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Otto Abel
Musik erfĂźlle eure Herzen Lebenserinnerungen eines Berliner Kantors Herausgegeben von Mark Pockrandt
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Gedruckt zum baulichen Erhalt der Immanuelkirche
Bibliografische I nformation der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese P ublikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im I nternet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. A lle Rechte vorbehalten. Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, M ikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD -ROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für I nternet-Plattformen.
© be.bra wissenschaft verlag GmbH Berlin-Brandenburg, 2020 KulturBrauerei Haus 2 S chönhauser A llee 37, 10435 Berlin post@bebraverlag.de Lektorat: Nele Robitzky, Berlin Umschlag und S atz: typegerecht berlin Titelbild: Gemälde von Erich Pörner (1946), Öl auf Leinwand (graphische Vorlage: Greta S chmidt) S chriften: Stempel Garamond, Frutiger Next Pro Druck und Bindung: Finidr, Český Těšín ISBN 978-3-95410-261-7 www.bebra-wissenschaft.de
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Inhalt
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Vorwort
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Die Lebenserinnerungen von Otto Abel Zum Beginn I 1905 –1924 II 1924 –1932 III 1932–1940 IV 1940 –1946 V 1946 –1963 Zum Beschluß
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Nachwort
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A nmerkungen Literatur Bildnachweis Lieder Lebenslauf Otto Abel Über den Herausgeber
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Vorwort
Hätte mich jemand vor Kurzem gefragt, ob mir der Name Otto Abel etwas sagt, hätte ich verneint. Erst durch die Nachricht, dass durch glückliche Umstände seine Autobiographie wiederaufge-
taucht ist, wurde ich auf ihn aufmerksam. Sehr gern komme ich der Bitte nach, ein Grußwort für diese Veröffentlichung beizutragen. Und ich finde es großartig, dass die noch lebenden K inder Otto Abels sich damit einverstanden erklärt haben, den Verkaufserlös dieses Buches dem Erhalt der Immanuelkirche Prenzlauer Berg zugutekommen zu lassen. Aber langsam. Auch wer noch nie von Otto Abel gehört hat, kennt ihn – wenn er oder sie M itglied einer evangelischen K irchengemeinde in Deutschland ist. Denn wir alle singen – ob in Ost oder West – sehr gern und seit vielen Jahren die von Abel vertonten Bonhoefferzeilen: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag“, im Evangelischen Gesangbuch unter der Nummer 65 zu finden. Gerade in Jahresschlussandachten hat dieses Lied manche getröstet, ermutigt und getragen. Oder denken wir an „Hört der Engel helle Lieder“, unter der Nummer 54 im Gesangbuch. Otto Abel hat aus seiner französischen K riegsgefangenschaft eine Melodie mit- und eingebracht, die Christen hierzulande an jedem Weihnachtsfest gern singen. Im Grunde ist das ja ein Friedenszeichen: Einstimmen in die Melodie des „Erbfeindes“ am Fest des Friedens, den Gott ausrufen will über alle Welt … Ich weiß nicht viel über diesen Mann. Aber die Töne, seine Gabe, zu komponieren, Melodien zum M itsingen zu kreieren, überzeugen mich. Er hat wohl gerade in Paris erlebt, wie Musik 7
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all diese nationalistischen Grenzen, Abgrenzungen, ja den Hass überwinden kann, weil sie alle gemeinsam bewegt, ganz gleich, woher Menschen kommen und wohin sie gehen mögen. Ihn hat die Dankbarkeit geprägt, seine Liebsten wiedersehen zu können – und seine Orgel. Das ist anrührend. Besonders ein Satz bewegt mich: „Ich habe in meiner Militärzeit nichts als Sinnlosigkeit erlebt.“ Das ist für mich ein Erbe, das bis heute aktuell bleibt. Die Immanuelkirche Prenzlauer Berg hat in den vergangenen Jahrzehnten wahrhaftig viel erlebt. Ideologien kamen und gingen, Pfarrer, Künstler, Musiker widerstanden der Verachtung von Menschen, die aufgrund ihrer Herkunft verfolgt wurden. Und die Gemeinde sieht das bis heute als ein relevantes Erbe an. Und ja, es ist relevant. Leider bis heute! Wir leben in schwierigen Zeiten, gewiss. Christliche Haltung ist aktuell gefragt, wo Hass und Hetze und ein lange überwunden geglaubtes Gerede von „Volk“ Raum greift, das von Abstammung faselt. Viel eher brauchen wir eine Definition von Deutschsein, die sich „postmigrantisch“ definiert (Naika Foroutan). Gerade Christinnen und Christen sollte das leichtfallen. Denn wie schrieb der Apostel Paulus: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier“ (Galater 3,28). Ich wünsche diesem Buch weite Verbreitung. Und der Gemeinde von Herzen Gottes Segen! Margot K äßmann
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D r. D r. h.c. Margot K äßmann war nach ihrer Tätigkeit als P farrerin und später Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen K irchentages Landesbischöfin der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers und Vorsitzende des R ates der Evangelischen K irche in Deutschland (EKD). Sie engagiert sich in ausgewählten Projekten wie etwa dem internationalen K inderhilfswerk terre des hommes, der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung oder dem sozialen Straßenmagazin „ A sphalt“. S eit April 2019 gibt Margot K äßmann monatlich die Zeitschrift „M itten im Leben“ heraus.
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Die Lebenserinnerungen von Otto Abel1 Otto Abel Lebenserinnerungen
1963 Für meine K inder Karin, Gisela und Jürgen
Zum Beginn I 1905 –1924 II 1924 –1932 III 1932–1940 IV 1940 –1946 V 1946 –1963 Zum Beschluß
* Diese Aufzeichnungen, für meine K inder geschrieben, sind nicht endgültig. Ich hoffe, sie später ergänzen und revidieren zu können. – Sollte mir das nicht vergönnt sein, möge die vorliegende Fassung gelten.
