Ein denkmal für Itzik Rachmiels (Leseprobe)

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Yechiel Shraibman

Ein Denkmal f체r Itzik Rachmiels und andere Erz채hlungen aus dem Raschkewer Schtetl

herausgegeben und mit einem Nachwort von Ernst-Harald D채hnhardt


Die Erzählungen wurden aus dem Jiddischen von Ernst-Harald Dähnhardt übersetzt bis auf »Noah mit den sieben Fehlern«, übersetzt von Gabriele Andresen, und »Eine erotische Erinnerung«, übersetzt von Dorothea Greve.

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Inhalt

Ein Denkmal für Itzik Rachmiels

9

Eine kleine Straße in Raschkew 37 Scholem Chanaches

74

Vom Gutsherrn Andronake und Leib, dem Uhrmacher

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Ein Paar Schlittschuhe

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Onkel Schepssls Sohn 101 Noah mit den sieben Fehlern 111 Usbekistan − 42 117 Eine Strafe Gottes 151 Eine erotische Erinnerung 161 Niemals vergessen 165 Was eine kleine Geige vermag 176 Nachwort 184 Quellen 187 Anmerkungen 188 Über den Autor 190 Karte 191



Es gehört zur Natur meiner Landsleute, dass sie sich viel zusammenreimen. Aus einem Nebelstreif spinnen sie einen Faden, aus einem Faden wickeln sie ein kleines Knäuel und aus einem kleinen Knäuel machen sie eine ganze Decke. Aus: »Eine Strafe Gottes«



Ein Denkmal für Itzik Rachmiels

I

tziks Vater, Rachmiel Schuster, wohnte in Raschkew ganz hinten in der Schneidergasse. Er konnte tadellos das Futter für ein Paar Stiefel nähen, trank gerne mal einen und hatte eine unerschrockene Frau namens Dine, die ihm − wie seinerzeit Rahel und Leah zusammen unserem Stammvater Jakob − zwölf Jungen und ein Mädchen geschenkt hatte. Die Jungen hießen in Raschkew »die Rachmilikls«. Sie trieben sich ständig barfuß auf den Straßen herum, einer kleiner als der andere, hatten alle blitzende Augen, waren krumm und schief gewachsen, trugen zerrissene und zerschlissene Kleidung und spuckten pfeifend durch die Zähne. Wenn im Sommer die Zeit der Wassermelonen kam, standen sie alle bereit und lauerten auf die Wagen, um dort die eine oder andere Melone abzustauben, wie eine hungrige Katze vor einem Mauseloch hockt und auf eine Maus lauert. Konitschepajaner Lipowaner1 mit schwarz-rötlichen Bärten brachten stets die Wassermelonen. Sie hatten lange Peitschen dabei. Ihre leichten zweirädrigen Wagen waren hoch aufgesetzt und grün angestrichen. Ganz oben auf den Wassermelonen saß immer die Lipowanerin mit einem Kind an der Brust und passte genau auf. Man brauchte schon größte Geschicklichkeit, um derart raffiniert eine Wassermelone von einem der Wagen herunterzuholen, dass kein Hahn danach krähte. Jedes Mal, wenn in Raschkew eine Mutter ihrem Kind einen Klaps gab, es ausschimpfte und dabei einen »Rachmilikl« nannte, hieß das so viel wie: Lernen will es nicht, gehorchen will es nicht, waschen will es sich nicht, den ganzen Tag lang musst du ihm etwas ins Maul stopfen, den ganzen Tag treibt es sich in der


