Einzelveröffentlichungen der Brandenburgischen Historischen Kommission e.V. Band 24
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Matthias Asche · Vinzenz Czech · Frank Göse · Klaus Neitmann (Hrsg.)
Brandenburgische Erinnerungsorte – Erinnerungsorte in Brandenburg Band 1
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD-ROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen. © be.bra wissenschaft verlag GmbH Berlin-Brandenburg, 2021 KulturBrauerei Haus 2 Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin post@bebraverlag.de Redaktion: Marco Kollenberg, Potsdam Lektorat: Ingrid Kirschey-Feix, Berlin Umschlag und Satz: typegerecht berlin Schriften: Minion Pro, Museo Druck und Bindung: Finidr, Český Těšín ISBN 978-3-95410-294-5 www.bebra-wissenschaft.de
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Inhaltsverzeichnis
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127 Kunckel & Goldrubin Markus Leo Mock
Märkische Dialekte Elisabeth Berner
141 Soldatenkönig Frank Göse
Slawisches Brandenburg Felix Biermann
153 Lange Kerls Jürgen Kloosterhuis
51 Sorbisches/Wendisches
Brandenburg
167
Alfred Roggan 65
181 Oderbruch Reinhard Schmook
75 Raubritter Clemens Bergstedt 87
Wallfahrt nach Wilsnack Maria Deiters & Hartmut Kühne
101 Reformationstag Mathis Leibetseder
Garnisonkirche & der Geist von Potsdam Frank Göse
Albrecht der Bär Timo Bollen
Schlacht bei Fehrbellin Frank Göse
Märkische Kiefer Mario Huth
27
115
197
Rochow & Reckahn Frank Tosch
209 Thaer & Möglin Heinrich Kaak 223 Schlacht bei Großbeeren Clemens Weißflog
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233 Schinkel Eva Börsch-Supan
303 Braunkohlebergbau Robert Büschel & Martina Kuhlmann
247 Baumblütenfest
in Werder (Havel) Baldur Martin 261 Sängerstadt Finsterwalde Rainer Ernst 275 Planstadt Eisenhüttenstadt Andreas Ludwig 289 Wandlitz Wolfgang Radtke
315 Rettet Horno! Iris Berndt 329 Brandenburger Weg Wolf-Rüdiger Knoll 343 Provinz & Metropole Brigitte Faber-Schmidt 357 Lost Places Holger Raschke 369 Bildnachweis
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Zur Einführung Der den Titel dieses Buches dominierende Begriff Erinnerungsort erfreut sich in der internationalen wie in der deutschen Geschichtswissenschaft seit den 1980er Jahren zunehmender Beliebtheit und ist mittlerweile in zahlreichen Veröffentlichungen aufgegriffen worden, bedarf aber zum rechten Verständnis der mit ihm verfolgten historischen Thematik einer Erläuterung. Insbesondere ist es notwendig, über den Inhalt des Wortbestandteils ›Ort‹ aufzuklären, weil damit hier nicht entsprechend gängiger Deutung eine bestimmte Lokalität gemeint ist. Das Konzept der Erinnerungsorte ist von dem französischen Historiker, Publizisten und Verleger Pierre Nora in Zusammenarbeit mit vielen Fachkollegen entwickelt und entfaltet worden in einem zwischen 1984 und 1992 erschienenen dreiteiligen, aus insgesamt sieben Bänden bestehenden Werk, in dem unter den Titeln »La République«, »La Nation« und »Les Frances« insgesamt über 130 Beiträge französische »lieux de mémoire« – was ins Deutsche mit Erinnerungsorte übertragen wurde – beschreiben.1 Nora knüpfte an Überlegungen des französischen Soziologen Maurice Halbwachs aus den 1920er Jahren an, der als erster methodisch bedacht das Phänomen der kollektiven Erinnerung oder des kollektiven Gedächtnisses erhellt hatte.2 Zwar besitzt ein jeder ein eigenes, aus seinen persönlichen Lebensumständen gespeistes Gedächtnis, aber er bleibt mit ihm nicht allein, sondern dieses verbindet sich im gegenseitigen Gedankenaustausch mit den Erinnerungen anderer in demselben Milieu, in dem er lebt. Aus dem Zusammenspiel des individuellen Gedächtnisses des Einzelnen und der gemeinsamen, kollektiven Erinnerung der Vielen erwachsen historische Wahrnehmungsmuster und Deutungen, die von dem übereinstimmenden Bedürfnis nach Sinnstiftung angetrieben sind. Es sind vorrangig Nationen, in denen kollektive Erinnerungen entstehen und gepflegt werden, wie man leicht erkennt, wenn man sich ihre Gedenkfeiern und Denkmäler, ihre Mythen und Rituale vergegenwärtigt, wenn man an ihre Berufung auf die großen Persönlichkeiten, die bedeutenden Ereignisse oder die leuchtenden Werke ihrer Vergangenheit denkt. Nora zog aus der allgemeinen Theorie von Halbwachs die Schlussfolgerung, dass es gelte, die kollektiven Erinnerungen menschlicher Gruppen ernst zu nehmen und sie in ihren konkreten Gehalten zu ergründen. Er fragte gezielt danach, wie sich die Vergangenheitsentwürfe der Völker (und die damit verknüpften Zukunftsentwürfe) entwickelten und im Laufe der Zeit veränderten, und er suchte eine Antwort in der Weise zu finden, dass er in seinen genannten Bänden Bruchstücke des französischen nationalen Gedächtnisses zusammentrug und in Form von Essays bearbeiten ließ. Ihn leitete die Analyse derjenigen »Orte – in allen Bedeutungen des Wortes – […], in denen sich das Gedächtnis der Nation Frankreich in besonderem Maße kondensiert, verkörpert oder kristallisiert hat«.3 Unter diese allgemeine Begriffsbestim-
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mung fallen sehr verschiedenartige ›Orte‹: Gedenkstätten wie die Gräber der französischen Könige in St. Denis, Symbole, Embleme und Kunstwerke wie die Trikolore oder die Marseillaise, Gebäude wie die Kathedrale Notre-Dame oder der Eiffelturm, historische Texte wie die Erklärung der Menschenrechte oder der Code Napoléon, die scharfen Trennlinien innerhalb Frankreichs, etwa zwischen Katholiken und Hugenotten, zwischen Nord und Süd, zwischen der Rechten und der Linken, ebenso wie die tiefen Gemeinsamkeiten wie etwa die Sprache, überragende Persönlichkeiten wie Charlemagne (Karl der Große), die heilige Johanna, der Sonnenkönig. Nora bewegen, wenn er die »lieux de mémoire« der bevorzugten Aufmerksamkeit der Historiker empfiehlt, nicht die historischen Ereignisse oder Aktionen an sich, nicht die Vergangenheit, wie sie (nach Überzeugung der kritischen Historiker) aus dem Studium der überlieferten Quellen und deren Interpretation möglichst ›wahrheitsgetreu‹ zu rekonstruieren ist, sondern die in den Zeitläufen wechselnden Konstruktionen vergangener Geschehnisse und die ihnen in aufeinanderfolgenden Gegenwarten zugeschriebenen, aufkommenden und wieder verschwindenden Bedeutungen. Anders ausgedrückt: Nora faszinieren die Art und Weise, wie Traditionen geschaffen, weitergegeben, gestärkt oder geschwächt werden. Die Geschichte der Erinnerung an die heilige Johanna4 verdeutlicht sein Anliegen: Jahrhundertelang war die Frau, die 1429/31 für Frankreich die entscheidende Wende in seinem Hundertjährigen Krieg gegen England heraufbeschworen hatte, nahezu vergessen, bis sie am Anfang des 19. Jahrhunderts im Gefolge der Französischen Revolution und ihrer politischen Lagerbildungen im gegensätzlichem Sinne ›wiederentdeckt‹ wurde: von der königs- und kirchentreuen Rechten als gottgesandte Retterin Frankreichs und des französischen Königtums, von der republikanischen, laizistischen Linken als von König und Kirche verratenes Kind des Volkes. Die symbolische Aufladung ihrer Person unterlag somit stärksten Wandlungen, aber sie blieb trotzdem einer der Kristallisationskerne des französischen kollektiven Gedächtnisses. Solche symbolisch überhöhten historischen ›Orte‹ zu identifizieren und ihre wechselnden Formungen zu schildern, ist die neue Herausforderung an die Geschichtsschreibung. Noras Bände sind, wie er selbst bekannt hat und wie seine Kritiker hervorgehoben haben, ein genuines Werk des französischen Geistes. Er fordert die französischen Historiker dazu auf, zur Betrachtung des Nationalen zurückzukehren und die Erinnerung im nationalen Rahmen zu pflegen, »weil in einem Land, dessen unvergleichliche Kontinuität das Gewicht einer langen Zeitspanne spüren läßt, die Legitimation jedes Geschichtsbruchs angesichts dieser Treue zur Vergangenheit allein durch deren Rekonstruktion und permanente Neuerschaffung möglich ist. Die Engländer haben die Tradition, wir aber haben die Erinnerung.«5 Aber dass Nora sich so ausschließlich auf französische Erinnerungsorte bezog, hat den Erfolg seiner Konzeption andernorts nicht beeinträchtigt. In mehreren europäischen Ländern ist sie aufgenommen und entsprechend ihren jeweiligen historisch-politischen Traditionen abgewandelt worden. Besonderen Anklang hat sie in Deutschland gefunden, hier wirkten die von den in Berlin lehrenden Historikern Etienne François und Hagen Schulze 2001 in drei Bänden herausbrachten »Deutschen Erinnerungsorte« als Vorbild.6 Die beiden Herausgeber beziehen sich ausdrücklich auf den einleitend besonders gewürdigten Nora und seine Leistung und führen