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Zum Beginn
„Wenn man die Fünfzig überschritten hat, ist es an der Zeit, seine Memoiren zu schreiben; es wäre schade, wenn sie ungeschrieben blieben“, sagte mir eines Tages Superintendent Zachau, unser Abelscher Familienchronist.2 Mein Vater widmete sich dieser Aufgabe, als er aus seinem Lehrer- und Organistenamt und seinen vielen Neben- und Ehrenämtern geschieden war und sich zur Ruhe gesetzt hatte. Die „Ruhe“ bestand darin, daß er sich unentwegt geistig beschäftigte wie sonst auch in seinem Leben, nur mit dem Unterschied, daß er nun arbeiten konnte, ohne an einen unerbittlichen Stundenplan wie in der Schule gebunden zu sein. Es ward ihm geschenkt, neben vielen kleinen Erzählungen, die in Zeitschriften und im Ruppiner Heimatkalender erschienen, ein für uns, seine K inder und K indeskinder, bestimmtes Manuskript zu vollenden, in dem er ausführlich sein Leben schildert. Gesundheit bis kurz vor seinem Tode, K larheit der Sinne, besonders der Augen, hatten ihm dies ermöglicht; und wenn einige Jahre vergangen waren, schrieb er einen Nachtrag. Seine letzten schriftlichen Äußerungen bestehen in ein paar Briefen, die er mir nach Rußland schrieb. Darunter befindet sich auch sein letzter Brief, acht Tage vor seinem Heimgang, der mich in Pleskau erreichte. Eine Woche später kam das Telegramm mit der Nachricht von seinem Tode am 19. Mai 1943, das mich nach Hause rief, um bei seiner Beerdigung in Berlin-Karlshorst dabei zu sein. Mein Großvater Adolph Abel (1817–1897) hinterließ leider keinen Lebensbericht, nur eine Reihe von Briefen, die er an seinen S ohn, meinen Vater, geschrieben hatte. Darunter befindet sich wiederum der letzte Brief, einige Wochen vor seinem Tode geschrieben, als er fast achtzig war. Vom Urgroßvater, dem Sonnenberger Lehrer und Kantor George Friedrich Abel (1755 –1835) liegt ebenfalls keine Autobiographie vor, auch persönliche Briefe 12
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haben die Zeit nicht überdauert. Aber in den Behördenarchiven sah ich viele Schriftstücke von seiner Hand, deren eines, ein Gesuch um Verbesserung seiner sehr bescheidenen Einkünfte, ich mir habe fotokopieren lassen, um seine S chrift und seinen Namenszug im Familienarchiv zu haben. Doch dann werden die Familienüberlieferungen, obgleich die Zeit erst 200 –250 Jahre zurückliegt, spärlicher. – Vom Ururgroßvater A ndreas Abel, dem 1775 zu Löwenberg verstorbenen Schneidermeister, künden nur einige spätere Daten in den K irchenbüchern und in der S chneiderinnungslade Gransee, die leider seit 1945 verschollen ist; Geburtstag und -ort ist nicht belegt, sein Geburtsjahr 1714 ist von uns errechnet worden. Ob sie alle keine Lebenserinnerungen geschrieben haben, oder ob die Blätter verloren gegangen sind? Wie dem auch sei: schade! „Wenn man die Fünfzig überschritten hat, ist es an der Zeit …“, nun gehe ich bald auf die S echzig zu, und noch sind Augen und Hände gut und arbeitsfähig. Ich will es versuchen, ehe es zu spät ist, mein Leben zu beschreiben und verspreche, auch einige Nachträge zu liefern, wenn ich es wie Vater auf annähernd fünfundachtzig bringen sollte, – alles sub conditione Jacobaea, d. h. also, wenn wir leben und gesund sind, und wenn Gott es nicht anders beschlossen hat.3
I 1905 –1924 A ls ich am 24. Oktober 1905 in Berlin geboren wurde, soll es geschneit haben. So wurde mir erzählt. Und manches andere aus den ersten Lebensjahren wurde mir erzählt, woran ich beim besten Willen keine Erinnerung habe. Meine erste Erinnerung geht zurück in den Beginn des Jahres 1908, und zwar an Großmutter Abel. Wenn Vater seine Mutter besuchte, die in ihren letzten Jah-
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ren in Berlin in der Wrangelstrasse 78 wohnte, nahm er mich oft mit. Großmutter hatte einen Tisch, in dessen Schublade sich ein Päckchen mit bunten Bildern befand. Diese Bilder, – vielleicht war es ein Q uartettspiel, – waren vom ersten Augenblick des Besuches an der M ittelpunkt meines Interesses. Ich bekam sie zum Spielen, dieweil Vater und Großmutter ihre Unterhaltung begannen, ohne auch nur im geringsten durch mich gestört zu werden. In dieser Zeit war ich also zwei bis zweieinhalb Jahre alt, denn am 30. Mai 1908 starb Großmutter. Merkwürdig, daß dann die Erinnerung für längere Zeit ausgelöscht ist! Großmutters Beerdigung und ebenfalls die Silberhochzeit meiner Eltern am 23. November 1908, beides Ereignisse, die für ein K ind aus dem A lltag herausgetreten sein dürften, haben keinerlei Eindrücke in meinem Gedächtnis hinterlassen, auch nicht die Ferienreisen 1908 nach A lt-Reddewitz auf Rügen und 1909 nach Pieskow am Scharmützelsee, von denen mir viel erzählt wurde. Ich weiß lediglich noch von einem hölzernen gelben Postwagen, den ich einmal zu Weihnachten bekam, und mit dem ich viel gespielt habe. Genauere Erinnerungen setzen erst wieder ein, als wir mit der Familie, – mit Ausnahme von Hans, der S oldat war, – die Sommerferien 1910 in Deep bei Köslin an der Ostsee verbrachten. Dieses Deep war damals ein primitives Fischerdorf, unberührt von jeglichem Betrieb, das Onkel Hugo Deter, der Familienorganisator, ausfindig gemacht hatte. Hier hatte Vater ein Fischerhaus gemietet, dessen Bewohner für die Dauer unseres Besuches auf dem Heuboden schliefen. Die absolute Ruhe und die ungebundene Freiheit über fünf Wochen bedeuteten eine wirkliche Erholung für uns alle. Dreimal waren wir in Deep, 1910, 11 und 12, und jedes Jahr waren der Feriengäste mehr geworden, da sich die Ungeniertheit unseres „Bades“ herumgesprochen hatte unter den Verwandten und Bekannten. Zogen wir doch, alt und jung, gleich nach der A nkunft in Deep unsere Schuhe und Strümpfe aus und 14