Nähe vom Dnjestr oder zwischen den Wagen beim alten Kloster herum und wird zu genau so einem Rüpel heranwachsen wie diese Rachmilikls. Rachmiel Schuster wohnte in der Schneidergasse neben Kopl Zigeuner, der an jedem Schabbes2 tagsüber eine größere Anzahl Menschen auf dem neben dem Bethaus der Schneider gelegenen grasbewachsenen Fleckchen um sich zu versammeln pflegte, just bei dem umzäunten Winkel, in dem man gefundene lose Blätter aus heiligen Büchern ablegte3. Dort erzählte er dann den Leuten seltsame Geschichten von Prinzen und Bettlern, Schlangen und Eidechsen, Zauberern, Sintfluten und Erdbeben, Geschichten, die sich von Schabbes zu Schabbes fortsetzten, immer weiter bis in die herbstliche Regenzeit hinein. Auch ich habe da einmal gesessen und einer Fortsetzung einer solchen Erzählung Kopls gelauscht. Allein schon wegen ihrer Sprachgewalt hätte ich sie schriftlich festhalten sollen und ich kann mir bis heute nicht verzeihen, dass ich das nicht getan habe. Neben Kopl Zigeuner wohnte Schajkele Bäcker, ein klein gewachsener Jude, ein stilles bedauernswertes Männchen mit leiser, schwacher Stimme. Sein ganzes Leben war geprägt von einem aufwühlenden Ereignis: Seinem Schwager, dem Schammes4 im Bethaus der Schneider, waren volle 200 Lei aus einem verschlossenen Pult gestohlen worden, die er für sein Totenhemd zurückgelegt hatte. In dieser Zeit kam gerade ein Gaukler, ein Hypnotiseur nach Raschkew. In einer seiner Abendvorstellungen versetzte der Hypnotiseur einen Jungen in Trance und suggerierte ihm, dass er sich im Bethaus befinde und sehe, wie jemand die Tür leise öffne, sich zum Pult schleiche, es aufschließe und das Geld herausnehme. In seiner Trance schrie der Junge laut: »Schajkele Bäcker! …« Raschkew geriet in Aufruhr. Das Schtetl beleuchtete ungefähr ein Jahr lang von allen Seiten die 10


Sache mit dem stillen bedauernswerten Schajkele. Und noch heute ist schwer zu sagen, wer damals wen geschädigt hat; ob Schajkele Bäcker seinen Schwager bestohlen oder ob der Hypnotiseur Raschkew beschwindelt hat. Neben Schajkele Bäcker stand Awreml Kotejiners Haus. Awreml Kotejiner war ein Fettwanst. Er handelte mit Lammfellen. Sein Haus hatte ein rotes Blechdach und eine lange Galerie. Davor befand sich ein schöner kleiner Garten mit einem Lattenzaun. Von dem Garten zogen sich an Bindfäden über die Fenster bis zum Dach hinauf blaue Blumen, sogenannte Grammophönchen. Auf vier in den Erdboden geschlagenen Pflöcken war im Garten ein kleiner Tisch aufgebaut worden, der die Möglichkeit bot, an der frischen Luft ein Glas Tee zu trinken. Warum dort in der Schneidergasse unversehens so ein komfortables Haus auftauchte, ist schwer zu begreifen. Offenbar nur deswegen, um die kleinen niedrigen Häuser mit ihren schiefen winzigen Fenstern, den schmalen knarrenden Galerien, den blassen Kleinkindern auf den Treppen und den vergilbten Windeln auf den Geländern der Galerien noch kleiner, niedriger und schiefer aussehen zu lassen. Offenbar eine Art Provokation. Aber wie sagt Mendele: »Aber nicht davon wollte ich sprechen«.5 Itziks Mutter Dine war eine furchtlose Frau, die stets unter Dampf stand. Sie bekam nicht nur wie selbstverständlich ihre Kinder. Sie konnte sich auf die Schusterbank neben Rachmiel setzen und einen Flicken so auf eine Sohle setzen, dass er, Rachmiel Schuster, es kaum so gut nachmachen konnte. Sie brachte es fertig, mitten auf der Straße einem Besserwisser zu sagen: »Sie sind ein Einfaltspinsel, so lang wie von hier bis nach Klimewutz«, sodass der sich vor Scham einen Monat lang nicht blicken lassen mochte. 11