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zugleich seinen Ansatz für deutsche Verhältnisse weiter, indem sie den Leitbegriff Erinnerungsort unter Aufnahme der Beobachtungen Jan Assmanns zum kulturellen Gedächtnis7 zu schärfen suchen. Sie heben hervor, dass der Erinnerungsort als Metapher zu verstehen ist, dass Erinnerungsorte ebenso materieller wie immaterieller Natur sein können, dass darunter etwa reale wie mythische Gestalten und Ereignisse, Gebäude und Denkmäler, Institutionen und Begriffe, Bücher und Kunstwerke zu fassen sind. Für die Einstufung als Erinnerungsort ist ausschlaggebend, dass ihm eine symbolische Funktion zugesprochen wird, dass er wegen seiner ihm beigegebenen Bedeutung und Sinn auf Anklang in einer großen Gemeinschaft stößt. »Es handelt sich um langlebige, Generationen überdauernden Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und Identität, die durch einen Überschuß an symbolischer und emotionaler Dimension gekennzeichnet, in gesellschaftliche, kulturelle und politischen Üblichkeiten eingebunden sind und die sich in dem Maße verändern, in dem sich die Weise seiner Wahrnehmung, Aneignung und Anwendung und Übertragung verändert.«8 Von Nora heben sich François und Schulze dadurch ab, dass sie nicht wie dieser einen in sich geschlossenen (französischen) Gedächtnisraum beschreiben, sondern Deutschland und die deutsche Erinnerungskultur zu den Nachbarn und nach Europa öffnen wollen, indem sie bewusst geteilte Erinnerungsorte, also solche, die für Deutschland wie für andere Nationen mit unterschiedlichen Sichten gleichermaßen bedeutsam sind – man denke für Deutschland und Frankreich etwa an Karl den Großen oder Charlemagne oder für Deutschland und die Sowjetunion/Russland an Stalingrad –, einbeziehen. François und Schulze berücksichtigen überhaupt den Blick von außen, ergänzend zu dem Blick von innen. Zwar haben sie ebenso wie Nora den nationalen Rahmen gewählt, betonen aber ausdrücklich dessen Begrenztheit, denn neben den nationalen Erinnerungen stehen etwa lokale, regionale, generationsspezifische und soziale Erinnerungen, wie denn überhaupt jede soziale Gemeinschaft ihre kollektiven Erinnerungen schafft und pflegt. Die Identität der Deutschen, die sich in den deutschen Erinnerungsorten widerspiegelt, stellt nur einen Teilaspekt dar, neben ihr stehen andere Identitäten, unter denen die der deutschen Länder herausragen, weil der Gang der deutschen Geschichte seit dem hohen Mittelalter bekanntlich im Gegensatz zu Frankreich keine übermächtige Zentralgewalt hervorgebracht hat, sondern den Landesherrschaften, Territorien und Ländern großen, spürbaren Anteil am Reich und an dessen Entwicklung hat zukommen lassen. Ihre Eigenständigkeit ist etwa daran greifbar, dass sich in ihnen eigene Landeshistoriographien ausgebildet haben, dass eine Geschichtsschreibung das jeweilige Land in den Mittelpunkt rückte, dessen vergangene Entwicklung beschrieb und so die Grundlage für eine eigene Erinnerungskultur schuf. Dass die Brandenburgische Historische Kommission e.V. brandenburgische Erinnerungsorte zum Thema eines Sammelwerkes machen sollte, zu dem sich anlässlich ihres 25-jährigen Jubiläums ihre Mitglieder ebenso wie ihre Freunde in gemeinsamer Anstrengung verbinden würden, war eine Anregung, die im Vorstand der Kommission ebenso wie unter den angesprochenen Interessenten sogleich auf breite Zustimmung stieß. Denn wer über Erinnerungsorte der mehr als 1.000-jährigen brandenburgischen Geschichte nachdenkt, ist gezwungen,
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sich einmal von einem ungewohnten Blickpunkt aus zu vergegenwärtigen, was denn überhaupt den Gegenstand der brandenburgischen Landesgeschichtsforschung ausmacht, was in ihr Aufgabengebiet fällt. Welche Personen, Orte, Ereignisse, Zustände, Begriffe, Sachverhalte, Denkmäler aus jüngerer oder älterer Vergangenheit haben zurückliegende wie derzeitige Generationen und breite Bevölkerungskreise jenseits der Wissenschaft in ihrer Vorstellungswelt so bewusst bewahrt, dass sie sogleich in den Sinn kommen, wenn nach besonderen Merkmalen oder Eigenarten Brandenburgs oder der Brandenburger gefragt wird? Dem einen mag die ›märkische Kiefer‹ einfallen, dem anderen die ›Streusandbüchse des Heiligen Römischen Reiches‹, oder man denkt an eine außergewöhnliche Landschaft wie das ›Oderbruch‹ oder die ›Langen Kerls‹ des ›Soldatenkönigs‹. Welche Vergangenheit(en) tauchen vorrangig in der Rückbesinnung der Menschen auf, wenn sie aufgefordert sind, die die Geschichte Brandenburgs prägenden Elemente zu benennen? Welcher historische Vorgang ist über lange Zeiträume hinweg in den Erzählungen der Bevölkerung oder wenigstens einzelner Bevölkerungskreise gegenwärtig geblieben, weil ihm für den Fortgang der brandenburgischen Geschichte besondere, außergewöhnliche Bedeutung zugeschrieben wurde, weil sich in ihm ›symbolisch‹ deren auszeichnende Eigenarten verdichteten? Der zweigeteilte Titel des Buches weist darauf hin, dass ein Unterschied zwischen ›brandenburgischen Erinnerungsorten‹ und ›Erinnerungsorten in Brandenburg‹ besteht. Die Masse der Beiträge ist dem ersten Typus zuzuordnen, sie behandeln Erinnerungsorte, die eindeutig ein Teil der brandenburgischen Landesgeschichte sind und ihren Fortgang bestimmt haben. Immerhin ist Brandenburg nach nachwirkenden Vorläufern aus dem 10. Jahrhundert seit dem 12. Jahrhundert innerhalb Deutschlands nahezu ununterbrochen, wenn auch in wechselnden Verfassungsformen und wechselnden Grenzen, als Mark Brandenburg, als Provinz Brandenburg, als Land Brandenburg, eine eigenständige politische Einheit mit einem eigenen historisch-politischen Selbstbewusstsein gewesen, die durch die Tätigkeiten und Leistungen seiner Herrscher und seiner Bewohner merkliche, mit Brandenburg gedanklich verknüpfte Spuren hinterlassen hat. Überschriften wie das ›Baumblütenfest Werder‹, die ›Sängerstadt Finsterwalde‹, die ›Planstadt Eisenhüttenstadt‹ lenken die Aufmerksamkeit auf Orte in Brandenburg und auf Anstrengungen und Ergebnisse, die an ihnen unter bestimmten historischen Umständen erreicht und wegen ihrer eindrucksvollen Ausstrahlungskraft in den Rang eines brandenburgischen Markenzeichens erhoben worden sind. Andere Stichworte lassen sich hingegen nicht so eindeutig und ausschließlich Brandenburg zuweisen, wenn man etwa an solche denkt, die wegen seiner neuzeitlichen Entwicklung eher die Assoziation an Preußen hervorrufen. Der ›Soldatenkönig‹ Friedrich Wilhelm I. lebt als König von Preußen und nicht als Markgraf und Kurfürsten von Brandenburg fort, und seine politische Arbeit galt dem gesamten Königreich Preußen und nicht nur der Mark Brandenburg. Allerdings wirkte er besonders nachhaltig in der brandenburgischen Zentralprovinz seines werdenden Gesamtstaates und drückte ihr etwa mit einem Bau wie der Potsdamer ›Garnisonkirche‹ seinen Stempel auf. Diese Beobachtung verweist auf die Einsicht von François und Schulze, dass Erinnerungsorte nicht nur einer einzigen Erinnerungsgemeinschaft zugehören. Erst recht kann nicht mehr von einem branden-
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burgischen Erinnerungsort die Rede sein, wenn das angesprochene historische Ereignis sich zwar in Brandenburg abspielte, aber nicht unmittelbaren Bezug zu seinen Geschicken hatte und in seinem Kern in außer- oder überbrandenburgischen Zusammenhängen einzufügen ist. Die ›Potsdamer Konferenz‹ fand 1945 zwar in Brandenburg, im Hohenzollern-Schloss Cecilienhof, statt, aber die Verhandlungen der alliierten Siegermächte drehten sich um die deutsche und europäische Nachkriegsordnung und berührten Brandenburg allenfalls indirekt im Rahmen umfassender Neuregelungen. Die Bilder und Filme von der Konferenz, den Konferenzteilnehmern und dem Konferenzort sind um die Welt gegangen und sind so gewissermaßen der welt- oder globalgeschichtlichen Erinnerung einverleibt worden, aber vor Ort in Brandenburg sind, abhängig von den herrschenden politisch-gesellschaftlichen Systemen und ihren jeweiligen Geschichtsauffassungen, Gedächtnisstätten von unterschiedlicher Ausprägung und Deutung eingerichtet worden, die allein schon als solche Aufmerksamkeit erwecken und bis heute Kontroversen auslösen. Das Thema unseres Buches wäre zu seinem Schaden unnötigerweise verkürzt, wenn auf solche Erinnerungsorte ›in Brandenburg‹ verzichtet würde. Die Beiträge dieses Bandes sind chronologisch aneinandergereiht. Dabei dient als Bezugspunkt, an dem sich die Einordnung orientiert, der Zeitpunkt oder der Zeitraum des historischen Vorganges, an dem sich die Erinnerung entzündet hat. Vorangestellt sind wenige Artikel, deren