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bis zur Abfahrt nicht wieder an! Wahrscheinlich war es auch ein verhältnismäßig billiger Sommeraufenthalt, denn billig mußte er sein, um den Finanzen eines Lehrers, – und Vaters Sparsamkeit obendrein, – einigermaßen zu entsprechen. Das Essen bestand meist zum Frühstück, zum Mittag und zum Abend aus Flundern. Dennoch war es abwechselungsreich. Die Abwechselung bestand nämlich darin, daß die Flundern abwechselnd geräuchert, gebraten oder sonstwie zubereitet waren, – aber sie waren immer frisch aus erster Hand und wahrscheinlich auch nicht zu teuer. A llerdings hatte Mutter nicht nur reine Ferienfreuden, sondern die Hausfrauen besorgten das Essen selber, ließen sich nur von den Fischersfrauen wohl mitunter helfen. Auch die Vorbereitungen für die Reise bedeuteten für Mutter eine große Arbeit. Wurde doch sozusagen die halbe Wirtschaft von zu Hause mitgenommen und in einem großen und kleinen Reisekorb, und die Betten für sechs Personen in einem überdimensionalen Bettsack verstaut! Bei der A nkunft auf der Eisenbahnstation GroßMölln erwarteten uns unsere Wirte und brachten unser Gepäck, dieweil wir uns stärkten, auf ihre Fischerkähne. Nachdem wir uns selber zwischen K isten und Kasten, Körben und Säcken ein Plätzchen gesucht hatten, segelte die ganze Flottille über den Jamunder S ee, manchmal bei einer fröhlichen Brise mit weißen S chaumkämmen, bis die ganze Gesellschaft, am Ziel auf Grund gelaufen, von den Fischern mit viel Vergnügen huckepack an Land getragen wurde. Deutlich stehen mir diese Sommerurlaube vor Augen, als ich vier bis sechs Jahre alt war, mit ihren Badefreuden in der Ostsee, dem abendlichen K rocketspiel auf der Wiese am See und der Beobachtung der zahlreichen Sternschnuppen am Augusthimmel. Auch als einmal gut die Hälfte der Ferien verregnet war, tat das unserem Humor keinen Abbruch. In einem der Deeper Urlaube, weiß ich, bekam ich die Windpocken. Ich mußte längere Zeit in 15
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der dunklen Fischerstube zu Bett liegen, gehütet von Vater und Mutter, die dadurch ihre S orge und Mehrarbeit mit mir hatten, entsinne mich aber nicht, daß ich selber deswegen besonders traurig gewesen wäre, bis daß ich Vater eines Tages sagen hörte: „Na, heute kann der Junge aber wieder aufstehen.“ Leider bin ich nie wieder nach Deep gekommen, ich hätte es gerne einmal wiedergesehen. Heute ist es polnisch ebenso wie Vaters Ostseegrundstück, das er sich 1909 in Lychenthin gekauft hatte, und das ich leider nicht kennen gelernt habe. Die Deeper Wochen werden allen, die wir dort so harmonisch beieinander waren, den A lten, den Jüngeren und besonders uns K indern als „Zeit des tiefsten Friedens“ im Gedächtnis bleiben. 1912 ist auch das Jahr meiner Einschulung. Ich kam zu Ostern in die Michaelisklasse der 105. Gemeindeschule, die sich mit Vaters Wirkungsstätte, der 121. Schule in der Prenzlauer Allee, unter demselben Dach befand. Vater hatte den Winter über mit mir vorgearbeitet, damit ich ein halbes Jahr S chulzeit sparen sollte. Ich weiß noch, wie Mutter mich in der K lasse des Herrn Frakanzani ablieferte, der dann drei Jahre lang mein gütiger erster Lehrer war. Seit dem Jahre 1914 ist der Inbegriff des Friedens in der Welt und mithin auch in meinem Leben bis zum heutigen Tage geschwunden. Ich war mit Vater am 1. August 1914 mit der Straßenbahn 72 nach Heinersdorf hinausgefahren, wo sich eine neuasphaltierte Straße befand, die erst sehr viel später bebaut wurde. Dort konnte ich ungefährdet Rollschuh laufen. (22 Jahre später habe ich auf derselben Straße meine ersten Motorradversuche gemacht!) A ls wir zum Abendbrot heimfahren wollten, begegnete uns ein radfahrender Postbote, der den Straßenpassanten zurief: „Mobilmachung!“ Zu Hause angekommen, standen die Menschen bereits in Haufen auf der Straße, studierten die angeschlagenen Extrablätter und beredeten aufgeregt die Neuigkeit, deren grausige Bedeutung mir zunächst nicht klar war. Denn unter ei16
