeinteressierten ist zentral. Die IHKs haben ihr Engagement hierbei in den letzten Jahren mit verschiedenen Moderations- und Vernetzungsformaten schon stark vergrößert. Wichtig ist es, Unternehmen weiter dafür zu sensibilisieren, das Thema Nachfolge frühzeitig und mit realistischen Preisvorstellungen anzugehen und möglichst niedrigschwellige Informations- und Vernetzungsangebote auszubauen – auch um bei Nachfolgeinteressierten falsche Erwartungen in Bezug auf Arbeitsaufwand und Kompetenzen vorzubeugen.

2. Zudem ist in unserer Gesellschaft beginnend bei der schulischen Bildung die Verankerung eines positiven Narrativs zum Unternehmertum erforderlich. Erst kürzlich hat eine Studie der Universität Siegen gezeigt, dass deutsche Schulbücher zum Thema Wirtschaft klischeehafte Rollen, wirtschaftskritische Tendenzen und qualitativ wie quantitativ unzureichende Darstellungen beinhalten. Hier müssen wir nachbessern und zielgerichtet die für ein Unternehmertum erforderlichen Kompetenzen aufbauen. Zudem kann jungen Menschen zum Beispiel über Schüler:innenfirmen und Wettbewerbe Freude am unternehmerischen Denken und Handeln vermittelt werden.

3. Ein weiterer Hebel ist die Schaffung attraktiverer Rahmenbedingungen für Unternehmensnachfolger:innen. Dazu zählt einerseits die Steigerung wirtschaftspolitischer Verlässlichkeit, aber auch eine entsprechende Gestaltung steuerlicher, bürokratischer und rechtlicher Gegebenheiten.

4. Zuletzt ist die gezielte Gewinnung bisher in der Unternehmensnachfolge unterrepräsentierter Gruppen wichtig. Aktuell werden zum Beispiel lediglich rund 25 Prozent der KMUs an Frauen übergeben. Hier gibt es schon gute Initiativen wie den „she succeeds award“ des Verbunds deutscher Unternehmerinnen, um die Sichtbarkeit von in der Nachfolge unterrepräsentierten Gruppen zu fördern und positive Vorbilder zu verbreiten. Aber auch strukturelle Bedingungen wie bei der Vereinbarkeit von Familie und Unternehmertum müssen angepasst werden.

Die beiden Gründer Ulrich Wolffgang (links) und Ulf Loetschert kommen aus ganz unterschiedlichen Elternhäusern. Auch beim Mittagessen sind sie alles andere als gleich: Currywurst für Ulf, vegetarisch für Ulrich. Aber bei der Auswahl einer Bäckerei nahe dem Münsteraner Prinzipalmarkt werden sie sich ganz schnell einig.

Jede:r kann gründen!

Die Mehrheit der Gründer:innen in Deutschland stammt aus Akademiker:innen-Haushalten – Ulf Loetschert ist eine Ausnahme. Zusammen mit seinem Studienfreund Dr. Ulrich Wolffgang, der aus einem akademischen Umfeld kommt, gründete er LoyJoy. Ihre Reise war geprägt von Sparsamkeit und Entschlossenheit. Heute leiten sie erfolgreich ein Unternehmen mit zwölf Mitarbeitenden und namhaften Kund:innen vom Kosmetikkonzern bis zum Versicherer.

Pinke Mähne, weißes Fell und ziemlich stabil: In einem Münsteraner Büro sind in jeder Ecke Einhörner zu finden. Einige sind kleine Stofftiere, andere können bis zu 130 Kilogramm tragen. Neben einer dieser freundlich schauenden Figuren steht Ulf Loetschert und grinst schelmisch. „Niemand findet Chatbots auf einer Messe gleich anziehend“, sagt er. „Aber Einhörner mögen alle und sie fallen auf.“ Dass Einhörner nicht nur nette Fabelwesen, sondern auch das Synonym für Start-ups mit Unternehmensbewertungen von mehr als einer Milliarde Dollar (sog. Unicorns) sind, sei ein netter Nebeneffekt.

