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Prolog 11. September 1961 – Schulterklappen

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Prolog 11. September 1961 – Schulterklappen7

BURGHARD CIESLA & HANS-FRIEDRICH JOACHIM

»Mit Taschenmessern schnitten sie sich gegenseitig die Schulterstücke von ihrer Forstuniform« und dann »unternahm die Gruppe einen Spaziergang zum Brandenburger Tor, um die Grenzsicherungsmaßnahmen anzusehen«.8 Bei dieser in einem Bericht der Staatssicherheit beschriebenen Gruppe handelte es sich um eine Handvoll Eberswalder Forststudenten, die am 11. September 1961 auf dem Berliner Ost-Bahnhof gemeinsam mit mehr als 30 ihrer Kommilitonen auf ihren Anschlusszug nach Hoyerswerda für einen Arbeitseinsatz warteten.

Sie saßen mit ihrem Gepäck auf einem der vollen Fernbahnsteige des Ostbahnhofs fest, da an diesem verregneten Wochenanfang ihr Zug hoffnungslos Verspätung hatte. Kaum einen Monat nach dem 13. August 1961 war die Ausnahmesituation in der Stadt und im Berliner Umland besonders auf den Bahnhöfen immer noch spürbar. Nach Fahrplan fuhr nun schon wochenlang gar nichts mehr. Es zeigte sich, dass die Unterbrechung der Verkehrswege zwar einfach gewesen war, aber im alltäglichen Betriebsdienst ergaben sich dadurch extreme Belastungen. Es dauerte eine Weile, bis sich das wirre System der Fahrplanänderungen, neuen Streckenführungen, operativen Maßnahmen, veränderten Abfahrts- und Ankunftsorte eingespielt hatte. Neben den überfüllten Bahnhöfen und Zügen wurden vor allem die Verspätungen zu einem alltäglichen Hauptärgernis. Die Reisenden saßen oftmals auf den Bahnhöfen oder in den Zügen auf freier Strecke fest. Die aufgelaufenen Verspätungen wurden im Herbst 1961 nicht mehr nach Stunden, sondern Tagen gerechnet. Wer vor dem Mauerbau bequem mit einem

Mauerbau in Berlin am Brandenburger Tor mit Sicherung der DDR-Staatsgrenze durch Kampfgruppen am 13. August 1961.

Vorortzug und der S-Bahn beispielsweise von Eberswalde quer durch West-Berlin nach Potsdam gefahren war, musste nun Wege in Kauf nehmen, die tagtäglich »kleinen Weltreisen« glichen.9

In Berlin tickte seit 29 Tagen die Uhr der Mauerzeit. Sie begann nachts am 13. August und sollte nach 28 Jahren, zwei Monaten und 28 Tagen überraschend am Abend des 9. November 1989 wieder aufhören. In und um Berlin mussten die Menschen mit dem Mauerbau von einem Tag auf den anderen ihren Alltag neu organisieren und vor allem lernen, sich neu zu orientieren. Als wäre Berlin »ein Brett vor den Kopf genagelt worden, suchte die Stadt unsicher auf allen Ebenen nach neuen Wegen, nachdem so viele gewohnte und vertraute versperrt waren. An die Stelle der bisherigen Begrenztheit war plötzlich eine definierte Endlichkeit getreten, die rundum in Gestalt der Mauer gegenwärtig war.«10

Die am 11. September 1961 auf dem Fernbahnsteig wartenden Forststudenten sollten im Rahmen eines Arbeitseinsatzes bewaldete Flächen für den Aufschluss eines Braunkohletagebaus im Energiebezirk Cottbus abholzen. Solche Fahrten in die Produktion gehörten zum normalen Studienbetrieb und wurden üblicherweise vor dem Beginn der Vorlesungszeit durchgeführt. An diesem Tag

Eberswalder Forststudenten am Berliner Ostbahnhof vor ihren Protesten gegen den Mauerbau.

