
8 minute read
Märkische Dialekte
Elisabeth Berner
Sprache, Gesellschaft, Region
Advertisement
Dort, wo Menschen miteinander leben und kommunizieren, reproduzieren und tradieren sie permanent bewusst oder unbewusst – eingeschrieben in Wörter, Phrasen, Texte – historisches und kulturelles Wissen, das über Generationen bewahrt wurde und zum Teil bis in die Anfänge der Geschichte zurückreicht. Sprache ist per se sozial geprägt und dies gilt in umso stärkerem Maße, in dem sie sich unbeeinflusst von normgebenden Instanzen – wie das bei den Dialekten der Fall ist – entwickelte. Mündlichkeit prägt die Entstehung und Geschichte von Sprachen, und erst allmählich kommen auch die schriftlichen Überlieferungen früherer Jahrhunderte als Zeugen der Vergangenheit hinzu und konservieren noch stärker als die Mündlichkeit, die einem natürlichen Wandel unterliegt, das Wissen und die Sprache früherer Zeiten.
Die Herausbildung und die Geschichte von Sprachen und ihrer regionalen Varietäten, der Dialekte wie auch der jüngeren Regiolekte, sind eng mit der Besiedlung, Kultur, den Traditionen eines Landes oder einer Landschaft verbunden und prägen sie sowohl inhaltlich, als auch formal. Brandenburger und Berliner werden von Außenstehenden oft schon nach kurzer Zeit regional zugeordnet, selbst wenn sie nur ein ik oder j (jut) für g verwenden. Die Bindung an eine Region, selbst einen Ort, die Vorstellung, ›anders‹ und damit auch ›besonders‹ zu sein, veranlasst aber auch Mundartsprecherinnen und -sprecher selbst aus sehr wenigen (dialektologisch minimalen) sprachlichen Besonderheiten gegenüber benachbarten Orten die Vorstellung einer eigenen Ortsmundart zu konstruieren, wie stellvertretend an der Einschätzung der Sprache in Lunow, einem Ort im Oderbruch, deutlich wird: »Das Lunower Plattdeutsch ist eine eigene Spielart des Mittelmärkischen. Vermutlich ist dies einerseits bedingt durch die bewahrende Kraft der Ortsgröße und andererseits durch die geographische Nähe zum Nordmärkischen.«1
Zugleich kann die Einbindung in den übergeordneten Dialektverband, auch das zeigt das Zitat, die Identifizierung mit der eigenen Sprache verstärken. Dies gilt für die niederdeutschen Dialekte, zu denen die märkischen gehören, in besonderer Weise, denn das Niederdeutsche besitzt den Status einer Regionalsprache und wird dadurch staatlich als besonders schützenwertes kulturelles Gut anerkannt und gefördert. 1998 ratifizierte die Bundesrepublik die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen, also der Sprachen, die »herkömmlicherweise in einem bestimmten Gebiet eines Staates von Angehörigen dieses
Staates gebraucht werden« und »die sich von der [den] Amtssprache[n] unterscheiden.«2 In der Präambel wird besonders hervorgehoben, »daß der Schutz der geschichtlich gewachsenen Regional- und Minderheitensprachen zur Erhaltung und Entwicklung der Traditionen und des kulturellen Erbes beitragen.« Dass Niederdeutsch in die Charta aufgenommen wurde, war das Ergebnis einer im Vorfeld auch recht emotional geführten Diskussion, in der neben strukturellen Unterschieden des Niederdeutschen gegenüber dem Hochdeutschen und seinem generellen kulturellen Wert besonders der historische Status als überregionale Verkehrssprache in mittelalterlicher Zeit stark in den Vordergrund gerückt worden war.