2018 gründeten Ulf Loetschert und Ulrich Wolffgang in Münster ihr Start-up LoyJoy. Es unterstützt Unternehmen mithilfe eines Chatbots bei der Kund:innenkommunikation. Ulrichs Eltern haben

studiert, der Vater ist zudem selbst Unternehmer. Ulfs Eltern hingegen haben weder Abitur noch Hochschulabschluss. Seine Mutter arbeitete als Büroangestellte, sein Vater war verbeamteter Fahrlehrer bei der Deutschen Post. Beide hatten also keine Berührungspunkte mit dem Unternehmertum. Doch Ulf brannte dafür, sein eigenes Ding zu machen, Unternehmer zu werden.

Die Eltern hatten andere Pläne für ihren Sohn „Mein Vater hat immer gedacht, ich gehe zur Post und werde auch Beamter. Es war der goldene Weg“, erinnert sich der 45-Jährige und lehnt sich zurück. Während Ulf den Weg an die Universität nahm, stellte sich sein Vater noch lange Zeit Fragen: Wie lange kann der Junge noch quer einsteigen als Beamter bei der Post? Wie alt darf man höchstens sein? Solange dieser Zeitpunkt noch nicht überschritten war, war für ihn alles okay.

Auf einer ihrer ersten Messen sorgten Stofftier-Einhörner am Stand von LoyJoy für Aufmerksamkeit von potenziellen Kunden.

Wenke Bühlmeyer Sebastian Mölleken August 2024 bewölkt, 18 °C

Ulf Loetschert (rechts oben) hat schon als Schüler versucht, sein erstes Gewerbe anzumelden. „Wir wurden bei der Stadt ziemlich schräg angeschaut“, erinnert sich der heutige Unternehmer im Interview für change (unten).

Doch Ulf entschied sich dazu, nach seinem Studium in eine Unternehmensberatung zu gehen. Aber inhabergeführt sollte sie sein. „Vorbilder für das Unternehmertum musste ich mir suchen, es hat mich brennend interessiert.“ Die Reaktion zu Hause war verhalten. „Das Verständnis war nie so ganz da. Sätze wie ,Überleg dir das gut, du hast als Beamter einen sicheren Job‘ fielen häufig“, erinnert er sich.

„Vorbilder für das Unternehmertum musste ich mir suchen, es hat mich brennend interessiert.“

Während Ulf von zu Hause erzählt, ist sein Kollege Ulrich ganz ruhig. Er sitzt mit verschränkten Armen neben ihm, betrachtet ihn mit unterstützendem Blick.

Gründen als Arbeiter:innenkind

Die Studie „Start-ups und soziale Herkunft“ der Bertelsmann Stiftung untersucht unter anderem den familiären Hintergrund von Gründer:innen in Deutschland. So haben 85 Prozent der deutschen Start-up-Gründer:innen einen akademischen Abschluss. Das gilt auch für ihre Eltern. 53 Prozent der Väter und 38 Prozent der Mütter haben eine Hochschule besucht. Gründer:innen aus Unternehmer:innen- oder Akademiker:innen-Haushalten werden häufig bei der Entscheidung zu gründen bestärkt.

„Mit dieser Studie bieten wir erstmals Zahlen und Daten zur sozialen Herkunft von Gründer:innen in Deutschland“, sagt Julia Scheerer, Expertin bei der Bertelsmann Stiftung für Nachhaltige Soziale Marktwirtschaft. „Darauf aufbauend sind alle Gründungsakteur:innen eingeladen, in Deutschland ein Gründungssystem zu schaffen, in dem alle, die es möchten, gute Bedingungen zur Gründung vorfinden.“

Erste Angebote explizit für Arbeiter:innenkinder bieten das „Netzwerk Chancen“ und die „Initiative ArbeiterKind“. Beide setzen sich dafür ein, Menschen

aus nicht akademischen Familien den Zugang zu Bildung und beruflichem Erfolg zu erleichtern. Während das Netzwerk Chancen gezielt junge Talente aus einkommensschwachen Familien durch Mentoring, Workshops und berufliche Netzwerke unterstützt, hilft die Initiative ArbeiterKind speziell Studierenden der ersten Generation dabei, den Einstieg in die Hochschulwelt zu meistern, und gibt ihnen Orientierung im akademischen Umfeld. Beide Organisationen arbeiten daran, strukturelle Hürden abzubauen und gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. „Die Chancengerechtigkeit in unserer Gesellschaft wird nicht von allein kommen, sie muss aktiv gefördert werden“, betont Julia Scheerer.