Einmal geschah etwas – man muss es schildern, um Itziks Charakter besser verstehen zu können –, das den Satz erklärt: »Eine Frau kann zu Fall bringen und eine Frau kann aufrichten.« Rachmiel Schuster traf plötzlich ein Unglück. Beide Beine versagten ihm den Dienst, und zwar deswegen, weil er entweder immer wieder im Übermaß trank oder die Winter hindurch von sechs Uhr morgens bis vier Uhr nachmittags schlaff auf seinem Schusterschemel saß. Jedenfalls versagten ihm eines Tages frühmorgens die Beine und er blieb liegen wie ein Klotz. Es versteht sich, dass man selbst beim schwersten Unglück keine richtigen Ärzte in die Schneidergasse holte. Der rotblonde Quacksalber und auch Sossje die Hebamme sagten übereinstimmend, für die gelähmten Beine sei Budaki6 das Richtige. Genauso gut hätten sie sagen können, für Rachmiels gelähmte Beine sei der Messias das Richtige. Denn wann sind schon einmal Raschkewer in einen Kurort gefahren und dann gleich an den Liman nach Budaki? Nicht einmal die schönsten und reichsten Frauen taten dies. Die weiteste Reise zur Besserung der Gesundheit ging allenfalls nach Kotusshen zur Weintraubensaison. Wenn aber der rotblonde Quacksalber und Sossje die Hebamme tatsächlich gesagt hätten, dass man um der Gesundung Rachmiels willen den Messias herbeischaffen müsse, dann hätte Dine auch den Messias herbeigeschafft. Das ist nicht nur so dahergesagt und nicht übertrieben. Es geschah nämlich etwas, das offenbar tatsächlich nur in diesem Umfeld geschehen konnte: Dine nahm ihren gelähmten Mann huckepack und ging zu Fuß mit ihm nach Budaki. Das ist natürlich leicht gesagt: ging mit ihm nach Budaki. Sie kam nur auf Umwegen dorthin, schlug sich von Dorf zu Dorf auf vorbeikommenden Fuhrwerken durch, bettelte mit ihm auf dem Buckel von Haus zu Haus und gelangte schließlich doch nach Budaki. Dort schleppte sie ihn die Woche hindurch am Strand 12


herum, bezahlte mit den erhaltenen Almosen die besten Ärzte und die Heilschlammpackungen, blieb einen ganzen Sommer lang und brachte ihren Mann, Rachmiel Schuster, wieder auf die Füße. Um Rosch Haschanah7 herum brachte sie ihn heim nach Raschkew. Sein Bart war abrasiert, er sah blühend aus und trug seinen Hut keck wie ein Jüngling schräg auf dem Kopf − ein junger Mann, ein schneidiger Bursche. Was sich in jenem Sommer mit den Rachmilikls in Raschkew abgespielt hat, kann der Fantasie der Leser überlassen bleiben. Itzik war der älteste Sohn, der Stammhalter. Von klein auf legte er es darauf an, ein richtiger Raufbold zu werden, das heißt zugleich austeilen, aber auch einstecken zu können. Von einer Prügelei mit zehn, zwölf Jahren behielt er für sein ganzes Leben eine »Kirsche« an der Lippe, einen Pickel, wie ihn sich Cheder8Jungen mit einem Stückchen Baumwolle auf die Lippe zu kleben liebten. Die Prügelei ergab sich mit einem Jungen aus wohlhabender Familie und Liebling seines Vaters: Julik Kontrient. Sein Vater war Kurzwarenhändler und hatte an der Hauptstraße einen schönen Laden. Genau neben diesem Laden maßen Itzik und Julik ihre Kräfte. Die übrigen Jungen bildeten einen Kreis um sie und feuerten beide gleichermaßen an. Die Schlägerei verlief zunächst normal nach den Regeln einer ordentlichen Schlägerei. Als aber Julik merkte, dass er übel dran war, zog er aus der Tasche ein Häkchen, mit dem man seinerzeit gewöhnlich Knopfstiefel zuknöpfte und fuhr damit Itzik in den Mund. Der begann sogleich aus dem Mund zu bluten. Julik rannte in den Laden hinter die Theke neben den hohen Regalen mit Schnittwaren. Von dort sah er triumphierend hinaus auf die Straße, als sei er der Sieger. Die anderen Jungen gossen Wasser auf Itziks Gesicht und legten ihm immer wieder nasse Lappen auf den Mund. Itzik 13


