Behörden Spiegel Februar 2022

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Wehrtechnik

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Die (Luft-)Verteidigung der eigenen Grenzen Der lange Weg zu den früheren Fähigkeiten

MELDUNGEN

Ukraine folgt dem üblichen Drehbuch

(BS/Dorothee Frank) Die Ukraine reagiert auf den schwelenden Konflikt mit Mobilisierung und Aufrüstung, nachdem ihr der internationale Zusammenhalt ein zu unsicheres Pfund zu sein scheint. Mehrere Länder liefern Panzerabwehrwaffen, vor allem Javelin. Neben der Panzerabwehr soll auch die Luftverteidigung ausgebaut werden, wofür die bereits gelieferten Stinger kaum ausreichen. Es braucht modernere, größere Systeme, über die auch Deutschland nur begrenzt verfügt. Es ist kein großes Geheimnis: Die deutsche Luftverteidigung ist aktuell in einem schlechten Zustand. Bei der Luftverteidigung sind dabei im Kern drei große Bereiche zu betrachten: Abwehr ballistischer Langstreckenraketen, Abwehr von Flugzeugen und ihnen ähnelnden unbemannten Systemen sowie Lenkflugkörpern, Nächstbereichsverteidigung gegen Hubschrauber sowie tieffliegenden Systeme.

Raketenabwehr Die Abwehr ballistischer Langstreckenraketen ist gewissermaßen die Königsdisziplin, da es sich bei diesen fast ausschließlich um nuklear bestückte Wirkmittel handelt, die ganze Städte ausradieren können. Die Bekämpfung sollte im sogenannten Upper Tier, also außerhalb der Atmosphäre, mit einem Direkttreffer geschehen, damit kein nuklearer Fallout trotz Vernichtung der Rakete Schaden anrichtet. Für diese Königsdisziplin sollte MEADS kommen, später in TLVS umgewandelt. Doch es kam nicht. Aktuell verfügt Deutschland über zwölf Patriot-Systeme, die ab 1989 der Bundeswehr zuliefen. Viel hängt allerdings vom Lenkflugkörper ab: Modernisierte Patriots könnten mit dem ursprünglich für MEADS entwickelten Lenkflugkörper PAC-3 MSE die Raketenabwehr sehr gut übernehmen. Weshalb im vergangenen 13. Rüstungsbericht vom Mai 2021 auch zu lesen war: “Im fachlichen Vorschlag des BMVg an das Parlament zur zukünftigen Ausrichtung der bodengebundenen Luftverteidigung wird TLVS planerisch als nachrangig gegenüber der Modernisierung Patriot und dem Luftverteidigungssystem Nah- und Nächstbereichsschutz bewertet.” Allerdings sind die Lenkflugkörper PAC-3 MSE teuer und müssten über einen Foreign Military Sale der USA beschafft werden. Im 14. Rüstungsbericht, der am 13. Januar 2022 veröffentlicht wurde, taucht der Name PAC-3 MSE noch nicht einmal mehr auf. Stattdessen ist dort in Bezug zu TLVS zu lesen: “Da erst mit Aufstellung des Haushaltes 2022/55. Finanzplan hinsichtlich der Finanzierung und in Folge zum weiteren Vorgehen im Projekt TLVS entschieden wird, ruhen die beiden Vergabeverfahren für die Realisierung TLVS mit der Bietergemeinschaft TLVS und der Diehl Defence sowie der Foreign Military Sales Case mit der US-Regierung.” Es gibt also vorerst keine ballistische Raketenabwehr für Deutschland.

Behörden Spiegel / Februar 2022

(BS/df) Nach Ansichten der US-Regierung spitzt sich die Situation in der Ukraine zu. Der Sprecher des US-Verteidigungsministeriums, Rear Admiral (ret.) John F. Kirby, sagte, das aktuelle Vorgehen folge demselben Drehbuch, das bereits 2014 bei der Besetzung der Krim zu sehen war. “Ohne zu sehr ins Detail gehen zu wollen: Wir haben Informationen, die darauf hindeuten, dass Russland bereits aktiv daran arbeitet, einen Vorwand für eine mögliche Invasion zu schaffen”, sagte Kirby. “Wir haben Informationen, dass sie eine Gruppe von Agenten in Stellung gebracht haben, um eine False Flag Operation durchzuführen. Also eine Operation, die wie ein Angriff auf Russland oder die russischsprachigen Menschen in der Ukraine aussehen soll, als Vorwand für einen Einmarsch.