Aber auch lange vor der Anerkennung als Regionalsprache gab es eine aktive niederdeutsche Bewegung, die den Dialekten als ›Sprache des Volkes‹ besondere Aufmerksamkeit widmete, um ihrem zunehmenden Rückgang entgegenzuwirken. Denn anders als bei den süddeutschen Dialekten, deren formale Nähe zu der sich seit dem 17. Jahrhundert allmählich etablierenden hochdeutschen Amtssprache und später Standardsprache enger war, erwarben Niederdeutschsprechende das Hochdeutsche (fast) wie eine Fremdsprache. Noch Anfang des 20. Jahrhunderts mussten die Kinder die Regeln des Hochdeutschen mühsam erlernen, woran sie sich bis ins hohe Alter hinein gut erinnerten: So erzählt Friedrich H. aus Zootzen, geb. 1909 in Rosenwinkel, über seine Erfahrungen in der Schulzeit: »Un ich mit Bernhardn uff eener Bank ... und du weeßt ja, wie der so war. Olle Studt [der Lehrer] sacht: ›merkt euch doch endlich, daß ess nich u heißt, et heeßt au.‹ Nu ja, ach so, des güng so, also: Wir ham immer ›Mus‹ secht un nich ›Maus‹. So wär det ja richtich – Un jenfalls sacht Bernard da: ›Dät mit’n au, det stümt nich, det heeßt ja woll nich Pflaumenmaus, det heeßt doch Pflaumenmus.‹ Na, wir ham anfangs jar nich jewußt, wat det nu sollte. Awer Studt hat’ et gleich verstandn. Un nu häst’n Studt sehn saln ... de steiht un steiht un het keen Wort rutkrägn un denn secht’e: ›Bernard, du büst so klog asn Foss!‹ Un det is det einzichmal west, wo Studt platt rädn har.«3
Ähnlich erinnerte sich auch Frieda M., geb. 1898 in Berlinchen, noch hochbetagt an die Schwierigkeiten, denen Niederdeutsch sprechende Kinder in der Prignitz ausgesetzt waren: »Jo, bi uns in de Schul, da is det all noch’n büschen anders gewesen. In’n ersten Jahrn ham wir noch platt redn dürfn. Na, klar, nur wenn det mit m Hoch nich jing. Un mal ens war det vorbei. Uns öller Köster war wech, un batz, een neuer da. Un det war son richtijen Lehrer, son Studierter, der hat nur hoch geredt. Wat glöwt ji, wat is uns det schwer worn. Un die Schnatzers [pejorativ für die, die von Haus aus bereits hochdeutsch reden; d. Verf.], die hatn det nu jut [...].«4
Dass das Niederdeutsche in Konkurrenz zum Hochdeutschen schließlich unterlag, war aber letztlich ein Prozess, der Jahrhunderte zuvor begonnen hatte. Im Wissen um den endgültigen Verlust kulturellen Erbes entstanden deshalb spätestens seit dem 18. Jahrhundert für das Märkische erste Idiotika (Sammlungen ausgewählter Dialektwörter), im 19. Jahrhundert werden Einzelbeschreibungen und Erklärungen von Wörtern, Namen oder Phrasen veröffentlicht, es folgten umfangreichere Nachrichten über die Volkssprache in Berlin und Brandenburg und seit Beginn des 20. Jahrhunderts einige (wenige) mehr oder weniger umfangreichere Orts- oder Regionalgrammatiken. Laienlinguisten und Wissenschaftler setzen aber auch danach mit einem bewundernswerten Engagement die Wortsammlungen fort und legten damit
wichtige Grundlagen für die Erfassung der gerade in Brandenburg unter dem Einfluss der sprachlichen Strahlungskraft der Metropole Berlin beschleunigt zurückgehenden Mundarten. Jedoch erst nachdem im Jahre 1950 ein vierseitiger Artikel erschienen war, in dem die Lehrerinnen und Lehrer Brandenburgs (teils recht pathetisch) zur Beteiligung an der Fragebogenerhebung zum »Brandenburg-Berlinischen Wörterbuch« aufgerufen worden waren, begann eine fast zwei Jahrzehnte währende systematische Erfassung des gesamten in Brandenburg beheimateten Regionalwortschatzes, in dessen Ergebnis 2001 der vierte und damit letzte Band des »Brandenburg-Berlinischen Wörterbuches« erscheinen konnte.5 Dieses Wörterbuch bewahrt nicht nur den alltagssprachlichen Wortschatz, sondern auch umfangreiche Lexik zu Handwerk und Landwirtschaft, zu Produktionstechniken, Flora und Fauna und vieles mehr und stellt damit einen einzigartigen Fundus historischen Wissens dar.
Dass nur wenige Jahre nach Ende des verheerenden Zweiten Weltkrieges und wenige Monate nach der Gründung der DDR solch ein umfangreiches Projekt veranlasst wurde, verweist auf die Achtung, die der »bäuerliche[n] Bevölkerung auf dem Lande, der werktätigen Bevölkerung in den Städten«entgegengebracht wurde und hebt ihre Sprache, genauer: Dialekt als »Ausdruck und Nachklang, nämlich Ausdruck der Besonderheiten des Heimatraumes, seiner Lebensformen, seiner Geschichte, und Nachklang alter, ja manchmal uralter Volkstraditionen«6 , hervor. Auch der noch junge Staat erkannte den Wert der in der (Volks-) Sprache verankerten Kultur und sein Potenzial für die Identifikation mit der Gesellschaft.
Die Spuren der Geschichte sind in vielfältiger Weise in die Mundarten eingeschrieben und zeigen das komplexe Wechselspiel von Kontinuität und Brüchen, von Be- und Entsiedlung, von Integration und Abgrenzung, aber auch die Auswirkungen staatlicher Regulierung für die gewachsene Volkssprache. Im Folgenden soll an einigen ausgewählten Beispielen aus den Bereichen der topografischen Namen, der Lexik und der Lautung, die mit der Besiedlungsgeschichte in Verbindung gebracht werden, skizziert werden, wie vielschichtig dabei der Zusammenhang von Sprache und Kultur und deren Tradierung in den Dialekten ist.