quälte sich einige Monate lang mit der aufgerissenen Lippe herum. Die »Kirsche« an der Lippe behielt er sein ganzes Leben lang, aber den Kampf damals bei dem Schnittwarengeschäft hatte Itzik Rachmiels gewonnen, gewonnen allerdings auch jenen Pickel. Er brachte ihm für alle Zeiten diese klare Erkenntnis: Vor einem Jungen aus wohlhabendem Hause muss man auf der Hut sein. So ein verwöhnter Junge kann unter seiner Kleidung immer noch einen Haken versteckt halten! … Itzik wuchs irgendwie zu einem gesunden, robusten Burschen mit dichtem Haarschopf, breiten Schultern und großen kräftigen Händen heran. Wahrscheinlich ging er zwei oder drei Jahre in einen Cheder und lernte dem Vernehmen nach auch ein wenig von den religiösen Schriften. Flickschuster wie sein Vater wollte er offenbar nicht sein. So wurde er mit der Zeit ein »Sagotowschtschik«, ein Gamaschennäher, wie man diesen Beruf andernorts nennt. Eine Tätigkeit, die der des Schusters sehr nahe kommt, aber doch ein bisschen anspruchsvoller und edler und eben anders ist. So wurde er irgendwie erwachsen. Wie alle Söhne von Raschkewer Handwerkern sah er zur Winterzeit keine rosige Zukunft. Im Sommer kaufte er sich an den Schabbestagen bei YechielAwromche eine Hand voll Sonnenblumenkerne, stand auf der Straße, knackte die Kerne und spuckte die Schalen zornig und böse aus mit einer Art beunruhigender Wut auf die Welt. Zuweilen drückte er sich mit ein paar guten Kumpeln in Salmine Raschkowans Kneipe herum, saß da und ließ sich bei einem Gläschen Wein darüber aus, dass sich anderswo in der Welt manches bewege und dass das heiße, in der Welt schlafe man nicht. Erhitzt vom Wein und mit rotem Kopf konnte er dann mit der Faust auf den Tisch schlagen, sodass die Gläser in tausend Stücke zersprangen. 14


Der Pickel an der Lippe hat ihn offenbar nicht immer daran gemahnt, was sich schickt. Ich erinnere mich zum Beispiel an einen Vorfall. Ich war damals von Czernowitz zum Pessachfest9 nach Hause gekommen. Irgendwo in einem Keller an der Schneidergasse versammelten sich ein paar Söhne von Schneidern und Schustern und ich brachte Josche Pawinski mit. Er sollte der Versammlung eine Vorlesung halten. Obwohl sein Vater, Pinje Pawinski, das große Lebensmittelgeschäft hatte, das als einziges in Raschkew mit eisernen Rollläden ausgestattet war, war Josche in der Universität von Czernowitz als gefährlicher Linker bekannt. Er studierte dort Jura, um Rechtsanwalt zu werden. Jeweils in den Ferien besprach er in Raschkew Bücher wie »Motke, der Dieb«10 und »Am Kopfende eines Sterbenden«11. Er trug einen schwarzen russischen Kittel. Für die Schneidergasse wollte er sich einsetzen und verausgabte sich dafür bis zur Erschöpfung. Josche Pawinski redete etwa eine Stunde lang zu den Versammelten. Er sprach von »politischer Ökonomie«, »Mehrwert« und »Expropriation«. Seine Rede war kaum verständlich und mit Fremdwörtern gespickt. Aber die Versammlung hörte ihm atemlos zu und verschlang seine Worte. Man begriff nicht alles, was er sagte, wusste aber genau, dass das, was er sagte, im wahrsten Sinne des Wortes gut war. Nur Itzik Rachmiels stand von seinem Platz auf, nachdem Josche Pawinski seinen Vortrag beendet hatte und gegangen war, ging zu dem kleinen Tisch, an dem noch kurz zuvor Josche gestanden und geredet hatte, und erklärte: »Wenn ich hier auf dem Tisch seine Zunge sehe, werde ich ihm auch glauben, was er sagt!« … Auch in Raschkew begann sich damals etwas zu regen. An den roten Feiertagen12 (schon allein die Tatsache, dass Raschkew anfing, die roten Feiertage zur Kenntnis zu nehmen!) tauchten über 15