trugen die Forststudenten ihre grünen Dienstuniformen und auf dem abgestellten Gepäck hatten einige auch ihre berühmten Filzhüte abgelegt. So zierte einige grüne Jägerhüte ein schwarzer Borstenpinsel, andere waren mit der hellblauen Feder eines Hähers geschmückt. Letztere wurde auch schon einmal spöttisch als »Wellensittich-Fangtrophäe« bezeichnet. Auf ihren Dienstjacken trugen die Forststudenten Schulterklappen in der Farbe ihres Uniformtuchs, die mit zwei silbernen Querstreifen versehen waren. Nach der damals geltenden Bekleidungsvorschrift der Forstwirtschaft zeigten die beiden Silberstreifen an, dass es sich bei den Wartenden um Forststudenten von einer der beiden Forstfakultäten in der DDR – Eberswalde oder Tharandt – handelte.11

Für die vorbeieilenden Reisenden, Pendler und Berliner sah es aber so aus, als ob die Forststudenten zu den vielen Polizei- und Armeeangehörigen gehörten, die wegen des Mauerbaus unterwegs waren. Mancher der Zivilisten schaute abschätzig, genervt und wütend auf die vielen reisenden Uniformträger und äußerte das im Vorbeigehen mitunter ungeschminkt. Die »feinen Unterschiede« bei den Uniformen waren den meisten Ost- und Randberlinern aber auch schlicht egal. Die Reaktionen begannen einige der wartenden Forststudenten auf dem Fern-

bahnsteig zunehmend zu ärgern, denn sie wollten nicht mit denjenigen verwechselt werden, die unweit des Ostbahnhofs eine »neue Ordnung mit Stacheldraht« errichteten. So montierten sich fünf von ihnen die Schulterklappen auf ihren Forstjacken ab. In dem eingangs zitierten Bericht der Staatssicherheit wurde später die Erklärung des Forststudenten Paul Hauenschild als »Wortführer« wiedergegeben, der sein Handeln gegenüber seinen Kommilitonen auf dem Bahnsteig folgendermaßen begründete: »Wir wollen nicht mit Stabsgefreiten der Armee verwechselt werden«, und die Schulterklappen würden erst wieder angebracht, »wenn die totale Abrüstung durchgeführt ist.« Bis der Zug nach Hoyerswerda in die Braunkohle abfahren sollte, blieb noch genügend Zeit und einige der Studenten beschlossen, zum Brandenburger Tor zu fahren, um sich dort »die Grenzsicherungsmaßnahmen« aus der Nähe anzuschauen. Der Anblick, der sich ihnen dort bot, wirkte auf sie verstörend, machte sie zugleich irgendwie wütend und es kam auch Wehmut über das nun Verlorene auf. Mancher von ihnen hatte gerade deshalb Eberswalde als Studienort gewählt, um Berlin und dem »verruchten Westen« nahe zu sein. In der offenen Viersektorenstadt war bis zum 13. August 1961 zweifellos deutlich mehr los gewesen als in der tiefsten Provinz, im sächsischen Tharandt bei Dresden.12

Doch die Schulterklappenaktion vom Ostbahnhof sollte sich sowohl für die fünf daran beteiligten Studenten als auch für ihre Fakultät zu einem ernsten Problem auswachsen. Zunächst kam es im November 1961 zur Statuierung eines Exempels. Gegen die fünf Studenten wurden Disziplinarverfahren eingeleitet, die am 18. November in der Aula der Eberswalder Forstfakultät wie kleine Schauprozesse inszeniert wurden. Alle zur Teilnahme verpflichteten Studenten mussten in voller Forstuniform erscheinen. Während im Saal die grüne Farbe dominierte, trugen die fünf studentischen Delinquenten zivile Kleidung. Im Vorfeld waren sie »zur Sache scharf vernommen« worden. Zwei von ihnen erpresste die Staatssicherheit zur Mitarbeit als Informanten. Vom sogenannten Wortführer der Aktion, dem Studenten Hauenschild, forderte dessen Vernehmer, er solle doch gleich zugeben, dass er die »Konterrevolution« geplant habe. Bei den Disziplinarverfahren wurde zudem nicht nur den fünf Studenten, sondern allen Forststudenten in der Aula ihre mangelnde Bereitschaft vorgeworfen, sich freiwillig für den Dienst in der Armee zu verpflichten. Der Vorfall auf dem Ostbahnhof galt als offene Provokation gegen die Grenzsicherungsmaßnahmen der Regierung und die damit einhergehende militärische Mobilmachung. Viele Eberswalder Forststudenten hatten es bis dahin abgelehnt, Verpflichtungserklärungen zum Dienst in der Nationalen Volksarmee (NVA) zu unterschreiben. Dem im September 1959 immatrikulierten Studenten Hauenschild wurden in diesem Zusammenhang

