Brandenburgische Erinnerungsorte (Leseprobe)

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Zur Einführung Der den Titel dieses Buches dominierende Begriff Erinnerungsort erfreut sich in der internationalen wie in der deutschen Geschichtswissenschaft seit den 1980er Jahren zunehmender Beliebtheit und ist mittlerweile in zahlreichen Veröffentlichungen aufgegriffen worden, bedarf aber zum rechten Verständnis der mit ihm verfolgten historischen Thematik einer Erläuterung. Insbesondere ist es notwendig, über den Inhalt des Wortbestandteils ›Ort‹ aufzuklären, weil damit hier nicht entsprechend gängiger Deutung eine bestimmte Lokalität gemeint ist. Das Konzept der Erinnerungsorte ist von dem französischen Historiker, Publizisten und Verleger Pierre Nora in Zusammenarbeit mit vielen Fachkollegen entwickelt und entfaltet worden in einem zwischen 1984 und 1992 erschienenen dreiteiligen, aus insgesamt sieben Bänden bestehenden Werk, in dem unter den Titeln »La République«, »La Nation« und »Les Frances« insgesamt über 130 Beiträge französische »lieux de mémoire« – was ins Deutsche mit Erinnerungsorte übertragen wurde – beschreiben.1 Nora knüpfte an Überlegungen des französischen Soziologen Maurice Halbwachs aus den 1920er Jahren an, der als erster methodisch bedacht das Phänomen der kollektiven Erinnerung oder des kollektiven Gedächtnisses erhellt hatte.2 Zwar besitzt ein jeder ein eigenes, aus seinen persönlichen Lebensumständen gespeistes Gedächtnis, aber er bleibt mit ihm nicht allein, sondern dieses verbindet sich im gegenseitigen Gedankenaustausch mit den Erinnerungen anderer in demselben Milieu, in dem er lebt. Aus dem Zusammenspiel des individuellen Gedächtnisses des Einzelnen und der gemeinsamen, kollektiven Erinnerung der Vielen erwachsen historische Wahrnehmungsmuster und Deutungen, die von dem übereinstimmenden Bedürfnis nach Sinnstiftung angetrieben sind. Es sind vorrangig Nationen, in denen kollektive Erinnerungen entstehen und gepflegt werden, wie man leicht erkennt, wenn man sich ihre Gedenkfeiern und Denkmäler, ihre Mythen und Rituale vergegenwärtigt, wenn man an ihre Berufung auf die großen Persönlichkeiten, die bedeutenden Ereignisse oder die leuchtenden Werke ihrer Vergangenheit denkt. Nora zog aus der allgemeinen Theorie von Halbwachs die Schlussfolgerung, dass es gelte, die kollektiven Erinnerungen menschlicher Gruppen ernst zu nehmen und sie in ihren konkreten Gehalten zu ergründen. Er fragte gezielt danach, wie sich die Vergangenheitsentwürfe der Völker (und die damit verknüpften Zukunftsentwürfe) entwickelten und im Laufe der Zeit veränderten, und er suchte eine Antwort in der Weise zu finden, dass er in seinen genannten Bänden Bruchstücke des französischen nationalen Gedächtnisses zusammentrug und in Form von Essays bearbeiten ließ. Ihn leitete die Analyse derjenigen »Orte – in allen Bedeutungen des Wortes – […], in denen sich das Gedächtnis der Nation Frankreich in besonderem Maße kondensiert, verkörpert oder kristallisiert hat«.3 Unter diese allgemeine Begriffsbestim-

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