Gegenstände wie die ›märkischen Dialekte‹ oder das ›sorbische/wendische Brandenburg‹ nur epochenübergreifend betrachtet werden können. Wenn so der Leser in seiner Lektüre voranschreitet von den ältesten mittelalterlichen Erinnerungsorten über die neuzeitlichen des 16. bis 20. Jahrhunderts und schließlich am unmittelbaren Rand der Gegenwart mit Geschehnissen des frühen 21. Jahrhunderts ankommt, vermag er zugleich zu erkennen, wie sich in der Abfolge der Jahrhunderte mit den herausragenden neuen Entwicklungen und ihren markanten Ergebnissen neue Erinnerungen oder neue Erinnerungsringe angeschlossen haben, welche Erinnerungsorte zugleich an Gewicht und Aufmerksamkeit gewonnen haben und welche im Bewusstsein und in der Wirkung zurückgetreten sind wegen des Vorranges jüngerer Vorgänge. Die Artikel zeigen in aller Deutlichkeit, dass die Erinnerungen an ein und dasselbe historische Objekt starken Wandlungen unterliegen, dass sie in ihrer Intensität und in ihrem Gehalt und ihrer Deutung erheblich schwanken. Der ›Schlacht von Großbeeren‹ wurde als einer der wichtigsten brandenburgischen Schlachtorte der Befreiungskriege gegen Napoleon mindestens ein Jahrhundert lang gedacht, weil sie sich in die Erzählung vom Wiederaufstieg Preußens gegen den französischen Kaiser einfügte. Ein weiteres Jahrhundert später haben sich die überkommenen Erinnerungsrituale im Volksfest verflüchtigt, und zugleich steht die ›Feier‹ eines Kriegsgeschehens in der pazifistischen Kritik. Am Artikel ›Rettet Horno!‹ ist zu sehen, wie aus der noch nicht verheilten Narbe einer scharfen politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung der jüngsten Vergangenheit eine Erinnerung zu erwachsen im Begriff ist, deren Dauerhaftigkeit und Intensität abzuwarten bleibt. Wenn sich das geschichtswissenschaftliche Konzept der Erinnerungsorte der kollektiven Erinnerung sozialer Gemeinschaften annimmt und diese in ihrer Entstehung und in ihrem Wandel zu erhellen trachtet, übersehen seine Vertreter nicht, dass diese Gemeinschaften ihr
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Bild der Vergangenheit auf andere Weise und mit anderen Erwartungen gestalten als die professionelle Historikerzunft. Diese hat seit dem 19. Jahrhundert ein methodisches Instrumentarium entwickelt und ständig verfeinert, mit dessen Einsatz die Geschichte möglichst objektiv erforscht und erkannt werden soll, »wie es eigentlich gewesen ist«, wie es Leopold von Ranke, einer der Begründer der modernen Geschichtswissenschaft, einmal in einer klassisch gewordenen Formulierung ausgedrückt hat.9 Es überrascht keineswegs, dass die kollektive Erinnerung von Nationen, Staaten und Regionen in ihren Erzählungen von den Darstellungen der Fachwissenschaftler erheblich abweichen, unter Umständen ihr sogar diametral widersprechen. Die in der brandenburg-preußischen Geschichte vielgerühmte ›Brandenburger Toleranz‹ hat ihre historische Herleitung im sogenannten ›Potsdamer Toleranzedikt‹ des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm von 1685 – irrtümlicherweise, wie der Fachhistoriker anmerkt, weil hier nicht die vermeintlich propagierte Toleranz, sondern ökonomische Aspekte und die Aufnahme von reformierten Glaubensverwandten des Großen Kurfürsten im Zentrum standen und eben nicht Lutheraner oder gar Katholiken. Aber die Untersuchung der Erinnerungsorte kann niemals darauf hinauslaufen, das kollektive Gedächtnis aller seiner ihm aus Sicht der kritischen Historie unterlaufenen Fehler zu überführen, es so ins Abseits zu drängen oder gar regelrecht zu dämonisieren. Es kann hier nur Aufgabe der Geschichtswissenschaft sein, ohne erhobenen, belehrenden Zeigefinger zu erläutern und zu beschreiben, wie Erinnerungsorte aufkommen, aufblühen und wieder vergehen, wie Gesellschaften und gesellschaftliche Gruppen sich ihr Bild von der Vergangenheit formen und immer wieder gemäß den Belangen und Erwartungen ihrer jeweiligen Gegenwart umformen und neugestalten. Die kollektive Erinnerung der Brandenburger über und in Brandenburg ist der Gegenstand und zugleich das Ziel der Erkenntnis, nicht aber deren vollständige Destruktion. Das vorliegende Werk beansprucht nicht, eine verbindliche Liste brandenburgischer Erinnerungsorte und Erinnerungsorte in Brandenburg aufzustellen und damit die hier aufgenommenen gewissermaßen zu kanonisieren. In den Vorüberlegungen erwies sich rasch, dass manche andere als die hier berücksichtigten Orte die Behandlung verdient hätten, wie schon Nora sowie François und Schulze für ihre französischen und deutschen Erinnerungsorte betont haben, sie leicht um die doppelte oder dreifache Anzahl vermehren zu können. In unserem Fall erwies sich die Suche der Herausgeber nach sachlich überzeugenden Erinnerungsorten und zugleich ihre Suche nach kompetenten Autoren als so erfolgreich, dass schließlich eine Zweiteilung des Gesamtwerkes beschlossen wurde. Dem jetzigen Band wird mithin im Laufe des nächsten Jahres ein ungefähr gleich starker Band mit einer ähnlichen Anzahl von Artikeln folgen – der eine oder andere ist in den zuvor genannten Beispielen schon angeführt. Im zweiten Band werden die Leserinnen und Leser ebenso wie hier im ersten mit einem erneuten Durchgang brandenburgische Erinnerungsorte vom Mittelalter bis zur Gegenwart aufsuchen, so dass beide Teile infolge einer fehlenden strengen inhaltlichen Abgrenzung voneinander zusammen als Einheit betrachtet werden müssen. Die Herausgeber wünschen sich, dass am Ende ihre Gesamtschau eine geneigte Leserschaft finden wird, nicht nur und nicht in erster
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Linie unter ihren Fachkolleginnen und -kollegen, sondern in den geschichtsinteressierten Kreisen der Bevölkerung, damit sie alle näher und genauer unterrichtet werden über die weitverbreiteten historischen Erinnerungen an das Land Brandenburg, die sie in den öffentlichen Debatten ihrer kleineren oder größeren Lebensumwelt in sich aufgenommen haben. Gerade dieses Publikum erwartet kein gelehrtes wissenschaftliches Werk zur fachlichen Selbstverständigung, sondern Aufklärung in verständlicher, nachvollziehbarer Weise. Die nachfolgenden Beiträge enthalten zwar Nachweise über die von ihnen benutzten Quellen und Literatur (in sehr begrenztem Umfange), aber sie entbehren aller methodischer Erwägungen, die in einer fachinternen Debatte angebracht wären, und bemühen sich stattdessen, knapp und präzise, zuweilen auch im essayistischen Stil ihre jeweiligen Erinnerungsorte zu beleuchten und sie so gefällig vor Augen zu führen, dass der Leser nach der Lektüre sich klar gemacht hat, warum sie ihren Weg in das kollektive Gedächtnis Brandenburgs gefunden haben. An dieser Stelle möchten die Herausgeber zunächst den Autorinnen und Autoren der Beiträge für deren Engagement danken. Die technische Realisierung der beiden Bände erfolgte durch den be.bra wissenschaft verlag, mit dem die Brandenburgische Historische Kommission e.V. schon in der Vergangenheit in zahlreichen Buchprojekten fruchtbar zusammengearbeitet hat. Stellvertretend bedanken wir uns herzlich bei Herrn Dr. Robert Zagolla, der stets hilfsbereit dieses Buchprojekt begleitet hat. Für die sorgfältige Korrektur der Beiträge sorgten die Wissenschaftlichen Hilfskräfte Marco Barchfeld B.A. und Veronika von Lonski M.A. (beide Universität Potsdam), denen hier ebenfalls gedankt wird, zudem Frau Ingrid Kirschey-Feix, die vom Verlag als Lektorin bestellt worden ist. Für die mitunter mühsame Suche nach den Bildern und Bildrechten schulden die Herausgeber Herrn Marco Kollenberg M.A. (Universität Potsdam) herzlichen Dank. Potsdam, im Oktober 2021 Matthias Asche Vinzenz Czech Frank Göse Klaus Neitmann Anmerkungen 1 Pierre Nora (Hg.), Les lieux de mémoire, 3 Bde., Paris 1984/92. 2 Maurice Halbwachs, Les cadres sociaux de la mémoire, Paris 1925. 3 Pierre Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1998, S. 7. 4 Michel Winock, Jeanne d’Arc, in: Pierre Nora (Hg.), Erinnerungsorte Frankreichs, München 2005, S. 365 – 410. 5 PIerre Nora, Wie lässt sich heute eine Geschichte Frankreichs schreiben?, in: Ders. (Hg.), Erinnerungsorte Frankreichs, München 2005, S. 15 –27, hier S. 22.
6 Etienne François/Hagen Schulze (Hgg.), Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bde., München 2001. 7 Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992. 8 Etienne François/Hagen Schulze, Einleitung, in: Dies. (Hgg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1 (wie Anm. 6), S. 9 –24, hier S. 18. 9 Aus der Vorrede des Werkes von Leopold von Ranke, Geschichte der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1535, Bd. 1, Leipzig/Berlin 1824, S. V.