Außerdem haben wir Hinweise darauf, dass staatliche russische Influencer damit beginnen, ukrainische Provokationen zu erfinden, sowohl in staatlichen als auch in Sozialen Medien, um wiederum im Voraus zu versuchen, einen Vorwand für einen Einmarsch zu liefern.” Kirby betonte: “Wir haben dieses Vorgehen bezogen auf russische Geheimaktivitäten schon einmal gesehen. Es könnte sich um eine Mischung aus verschiedenen Personen innerhalb der russischen Regierung handeln, sei es aus dem Geheimdienst, den Sicherheitsdiensten oder sogar dem Militär. Sie verbinden ihr Personal oft in einem solchen Ausmaß, dass die Grenzen nicht unbedingt klar sind, wem diese bei der Durchführung einiger dieser verdeckten und geheimen Operationen konkret unterstellt sind.”

Waffenlieferungen an die Ukraine

Das Flugabwehrraketengeschwader 1 “Schleswig-Holstein” mit Patriot auf der NATO Missile Firing Installation (NAMFI) auf Kreta Foto: BS/Bundeswehr, Nurgün Ekmekcibasi

Klassische Luftverteidigung Nun wird auch Russland die Ukraine wahrscheinlich nicht mit nuklear-ballistischen Raketen angreifen, viel wahrscheinlicher ist der reine Einsatz der Luftwaffe. Um Flugzeuge abzuwehren, braucht es einen Flächenschutz, den auch die deutschen PatriotSysteme leisten könnten, obwohl es hierfür eine größere Stückzahl bräuchte. Im Rahmen der MEADS-Entwicklung war allerdings auch ein deutsches Unternehmen damit beauftragt worden, ein modulares, verlegefähiges, modernes und günstiges Luftverteidigungssystem zu entwickeln. Diehl Defence erfüllte diesen Auftrag und schloss 2014 die Entwicklung von IRIS-T SL (Surface Launched) ab. Das System gibt es in zwei Versionen. IRIS-T SLS (short range) nutzt als Wirkmittel den Lenkflugkörper, der auch bei der Luftwaffe im Einsatz ist. IRIS-T SLM (medium range) nutzt eine für die bodengebundene Luftverteidigung optimierte Version des IRIS-T-Lenkflugkörpers. IRIS-T SL ist ein vollständiges Luftverteidigungssystem, das aus den Komponenten Feuerleitzentrale, Radar und FlugkörperStartgerät sowie einem kompletten integrierten Logistik- und Support-Konzept besteht. Der Erstkäufer von IRIS-T SLS war

Schweden, gefolgt von Ägypten und Norwegen. Schweden hatte dabei als erstes Land erfolgreich nationale Technologien für “seine” IRIS-T SLS genutzt und dadurch den modularen und integrationsfähigen Aufbau des deutschen Systems bewiesen. Die Version IRIS-T SLM war ein deutscher Wunsch, der Ende 2021 einen weiteren Meilenstein erreichen konnte. In mehreren Testschüssen stellte es unter realistischen Einsatzbedingungen seine Leistungsfähigkeit unter Beweis und erfüllte die Erwartungen in vollem Umfang. “Die Schüsse dienten dem Nachweis der technischen und operationellen Leistungsfähigkeit des Gesamtsystems entsprechend der Erwartungshaltung von Kun­den und Märkten”, so das Unternehmen.