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nem K rieg konnte ich mir Genaueres nicht vorstellen. Bald aber lernte ich auch als Neunjähriger den Ernst der Zeit begreifen, als mein Bruder Walter, alle Vettern und Bekannten feldgrau nach Frankreich oder Rußland ausrücken mußten. Und als eines Morgens im Oktober beim Aufstehen eine Eilkarte von Onkel Hugo Deter kam: „Fritz ist gefallen“, – sein ältester Sohn, mein Vetter mütterlicherseits, – da hatte ich begriffen, was es mit einem K rieg auf sich hat. A ndere Nachrichten gleicher A rt folgten, während die Zeitungen voll von Siegesnachrichten im Westen und im Osten waren. Wir in der Heimat merkten den K rieg am eigenen Leibe erst später, als die Lebensmittel rationiert wurden und „gehamstert“ werden mußte, – dieser Ausdruck kam damals erst auf. Oft habe ich in langer S chlange „angestanden“, – auch das war ein neuer Begriff, – um ein halbes Pfund Butter oder einen Zentner Kohlen für uns zu ergattern. Und oft marschierten wir, Vater und ich, mit unserem kleinen Handwagen nach Blankenburg, um in dem städtischen Gut Äpfel zu holen, die uns russische K riegsgefangene verkauften, einmal auch die elf K ilometer bis Karow, wo uns Vaters Freund und Kollege Kopelmann einen Zentner Kartoffeln abließ. Im Februar und März 1917 hatten wir, als infolge des strengen Winters die Heizung knapp geworden war, lange Zeit „Kohlenferien“. A ls Ersatz für den Unterricht mußten wir Schüler alle paar Tage in der Schule erscheinen, um uns Hausaufgaben abzuholen. Stillschweigend hegten wir die Hoffnung, daß dieser Zustand recht lange dauern möchte! Vater, zu alt, um eingezogen zu werden, versah weiter seinen K irchen- und S chuldienst, Lotte war im Haupttelegrafenamt tätig, Käte besuchte das Lehrerinnenseminar und machte 1915 ihr Examen, und ich bestand im Frühjahr 1915 die Aufnahmeprüfung in die Sexta des Sophien-Gymnasiums, Weinmeisterstraße. Mutter begleitete mich auf diesem Gang, und auf dem Rückweg 17
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kaufte sie mir am S chönhauser Tor die blausamtene S chülermütze, deretwegen ich mich zu Hause nicht wenig bestaunen ließ. Ab Ostern ging ich nun täglich die halbe Stunde zu Fuß in die neue Schule, in der es mir gut gefiel, und von wo ich bald gute Zensuren, in Latein gar eine Eins, mit nach Hause brachte und es bis zum Zweiten in der K lasse schaffte. (Zum Primus allerdings nicht!) Das Lernen fiel mir leicht, ich war in allen Fächern ein guter S chüler, ohne mich groß anstrengen zu müssen. Das war das Verhängnis. Denn als ich später in die höheren K lassen aufrückte, glaubte ich, die höheren A nforderungen ebenfalls ohne A nstrengung erfüllen zu können, – und dieses war ein Irrtum. Meine Zeugnisse gerieten langsam, aber sicher auf die abschüssige Bahn. Ein gütiges Geschick hat später, 1945, meine ganze Zensurenmappe verloren gehen lassen, sodaß ich heute der Nachwelt mit gutem Gewissen sagen kann: „Ich kann sie euch nun heute leider nicht mehr zeigen!“ Was meine musikalische Entwicklung anlangt, so hat mich Vater nicht, wie man annehmen könnte, in eine strenge Zucht genommen und mich nicht zum K lavierüben gedrängt. Jedenfalls konnte von einem geregelten K lavierunterricht bei ihm nicht die Rede sein. Das war wohl Absicht; vielmehr hat er gewartet und erwartet, daß ich von alleine käme. Sein pädagogischer Blick sollte ihn nicht getäuscht haben; wenn ich ihm beim Spielen zuhörte und zusah, – und er spielte viel, – dann erwachte in mir ganz schlicht und einfach der Wunsch, auch einmal so spielen zu können. Das geschah zuerst zu Hause am K lavier, dann an der Orgel in der K irche. So mag gekommen sein, daß er mich gleichsam nebenher in die Geheimnisse der Noten, Tonleitern, A kkorde und Formen einführte; aber wie und wann das gekommen ist, weiß ich heute nicht mehr zu sagen. Ich weiß nur noch, daß ich mit zehn Jahren eine ganze Reihe von Sonatinen aus dem bekannten K leinmichelschen Band bei Litolff spielen konnte, und 18
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daß ich ihn nun oft drängte, mit mir vierhändig zu spielen, zuerst S chulwerke, später die heute vergessenen Sonaten von Bohm und Diabelli, schließlich die Militärmärsche von S chubert und vor allem die vierhändig bearbeiteten Symphonien von Beethoven und Schubert. Diese Symphonien sind mir damals durch vieles Spielen so in Fleisch und Blut übergegangen, daß sie ein Leben lang bis heute mein fester Besitz geblieben sind. Dafür bin ich meinem Vater besonders dankbar. Orgel begann ich im A lter von zehn oder elf Jahren zu üben, meist wenn Vater mit Üben fertig war und anschließend hinter der Orgel seine Chornoten für den nächsten Gottesdienst oder das nächste Konzert ordnete. Zunächst spielte ich vierstimmige Choräle nach dem damals in der Immanuelkirche in Gebrauch befindlichen Choralbuch von Zorn. In meinem Kalender steht die Notiz, daß ich im Jahre 1918 zum ersten Mal im Gottesdienst die Choräle und die Liturgie spielen durfte. 1920 steht mein Name auf dem Programm des Weihnachtskonzertes zum ersten Mal gedruckt, und zwar mit einem Orgelkonzert in F-dur von R inck. Wie hat sich in 40 Jahren der Orgelstil geändert! Heute sähe ich auf dem Programm lieber stehen, daß ich damals ein kleines Stück von Pachelbel oder Tunder oder Zachow gespielt hätte, aber diese Namen kannte man 1920 noch kaum. A n der Orgel bewunderte ich als Junge meinen Vater vor allem wegen seiner freien Improvisationen. Er gab mir auch darin keinen direkten Unterricht, aber sein Vorbild genügte mir, um ihm recht viel von den Fingern abzusehen und es ihm nachzumachen. Trotz K rieg, Sorge und Not ließ Vater nicht von seiner liebsten Gewohnheit, die er sich an freien Tagen gönnte. Das war das Wandern. Bis in seine letzten Lebensjahre hat er immer wieder „seine liebe Heimat durchwandert“, jedesmal mit dem Ziel seines Geburtsortes Groß-Woltersdorf. Ohne solche „Wanderungen durch die Mark“, besonders durch den K reis Ruppin, können wir 19