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»Wo so wenig ist, ist auch eine Kiefer etwas.«1
Theodor Fontane (1819–1898)
Der Kiefernbaum und die Mark Brandenburg – beide Begrifflichkeiten scheinen in der Imagination eines Lesers unmittelbar eine untrennbare Einheit hervorzurufen. Und tatsächlich stellt sich eine solche feste Liaison vor dem gegebenen historischen Rahmen so dar. Diese Pionierbaumart kann für die Periode seit dem Ende der letzten Kaltzeit durch Pollenanalyse in vielen Teilen des Bundeslandes als natürliche Vegetationsdominante nachgewiesen werden.2 Trotz der vielen zwischenzeitlichen Klimaschwankungen blieb sie seit der Wiederbewaldung (Präboreal) stets eine Konstante im hiesigen Waldbild, mal mehr mal weniger präsent, doch immer in wahrnehmbarer Dichte vorhanden.3 Ihre absolute Führungsposition bis zum heutigen Tag hat sie auf märkischen Sanden jedoch vor allem durch stete anthropogene Förderung erhalten.4 Die Kiefer wird damit quasi zu einem omnipräsenten Erinnerungsort für Brandenburg, da sie sich aufgrund ihrer Dominanz in der Landschaft kaum übersehen ließ und lässt. Folglich ist es nicht verwunderlich, dass man sie auch schon in den älteren Sprachdenkmälern unserer Region, speziell in den Ortsbezeichnungen Zootzen und Zossen, des Öfteren nachweisen kann. Dieser alte, in Brandenburg durchaus häufig anzutreffende Flurname5 ist etymologisch auf die altpolabische Grundform ›Sosna‹ beziehungsweise ›Sosne‹ zurückzuführen. Im heutigen Sprachgebrauch lässt sich dies sinngemäß mit dem Artnamen ›Kiefer‹ oder auch mit der waldgesellschaftlichen Standortcharakteristik ›Ort, wo Kiefern vorkommen‹ gleichsetzen.6 Die Kiefer wurde hier schon damals in einem denkwürdigen Maße als umweltprägend erachtet und floss somit in den ortsbeschreibenden Namen ein. Neben ihrem bloßen Vorhandensein dürften aber auch und vor allem die zahlreichen Nutzfunktionen ihres Holzes eine ausschlaggebende Motivation dafür gewesen sein, sie fest im kollektiven Gedächtnis zu verankern. Doch stimmt hier eigentlich das tradierte und auch heute noch zuweilen bemühte Bild des »Brotbaums der Mark Brandenburg« überhaupt?7 Die Wortgruppe suggeriert zunächst ein durchweg positives Bild eines Baumes, der in der Lage ist, gleich einem Laib Brot, den kleinen (märkischen) Mann durch seine Existenz zu ernähren. Beim Studium entsprechender Quellen scheint sich dieser Analogismus zu bestätigen. Schon im Spätmittelalter wurde die Kiefer – wenngleich indirekt – aktenkundig. Im bekannten »Landbuch der Mark Brandenburg« Kaiser Karls IV. aus dem Jahr 1375 werden für die Gegend um Potsdam, Bernau, Trebbin, Werbellin, Liebenwalde, Rathenow oder auch Biesenthal Einnahmen aus der Waldbienenzucht oder Zeidlerei erwähnt.8 Da für diese Form der forstlichen
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Nebennutzung vordergründig Kiefern höherer Altersklasse genutzt wurden,9 kann an den genannten Orten von einem Vorkommen dieser Baumart ausgegangen werden. Eine ähnliche Kombination zwischen Waldgewerbe, also dem täglichen handwerklichen Broterwerb im Wald, und dem vorhandenen Bestandsbild findet sich auch im Falle der Teerschwelerei. Es ist wohl nicht von der Hand zu weisen, dass sich Häufungen von Teeröfen oder Pechhütten gerade dort ausmachen lassen, wo in historischer Zeit die Kiefer dominierte.10 Einrichtungen dieser Art gab es an unzähligen Orten.11 Die Teerschweler versuchten, durch künstliches Erhitzen gestapelten Holzes das darin enthaltene Kienöl in einem Ofenraum quasi trocken zu destillieren. Der königlich-preußische Oberforstmeister Friedrich August Wilhelm Friedrich Leopold von Krosigk (1707–1797) berichtet darüber in seinem »Universal-Forst-Lexikon« und schildert darüber hinaus auch den vielseitigen wirtschaftlichen Wert, welchen die Kiefer seit alters her gerade für die ärmeren Bevölkerungsteile im brandenburg-preußischen Gebiet besaß. Aus Kiefernholz, so von Krosigk, könne »guter Theer und Pech gemacht werden […], welches zum Schiff-Bau, Pichen des Bier-Gefäßes, auch Schuh-Pech und Wagen-Schmier zubereitet wird. […]. Der Terpentin und Kien-Oel wird ebenfals aus dieses Baumes Holtze verfertiget. Die Tangeln und Nadeln werden von den armen Leuten, so wenig Stroh haben, unter zu streuen, um Mist davon zu machen, auf vorher geschehene Anfrage, mit weiten Rechen fleißig gesammlet.«12 Stalleinstreu aus ihren Nadeln lieferte die märkische Kiefer also ebenso wie den Kienspan als Leuchtmittel, der – wie Heller mit Sicherheit ohne Übertreibung festhielt – sogar noch bis 1946 in mancher abgelegenen Kate des ländlichen märkischen Raums zu finden war.13 Zu großen Teilen dürfte die Föhre auch das Feuerholz für die etwa 75 Glashütten bereitgestellt haben, die seit dem Ende des 16. Jahrhunderts im brandenburgischen Gebiet ihre Produktion aufnahmen und im 18. Jahrhundert ihre Blütezeit hatten.14 Hierbei handelte es sich oftmals um abgelegene Waldglashütten, die Gebrauchsglas herstellten und dafür zwischen 3.000 und 15.000 Festmeter Holz pro Jahr verbrauchten.15 Und selbst die wenigen Beispiele von Eisenverhüttung in der Mark, wie etwa bei Zehdenick oder Peitz, wären ohne Kiefernholz als Brennmaterial mit Sicherheit nicht denkbar gewesen.16 Wie ein etwa 450 Jahre alter Balken aus dem Kloster Altfriedland eindrücklich beweist, war märkisches Kiefernholz seit frühester Zeit auch im Bauwesen gefragt.17 Wenngleich sich der Bedarf daran im Gegensatz zum festeren und beständigeren Eichenholz relativ gering ausnahm und man es lieber verfeuerte, wurde es doch auch hier einer vielfältigen Nutzung zugeführt. Das königliche Amt Badingen benötigte beispielweise 1762 mehrere Stücke kleines oder starkes Kiehnen Bau-Holz.18 Der prognostizierte Verbrauch an Kiehnen Brenn-Holz war hier zusätzlich mit 418 Klaftern angegeben.19 Gepaart mit dieser Form der Holzentnahme, übermäßiger Waldweide und Schädlingskalamitäten führten die bereits erwähnten und oftmals als ›Waldfresser‹ bezeichneten Waldgewerbe zu einer gewissen Entwaldung, die durch Erosion und Wind vegetationslose Flächen – häufig »Sandschollen« genannt – zur Folge hatten.20 Um 1830 eindrucksvoll in Carl Blechens (1798 –1840) Aquarell »Märkische Landschaft mit Sand schaufelnden Frauen« festgehalten
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Abb. 1: C. Blechen: »Märkische Landschaft mit Sand schaufelnden Frauen«, Aquarell (um 1830)
(Abb. 1),21 war auf solchen devastierten Standorten wieder die Kiefer gefragt. »[S]o ist Mein Wille«, ordnete König Friedrich II. von Preußen etwas ungehalten in einem Brief vom 7. September 1775 an seinen Minister Friedrich Wilhelm von Derschau (1723 –1779) an, »dass alle dergleichen Sandschollen mit Kiefern besäet werden sollen, damit der Boden dadurch fester gemacht wird.«22 Der mit dieser Ordre aufgebaute Druck des Monarchen wurde dann nicht selten auf die Revierbediensteten übertragen. Ein Elias Mollenhauer sollte 1775 laut seines Annehmungsbriefes als königlicher Unterförster zu Badingen »die Zubereitung der jährlich anzulegenden Eichen und Kiefern Kämpe oder Schonungen sich äußerst angelegen sein laßen«,23 wie dies auch noch 1787 sein nachbarlicher Kollege Jacob Weber für das Revier um Zabelsdorf zu tun hatte.24 Das dienstliche Einschwören auf die Bestandspflege war offenkundig auch nötig, denn immerhin lagen in der umliegenden Lüdersdorfer Forst ganze 3.895 Morgen in Schonung, 391 Morgen davon ausschließlich mit der Kiefer bestockt.25 Zeitgenössische Quellen, wie etwa die »Forst-Beschreibung« des Johann Peter Morgenländer (1736 –1811) aus dem Jahre 1780, heben dann auch die erreichte hohe Dichte dieses Nadelbaums hervor – gerade auch für das Lüdersdorfer Forstrevier und hier speziell für die bereits genannten Wälder im Amtsbezirk Badingen.26 Obwohl man sich schon im 16. Jahrhundert auf brandenburgischem Boden mit Kiefernsaaten versuchte,27 bediente man sich doch erst bei den großen Aufforstungen des 18. Jahrhunderts, und vor allem auch zwischen 1850 und 1910,28 dann flächendeckend
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der Föhre, was schließlich noch einmal mehr die Verhältnisse innerhalb der Baumartenverteilung in märkischen Forsten zu deren Gunsten und mit großem Erfolg verschob. Nicht zuletzt auch der brandenburgische Forstwissenschaftler und Forstbedienstete Hartig schwärmte ja in seinem Conversations-Lexikon aus dem Jahr 1836, dass die Kiefer »ein unschätzbares Naturgeschenk für die sandigen Länder ist.«29 Und es nimmt daher nicht Wunder, dass schließlich in von Hagens forststatistischem Werk von 1867 der Regierungsbezirk Potsdam innerhalb Preußens mit 653.497 Morgen auf dem ersten Platz hinsichtlich reiner Kiefernwaldfläche rangierte, in nahem Abstand dazu auf Platz drei der Regierungsbezirk Frankfurt mit 591.499 Morgen. Während Potsdam 1927 bei der Kiefer mit 6.458,5 Quadratkilometern ähnliche Verhältnisse aufwies, konnte der Regierungsbezirk Frankfurt sogar noch auf 7.216 Quadratkilometer Kiefernwaldfläche zulegen. Von den 13.674,5 Quadratkilometern brandenburgischen Waldes waren zu dieser Zeit 93 Prozent mit Kiefern bestockt und nur 1,9 Prozent mit Buchen, womit die preußische Provinz in ihrer damaligen Ausdehnung (inklusive Neumark) offenbar die höchsten Werte in ganz Deutschland aufwies.30 Gerade ihre Allgegenwärtigkeit und die Eigenschaft, für die breite Masse der Bevölkerung tatsächlich einen Nutzaspekt zu besitzen, hat wohl ein Erhebliches dazu beigetragen, die romantische Vorstellung eines »Brotbaumes« zu entwickeln – und zwar in einer Zeit, in der technischer Fortschritt viele der alten Waldberufe und Nutzungsformen bereits obsolet erscheinen ließen. Die Feststellung, dass einst »[a]us den dünnen und zähen Kiefernwurzeln […] Feuereimer, flache Brotkörbe, kleinere und größere Gemäße, Körbe und dergleichen gefertigt«31 wurden, gehörte nun in ethnologische Abhandlungen. Die früher hart verteidigten Nutzungsrechte »um ein Fuder Nadelstreu«32 waren nurmehr im heimischen Sagenschatz zu finden. Man ging andächtig durch den märkischen Kiefernwald wie durch ein hallenartiges Museum, das den Wanderer mit kulturgeschichtlichem, naturkundlichem und ästhetischem Reiz für sich einnahm. Dieses Phänomen äußert sich bis heute nicht nur in zum Teil recht schwülstigen Wander- und Reisebeschreibungen, in denen die Kiefer nicht fehlen darf,33 sondern auch schon in heimatkundlichen Zeitschriften des frühen 20. Jahrhunderts, in denen regelmäßig Darstellungen des märkischen Kiefernwaldes, flankiert von markigen Bildern aus dem Alltag der letzten aktiven Köhler, kursierten.34 Die Kiefer war zu einem Erinnerungsort längst vergangener Kindertage mutiert, in denen die Vorfahren durch beschwerliche Arbeit gerade so ihr Auskommen hatten, dabei nur unterstützt von den Gaben des märkischen »Brotbaumes«, der als Pionierbaumart auch auf kargen Böden zügig fortkam. Da man aus wirtschaftlichen Begehrlichkeiten die Kiefer aber nur selten über ihre Hiebsreife hinaus tolerierte, ist es für die Form der hiesigen Rezeption geradezu symptomatisch, dass wirklich nur sehr selten uralten Individualisten gehuldigt wird, die durchaus auch einen optischen Reiz besitzen (Abb. 2).35 In entsprechenden Publikationen fehlt die Kiefer zumeist,36 und das obwohl Beispiele genug vorhanden wären.37 Nein, es ist vorrangig die Kiefernheide oder der Reihenbestand, der Kiefernforst oder Kiefernwald mit seinem lichten hohen Kronendach, seinem aromatischwürzigen Duft, seinem Pilzreichtum, seinen Blaubeerhainen und seiner knisternden sommerlichen Trockenheit, der uns auch heute noch in unsere Erinnerungen treibt.