Vorhaben Nah- und Nächstbereichsschutz Da TLVS weiter ruht, ist IRIST SL nun Teil des deutschen Vorhabens Nah- und Nächstbereichsschutz (NNbS), mit dem die Fähigkeitslücke in der mobilen Luftverteidigung geschlossen werden soll. Das Projekt wird in mehreren Phasen realisiert. Innerhalb des Teilprojektes 1 “Erstbefähigung Land” steht die Beschaffung von Fahrzeugen zum Schutz vor Feuerwaffen, Lenkflugkörpern, Raketen, Marsch-

flugkörpern und unbemannten Fluggeräten an, also das Spektrum von IRIS-T SL. Vorgesehen ist ein Umfang von vier Feuereinheiten, die Ausschreibung erfolgt voraussichtlich noch in diesem Jahr. Hiermit würde der Schutz von drei Brigaden und Divisionstruppen einer Division möglich, so die Einschätzung der Bundeswehr. Die Beschaffung des Teilprojekts 1 wird 600 bis 700 Millionen Euro kosten. Als Gesamtkosten werden 1,3 Milliarden Euro geschätzt, wobei hier die Lebenslaufkosten mit enthalten sind. Was IRIS-T SL für all jene Länder, die in ihren Luftwaffen bereits IRIS-T haben, besonders interessant macht, ist die Wiederverwendbarkeit der Lenkflugkörper. Wenn das Verfallsdatum für die Luftwaffen-Lenkflugkörper abgelaufen ist, könnten sie für die Luftverteidigung weiterverwendet werden. Dieselbe kostengünstige Zweitverwertung des Lenkflugkörpers ist auch für die Züge kurzer Reichweite vorgesehen. Hierfür soll IRIS-T SL auf einem Eagle integriert werden. Der Eagle 6 × 6 soll dabei vier IRIS-T SL durch eine extra Rahmenkonstruktion tragen können. Allerdings ist die IRIS-T mit einem Gewicht von 90 kg und etwa drei Metern Länge ein großer Lenkflugkörper, der beim Eagle ein zusätzliches Nachladefahrzeug erforderlich machen würde.

(BS/df) Welche Aussagen bezüglich des Ukraine-Konflikts offiziell zu treffen sind, da sind sich Bundesregierung, NATO und EU einig. Welche Handlungen sich daraus ergeben, ist allerdings weder eindeutig noch koordiniert. So hat Deutschland ein besonderes Problem mit der Lieferung von Waffen in potenzielle Krisenund Kriegsgebiete. Ein weiteres Problem hat Deutschland damit, dass die Bevölkerung durchaus auf das russische Gas angewiesen ist – und über diesen Hahn entscheidet Putin. Während Deutschland also darauf besteht, nur nicht letale Wirkmittel an die Ukraine zu liefern, sehen andere Nationen in genau diesen Rüstungsexporten ein wichtiges Mittel zur Ertüchtigung der ukrainischen Streitkräfte und somit Abschreckung Russlands. So plant Estland die Lieferung von Panzerabwehrsystemen Javelin und 122mm-Haubitzen.

Litauen hat Flugabwehrraketen Stinger zugesagt, Tschechien 152mm-Artilleriemunition. Die USA werden ebenfalls Javelin und Munition liefern, Großbritannien Panzerabwehrwaffen der neuen Generation. Die Niederlande verlegen F-35 Kampfflugzeuge nach Bulgarien für Schutzaufgaben. Und Deutschland? Außenministerin Annalena Baerbock sagte Mitte Januar der Ukraine zu, dass Mitarbeiter des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) den ukrainischen Behörden bei der Aufklärung der Urheber des Cyber-Angriffs helfen sollen. Des Weiteren soll das BSI sogar ukrainische Cyber-Abwehrkräfte ausbilden. Verteidigungsministerin Christine Lambrecht sagte zudem, Deutschland werde der Ukraine im Februar ein komplettes Feldlazarett inklusive Ausbildung liefern. Ganz unbeteiligt bleibt Deutschland also nicht.