Erst Theorie, dann Praxis, dann Unternehmertum Die heutigen Gründer und Geschäftspartner Ulf und Ulrich lernten sich in der Universität kennen. Beide begeisterten sich schon damals für Computer. Ulf entwickelte Websites, Ulrich interessierte sich für Systemadministration. Beide haben bereits zu Schulzeiten freiberuflich Kund:innenprojekte umgesetzt. Doch nach dem Abschluss trennten sich ihre Wege vorerst.

Während Ulf 2008 in der Unternehmensberatung Fuß fasste, promovierte Ulrich an der Universität. Später entwickelte er in einem Unternehmen Softwareprodukte für Sparkassen. Das war 2012. In der Zeit arbeitete Ulf daran, ein richtiger Gründer zu werden. Er analysierte Prozesse in seinem Berateralltag und verstand, dass die theoretisch perfekte Welt aus der Universität in der Realität von Menschen beeinflusst wird. „Hierarchien, Rivalitäten, Teamstrukturen … all das lernt man nicht an der Universität“, resümiert er.

Nach sechs Jahren Beratung war für den damals 38-jährigen Ulf Loetschert der Punkt gekommen. Er wollte gründen, endlich etwas Eigenes haben. Und zwar mit Ulrich Wolffgang. „Wir sprachen über ein paar Ideen und dann stand der Plan“, erinnert sich dieser. Am nächsten Tag gingen beide zu ihren Chefs und kündigten. Sie vereinbarten eine Frist von einem

„Ein Jahr mussten wir es probieren, bevor einer hinschmeißt. Das war der Deal.“

START-UPS UND SOZIALE HERKUNFT

Family matters – das gilt auch im Bereich Start-ups. Frauen gründen deutlich seltener als Männer in Deutschland, Migrant:innen deutlich häufiger, als die Allgemeinheit annimmt. Diese beiden Dimensionen von Diversität sind vergleichsweise bekannt. Weniger offensichtlich ist dagegen, welchen sozioökonomischen Hintergrund Gründer:innen in Deutschland mitbringen. Daher nehmen wir gemeinsam mit dem Bundesverband Deutsche Startups e. V. in unserem Report erstmals das Thema soziale Herkunft im deutschen Start-up-Ökosystem in den Blick und zeigen, wie wichtig Vorbilder bei Lebens- und Karriereentscheidungen sind.

Was Gründer:innen prägt und antreibt

Die unternehmerische Erfahrung der Eltern ebenso wie ihre Bildung, das zeigt die Studie deutlich, prägen und treiben unsere Start-upGründer:innen. So haben 85 Prozent der deutschen Start-up-Gründer:innen einen akademischen Abschluss. Das gilt auch für ihre Eltern. 53 Prozent der Väter und 38 Prozent der Mütter haben eine Hochschule besucht. Gründer:innen aus Unternehmer:innen- oder Akademiker:innen-Haushalten werden häufig bei der Entscheidung zu gründen bestärkt.

Erwerbstätige

Selbstständige mit Beschäftigten

ANTEIL AKADEMIKER:INNEN

PROJEKT DER BERTELSMANN STIFTUNG

INNOVATIONS- UND GRÜNDUNGSDYNAMIK

STÄRKEN

Mit unserem Projekt Innovations- und Gründungsdynamik stärken wir das Gründungsökosystem, indem wir Barrieren für bisher marginalisierte Gruppen thematisieren und gemeinsam mit Akteuren aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft an guten Rahmenbedingungen für Gründer:innen arbeiten.

„Start-ups und soziale Herkunft“

DER GRÜNDER:INNEN Promotion/PhD

ANTEIL HOCHSCHULABSCHLUSS

45,5 %

haben mindestens einen Elternteil mit Hochschulabschluss.

Jahr. „Ein Jahr mussten wir es probieren, bevor einer hinschmeißt. Das war der Deal“, sagt Ulf und lacht.

Ihren ersten Arbeitsplatz fanden die Gründer in der „Gründergarage Münster“, einem 200 Quadratmeter großen Co-Working-Space von der Stadt und der Technologieförderung. Alexander Kelm, Geschäftsführer der Gründergarage, betreut aktuell 15 Startups. „Ich sehe mich als Mentor. Ich entwickele zum Beispiel Geschäftsmodelle mit ihnen“, erklärt er.