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uns unsern Vater gar nicht vorstellen. Im ersten Weltkrieg nahm er mich, wenn es irgend paßte, mit. So führten uns mehrtägige Wanderungen zu Pfingsten 1915 über R heinsberg, zu Ostern 1916 über Gransee und in den Sommerferien über Neuruppin und Lindow jedesmal nach Groß-Woltersdorf, einmal im Sommer 1915, als auch Käte dabei war, über Eberswalde, Chorin, den Werbellinsee, Joachimsthal, Glambecker Mühle und Peetzig in Mutters Heimat Greiffenberg in der Uckermark. Außer den Geburtstagen, die auch im K rieg nicht ausfielen, und die den Familienzusammenhalt immer wieder von neuem bestärkten, wurden in unserer Wohnung Winsstraße 18 zwei Hochzeiten gefeiert, Käte 1917 und Hans 1918, letztere sehr bescheiden und in kleinstem K reise unter Zuhilfenahme von ein paar zusammengehamsterten Flaschen Hacky (Fruchtwein), der alles andere als festlich gewesen sein soll! 1918 wurde unsern Eltern der erste Enkel beschert, 1919 der zweite, 1920 und 1921 die erste und zweite Enkelin. Die „Wanderungen durch die Mark“ in den Ferien wurden, wenn irgend möglich, fortgesetzt. In den Sommerferien war ich meist von den beiden rührenden Tanten Emma und Berta in Greiffenberg eingeladen, die mir zur Auffrischung des leiblichen Wohls manches Glas Milch und manche Schmalzstulle extra zusteckten. Auf dem Lande war das Leben immer noch erträglicher als in der Großstadt, zumal man bei Mutter Dürre, der alten Greiffenberger Bäckersfrau, auf seine Brotmarken mitunter zwei Brote statt eines bekam. Der K rieg wollte kein Ende nehmen, und die Sorge und Ungewißheit um die nächsten A ngehörigen wurde immer größer. Hans, der im März 1914 nach Duala gegangen war, wurde nach schweren Jahren der Gefangenschaft in Dahomey, Marokko und Frankreich (Le Mans) 1917 nach der S chweiz ausgeliefert, wo er in Weggis am Vierwaldstätter S ee interniert wurde. Walter war 1917 von Frankreich nach Konstantinopel versetzt worden, von 20
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wo er uns unermüdlich mit Lebensmittelpäckchen versorgte. Beide Brüder waren also nicht mehr an der Front. Und eines Tages kamen sie nach Hause, Hans nach viereinhalb Jahren Abwesenheit am 31. Mai 1918, den ich kaum noch kannte, und Walter ein paar Tage nach Weihnachten 1918, – mit einer Lungenentzündung, von der er sich nicht mehr erholte, und an deren Folgen er 27jährig am 15. November 1920 starb. Nach Fritz Deters Tod war dessen Vater, Onkel Hugo, am 14. Mai 1917 im Lazarett Grodno gestorben, Vetter Heinz S chröder am 26. Juli 1917 gefallen, und noch viele andere aus der weiteren Verwandtschaft waren gefallen oder verwundet. Waren wir bis jetzt in der Heimat vom direkten K rieg verschont, so fing es nun auch in Berlin an zu knallen. Die Novembertage 1918 habe ich noch deutlich im Gedächtnis. Wenn wir aus der S chule kamen, war unterwegs „immer was los“. Lastwagen mit revolutionären Matrosen fuhren mit roten Fahnen durch die Stadt, und an den Straßenecken wurde dann eine von vielen „Hoch“ und „Nieder“ unterbrochene Rede gehalten. Am 9. November klebten an den Häusern Plakate mit der Nachricht, daß der Kaiser abgedankt habe. Der K rieg war zu Ende. Aber es begann die Nachkriegszeit mit ihren Schießereien, Streiks und Unruhen, die immer wieder aufflackerten und bis 1920 dauerten. Heiligabend 1918 in der Frühe wurden wir durch S chüsse, die auf dem S chloßplatz gefallen waren, geweckt, und so manche Nacht konnten wir nicht richtig schlafen. Oft mußte ich in der S chule fehlen, da mich Vater wegen der Unsicherheit nicht aus dem Hause gehen lassen wollte. Einmal mußten wir, Vater und ich, ein Paket vom Postamt Oranienburger Straße abholen. Wir zottelten mit unserm kleinen Wagen los, als plötzlich bei der Rückkehr auf dem Hackeschen Markt Maschinengewehre anfingen zu knattern, und wir mit scharfer Kurve schleunigst in einer Hauseinfahrt S chutz suchen mußten. Nach einiger Zeit traten wir 21
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im Eiltempo den Heimweg an und kamen auch glücklich mit unserer Fuhre zu Hause an. Einige weniger bedeutsame, aber erfreulichere Erinnerungen an diese Jahre: Ab 1919 gehörte ich der Ruderriege des SophienGymnasiums an. S chöne Fahrten von unserem Bootshaus in Niederschöneweide aus nach dem Müggelsee oder der Dahme folgten in den nächsten Jahren. Selbstverständlich konnte ich seit dieser Zeit auch schwimmen. 1919 ging Vater das erste Mal mit mir in die Oper. Wir sahen „Martha“, deren Melodien ich hinterher ausgiebig am K lavier nachspielte. – Herr Felix Schmidt in der Prenzlauer A llee wurde mein Geigenlehrer. Weit habe ich es auf diesem Instrument nicht gebracht, es sollte nur eine interessante Liebhaberei sein, im Gegensatz zum K lavier und zur Orgel, die ich beide weiterhin sehr ernst zu nehmen begann. Der 1. März 1921 ist der Tag meiner Einsegnung durch Pfarrer Nauck, den ersten und ältesten Pfarrer an Immanuel, der mit Vater ungefähr gleichaltrig war. Der Einsegnungsspruch Matth. 16,264, den er mir mitgab, hat mich mein ganzes Leben hindurch bewegt und mir an manchem Beispiel meines eigenen Werdegangs wie auch an demjenigen anderer Menschen gezeigt, wie wahr er ist. Für diesen Spruch bin ich meinem freundlichen alten Konfirmator, mit dem ich später noch manchen Dienst in der K irche zusammen tun durfte, herzlich dankbar. Wie nicht anders denkbar in unserer Familie, schloß sich auch diesmal ein harmonisches Verwandten-Wiedersehen in unserer Wohnung an, obgleich die Zeiten, im Zeichen der beginnenden Inflation stehend, noch keineswegs normal waren. Drei größere Sommerreisen, erstmalig ohne Vaters Begleitung und über die Mark Brandenburg hinausgehend, muß ich nun beschreiben. 1919 meldete mich Vater in der Ferienkolonie an für einen Aufenthalt in einem Kolberger K inderheim. Das war vier Wochen lang ein vergnügtes Leben und Treiben am Strand und 22