Germanisches und Slawisches in den märkischen Dialekten
Die Anfänge der märkischen Dialekte reichen bis in die Zeit der Germanen zurück und auch wenn von ihnen bis auf wenige Runenfunde auf märkischem beziehungsweise brandenburgischem Boden keine eigenen schriftlichen Zeugnisse überliefert sind (sein können), zeigen doch die über Jahrhunderte nur mündlich überlieferten Toponyme vor allem größerer Flüsse die frühe, alteuropäische Sicht der Menschen auf die sie umgebende Welt. Wasser ist eine der wichtigsten Voraussetzungen, die der siedelnde Mensch benötigt, es dient ihm und seinen Tieren und Pflanzen als Lebensgrundlage. An Gewässern orientiert er sich im Raum, sie verbinden und trennen und es verwunderte deshalb auch nicht, dass gerade sie von Generation zu Generation weitergegeben werden, selbst über Sprachgrenzen hinweg. Flussnamen gehen auf die sogenannten Wasserwörter mit unterschiedlichsten Bedeutungsnuancen zurück, »wie
sie den frühen Menschen mit seiner genauen Naturbeobachtung in reichem Maße zu Gebote standen und wie wir Heutige sie in solchem Umfang kaum noch kennen und nachempfinden können«, 7 auch wenn es real weniger als zwei Handvoll Grundbedeutungen sind, auf die sie sich zurückführen lassen.
So basiert der seit dem 9. Jahrhundert überlieferte Name der Oder auf einem schon vorgermanischen Wort *ad-ro ›Wasserlauf‹8, wobei das anlautende ad- später unter slawischem Einfluss zu od- wurde. Das schon im 1. und 2. Jahrhundert n. Chr. in lateinischen Quellen belegte Wort für die Elbe gehört zu lat. albus ›weiß‹ und verweist auf ein ›helles Wasser‹ und verallgemeinert diese Bedeutung schon früh zu ›Fluss‹. Erstmalig im 9. Jahrhundert ist die Havel als Habula belegt. Ihre Bedeutung leitet sich aus germanisch hav ›Meer‹ her und lebt fort in hochdeutschen Wörtern wie Hafen und Haff. Motiviert ist die Benennung durch die zahlreichen Windungen und Krümmungen des Flusslaufes, die Ähnlichkeiten mit einer Hafenbucht besitzen beziehungsweise die zahlreichen Seen, die sie durchfließt. Aber auch andere Flüsse, wie die Notte (zu ›nass‹), die Nuthe ›Tal, Furche‹, die Dahme (zu ›stieben, spritzen‹), die Dosse (zu ›wirbeln, stieben‹), der Rhin (zu ›fließen‹) oder die Spree (zu ›stieben‹) bewahren in ihren Namen das für unsere germanischen Vorfahren Bemerkenswerte der sie umgebenden Landschaft.
Seit dem 6. Jahrhundert dringen westslawische Stämme in das inzwischen durch die weitgehende Abwanderung der Germanen nur dünn besiedelte Gebiet zwischen Elbe und Oder. Dass es zwischen ansässig gebliebenen Resten der älteren Bevölkerungsschicht und den Neuankömmlingen Kontakte gegeben hat, ist archäologisch vielfach nachgewiesen, wird aber gerade auch durch die Flussnamen bezeugt, die von den Slawen übernommen, in ihre Sprachen integriert und sprachlich ›eingepasst‹ werden, wie schon das Beispiel der Oder zeigt. Einzelne Stämme, von den Chronisten zu Beginn der schriftlichen Überlieferung als zum Beispiel Sprewanen oder Heveller ›Häveler‹ notiert, benennen sich sogar nach diesen Flüssen – und tradieren dadurch auch deren Namen.
Mit den Slawen werden die sprachlichen Hinterlassenschaften bedeutend vielfältiger. Es sind insbesondere die in großer Zahl belegten charakteristischen Ortsnamen auf -in, -itz und -ow, die auf slawische Herkunft verweisen. Häufig finden sich die topografischen Besonderheiten der Ansiedlung im Namen verankert: So bewahrt Ruppin (zu ›Erdloch‹) die ursprüngliche Ansiedlung in oder bei einer Senke, Pieskow galt ebenso wie zum Beispiel Beelitz als ein ›sandiger Ort‹. Saarow wird als ›Siedlung hinter dem Graben‹ (von denen es noch heute zahlreiche gibt) motiviert, obwohl es direkt am (Scharmützel-)See liegt. Ponitz verweist auf eine ›Stelle, wo Wasser im Boden verschwindet‹, und Wusterwitz erinnert daran, dass es sich um eine ›Siedlung auf einer Insel‹ handelt.
Neben solchen topografischen Besonderheiten sind weitere, für die Ansiedlung wichtige Gegebenheiten sprachbestimmend gewesen. Kränzlin ist motiviert durch das Andenken an die ›Siedlung eines Mannes namens Krenzlin‹, bei Beeskow, ›Ort, wo Holunder wächst‹, waren dagegen die schmackhaften Früchte ausschlaggebend, und Körbitz zeugt von einem ›Ort, wo es Kühe gibt‹.