Viele möchten gründen, wenige tun es Wer in der Gründergarage einen Platz hat, gründet bereits im Studium – ganz anders als Ulf und Ulrich, die erst Berufserfahrung sammelten. Derzeit beobachtet Kelm, dass die Gründungen zurückgehen. Das Durchhaltevermögen fehle, die Angst sei zu groß.

Laut der Umfrage „Gründungsbereitschaft junger Menschen in Deutschland“ der Bertelsmann Stiftung fehlt jungen Menschen (14 bis 24 Jahre) oft das Vertrauen in ihre Fähigkeiten, um ein Unternehmen zu gründen – obwohl das Interesse vorhanden ist. Fast die Hälfte zeigt Gründungsbereitschaft, aber nur jede:r Sechste zwischen 18 und 24 setzt dies laut dem „Global Entrepreneurship Monitor 2023“ auch um.

stützung in der Skalierungsphase. „Vor 2016 gab es wenig Start-up-Unterstützung in Münster“, weiß Köffer. „NRW ist zehn Jahre nach Berlin aufgewacht. Zur gleichen Zeit hat sich auch die Founders Foundation in Bielefeld aus der Bertelsmann Stiftung heraus gebildet.“

Der 41-Jährige wirkt beschäftigt. Doch wenn er von LoyJoy spricht, taut Köffer auf. „Die haben mit KI gewinnbringend gearbeitet, als noch keiner wusste, was das überhaupt ist“, sagt er und lacht. Obwohl er die beiden schon seit 2018 kennt, wusste er nichts vom familiären Hintergrund der LoyJoy-Gründer. „Ich glaube, dass finanzielle und psychologische Sicherheit eine große Rolle spielt – eine viel größere als der Abschluss der Eltern.“

„Die haben mit KI gewinnbringend gearbeitet, als noch keiner wusste, was das überhaupt ist.“

Erste Schritte, viel Arbeit

„Ich habe immer darauf hingearbeitet, zu gründen“, sagt Ulf. Er hat immer viel gespart, aber keine Kredite aufgenommen und trotz Beraterjob nie einen Dienstwagen gefahren. „Ich bin doch nicht bescheuert und bezahle jeden Monat Hunderte Euro für ein dickes Auto“, sagt er und zeigt mit dem Zeigefinger an die Stirn. Stattdessen ist er mit seinem alten BMW für 2.000 Euro zur Arbeit gefahren. „Der läuft heute noch“, erklärt er beinahe stolz.

Mit Gründungsstipendium in die Freiheit Ulf und Ulrich wirken nicht wie Unternehmer, die Wert auf Statussymbole legen. „Geld ist zweitrangig. Es geht um die Freiheit“, sagt Ulrich. Da sind sich beide einig. Ihr erstes Jahr als Gründer lebten die beiden von ihren Ersparnissen und Geld aus dem NRW-Gründungsstipendium. „Wir waren Mitte 30 und lebten von knapp 1.000 Euro pro Kopf“, erinnert sich Ulf. Doch Anteile an Investor:innen abzugeben, war keine Option. „Das hätte unsere Freiheit reduziert.“

Zum Gründungsstipendium verhalf ihnen Sebastian Köffer, Geschäftsführer des Digital Hub münsterLAND. Hier finden Start-ups Räumlichkeiten und Unter-

LoyJoy startete 2017 mit einer App für Konsumgüterunternehmen, die direkten Kund:innenkontakt ermöglichen sollte. Doch die Hürde, eine App zu installieren, war zu hoch. „Wir haben mit potenziellen Kund:innen über unsere Ideen gesprochen und sie so lange weiterentwickelt, bis sie perfekt zu den Bedürfnissen der Unternehmen passten“, sagt Ulrich. Als künstliche Intelligenz langsam zum Thema wurde, experimentierten sie mit Chatbots.

Alexander Kelm von der Gründergarage

Münster unterstützt Start-ups mit Räumen zum Arbeiten und für Erfahrungsaustausch zur Realisierung innovativer Geschäftsideen. Er hat selbst bereits mehrere Unternehmen gegründet.

„Chat ist doch total cool“, fährt Ulf fort. „Ein Chat, der dich an die Hand nimmt und dich über Vorteile informiert, wie zum Beispiel Cashback. Das macht doch Spaß.“ Spaß (englisch „Joy“) – das ist der zweite Teil des Namens ihres Unternehmens. Der erste Teil (Loy) steht für den englischen Begriff „Loyalty“, also „Kundentreue“.