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Konfirmations-Schein Otto A bels, 1. März 1921 (unterschrieben von P farrer Christoph Nauck)
im Wasser sowie auf den Spaziergängen zur Gneisenauschanze oder zur Maikuhle. Die Hausmutter hatte Mühe, uns satt zu bekommen. Denn einmal entwickelten wir hundert Jungen aus der Großstadt einen erheblichen Appetit, und zum andern war die Verpflegung auch dort oben noch nicht friedensmäßig. 1920 wollte ich gerne wie andere Schulkameraden teilnehmen an einer Reise in die S chweiz, die unterernährte K inder zur Erholung einlud. Vater unternahm die nötigen Schritte, aber es kam lange keine A ntwort. Statt dessen kam eines Tages ein Bescheid vom Rathaus, daß ich für einen Erholungsaufenthalt in Finnland vorgesehen sei. Nun, ich wußte ja, daß es ein Land gab, das Finnland hieß, aber ich mußte mich doch erst still und leise im Atlas 23
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informieren, wo es liegt, und wie man dahinkommt. Mutter war entsetzt und war besorgt, mich so weit ins Ausland und ins Ungewisse fahren zu lassen, zumal die Abreise schon in ein paar Tagen stattfinden sollte. Doch der Termin verschob sich, und Mutter, inzwischen umgestimmt, bewältigte auch die Reisevorbereitungen. Und dann ging es eines Abends M itte Juni los. Wir fuhren die Nacht durch nach Lübeck und bestiegen am nächsten Tag die „Baltic“, einen finnischen Frachter, in dessen Laderäumen für uns 104 Jungen und Mädchen dreistöckige Betten aufgestellt waren. Fünf Tage dauerte die Überfahrt, da die Ostsee vom K riege her noch vermint war, und unser Schiff sich an die wenigen geräumten Fahrstraßen halten mußte. So hielten wir Kurs auf Bornholm zu, dann auf Gotland und fuhren danach, immer mit einem Lotsen an Bord, sicher an der schwedischen Küste entlang, mitten durch die eigenartig schöne S chärenwelt hindurch. Bis dahin ging es uns K indern gut, doch dann kam die Überfahrt zu den A landsinseln, bei der unser nicht gar großer Dampfer gehörig ins S chlingern geriet. Bis auf einige wenige, darunter der Verfasser dieser A nnalen, wurden alle seekrank. Und dann ging’s durch die Tausende von finnischen S chären hindurch, auf denen manchmal nur ein Haus oder manchmal auch gar keins stand, weiter in den Hafen von Helsinki, (damals sagten wir Helsingfors). Nach einem Tag Aufenthalt mit Besichtigung der Stadt ging die Reise per Bahn weiter. In Hämeenlinna (Tawastehus) stieg der größte Teil der K inder aus; vier Mann, dabei ich, fuhren weiter nach Tampere (Tammersfors), wo uns wieder zwei verließen. Und übrig blieb ich mit einem Lübecker Mädchen, Ilse S chulze, die wir alleine beide am nächsten Tag endlich an unserem Ziel Pori (Björneborg) anlangten. A m Bahnhof wurden wir erwartet, ich von meiner nunmehrigen Pflegeschwester Estrid Behm, die mich zu ihren Eltern brachte. Vater Behm war Balte und sprach fließend deutsch, wäh24
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rend ich mit Mutter Behm, die Schwedin war und nur schwedisch sprach, mich per Zeichensprache zu unterhalten pflegte. Estrid, drei Jahre älter als ich, sprach ein gutes S chuldeutsch und war eigentlich meine Betreuerin in Finnland. Außerdem waren noch zwei Pflegebrüder vorhanden, Lennert und Arne. Mit Estrid habe ich später noch lange korrespondiert, bis sich nach ihrer Verheiratung und dem Tod ihres Vaters die Spur leider verlor. S echs herrliche Wochen brachte ich in dem gastlichen Finnland zu. A ls die finnischen S chulen Ferien machten, fuhr die ganze Familie mit mir auf ihren Sommersitz in Vanmala (Tyrvää), einem Holzhaus direkt an einem der „1000 Seen“ gelegen, wo ein ungeahntes Indianerleben mit Schwimmen, Bootfahren, Radfahren, A ngeln u. Dergl. begann. Ich habe mich in Finnland sehr gut erholt und vieles gesehen und gehört, – war ich doch das erste Mal im Ausland! Leider bin ich nie wieder dorthin gekommen. Der Abschied Ende Juli wurde mir schwer. Mit Ilse S chulze zusammen fuhr ich die weite Strecke wieder zurück nach Helsinki, unterwegs rührend versorgt von finnischen M itreisenden. A ls alle K inder dort eingetroffen waren, begann die Heimfahrt, diesmal mit „A riadne“, einem größeren deutschen Dampfer, der nur zwei Tage brauchte, da wir ohne Umwege quer durch die Ostsee gelotst wurden. Aber diese Rückreise war eigentlich ein Wagnis. Denn als wir eines Tages am Heck saßen, den Blick auf das K ielwasser gerichtet, bemerkten wir, daß unser S chiff mitten auf See große Bogen fuhr. Und plötzlich sahen wir mit S chrecken seitlich in 100 Meter Entfernung zwei schwarze Gegenstände schwimmen: vom Sturm der vergangenen Woche losgerissene M inen, die sich in unserer Fahrstraße tummelten! Wir waren froh, – und der Kapitän wird es auch gewesen sein! – als in Stettin das Ziel unserer Seereise erreicht war. Die dritte Reise war wieder ungefährlicher und führte uns 1923 statt über die Ostsee in die Berge nach Schlesien. Wir wohn25