Nacht mitten auf der Straße oben an den Telegrafendrähten rote Fähnchen auf und der Raschkewer Polizeichef mit seinem einfältigen Gendarmen, den man im Schtetl Borzjes Menasches nannte, liefen beide mit geschultertem Gewehr herum wie vergiftete Mäuse. Sie veranstalteten einen großen Tumult, brachen den Markt ab und ordneten an, die Geschäfte zu schließen. Man hatte es nicht gerade leicht, sie davon abzubringen. In den zwischen den Feiertagen des Laubhüttenfestes liegenden »Halbfeiertagen«13, an denen man schon nachts zu arbeiten beginnt, riefen Mädchen in den Schneiderwerkstätten unvermutet einen Streik aus und forderten, dass nicht mehr als zwölf Stunden pro Tag gearbeitet werden solle. Es reichte! Wie vorherzusehen, erreichten sie damit überhaupt nichts. Dieser Streik dauerte von den Zwischentagen bis zum Abend des letzten Feiertages. In der Hauptstraße lachte man sich schief: Was für liederliche Weibsbilder! Hat man so etwas schon gehört? Heutzutage stellen schon die bei den Schneidern angestellten Mädchen unverschämte Forderungen. Aber im Schtetl rumorte es, und es war nun einmal ein Streik, zumindest die Andeutung eines Streiks, der Anfang einer Streikbewegung. In die ganz oben bei der »Klippe« gelegene Raschkewer Höhle, zu der die Clique gern an Schabbestagen mit Kerzen in den Händen ging, um Fledermäuse zu fangen, ging man nun auch aus einem anderen Grund, den man mit der Bezeichnung Picknick umschrieb. Tief im Dunkel der Höhle hielt man Reden und sang Lieder. Danach kehrte man ins Schtetl mit demonstrativ zwischen den Händen ausgebreiteten Fledermäusen zurück, offenbar nur um des besonderen neuen Begriffes willen, um den der Sprachgebrauch in Raschkew reicher geworden war: Konspiration. In Raschkew begann sich etwas zu bewegen. Und ausgerechnet ihn, Itzik Rachmiels, der mit seiner zerrissenen und verbeul16


ten Lippe den wildesten Hass auf diese zerrissene und verbeulte Welt verspürte, mied die Clique, wahrte Distanz zu ihm und zog ihn offenbar wiederum um der »Konspiration« willen nicht zu der »Bewegung« hinzu. Wegen seiner übermäßigen Erregbarkeit und seines besonders hitzigen Wesens hielt man ihn abseits in Reserve für den Zeitpunkt, an dem man ihn unbedingt brauchen würde. Itzik war darüber ziemlich verärgert. An den Schabbestagen stand er wie immer mit einer Hand voll Sonnenblumenkerne in der Hosentasche auf der Straße, knackte sie und spuckte die Schalen aus; böse, zornig und mit einer beunruhigenden Wut auf die Welt. Er stand verbittert da und dachte: Inwiefern bin ich schlechter als andere? Oder bin ich deswegen schlechter, weil ich besser bin? … Vielleicht dachte er aber auch nicht genau so. Vielleicht denken wir jetzt so an seiner Stelle, weil wir wissen, was weiter geschah, und jetzt nach all den Jahren der damaligen Raschkewer Clique sagen wollen, dass sie Itzik gegenüber ungerecht war, wirklich ungerecht. *** Wie es Itzik in den Jahren vor dem Krieg ergangen ist, als ich schon nicht mehr in Raschkew war, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass Itzik damals nach Wertusshen geheiratet hat. Das war wie Raschkew eine kleine Stadt am Dnjestr, etwas mehr als zwanzig Kilometer flussaufwärts nach Soroke zu. Wertusshen wurde allgemein als »die Steppe« bezeichnet. In dieser in einer flachen Gegend gelegenen Stadt besaßen die Juden bei ihren Häusern auch etwas Land, auf dem sie Mais, Sonnenblumen und Tabak anbauten. Natürlich gab es auch in Wertusshen eine Vorderstra17