Doch wer in diesem Business vorne mitspielen will, der muss auch liefern. In ihren ersten Kunden:innengesprächen nahmen sie Anforderungen an das Produkt auf und hauten in die Tasten. „In den ersten zwei Jahren haben wir nie nein gesagt und bis nachts programmiert“, sagt Ulrich.

Wie weit reicht der elterliche Einfluss?

Im Gegensatz zu Ulfs Eltern haben Ulrichs Eltern den Gründungswillen ihres Sohnes positiv aufgenommen. Mit seinem unternehmerisch tätigen Vater zählt Ulrich laut der Studie „Start-ups und soziale Herkunft“ zu den 38 Prozent der Gründer:innen, von denen mindestens ein Elternteil selbstständig ist. Ulf zählt zu dem kleineren Teil von 15 Prozent, deren Eltern keine Akademiker:innen sind. Mit seinem abgeschlossenen Studium gilt er als „Bildungsaufsteiger“.

„Klar kommen wir aus unterschiedlichen Haushalten. Ich sehe aber primär unsere Ähnlichkeit. Der Hunger, die Sache gelingen zu lassen, eint uns.“

ULRICH WOLFFGANG

lich schon an ihrem nächsten Start-up arbeiten. Warum sie Gründer geworden sind, erklärt jeder auf seine Art. Ulrich: „Das Risiko in Deutschland ist begrenzt, die Chancen sind unlimitiert groß. Wenn du etwas wirtschaftlich Relevantes studierst, ist dein Risiko geringer. So ist es eigentlich rational zu gründen.“ Ulf: „Es ist nicht für jede:n etwas. Für uns war es das Richtige, weil wir einfach richtig dafür brennen.“

Akademiker:innen-Kind Ulrich Wolffgang – wenn man den 43-Jährigen noch so nennen kann – ist der Meinung, die Emanzipation vom Elternhaus beginne spätestens am Eingangstor der Universität. Ab dann seien alle gleich. Doch Ulf Loetschert fügt hinzu: „Wenn deine Eltern etwas sagen, kann man es nicht einfach von der Hand weisen. Sie haben ja ihre Gründe. Der Beamtenstatus meines Vaters war für die Familie sehr gut. Ihre Absichten waren immer die besten.“

Unterschiede trennen nicht, sie einen Ihre unterschiedlichen familiären Hintergründe hätten nie eine große Rolle zwischen ihnen gespielt, erklären die beiden. „Klar kommen wir aus unterschiedlichen Haushalten. Ich sehe aber primär unsere Ähnlichkeit. Der Hunger, die Sache gelingen zu lassen, eint uns“, sagt Ulrich. Und eines zeigt ihre Geschichte definitiv: Es ist möglich, erfolgreich zu gründen – auch ohne Akademiker:innen-Eltern. „Ja, ich habe es wohl trotzdem geschafft“, sagt Ulf zufrieden.

Fragt man sie, ob sie wieder gründen würden, wird synchron genickt. Sie verraten, dass sie sogar tatsäch-

Heute beschäftigt LoyJoy zwölf Mitarbeitende, noch immer ganz ohne Fremdkapital. In ihrem Büro in Münster sind sie von kleinen und großen Einhörnern umgeben. Die Stimmung ist gut, das Team ist motiviert. Erst kürzlich hat Ulf ein Haus gekauft. „Da wusste meine Mutter: Der Junge scheint einen guten Job zu haben“, erzählt er lächelnd. Einen Dienstwagen hat er zwar mittlerweile auch, ins Büro kommt der Münsteraner aber trotzdem gerne mit dem Rad. Reportage mit anderen teilen

PROJEKT DER BERTELSMANN STIFTUNG

JUNGE MENSCHEN UND WIRTSCHAFT

Gemeinsam mit jungen Gründer:innen und Gründungsinteressierten wollen wir herausfinden, wie sich Barrieren abbauen und Rahmenbedingungen verbessern lassen. Zudem unterstützen wir bestehende Netzwerke, sodass mehr junge Menschen einen Raum zum Austausch und gegenseitigen Lernen haben. Aktuell kann sich fast jeder zweite junge Mensch vorstellen, ein Unternehmen zu gründen. Aber es tun nur wenige. Alle jungen Menschen sollten die Chance haben zu gründen, damit sozialer Wandel gerecht und nachhaltig ist.

www.gennow.de

Sebastian Köffer (oben rechts) berät Start-ups aller Branchen. Er rät: Wer etwas gründen möchte, sollte sich an die globalen Trends halten.