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Abb. 2: Weit über 200-jähriger Kiefernüberhälter im ehemaligen Revier Kastaven (OHV), Land Brandenburg, mit charakteristischer Plattenborke (2006)
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Mit diesem atmosphärischen Bild spielten und spielen Reisende, Künstler und Dichter des Öfteren, um entsprechende Assoziationen beim Betrachter oder Leser hervorzurufen. Selbst Willibald Alexis (1798 –1871) wählte für seinen vaterländischen Roman über das sagenumwobene Beinkleid eines märkischen Landadelsgeschlechts den Einstieg über eine Beschreibung des seiner Meinung nach typisch brandenburgischen Waldbildes mit Kiefern.38 Eine Entsprechung der unabdingbaren Zusammengehörigkeit von Kiefernwald und Mark bildet sich dann auch in der Erinnerungsliteratur ab,39 die, mit selbstbewusster Apologetik gespickt, die eigene entworfene Landschaftskomposition der Mark rechtfertigen will. Wenn Arthur Rehbein (1867–1952) von der Schönheit der Mark schreibt, beginnt er zunächst mit dem Unverständnis für die Monotonie der »melancholischen Kiefern«.40 »[W]er sie schmäht«, so der Autor von »Märkische Wanderbilder«, »weiß offenbar nichts von dem Lichtwunder der preußischen Pinie. Er kennt das Föhrenglühen nicht. Hat es nicht erlebt, wie beim Scheiden des Tages alle Stämme zu roten Pophyrsäulen werden. Und ganz zuletzt, wenn auch die Stämme bereits im Schatten stehen, dann sprüht es noch in den Wipfeln wie im brennenden Busch, den Moses sah.«41 Der Fokus auf die Schlichtheit, verwechselt mit einer langen Tradition romantischer Verehrung der Urwüchsigkeit des deutschen Waldes42 – es handelt sich ja stets um Beschreibungen menschenerzeugter Forsten –, führt in ein paradiesisch anmutendes Vorstellungsgebäude, das aus der Retrospektive selbst für Albert Einstein (1879–1955) eingedenk seines Caputher Paradieses »nur aus Holz, sandigem Boden und duftenden Kiefern«43 bestand. Und auch Dankwart Graf von Arnim (1919–1981) vergegenwärtigte sich in der Erinnerung seine einstige uckermärkische Heimat mit den Worten: »Der hohe Kiefernwald war im Sommer unter der starken Sonneneinstrahlung ein einziger Duft nach schönsten Harzen, alles andere überduftend – wenn es dies Wort geben sollte. Der Weg, immer nur einspurig und in tief eingefahrenen Sandgeleisen, führte durch Hochwald, an Schonungen vorbei, an Jungholz. Die Kiefer herrschte bei weitem vor […].«44 Die ansprechenden Gemälde von Rudolf Hellgrewe (1860 –1935) und Walter Leistikow (1865 –1908) scheinen das mit Worten Beschriebene eindrücklich zu illustrieren. Genannt sei hier nur Leistikows »Märkischer See bei Sonnenuntergang« aus dem Jahre 1895,45 auf dem kein anderes Florenelement als die Kiefer zu existieren scheint. Der damals typische ›Unterbau‹ aus Wacholder – in seiner Existenz immer ein Indiz für starken Lichteinfall im Bestand – betont den lockeren lichten Charakter des Föhrenwaldes in Ufernähe. Einen ersten Höhepunkt erfährt die Identifikation des Märkers mit seiner Leitbaumart46 in den bekannten Zeilen seiner inoffiziellen Landeshymne »Märkische Heide«. Von Gustav Büchsenschütz (1902–1996), dem Sohn eines Berliner Gendarmen, am 10. Mai 1923 niedergeschrieben, bemüht der deutschtümelnde Text Bilder, die unverkennbar märkisch sein sollen, namentlich einen Adler, der hoch über Sumpf und Sand und dunkle Kiefernwälder aufsteigt.47 Das Lied besingt die Kiefer vor allen anderen Baumarten gleich in der ersten Strophe und bettet sie textlich in weitere Attribute der Region ein. Sie bekommt damit gleichsam den schalen Beigeschmack eines ›nationalen Baumes‹ und musste sich daher, einmal in diesen Status erhoben, in der Neuzeit erstmals auch kritische Meinungshaltungen gefallen lassen.48
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Abb. 3: Geharzter Kiefernbestand bei Jeßnigk (EE), Land Brandenburg, deutlich erkennbar an den Lachten im Fischgrätenmuster (2012)
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Dennoch: Das positiv belegte Bild dieses Baumes als ein ›Ernährer‹ konnte zunächst auch noch in die Zeiten zunehmender technologischer und ökonomischer Ausrichtung in der Forstwissenschaft und Forstwirtschaft des 20. Jahrhunderts hinübergerettet werden. Als Katalysator für ihre Bedeutung sorgte in dieser Zeit letztendlich nicht nur die Nutzung ihres Holzes, sondern auch die Gewinnung ihres Harzes, das, als kriegswichtiges Produkt eingestuft,49 bereits ab dem Sommer 1915 unter Leitung von Max Kienitz (1849–1931) versuchsweise in der Oberförsterei Chorin gewonnen wurde.50 Der Aktivitätsschwerpunkt der Kiefernharzung setzte allerdings erst nach Ende des Zweiten Weltkrieges ab 1946 in der Sowjetischen Besatzungszone ein und wurde in der DDR bis Mai 1990 fortgeführt. Noch 1989 standen in den Bezirken Potsdam und Frankfurt (Oder) 3.145 Hektar beziehungsweise 3.588 Hektar Kiefernforst in Harzung (Abb. 3).51 Am Ende dieser ganzen Entwicklung keimt nun allerdings das Bestreben auf, den überkommenen Mythos des ›guten Baumes‹ zu demontieren. Es ist nicht uninteressant, dass dabei gerade die Verbindung von Kiefer mit ihrem ›Standort Land Brandenburg‹ polarisierte und nach wie vor polarisiert. In der Debatte um den Klimawandel und die dadurch als Folgeerscheinung befürchtete Versteppung märkischer Landstriche übernahm sie seit jeher eine tragende Rolle. Schon August Bier (1861–1949) weichte das durchgängig positive Bild mit seinen Experimenten in Sauen bei Beeskow ab 1912 auf. Dabei ließ er hier im Grunde mit hohem finanziellen Aufwand der Pionierbaumart Kiefer einen sorgfältig ausgesuchten, abwechslungsreichen und gepflegten Mischwald folgen.52 Deutlicher vertrat spätestens Anton Metternich ab 1947 eine ›Anti-Kieferkampagne‹. Er versuchte durch Publizistik dem Image des »Brotbaums« sein Bild von »Nadelholz-Stangenfabriken« entgegenzustellen, deren allgegenwärtige Präsenz auf »ein schädliches Übermaß gesteigert«53 worden sei. Der seit langem fest etablierten Einheit ›märkische Kiefer‹ tat dies jedoch zunächst keinen Abbruch, auch wenn Metternich im Gegenzug versuchte, seinerseits das romantische Bild der ›deutschen Eiche‹ zur Assoziation zu bringen. »In der Mark Brandenburg«, so konstatierte er, »die wie ganz Ostdeutschland heute unbestritten dem dürren Nadelwald gehört, rauschten noch vor ein paar hundert Jahren üppige Eichenwälder.«54 Die darauffolgenden Arbeiten Scamonis können wohl als Antwort auf diese resolute Kampfansage Metternichs gewertet werden, wenn in ihnen wiederum versucht wurde, das natürliche Vorkommen der Kiefer in den brandenburgischen Landen nachzuweisen.55 Die hitzigen Debatten um den Klimawandel, in denen derzeit auch regelrecht bilderstürmend gegen die Kiefer gewettert wird, sollten nicht den Blick darauf verstellen, dass die Baumart von vielen Seiten jüngst Ehrenbezeugungen erhielt. In der Umgebung von Lychen (Uckermark) kann man beispielweise »Auf Harzer Wegen« wandeln und nach Bäumen mit den typischen Fischgrätenmustern im Stamm Ausschau halten. Im Jahr 2007 rief der Landesverband Brandenburg der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald e. V. zu einem Fotowettbewerb unter der Maxime »Kiefernland Brandenburg« auf.56
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Anmerkungen 1 Vgl. Theodor Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Spreeland, 3. Aufl., Frankfurt am Main/Berlin 1993, S. 26. 2 Vgl. Gerhard Hofmann/Ulf Pommer, Potentielle natürliche Vegetation von Brandenburg und Berlin mit Karte im Maßstab 1:200000, Potsdam 2005, S. 22 f. 3 Vgl. Susanne Jahns/Christa Herking, Zur holozänen und spätpleistozänen Vegetationsgeschichte westlich des unteren Oderlaufs, in: Eike Gringmuth-Dallmer/Lech Leciejewicz (Hgg.), Forschungen zu Mensch und Umwelt im Odergebiet in ur- und frühgeschichtlicher Zeit, Mainz 2002, S. 33 – 49, hier S. 34, 37, 40, 41 u. 45; vgl. auch Susanne Jahns/Ina Begemann/Dirk Sudhaus, Zur spät- und nacheiszeitlichen Geschichte des Waldes in der Niederlausitz, in: Neue Beiträge zur Wald- und Forstgeschichte 1 (2019), S. 60 –75, hier S. 69 u. 72. Vor allem auf dem Gebiet der Niederlausitz dominierte die Kiefer wohl aufgrund der dortigen sandigen Böden und der Niederschlagsarmut. 4 Vgl. ebd., S. 22–23; vgl. auch Horst Carl Glowalla, Zur Geschichte der Oberförsterei Zechlin und ihrer Tochteroberförsterei Zechlinerhütte, Karwe 2005, S. 14 –17. 5 Als Beispiele wären hier zu nennen: Friesacker, Briesener und Klessener Zootzen bei Friesack (HVL), das Waldgebiet Zootzen bei Friesack (HVL), das Dorf Zootzen östlich von Wittstock (OPR), die mittelalterliche Wüstung Zootzen nördlich von Rheinsberg (OPR) beim Zootzensee, das Dorf Zootzen südöstlich von Fürstenberg/Havel (OHV) etc. Vgl. zum Waldgebiet Zootzen zusammenfassend: Gerd Heinrich, Berlin und Brandenburg. Mit Neumark und Grenzmark Posen-Westpreußen, 3. Aufl., Stuttgart 1995, S. 407 f. 6 Vgl. Sophie Wauer, Brandenburgisches Namenbuch, Teil 9: Die Ortsnamen der Uckermark, Weimar 1996, S. 271 f., Nr. 853; vgl. auch Julius Bilek, Slawische Sprachdenkmäler im Spiegel Nordbrandenburger Seenamen, in: Märkische Heimat 4 (1959)/II, S. 94 –101, hier S. 97; Heinz-Dieter Krausch, Flurnamen als Quellen zur Forstgeschichte dargestellt am Beispiel Brandenburgs, in: ebd. 1 (1956)/V, S. 21–28, hier S. 23; Geert Dobbermann/Siegfried Fornacon, Bedeutungs- und Ortsregister zu dem Werk von Reinhold Trautmann: Die elb- und ostseeslawischen Ortsnamen. Teil I und II, Berlin 1984, in: Beiträge zur uckermärkischen Kirchengeschichte 1 (1975), S. 56 –75, hier S. 59, Nr. 125.