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ten in A lt-Kemnitz, zwei Stationen vor Hirschberg, bei Bekannten: Lotte, Frl. Worbs, mein Freund Helmut Pirk und ich, später kam noch Käte mit Achim dazu. Es waren geruhsame und erholsame Ferien, für mich waren es die letzten S chulferien. Wir waren gut aufgehoben, während dessen die Geldentwertung von Tag zu Tag weiterging, und wir um diese Zeit mit fünfstelligen Zahlen zu rechnen hatten. Bei klarem Wetter hatten wir immer das R iesengebirge mit der S chneekoppe vor Augen. Der Höhepunkt der Sommerreise war dann ein Ausflug ins Gebirge und auf die Koppe, wohin wir später noch so oft zum Skilaufen fahren sollten. Eines K reises von gleichgesinnten Freunden muß ich hier noch gedenken. Wir waren fünf junge Leute, die wir eine literarische A rbeitsgemeinschaft, die „Litterae“, gegründet hatten: Kurt Habermann, 1934 verunglückt durch elektrischen Strom, – A lfred Rupprecht, später Pastor in Bernau, – gefallen, – Herbert Liebner, – gefallen, – Helmut Pirk, der einzige von den Freunden, der noch lebt, und mit dem ich leider ganz auseinandergekommen bin, und ich. Wir trafen uns wöchentlich reihum jedesmal bei einem anderen, lasen gemeinschaftlich Literatur, hielten uns gegenseitig Vorträge, jeder mit Themen aus seinem Wissensgebiet, spielten Schach, philosophierten und debattierten über alle möglichen und unmöglichen Dinge, dichteten, malten, komponierten und vergaßen nicht, die Jahresfeste jeweils durch einen mit Wein oder Bier verzierten Abend zu begehen. Und wie es das Leben so mit sich bringt, – wenn wieder ein Jahresfest fällig war, kam der eine oder andere nicht mehr alleine, sondern ebenfalls mit einer „Verzierung“, nämlich zu zweit. Und bei dem Autor des vorliegenden Werkes hat sich diese Zweisamkeit sogar bis auf den heutigen Tag erhalten! Damit bin ich am Ende des A nfangs dieser Aufzeichnungen. 1924 stehen zwei Ereignisse obenan: Erstens lernte ich, wie schon 26
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angedeutet, unsere Mutti kennen, die damals sage und schreibe sechzehn Jahre alt war, und die in Vaters K irchenchor mitsang, und zweitens ging ich zu Ostern von der S chule ab. Es begann eine andere Zeit. Der Abschnitt K indheit und S chulzeit ging zu Ende, ich war achtzehn Jahre alt und trat in ein Leben, das sich doch wesentlich von dem bisherigen unterschied.
II 1924 –1932 Meinen weiteren Lebensweg hatte ich mir eigentlich anders gedacht. Durch die Inflation, die uns Ende 1923 mit Milliarden- und Billionenscheinen rechnen ließ, welche dann im Januar 1924 von der sog. Rentenmark abgelöst wurden, hatte Vater seine ganzen Ersparnisse verloren. Musik zu studieren, diesen Wunsch sah ich in den Sternen stehen. Auch der Gedanke, Lehrer zu werden wie Vater, war nicht in die Tat umzusetzen, denn die Lehrerkarriere war wegen Berufsüberfüllung gesperrt. A lso, sagten wir uns, mußte ich irgend einen anderen Beruf ergreifen und dann die Musik soviel wie möglich nebenbei betreiben. Vater frischte eine alte Bekanntschaft auf mit dem Groß-Geschäftsmann und Kunstmäzen James Simon, in dessen Auftrag und mit dessen Geld er als junger Lehrer Ferien- und Wanderkolonien geführt hatte. Am 1. Mai 1924 trat ich in das große Haus von Gebrüder Simon in der K losterstraße 80 – 85 ein, um das Textilfach zu lernen. A ller A nfang ist schwer, und auch ich mußte manchen Tag mich erst an das neue Leben gewöhnen, nämlich acht Stunden an ein und demselben Platz zu sein, in der Registratur oder Expedition, in der Musterei oder Buchhaltung, kurz, in allen Abteilungen, die ich im Laufe der nächsten drei Jahre als „Stift“ zu durchlaufen hatte. Doch fand ich mich nach den ersten ungewohnten Wochen in den Betrieb hinein, schloß Freundschaft mit Gleichgesinnten
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und fand sogar Interesse an der A rbeit, obgleich sie alles andere als musikalisch war. Mit 30 Mark Lehrgeld monatlich, das sich in den folgenden Jahren auf 50 und 60 Mark steigerte, wovon ich zu Hause die Hälfte als Kostgeld abgab, lebte ich ein bescheidenes, aber sorgloses Leben. Wußte ich doch das große Glück zu schätzen, daß ich bei den Eltern mein Zuhause behalten konnte und nicht in die Fremde ziehen mußte wie früher Vater oder Hans. A llerdings, bald betrachtete ich die kaufmännischen Lebensjahre im Stillen als Provisorium und kümmerte mich nicht sonderlich um meine berufliche Weiterbildung. Vielmehr beschäftigte ich mich mit allerlei Liebhabereien, dem Bau eines Röhren-Radioapparates, nachdem ich schon in der letzten S chulzeit als einer der ersten S chwarzhörer einen Detektorapparat mit Erfolg gebastelt hatte, kaufte mir ein Paddelboot, das auf der Havel lag, später ein Fahrrad und verbrachte im übrigen kurze, aber schöne Tage auf Urlaub in Thüringen, Rügen oder Hamburg/Helgoland. 