Dass künstliche Intelligenz so schnell zum Megatrend wird, war bei der Gründung des Chatbot-Start-ups LoyJoy allerdings noch nicht klar.

Demokratische Werte schon im Kindergarten vermitteln – wie kann das gelingen? Diese Frage hat sich im Jahr 2014 das Projekt „jungbewegt“ der Bertelsmann Stiftung gestellt. Die Antwort umfasst mittlerweile 17 Bände: die Kinderbuchreihe „Leon und Jelena“, die 2024 ihr 10-jähriges Jubiläum feiert.

Die beiden Autor:innen Rüdiger Hansen und Raingard Knauer hatten es sich zum Ziel gesetzt, Kindern ab 3 Jahren durch Geschichten rund um „Mithandeln und Mitmachen im Kindergarten“ frühzeitig demokratische Werte wie Engagement und Mitbestimmung näherzubringen. Wie können Kinder lernen, Verantwortung zu übernehmen und für ihre Rechte einzustehen?

So möchte Leon Gruppensprecher werden, um im Kinderparlament dafür zu sorgen, dass im Flur neben den Bildern der Elternvertreter:innen auch Bilder von den Gruppensprecher:innen hängen. Und als im Kindergarten das Klettergerüst kaputtgeht, sammeln die Kinder aus allen drei Gruppen Vorschläge, wie das neue Gerät aussehen soll, und stimmen darüber ab.

Diese lebensnahen Geschichten geben den Kindern Beispiele, wie sie für sich selbst einstehen können, und zeigen, wie wichtig es ist, Sorgen und Ideen von Kindern ernst zu nehmen.

Von der Idee zur erfolgreichen Reihe Der Startschuss fiel 2014 mit den ersten fünf Heften. Seitdem wurden in regelmäßigen Abständen immer mehr Geschichten hinzugefügt, sodass im Jahr 2024 insgesamt 17 einzelne Geschichten vorliegen. Die Erzählungen rund um die Protagonist:innen Leon und Jelena basieren auf den realen Erlebnissen von Kindergartenkindern. Besonders bemerkenswert: Die Geschichten wurden zunächst in Modell-Kindergärten getestet. Das Feedback der Kinder und Erzieher:innen floss direkt in die Weiterentwicklung der Hefte ein, sodass sichergestellt wurde, dass die Bücher die Kinder tatsächlich begeistern und zum Mitmachen anregen.

Eine Erzieherin berichtet: „Die Geschichten sind besonders kindgerecht gestaltet und illustriert. Es macht uns großen Spaß, den Kindern die Erlebnisse von Leon und Jelena vorzulesen und diese dann im eigenen Kindergarten nachzuspielen.“

Eine Mutter teilt ihre Freude: „Mein Sohn freut sich jeden Abend auf das Vorlesen, besonders, wenn es eine neue Geschichte gibt. Er liebt Jelena, weil sie mutig ist und sich immer für andere einsetzt.“

Die Kinderbuchreihe zeigt eindrucksvoll, wie es gelingt, schon die Jüngsten für Mitbestimmung und soziale Verantwortung zu begeistern. Mit einem Blick auf das kommende Jubiläum bleibt nur zu sagen: Auf die nächsten 10 Jahre voller spannender Geschichten und pädagogischer Impulse!

www.bertelsmann-stiftung.de/leon-und-jelena

Zum zehnjährigen Jubiläum hat die Bertelsmann Stiftung Leon und Jelena mit verschiedenen Aktionen geehrt: So gab es auf Instagram ein Reel und eine Verlosung der Bücher. Dabei haben sich viele begeisterte Stimmen zu der Reihe gemeldet:

Anne Meisiek ist mit ihren 24 Jahren schon weit herumgekommen. Ihr Studium führte sie durch drei Städte in zwei Ländern – von Magdeburg über Kiel bis nach Stockholm. Durch ihre Teilnahme am „Junior Professionals Program“ der Bertelsmann Stiftung hat sie die Möglichkeit, in verschiedenen Projekten und Initiativen der Stiftung mitzuwirken. Ihre internationalen und interdisziplinären Erfahrungen prägen ihre Arbeit und ihre Sicht auf die Welt.