7 So schon bei Werner Sorg, Wüstungen in den brandenburgischen Kreisen Ruppin und Templin und deren Ursachen, Berlin 1936, S. 42. 8 Vgl. Johannes Schultze (Hg.), Das Landbuch der Mark Brandenburg von 1375, Berlin 1940, S. 36. 9 Vgl. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz [= GStA PK] II. HA, Abt. 33 Forstdepartement, Generalia, Tit. XXVIII, Nr. 1a, S. 442 – 443; vgl. auch Richard B. Hilf, Der Wald, Potsdam 1938, S. 136 f.; außerdem Colerus, Johannes: Oeconomia ruralis et domestica, Darinn das Ampt aller trewer Hauß-Vaetter/Hauß-Muetter/bestaendiges und allgemeines Hauß-Buch/vom Hauß-Halten/Wein-, Acker-, Gaerten-, Blumen- und Feld-Baw/begriffen/Auch Wild- und Voegelfang/Weid-Werck/Fischereyen/Viehzucht/Holtzfaellungen/vnd sonsten von allem was zu Bestellung vnd Regierung eines wohlbestelten Mayerhoffs/Laenderey/gemeinen Feld- und Haußwesens nuetzlich vnd vonnoethen seyn moechte., Mainz 1645, S. 555 u. vor allem 561– 562: »[…] hier hat man die Bienen in den Wäldern in eitel fichtenen oder Kihnbäumen/[…]/Sie nemen fein gerade Kihnbäume darzu/die im Walde allein stehen […].« 10 Vgl. Alexis Scamoni, Teeröfen als Nachweis eines ursprünglichen Vorkommens der Kiefer, in: Archiv für Forstwesen 4 (1955), S. 170 –183. 11 Vgl. u. a. Günther Thinius, Rauch in den Wäldern und Pech in acht Tagen, in: Heimatkalender für die Region Herzberg 7 (1997), S. 32 –34, hier S. 32; B. Willy Ulrich, Der Brandenburger Teerofen an der Buckau, in: Märkische Heimat 1 (1956)/V, S. 29 –30. 12 GStA PK II. HA, Abt. 33 Forstdepartement, Generalia, Tit. XXVIII, Nr. 1a, S. 225 –226. 13 Gisela Heller, Märkischer Bilderbogen. Reporterin zwischen Havel und Oder, Pinnow 2019, S. 197. 14 Vgl. Gerrit Friese/Karin Friese, Glashütten in Brandenburg. Die Geschichte der Glashütten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert mit einem Katalog ihrer Marken und 16 Farbtafeln, Berlin 1992, S. 5. 15 Vgl. ebd., S. 5, 84 u. 85; vgl. auch Joachim Volz, Sterbender oder kultureller Wald? Waldnutzung in der Uckermark vor 200 Jahren und heute, Templin 1998, S. 12 f.; Matthias Roch, Landschaft und Gewerbe. Die Niederlausitzer Glashütten, in: Günter Bayerl/Dirk Maier (Hgg.), Die Niederlausitz vom 18. Jahrhundert bis heute: Eine gestörte Kulturlandschaft?, Münster/New York/München/Berlin 2002, S. 237–269, hier S. 242; Martin Rudolph,
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Uckermärkische Glashütten, in: Mitteilungen des Uckermärkischen Museums- und Geschichtsvereins zu Prenzlau 8 (1930)/III, S. 68 – 89, hier S. 70. 16 Vgl. Hermann Cramer, Beiträge zur Geschichte des Bergbaues in der Provinz Brandenburg. Achtes Heft, Die Kreise Angermünde, Prenzlau, Templin, Ruppin, Westprignitz und Ostprignitz, Halle 1885, S. 13 –24, hier S. 20; vgl. auch Konrad Teicher, Die Eisengewinnung in Brandenburg aus heimischen Lagerstätten, in: Jahrbuch für Brandenburgische Landesgeschichte 28 (1977), S. 24 – 60, hier S. 36 –38. 17 Vgl. Albrecht Milnik, Am Waldessaume träumt die Föhre, Liebeserklärung an eine Verpönte, 2. Aufl., Remagen 2017, S. 75, Abb. 6.9. 18 Brandenburgisches Landeshauptarchiv [= BLHA] Rep. 2, Kurmärk. Kriegs- und Domänenkammer, F, 1441, unfoliiert. »Assignation« vom 7. November 1762. 19 Ebd. 20 Vgl. Albrecht Milnik, Sandschollen. Zerstörte Lebensräume. Ein Beitrag zur Umweltgeschichte Norddeutschlands, in: Beiträge zur Forstgeschichte 5 (2005), S. 3 –14, hier S. 5. 21 Das Original befindet sich im Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, SZ Blechen 700. Als Digitalisat ist das Werk einsehbar unter: http://www.smb-digital.de/ eMuseumPlus?service=direct/1/ResultLightboxView/result.t1.collection_lightbox.$TspTitleImage Link.link&sp=10&sp=Scollection&sp=SfieldVal ue&sp=0&sp=2&sp=3&sp=Slightbox_3x4&sp= 0&sp=Sdetail&sp=0&sp=F&sp=T&sp=1 [zuletzt 14.10.2020]. 22 Rudolph Stadelmann, Preußens Könige in ihrer Thätigkeit für die Landescultur, Bd. 2, Leipzig 1882, S. 419 (Nr. 305). 23 BLHA Rep. 2, Kurmärk. Kriegs- und Domänenkammer, F.1429, fol. 22v. 24 Vgl. ebd., unfoliiert. Schreiben vom 8. Oktober 1787. 25 Vgl. GStA PK II. HA, Abt. 33, Forstdepartement, Generalia, Tit. V, Nr. 24, S. 124. Diese Daten stammen aus dem aussagekräftigen »General Tableau der Koeniglichen Forsten. Exclusive Schlesien. Pro 1784«. 26 Vgl. Johann Peter Morgenländer, Forst-Beschreibung von der Churmark angefertiget im Jahr 1780, Berlin 1780, S. 201–218. Das mit seinen zwölf handschriftlichen Bänden geradezu monumental wirkende Manuskript ist im Bestand der Stadt- und Hochschulbibliothek Eberswalde unter der Signa-
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tur M213 zu finden. Eine umfangreiche Auswertung dieser Quelle für eine märkische Region mit deutlichen Bezügen zur Kiefer bei Heinz-Dieter Krausch, Die Wälder des Teltow gegen Ende des 18. Jahrhunderts, in: Heimatkalender für den Kreis Zossen 15 (1972), S. 93 –96. 27 Vgl. Milnik, Am Waldessaume (wie Anm. 17), S. 49. 28 Vgl. Hofmann/Pommer, Potentielle natürliche Vegetation (wie Anm. 2), S. 23. 29 Vgl. [Art.] Kiefer, Keine, Forle, Föhre, Pinus sylvestris, in: Georg Ludwig Hartig/Theodor Hartig, Forstliches und forstnaturwissenschaftliches Conversations-Lexikon, 2. Aufl., Stuttgart/Tübingen 1836, S. 454 – 458, hier S. 457. 30 Vgl. Hilf, Der Wald (wie Anm. 9), S. 22, Abb. 20; vgl. auch Kurt Hueck, Das Pflanzenkleid der Provinz Brandenburg, in: Märkisches Heimatbuch. Eine Einführung in die Geologie, Botanik, Vogelkunde, Naturdenkmalkunde, Vorgeschichte, Geschichte und Volkskunde der Mark Brandenburg, 3. Aufl., Neudamm 1935, S. 51–90, hier S. 76. 31 Werner Lindner, Mark Brandenburg, München 1924, S. 26. 32 Hans Sturm, Märkische Sagen, Leipzig 1923, S. 154. Nach dem damaligen Verständnis der zitierten Publikation handelte es sich beim Handlungsort Zauchel-Neumark um einen märkischen Ort, der heute als Suchodół in Polen liegt. 33 Vgl. u. a. August Trinius, Märkische Streifzüge, Minden 1887, S. 87; vgl. auch Paula Foerster, Der märkische Wanderkamerad, Bd. 4, Berlin-Lichterfelde 1933, S. 7, 20 f. u. 85; Wolf Jobst Siedler, Wanderungen zwischen Oder und Nirgendwo. Das Land der Vorfahren mit der Seele suchend, 3. Aufl., Berlin 1988, S. 73. 34 Vgl. u. a. Max Frentz, Kohlenmeiler bei Poratz. Erinnerungen aus der Zeit der Kohlenschweler, in: Templiner Kreiskalender 9 (1936), S. 58 – 60. 35 Es gibt natürlich prominente Gegenbeispiele in der Malerei (Blechens undatierte Kreidestudie einer »Kiefer mit Krone«) und in der Lyrik (zum Beispiel Hellmuth Neumanns Gedicht »Einsame Kiefer«, Eva Strittmatters Zeilen mit dem Titel »November IV, Entdeckung des Dichters W allace Stevens«). Vgl. zu Blechen: Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin PK, SZ Blechen 610. Digitalisat unter: http://www.smb-digital.de/ eMuseumPlus?service=direct/1/ResultLightbox View/result.t1.collection_lightbox.$TspTitleImage Link.link&sp=10&sp=Scollection&sp=SfieldVal ue&sp=0&sp=3&sp=3&sp=Slightbox_3x4&sp=0