Vereinbarungen NATO-Ukraine (BS/df) Die NATO Communications and Information Agency (NCI Agency) und die Ukraine haben am 17. Januar eine neue Vereinbarung über die Fortsetzung ihrer Zusammenarbeit bei technologiebezogenen Projekten unterzeichnet. Die Beziehungen zwischen der NATO und der Ukraine reichen bis in die frühen 1990er Jahre zurück, beschreibt die NCI Agency. Die Zusammenarbeit habe sich im Laufe der Zeit weiter vertieft und sei für beide Seiten von Vorteil. So leiste die Ukraine einen aktiven und wichtigen Beitrag zu Operationen und Missionen unter NATO-Führung.

“Wir haben mehrere Jahre lang erfolgreich mit der Ukraine zusammengearbeitet, wichtige Fähigkeiten bereitgestellt und Wissen ausgetauscht”, sagte der Generaldirektor der NCI Agency, Ludwig Decamps. “Im Rahmen dieses erneuerten Abkommens werden wir unsere Zusammenarbeit mit der Ukraine vertiefen, um sie bei der Modernisierung ihrer Informationstechnologie und Kommunikationsdienste zu unterstützen und gleichzeitig Bereiche zu identifizieren, in denen Schulungen für ihr Personal erforderlich sind. Unsere Experten sind bereit, diese wichtige Partnerschaft fortzusetzen.”

Start von Allied Spirit (BS/df) Am 21. Januar 2022 be-

“Im Fortschreiten von Allied Spirit

lied Spirit 22. Allied Spirit soll die Integration von Verbündeten und Partnern in einer wettbewerbsorientierten Gefechtsübungsumgebung realisieren. Vom 21. Januar bis zum 5. Februar üben hierfür rund 5.200 Soldatinnen und Soldaten aus 15 Nationen, darunter Deutschland, Großbritannien, Kosovo, Italien, Lettland, Litauen, Moldawien, Niederlande, Polen, Portugal, Slowenien, Spanien, Türkei, Ungarn und die USA. “Im Gegensatz zu den SaberJunction- und Combined-Resolve-Übungsserien im JMRC, bei denen US-Einheiten die Kernarbeit leisten und dabei von Verbündeten und Partnern unterstützt werden, steht bei Allied Spirit eine alliierte Einheit im Mittelpunkt der Ausbildung”, beschreibt Sgt. Cory Reese vom 7th Army Training Command.

von US-amerikanischen und alliierten Einheiten in die Übung integriert, um die Möglichkeiten zur Durchführung von Divisionsplanungen und -manövern zu verbessern.” Die Übung wird von der 1. Panzerdivision des Deutschen Heeres geleitet, deren Stab die Führung einer multinationalen Brigade und anderer Elemente übernimmt. Die 1. Panzerdivision ist Teil des 1. Deutsch-Niederländischen Korps der NATO. Allied Spirit ist in erster Linie eine Brigade-Übung, in der komplexe und vor allem multinationale Landkampfoperationen in realistischen Szenaren durchgeführt werden, wofür eine sichere und vor allen Dingen interoperable Kommunikation über alle NATOKanäle hinweg gewährleistet sein muss.

Sachstand in der Bundeswehr gann in Hohenfels die Übung Al- wurden Divisionshauptquartiere

Für Schweden wurde der IRIS-T SLS Launcher erfolgreich auf den Bandvagn 410 von Hägglunds integriert. Foto: BS/Diehl Defence

Die Bundeswehr listet in der Übersicht ihrer Luftverteidigungssysteme neben den zwölf Patriots nur noch das Leichte Flugabwehrsystem (LeFlaSys) Ozelot auf Wiesel 2 Basis, das Flugabwehrsystem Mantis und die Fliegerfaust 2 Stinger auf. Die Patriots benötigen eine Modernisierung, um auf den neuesten Stand der Technik zu kommen. Und weder die Sensorik noch die mitgeführten Stinger-Abwehrraketen des Ozelots sind auf technologisch hochstehende Bedrohungen ausgelegt. Vom nicht mobilen Mantis existieren wiederum nur zwei Stück. Es gibt in der Bundeswehr also aktuell keine Systeme, mit denen eine gleichwertige Luftwaffe abgewehrt werden könnte. Es müssten die Amerikaner zu Hilfe eilen.


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