1925 geriet ich, durch unsere Mutti verleitet, mit ihr zusammen in einen Volkstanzlehrgang bei Ludwig Burkhardt. Auch als ich am 1. Januar 1927 nach beendeter Lehrzeit als „Junger Mann“ mit 125 Mark Monatsgehalt in die Firma aufgenommen wurde, ging ich nicht etwa wie die meisten jüngeren Kollegen in die Textilabendschule, sondern erwarb eines Sommers, 1928, das bronzene Sportabzeichen, schaffte mir Skier an und verlebte fortan den Jahresurlaub ab 1927 mit dem Volkstanzkreis und mit unserer Mutti zusammen im Winter im R iesengebirge. Der Sport hatte es mir besonders angetan, und später habe ich manchmal gedacht: Wenn ich nicht Musik studiert hätte, wäre ich vielleicht Sportlehrer geworden. Der Volkstanz interessierte uns beide damals so, daß wir bald in den sog. Engeren K reis aufgenommen wurden. Mutti verließ sogar für längere Zeit Berlin, um auf dem Lande Volkstanzkurse zu geben, dieweil wir in Berlin ebenfalls solche Kurse leiteten und im übrigen ein Wandervogelleben führten mit zünf28
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tigen Fahrten. Schlips und K ragen, Bier und Zigaretten, moderner Tanz und die ganze „vornehme Gesellschaft“ waren Begriffe, für die wir nur ein Lächeln übrig hatten, und ich bin heute glücklich, auch diese Jahre, so wie sie waren, durchlebt zu haben. Aber bei dem baumwollenen Beruf und neben all den vergnüglichen Privatbeschäftigungen bereitete sich allmählich die Einsicht vor, daß ich weder ein guter Kaufmann werden würde, noch daß mich der Volkstanz, besonders was dessen musikalische Seite anlangt, zeitlebens befriedigen würde. Statt in die Webschule zu gehen, wurde Kapellmeister Philipp Heid mein Lehrer in der Theorie der Musik. Jede Woche ging ich zu ihm mit vollgeschriebenen Notenblättern, enthaltend Harmonielehre-Aufgaben nach Louis-Thuille und später Kontrapunktstudien. Dabei machte ich die eigenartige Entdeckung, daß ich fast die gesamte Harmonielehre schon unbewußt kannte, wohl infolge vielen K lavier- und Orgelspielens. Ich war ja inzwischen bereits Vaters Vertreter in der K irche geworden und hatte in jedem seiner K irchenkonzerte mitgewirkt. So bestand der Unterricht meinerseits eigentlich immer in einem stillschweigenden: „Habe ich mir gedacht, daß das so sein muß!“ Und natürlich habe ich auch schon „komponiert“. (Jugendsünden, an die man nicht gerne erinnert wird!) Dennoch sind die A rbeiten, wenn ich sie mir heute ansehe, nicht gerade falsch, sie sind naiv, aber „in Ordnung“. Von meinen S chülern später wurde ich oft nach Dingen gefragt, und ich mußte Dinge lehren, die ich selber nie gelernt hatte. A nscheinend waren sie mir von Geburt an als Selbstverständlichkeit mitgegeben. Ich besitze aus der Zeit, als ich noch keinen theoretischen Unterricht gehabt hatte, Schallplatten mit eigenen Orgelimprovisationen. Sie sind in Harmonik und Stimmführung nicht gerade genial, aber anhörbar! A ls indeß meine Wäschekenntnisse darin gipfelten, daß Linon gelb und Renforcé braun eingepackt ist, sah auch Vater ein, daß ich es als Handelsmann nicht sehr weit bringen werde, und als 29
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er nach fünf Jahren wieder über ein kleines Bankkonto verfügte, und ich ebenfalls ein Sparkassenbuch besaß, gingen wir eines Tages zu Prof. Dr. Hans Joachim Moser, dem damaligen Direktor der A kademie für K irchen- und S chulmusik in Charlottenburg und fragten ihn um Rat. Uns wurde zugesagt, daß ich an allen Vorlesungen dort hospitieren dürfe, und in den Einzelfächern solle ich mich privat weiterbilden, um als Extraner nach etwa einem Jahr die K irchenmusikerprüfung zu machen. A lso kündigte ich zu Ostern 1929 meine Stellung, um mich nun ganz intensiv dem lang ersehnten Studium widmen zu können. Dennoch bin ich für die Jahre bei Gebrüder Simon dankbar, auch diese Zeit halte ich nicht für verloren. Sie hat mich gewisse praktische Seiten des Lebens gelehrt, die ich sonst nicht gelernt hätte. Vater hatte als Konrektor mit 65 Jahren die A ltersgrenze erreicht und war in den Ruhestand gegangen. Nun war er mit 70 in dem A lter, in dem die K irche ihre Beamten zu pensionieren pflegte. Sein Wunsch war, mich als Nachfolger an Immanuel zu sehen, und so blieb er mit Einverständnis des Konsistoriums noch ein Jahr weiter im Amt. Ich habe mich, – das kann ich wohl sagen, – in dem einen Jahr mächtig auf die Hosen setzen müssen, um erstens das Examen zu schaffen und zweitens Vaters Stelle nicht wegschwimmen zu sehen. Mein Orgellehrer wurde der Domorganist Prof. Walter Fischer, ein guter Spieler und Pädagoge, besonders auch was Improvisation anlangt, darüber hinaus ein jovialer und immer zu witzigen Reden aufgelegter Mann, dem ich an der 113stimmigen viermanualigen Domorgel viel abgelauscht habe, im Unterricht wie in seinen Donnerstags-Konzerten. Als ich ihm das erste Mal vorgespielt hatte, sagte er: „So, und nun wollen wir mal richtig Orgel spielen lernen, nicht wahr?“ Ich war einigermaßen enttäuscht, denn ich dachte, ich könnte schon! Mein Gesanglehrer wurde Ludwig Ruge, später Professor an der Akademie, der mir den richtigen Sitz der Stimme 30
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