Der Eberswalder Forststudent Paul Hauenschild vor seiner Exmatrikulierung.

alle seine vermeintlich »feindlichen Diskussionen« während des Studiums vorgehalten. Er erklärte später in einem Interview für die Filmdokumentation, dass ihm im November 1961 in der Aula der Fakultät Äußerungen zur Last gelegt wurden, die bis in die Anfangszeit seines Studiums zurückreichten und an die er sich damals selbst nicht mehr erinnern konnte. Offenbar hatte, so Hauenschild später, jemand im höheren Auftrag mit großen Ohren aufmerksam zugehört und fleißig mitgeschrieben. Für Hauenschild und einen seiner Kommilitonen endeten die Verfahren mit der Exmatrikulation. Sie wurden zeitweise vom Studium an allen Universitäten und Hochschulen der DDR ausgeschlossen. Die anderen drei erhielten Rügen und ihnen wurde bei weiteren Verfehlungen ebenfalls die Exmatrikulation angedroht.13

Der Vorfall auf dem Berliner Ostbahnhof galt als schlagender Beweis für die mangelnde politisch-ideologische Erziehungsarbeit des Lehrkörpers an der Fakultät. In den nach den Disziplinarverfahren verfassten Berichten der Staatssicherheit und SED tauchte die Schulterklappenaktion als Paradebeispiel für das erzieherische Versagen der Eberswalder Professorenschaft immer wieder auf. In einer Lageeinschätzung der Staatssicherheit vom 24. Oktober 1961 wurde vermerkt, dass der größte Teil des Lehrkörpers nur dem Schein nach für die Politik der Regierung eintreten würde. Im Grunde seien sie – bis auf sehr wenige Ausnah-

men – die »Alten geblieben«. Der Vorfall habe, so die Lageeinschätzung, erneut deutlich gemacht, dass die Studenten an der Fakultät nur fachliche Kenntnisse vermittelt bekommen würden. Im Grunde würden an der Fakultät die Studenten für den Westen ausgebildet, was die Fluchtzahlen scheinbar bestätigten. Später, nach 1990, ergab eine Zählung, dass bis 1961 fast 100 Studenten, wissenschaftliche Mitarbeiter und Angestellte die Fakultät in Richtung Westen verlassen hatten. Die Lageeinschätzung der Staatssicherheit vom Oktober 1961 betonte, dass eine »politische Meinungsbildung im Sinne der Partei« durch den Lehrkörper bislang nicht stattgefunden habe. Akribisch wurde hierzu vermerkt, wer vor 1945 von den Forstprofessoren Mitglied der NSDAP, der SA oder des »Stahlhelms« gewesen war und wer einen Offiziersrang in der Wehrmacht bekleidet hatte. Das alles wurde als »negative Kaderkonzentration« an der Forstfakultät bezeichnet und sollte sich Monate später bei der Entscheidung, die Fakultät aufzulösen, auswirken.14

Die Disziplinierung der Forststudenten im Oktober 1961 war aber nur eines von vielen Ereignissen und Gründen, die am 29. August 1962 dann die SED-Führung dazu veranlassten, die Auflösung der Forstwirtschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin zum 1. September 1963 anzuordnen.

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