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&sp=Sdetail&sp=0&sp=F&sp=T&sp=0 [zuletzt: 14.10.2020]; Das Gedicht von Hellmuth Neumann bei Richard Nordhausen, Unsere märkische Heimat, Streifzüge durch Berlin und Brandenburg, Ein Heimatbuch, 3. Aufl., Leipzig 1929, S. 17; das Gedicht von Eva Strittmatter bei Irmtraut Gutschk e, Eva Strittmatter. Leib und Leben, Berlin 2010, S. 124. 36 Vgl. Lars Franke, Von Königseichen und Kirchenlinden. Vierundzwanzig brandenburger Baumgeschichten, Wulkow 2005. Franke gibt sogar über die Geschichte des Efeus (Hedera helix) an der Klosterruine Zehdenick (OHV) Auskunft, gleichwohl dieser aus botanischer Sicht nur schwerlich als Baum angesehen werden kann. Dagegen ignoriert er die märkische Kiefer völlig. 37 Vgl. Milnik, Am Waldessaume (wie Anm. 17), u. a. S. 9, Abb. 0.3, S. 40, Abb. 3.21 [betr. sogenannte Lindner-Kiefer in der Schorfheide], Abb. 3.22 [= Maler-Kiefer bei Storkow] u. S. 42, Abb. 3.24. 38 Vgl. Willibald Alexis, Die Hosen des Herrn von Bredow. Ein vaterländischer Roman, 14. Aufl., Leipzig 1901, S. 3; vgl. auch Walter Weede, Die Landschaft bei Willibald Alexis, Rostock, 1931, S. 81. 39 Vgl. u. a. Richard Elsner, Pian. Ein Requiem, [Berlin-Pankow] 1919. Der üppige Bildteil dieses Bändchens strotzt nur so von Abbildungen, die die wandernden Sommerfrischler von einst in hallenartigen Kiefernforsten festhalten. 40 Vgl. Arthur Rehbein, Wunder im Sande. Märkische Wanderbilder, 4. Aufl., Berlin/Leipzig 1923, S. 8. 41 Vgl. ebd., S. 8. Und, wie um seine Verteidigungsschrift noch zu bekräftigen, fügt der Autor seinen Aussagen noch hinzu: »Wer von unserer Kieferndürftigkeit spricht, der weiß aber auch nicht, was für prachtvolle Laubwälder das Land der Föhrenhaine hat.« 42 Vgl. dazu einführend Walter Schmitz, Wilder Wald – Zauberwald – Nationalwald – Ökosystem. Raumprojektionen in den Mythos, Dichtung und Lebenswelt, Dresden 2010, S. 19 –35. 43 Zitiert nach Paul Koch, Paradies am Havelsee, in: Michael Grüning, Ein Haus für Albert Einstein. Erinnerungen, Dokumente, Briefe, Berlin 1990, S.474 – 477, hier S. 475. 44 Dankwart von Arnim, Als Brandenburg noch die Mark hieß. Erinnerungen, Berlin 1991, S. 21. 45 Vgl. http://www.artnet.de/k%C3%BCnstler/walterleistikow/m%C3%A4rkischer-see-bei-sonnenun-
tergang-qx9Dymd63FSeIVW60CtOgA2 [zuletzt: 26.10.2020]. 46 Als L. bezeichnet man in der Forstwirtschaft allgemein die bestandsbildende Baumart. Eine Baumart, die auf einer definierten Fläche aufgrund ihrer waldbaulichen Bedeutung dort die höchste Individuenzahl aufweist. 47 Vgl. Ingo Materna/Wolfgang Ribbe, Geschichte in Daten. Brandenburg, München/Berlin 1995, S. 205. 48 Daniel Siemens, Host Wessel, Tod und Verklärung eines Nationalsozialisten, München 2009, S. 198 f. 49 Vgl. Hans- Alfred Rosenstock, Zur Geschichte der Preußischen Staatsforstverwaltung, Göttingen 1975, S. 333; vgl. auch Gerhard Stephan, Die Gewinnung des Harzes der Kiefer, 3. Aufl., RemagenOberwinter 2012, S. 13 u. 89. 50 Vgl. Max Kienitz, Die Harznutzung, in: Zeitschrift für Forst- und Jagdwesen 48 (1916)/IV, S. 161–180, hier S. 169 u. 172; vgl. auch Gustav Adolf Kienitz, Das Schwalbennestverfahren zur Harzgewinnung, in: ebd. 49 (1917)/VIII, S. 359 –371, hier S. 359; Rainer Wudowenz, Max Kienitz, in: Al brecht Milnik (Hg.), Im Dienst am Wald, Lebenswege und Leistungen brandenburgischer Forstleute. 145 Biographien aus drei Jahrhunderten, Remagen 2006, S. 253 –256, hier S. 255. 51 Vgl. Albrecht Milnik, In Verantwortung für den Wald. Die Geschichte der Forstwirtschaft in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR (hrsg. vom Brandenburgischen Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten), Potsdam 1998, S. 387; vgl. auch Jürgen Hevers, Vom Riß zum Rohharz, Das Ende einer forstlichen Nutzung in der ehemaligen DDR, Braunschweig 1992, S. 12 –18, 32–33. 52 Vgl. Albrecht Milnik, August Bier, in: Ders. (Hg.), Im Dienst am Wald (wie Anm. 50), S. 262– 264, hier S. 263; Sehr aufschlussreich sind alle Maßnahmen Biers aufgeführt bei Herbert Krauss, Der Sauener Wald. Das große ökologische Experiment des Chirurgen August Bier nach 70 Jahren, Basel 1986, S. 93 f. 53 Anton Metternich, Die Wüste droht. Die gefährdete Nahrungsgrundlage der menschlichen Gesellschaft, Bremen 1947, S. 70. 54 Ebd. 55 Vgl. Scamoni, Teeröfen als Nachweis (wie Anm. 10). 56 Vgl. http://www.teltow-flaeming.de/de/aktuelles/ 2007/07/3865/ [zuletzt: 23.10.2020].
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Sprache, Gesellschaft, Region Dort, wo Menschen miteinander leben und kommunizieren, reproduzieren und tradieren sie permanent bewusst oder unbewusst – eingeschrieben in Wörter, Phrasen, Texte – historisches und kulturelles Wissen, das über Generationen bewahrt wurde und zum Teil bis in die Anfänge der Geschichte zurückreicht. Sprache ist per se sozial geprägt und dies gilt in umso stärkerem Maße, in dem sie sich unbeeinflusst von normgebenden Instanzen – wie das bei den Dialekten der Fall ist – entwickelte. Mündlichkeit prägt die Entstehung und Geschichte von Sprachen, und erst allmählich kommen auch die schriftlichen Überlieferungen früherer Jahrhunderte als Zeugen der Vergangenheit hinzu und konservieren noch stärker als die Mündlichkeit, die einem natürlichen Wandel unterliegt, das Wissen und die Sprache früherer Zeiten. Die Herausbildung und die Geschichte von Sprachen und ihrer regionalen Varietäten, der Dialekte wie auch der jüngeren Regiolekte, sind eng mit der Besiedlung, Kultur, den Traditionen eines Landes oder einer Landschaft verbunden und prägen sie sowohl inhaltlich, als auch formal. Brandenburger und Berliner werden von Außenstehenden oft schon nach kurzer Zeit regional zugeordnet, selbst wenn sie nur ein ik oder j (jut) für g verwenden. Die Bindung an eine Region, selbst einen Ort, die Vorstellung, ›anders‹ und damit auch ›besonders‹ zu sein, veranlasst aber auch Mundartsprecherinnen und -sprecher selbst aus sehr wenigen (dialektologisch minimalen) sprachlichen Besonderheiten gegenüber benachbarten Orten die Vorstellung einer eigenen Ortsmundart zu konstruieren, wie stellvertretend an der Einschätzung der Sprache in Lunow, einem Ort im Oderbruch, deutlich wird: »Das Lunower Plattdeutsch ist eine eigene Spielart des Mittelmärkischen. Vermutlich ist dies einerseits bedingt durch die bewahrende Kraft der Ortsgröße und andererseits durch die geographische Nähe zum Nordmärkischen.«1 Zugleich kann die Einbindung in den übergeordneten Dialektverband, auch das zeigt das Zitat, die Identifizierung mit der eigenen Sprache verstärken. Dies gilt für die niederdeutschen Dialekte, zu denen die märkischen gehören, in besonderer Weise, denn das Niederdeutsche besitzt den Status einer Regionalsprache und wird dadurch staatlich als besonders schützenwertes kulturelles Gut anerkannt und gefördert. 1998 ratifizierte die Bundesrepublik die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen, also der Sprachen, die »herkömmlicherweise in einem bestimmten Gebiet eines Staates von Angehörigen dieses
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Staates gebraucht werden« und »die sich von der [den] Amtssprache[n] unterscheiden.«2 In der Präambel wird besonders hervorgehoben, »daß der Schutz der geschichtlich gewachsenen Regional- und Minderheitensprachen zur Erhaltung und Entwicklung der Traditionen und des kulturellen Erbes beitragen.« Dass Niederdeutsch in die Charta aufgenommen wurde, war das Ergebnis einer im Vorfeld auch recht emotional geführten Diskussion, in der neben strukturellen Unterschieden des Niederdeutschen gegenüber dem Hochdeutschen und seinem generellen kulturellen Wert besonders der historische Status als überregionale Verkehrssprache in mittelalterlicher Zeit stark in den Vordergrund gerückt worden war. Aber auch lange vor der Anerkennung als Regionalsprache gab es eine aktive niederdeutsche Bewegung, die den Dialekten als ›Sprache des Volkes‹ besondere Aufmerksamkeit widmete, um ihrem zunehmenden Rückgang entgegenzuwirken. Denn anders als bei den süddeutschen Dialekten, deren formale Nähe zu der sich seit dem 17. Jahrhundert allmählich etablierenden hochdeutschen Amtssprache und später Standardsprache enger war, erwarben Niederdeutschsprechende das Hochdeutsche (fast) wie eine Fremdsprache. Noch Anfang des 20. Jahrhunderts mussten die Kinder die Regeln des Hochdeutschen mühsam erlernen, woran sie sich bis ins hohe Alter hinein gut erinnerten: So erzählt Friedrich H. aus Zootzen, geb. 1909 in Rosenwinkel, über seine Erfahrungen in der Schulzeit: »Un ich mit Bernhardn uff eener Bank ... und du weeßt ja, wie der so war. Olle Studt [der Lehrer] sacht: ›merkt euch doch endlich, daß ess nich u heißt, et heeßt au.‹ Nu ja, ach so, des güng so, also: Wir ham immer ›Mus‹ secht un nich ›Maus‹. So wär det ja richtich – Un jenfalls sacht Bernard da: ›Dät mit’n au, det stümt nich, det heeßt ja woll nich Pflaumenmaus, det heeßt doch Pflaumenmus.‹ Na, wir ham anfangs jar nich jewußt, wat det nu sollte. Awer Studt hat’ et gleich verstandn. Un nu häst’n Studt sehn saln ... de steiht un steiht un het keen Wort rutkrägn un denn secht’e: ›Bernard, du büst so klog asn Foss!‹ Un det is det einzichmal west, wo Studt platt rädn har.