ße mit Geschäften, zwei oder drei Bethäuser, ein bemoostes Bad nach jüdischer Art und ein Paar kleine Hinterstraßen, in denen Schneider und Schuster lebten. Die Wertusshener waren etwas ungehobelter als die Raschkewer. Anstelle von Emer (Eimer) sagten sie »tschutre«, anstatt eider (eher) »nejshe« und anstatt gib mir »lang mir rüber«. Sie waren, dünkt mich, urtümlicher, nicht so misstrauisch-reserviert, verweichlicht und verbürgerlicht wie die Raschkewer, eben gesünder, einfacher, offener. Wertusshen hieß wohl zu Recht »die Steppe«. Doch wie sagt Mendele: »Aber nicht davon wollte ich sprechen.« Itzik heiratete die Tochter eines Schusters aus Wertusshen, blieb also im Bereich des Schustergewerbes. Sein Schwiegervater war ein ebenso guter Schuster wie Itziks Vater. Aber er war ein ruhiger, gelassener Mann, ein »Aschoseterer«, wie man in unserer Gegend sagt. Wenn es morgens dämmerte, lief er in seinen von Leim klebenden Hosen in das kleine Bethaus, um dort ein Achtzehngebet14 zu sprechen. Er liebte es, auf seinem niedrigen Schusterschemel mit einem alten Schuh auf den Knien ein geistliches Lied zu brummeln. Seine Frau trug stets einen sauberen Kittel. Immer wenn sie etwas erzählte, strich sie sich mit zwei Fingern kreisförmig über die Mundwinkel, gar nicht wie die einfache Frau eines Schusters. Sie war eine schwächliche zarte Frau und hatte dennoch ihrem Mann zwei Kinder geboren: als erstes ein Mädchen namens Schifre und den Sohn und Stammhalter Sanwl. Schifre schlug ganz nach der Mutter. Sanwl war damals ein Bursche von fünfzehn Jahren. Itzik wohnte mit Schifre bei den Schwiegereltern in einer Kammer. Schifre liebte Itzik wie ihr eigenes Leben, und obwohl sich das alles ja nicht in Raschkew abspielte, hieß es dort allgemein, Itzik Rachmiels sei in gute Hände geraten. 18


Als Wertusshen 1940 sowjetisch wurde, hatte Itzik schon einen Sohn von vier Jahren. In Wertusshen entstand genauso wie in Raschkew eine Genossenschaft für Schuster. So frohgemut und so eifrig wie jetzt wurden Schuhsohlen früher nicht geflickt. In der Genossenschaft wählte man Itzik zum Sprecher der Gamaschenmacher. Er stand in einer blauen Schürze und mit aufgekrempelten Ärmeln vor einem Brett und schnitt Stiefelschäfte zu. Dabei strich er sich immer wieder vor Wohlbehagen den strubbeligen Bart, als sei das der eigentliche Zweck seines Tuns. Wohlbehagen einerseits deswegen, weil es um ihn herum jetzt so war, wie es war, und andererseits deswegen, weil ihm beim Streichen des Bartes gute Einfälle kamen, wie man die Schäfte noch kunstvoller zuschneiden könne. Es wird berichtet, dass Itzik in jenem Jahr einmal für einen Tag nach Raschkew kam und man ihn auf der Straße umringte und ausfragte, was er in Wertusshen so mache, wie es ihm dort ergehe und worüber man dort zurzeit spreche. Danach sagten sie ihm: »Das heißt also, Itzik, dass du nach und nach zu etwas gekommen bist, nicht wahr?« Itzik strich sich damals mit der Hand den strubbeligen Bart und antwortete ihnen: »Auf Biegen oder Brechen wird Rachmiel Schusters Enkel studieren und Arzt werden. Das wird Raschkew noch sehen, so wahr ich Itzik heiße.« Aber ein Jahr später brach bekanntlich der Krieg aus. Direkt in Raschkew entstand eine Verbindung zum gegenüberliegenden Ufer. Fähren setzten Tag und Nacht über den Dnjestr und verlagerten Evakuierte, Viehherden und Wagenladungen Weizen. Bomben fielen. An beiden Ufern blieben Menschen mit abgerissenen Armen und Beinen liegen. Die Menschen wichen nach Wertusshen aus. Aber dort war es noch schlimmer. Familien aus Kaprescht, Markulescht und Florescht saßen die gesamte Uferlinie am Dnjestr entlang auf ihren Habseligkeiten. Lediglich eine 19