anne.meisiek@bertelsmann-stiftung.de

Über neue Perspektiven und magische Sonnenuntergänge

Lucienne Scigala-Drewes Antoine Jerji

change | Anne, du hast in verschiedenen Städten studiert. Welche hat dich besonders geprägt?

anne meisiek | Ich würde sagen, dass mich Stockholm am meisten geprägt hat – obwohl ich nur ein Semester dort war. Diese kurze, aber intensive Zeit hat mir völlig neue Perspektiven eröffnet. Ich habe Menschen aus der ganzen Welt kennengelernt, von Indien über Schottland bis nach Hongkong. Dieser Austausch mit so vielen Menschen aus unterschiedlichen Kulturen hat mir gezeigt, wie vernetzt unsere Welt wirklich ist. Und dann waren da noch diese magischen Sonnenuntergänge am Skinnarviksberget, mitten in Stockholm. Mit Blick über die Stadt und das Wasser. Solche Momente vermisse ich, genauso wie die Nähe zum Meer.

Aktuell arbeitest du bei der Bertelsmann Stiftung im Projekt „New Democracy“. Welche Erfahrungen haben deine Sicht auf die Demokratie und den gesellschaftlichen Zusammenhalt geprägt?

Durch meine Reisen, vor allem innerhalb der Europäischen Union (EU), ist mir bewusst geworden, wie

privilegiert wir hier leben. Den freien Austausch, den die EU ermöglicht, schätze ich sehr. Viele globale Herausforderungen, wie der Klimawandel oder die Migration, können nur gemeinsam angegangen werden. Die EU ist für mich ein Modell dafür, wie internationale Zusammenarbeit funktionieren kann. Gerade in der Vorbereitung auf die Europawahlen habe ich gemerkt, wie wertvoll diese Union für uns alle ist.

Deine erste Fernreise außerhalb der EU führt dich bald nach Japan – was reizt dich an dieser neuen Erfahrung?

Besonders freue ich mich auf die Natur und auf die japanische Küche – Essen spielt für mich eine große Rolle beim Kennenlernen anderer Länder. An der japanischen Kultur fasziniert mich auch die Liebe zum Detail und das Konzept des „Ikigai“ – die Suche nach dem Sinn des Lebens. Meine Kolleg:innen haben mir viele tolle Tipps gegeben und ich werde zunächst die klassische „Golden Route“ von Tokio über Kyoto nach Osaka erkunden. Ich bin mir sicher, dass diese Reise meinen Horizont erweitern wird.

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Storys, die haften bleiben.

IMPRESSUM

Herausgeber

Bertelsmann Stiftung

Carl-Bertelsmann-Straße 256 33311 Gütersloh

Verantwortlich

Dr. Malva Sucker

Redaktion

Marcel Hellmund

Vivian Vanessa Winzler

Mitarbeit

David Bärwald

Lektorat

Helga Berger

Konzeption und Design wirDesign Berlin Braunschweig

Creative Director

Thorsten Greinus

Design

Neele Bienzeisler

Sarah Lüder

Lithografie rolf neumann, digitale bildbearbeitung, Hamburg

© Bertelsmann Stiftung, November 2024

Bildnachweise

Cover © David Hills

S. 6/7/9 © Sebastian Pfütze (Konferenz „Countering Disinformation, Strengthening Democracy“)

S. 16 © ImageFlow – stock.adobe.com

S. 17 © daboost – stock.adobe.com

S. 20/23 © Hayden Pegues für AWE Studio

S. 27 © Join Us Stiftung

S. 55 © Per Andersson – stock.adobe.com

S. 58 © Aleksey – stock.adobe.com

S. 61 © Envato Elements (Mockup)

S. 62/63 © Matthias Berghahn

S. 65 © Envato Elements (iPad)

U4 © Envato Elements (Sticker-Mockup), Sebastian Mölleken

Kontakt

change Magazin change@bertelsmann-stiftung.de Tel.: 05241/81-81149

Archiv

Alle bereits erschienenen Ausgaben sind kostenfrei erhältlich: www.bertelsmann-stiftung.de/ changemagazin

change online www.change-magazin.de

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