«3 Ähnlich erinnerte sich auch Frieda M., geb. 1898 in Berlinchen, noch hochbetagt an die Schwierigkeiten, denen Niederdeutsch sprechende Kinder in der Prignitz ausgesetzt waren: »Jo, bi uns in de Schul, da is det all noch’n büschen anders gewesen. In’n ersten Jahrn ham wir noch platt redn dürfn. Na, klar, nur wenn det mit m Hoch nich jing. Un mal ens war det vorbei. Uns öller Köster war wech, un batz, een neuer da. Un det war son richtijen Lehrer, son Studierter, der hat nur hoch geredt. Wat glöwt ji, wat is uns det schwer worn. Un die Schnatzers [pejorativ für die, die von Haus aus bereits hochdeutsch reden; d. Verf.], die hatn det nu jut [...].«4 Dass das Niederdeutsche in Konkurrenz zum Hochdeutschen schließlich unterlag, war aber letztlich ein Prozess, der Jahrhunderte zuvor begonnen hatte. Im Wissen um den endgültigen Verlust kulturellen Erbes entstanden deshalb spätestens seit dem 18. Jahrhundert für das Märkische erste Idiotika (Sammlungen ausgewählter Dialektwörter), im 19. Jahrhundert werden Einzelbeschreibungen und Erklärungen von Wörtern, Namen oder Phrasen veröffentlicht, es folgten umfangreichere Nachrichten über die Volkssprache in Berlin und Brandenburg und seit Beginn des 20. Jahrhunderts einige (wenige) mehr oder weniger umfangreichere Orts- oder Regionalgrammatiken. Laienlinguisten und Wissenschaftler setzen aber auch danach mit einem bewundernswerten Engagement die Wortsammlungen fort und legten damit
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wichtige Grundlagen für die Erfassung der gerade in Brandenburg unter dem Einfluss der sprachlichen Strahlungskraft der Metropole Berlin beschleunigt zurückgehenden Mundarten. Jedoch erst nachdem im Jahre 1950 ein vierseitiger Artikel erschienen war, in dem die Lehrerinnen und Lehrer Brandenburgs (teils recht pathetisch) zur Beteiligung an der Fragebogenerhebung zum »Brandenburg-Berlinischen Wörterbuch« aufgerufen worden waren, begann eine fast zwei Jahrzehnte währende systematische Erfassung des gesamten in Brandenburg beheimateten Regionalwortschatzes, in dessen Ergebnis 2001 der vierte und damit letzte Band des »Brandenburg-Berlinischen Wörterbuches« erscheinen konnte.5 Dieses Wörterbuch bewahrt nicht nur den alltagssprachlichen Wortschatz, sondern auch umfangreiche Lexik zu Handwerk und Landwirtschaft, zu Produktionstechniken, Flora und Fauna und vieles mehr und stellt damit einen einzigartigen Fundus historischen Wissens dar. Dass nur wenige Jahre nach Ende des verheerenden Zweiten Weltkrieges und wenige Monate nach der Gründung der DDR solch ein umfangreiches Projekt veranlasst wurde, verweist auf die Achtung, die der »bäuerliche[n] Bevölkerung auf dem Lande, der werktätigen Bevölkerung in den Städten« entgegengebracht wurde und hebt ihre Sprache, genauer: Dialekt als »Ausdruck und Nachklang, nämlich Ausdruck der Besonderheiten des Heimatraumes, seiner Lebensformen, seiner Geschichte, und Nachklang alter, ja manchmal uralter Volkstraditionen«6 , hervor. Auch der noch junge Staat erkannte den Wert der in der (Volks-) Sprache verankerten Kultur und sein Potenzial für die Identifikation mit der Gesellschaft. Die Spuren der Geschichte sind in vielfältiger Weise in die Mundarten eingeschrieben und zeigen das komplexe Wechselspiel von Kontinuität und Brüchen, von Be- und Entsiedlung, von Integration und Abgrenzung, aber auch die Auswirkungen staatlicher Regulierung für die gewachsene Volkssprache. Im Folgenden soll an einigen ausgewählten Beispielen aus den Bereichen der topografischen Namen, der Lexik und der Lautung, die mit der Besiedlungsgeschichte in Verbindung gebracht werden, skizziert werden, wie vielschichtig dabei der Zusammenhang von Sprache und Kultur und deren Tradierung in den Dialekten ist.
Germanisches und Slawisches in den märkischen Dialekten Die Anfänge der märkischen Dialekte reichen bis in die Zeit der Germanen zurück und auch wenn von ihnen bis auf wenige Runenfunde auf märkischem beziehungsweise brandenburgischem Boden keine eigenen schriftlichen Zeugnisse überliefert sind (sein können), zeigen doch die über Jahrhunderte nur mündlich überlieferten Toponyme vor allem größerer Flüsse die frühe, alteuropäische Sicht der Menschen auf die sie umgebende Welt. Wasser ist eine der wichtigsten Voraussetzungen, die der siedelnde Mensch benötigt, es dient ihm und seinen Tieren und Pflanzen als Lebensgrundlage. An Gewässern orientiert er sich im Raum, sie verbinden und trennen und es verwunderte deshalb auch nicht, dass gerade sie von Generation zu Generation weitergegeben werden, selbst über Sprachgrenzen hinweg. Flussnamen gehen auf die sogenannten Wasserwörter mit unterschiedlichsten Bedeutungsnuancen zurück, »wie
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sie den frühen Menschen mit seiner genauen Naturbeobachtung in reichem Maße zu Gebote standen und wie wir Heutige sie in solchem Umfang kaum noch kennen und nachempfinden können«,7 auch wenn es real weniger als zwei Handvoll Grundbedeutungen sind, auf die sie sich zurückführen lassen. So basiert der seit dem 9. Jahrhundert überlieferte Name der Oder auf einem schon vorgermanischen Wort *ad-ro ›Wasserlauf‹8, wobei das anlautende ad- später unter slawischem Einfluss zu od- wurde. Das schon im 1. und 2. Jahrhundert n. Chr. in lateinischen Quellen belegte Wort für die Elbe gehört zu lat. albus ›weiß‹ und verweist auf ein ›helles Wasser‹ und verallgemeinert diese Bedeutung schon früh zu ›Fluss‹. Erstmalig im 9. Jahrhundert ist die Havel als Habula belegt. Ihre Bedeutung leitet sich aus germanisch hav ›Meer‹ her und lebt fort in hochdeutschen Wörtern wie Hafen und Haff. Motiviert ist die Benennung durch die zahlreichen Windungen und Krümmungen des Flusslaufes, die Ähnlichkeiten mit einer Hafenbucht besitzen beziehungsweise die zahlreichen Seen, die sie durchfließt. Aber auch andere Flüsse, wie die Notte (zu ›nass‹), die Nuthe ›Tal, Furche‹, die Dahme (zu ›stieben, spritzen‹), die Dosse (zu ›wirbeln, stieben‹), der Rhin (zu ›fließen‹) oder die Spree (zu ›stieben‹) bewahren in ihren Namen das für unsere germanischen Vorfahren Bemerkenswerte der sie umgebenden Landschaft. Seit dem 6. Jahrhundert dringen westslawische Stämme in das inzwischen durch die weitgehende Abwanderung der Germanen nur dünn besiedelte Gebiet zwischen Elbe und Oder. Dass es zwischen ansässig gebliebenen Resten der älteren Bevölkerungsschicht und den Neuankömmlingen Kontakte gegeben hat, ist archäologisch vielfach nachgewiesen, wird aber gerade auch durch die Flussnamen bezeugt, die von den Slawen übernommen, in ihre Sprachen integriert und sprachlich ›eingepasst‹ werden, wie schon das Beispiel der Oder zeigt. Einzelne Stämme, von den Chronisten zu Beginn der schriftlichen Überlieferung als zum Beispiel Sprewanen oder Heveller ›Häveler‹ notiert, benennen sich sogar nach diesen Flüssen – und tradieren dadurch auch deren Namen. Mit den Slawen werden die sprachlichen Hinterlassenschaften bedeutend vielfältiger. Es sind insbesondere die in großer Zahl belegten charakteristischen Ortsnamen auf -in, -itz und -ow, die auf slawische Herkunft verweisen. Häufig finden sich die topografischen Besonderheiten der Ansiedlung im Namen verankert: So bewahrt Ruppin (zu ›Erdloch‹) die ursprüngliche Ansiedlung in oder bei einer Senke, Pieskow galt ebenso wie zum Beispiel Beelitz als ein ›sandiger Ort‹. Saarow wird als ›Siedlung hinter dem Graben‹ (von denen es noch heute zahlreiche gibt) motiviert, obwohl es direkt am (Scharmützel-)See liegt. Ponitz verweist auf eine ›Stelle, wo Wasser im Boden verschwindet‹, und Wusterwitz erinnert daran, dass es sich um eine ›Siedlung auf einer Insel‹ handelt. Neben solchen topografischen Besonderheiten sind weitere, für die Ansiedlung wichtige Gegebenheiten sprachbestimmend gewesen. Kränzlin ist motiviert durch das Andenken an die ›Siedlung eines Mannes namens Krenzlin‹, bei Beeskow, ›Ort, wo Holunder wächst‹, waren dagegen die schmackhaften Früchte ausschlaggebend, und Körbitz zeugt von einem ›Ort, wo es Kühe gibt‹.
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