einzige Fähre war in Betrieb. Es gab Menschen, die Sack und Pack zurückließen und in einem Kahn auf die andere Seite übersetzten, und solche, die ihre Habe nicht aufgeben wollten. Das ging so lange, bis die Deutschen und die Rumänen in Wertusshen eindrangen. In den ersten Tagen danach hat man in einem Wald bei Wertusshen etwa 200 Menschen erschossen. Die Qualen und Leiden sind unbeschreiblich. Die am Leben Gebliebenen drängten sich in Dachböden und Kellern oder zerstreuten sich in die umliegenden Dörfer. Nach einiger Zeit fasste man aus allen Schtetln die Menschen zusammen und fing an, sie zu Fuß in die Gettos nach Transnistrien zu treiben. So wurde auch Itzik Rachmiels samt Weib und Kind, den Schwiegereltern und seinem kleinen Schwager Sanwl in das ukrainische Schtetl Berschad am Bug verschleppt, in das »Berschader Getto«, wie man es damals zu nennen begann. Es gibt eine Geschichte, die sich um Itziks vier oder fünf Jahre alten Sohn rankt, den, der Medizin studieren sollte, und die sich auf jenem Fußmarsch in das Getto ereignet hat. Wie üblich waren es auch hier Soldaten, die die Menschen vor sich hertrieben. Auf einem Wagen mit einem Maschinengewehr, der vor der Menschenmenge herfuhr, saßen einige Unteroffiziere. Auf dem Wagen lag auch ein Sack mit Brot, Wurst und einigen Flaschen Wein für die Soldaten, um ihnen den Weg zu erleichtern. Selbst wenn man zu Fuß geht, kann man in wenigen Tagen von Wertusshen aus Berschad erreichen, jetzt ging man aber schon ein paar Wochen. Warum machen sie so weite Umwege? Warum quälen sie die Menschen vor dem Tode noch so sehr? Manche litten so unter Hunger und Durst, dass ihr Leib anschwoll und sie aufgedunsen auf dem Weg liegen blieben. Wie man später erst begriff, leitete man die Kolonne absichtlich hier20


hin und dorthin, damit ganz Bessarabien in den Genuss dieses Schauspiels käme und weniger Juden nach Berschad gelangten. Aber das erkannte man eben erst später. Zunächst ging man nur immer weiter und wusste nicht, wohin und warum. Man kannte nicht das Ziel und wusste nicht, ob man es je erreichen würde. Erst durch den erwähnten Sohn Itzik Rachmiels erlangte man Gewissheit. Itziks Schwiegervater, der Schuster aus Wertusshen, nahm seinen Enkel auf den Arm und brachte dem Kind behutsam bei, es solle sich nahe am Wagen aufhalten und genau hinhören, wovon die Soldaten sprächen, wohin man die Kolonne zum Erschießen bringe und wie lange man sie noch so herumführe. Der Enkel fing laut zu weinen an, und der Großvater machte ihm klar: »Wieso heulst du jetzt? Warum heulst du hier? Heul lieber dort neben dem Wagen, damit man dich da hinaufnimmt, hörst du!« Mit dem Enkel auf dem Arm drängelte sich der Großvater durch die Menge nach vorne und der Enkel fing an, laut zu weinen und zu jammern: »Ich will auf dem Wagen fahren und will auf dem Maschinengewehr sitzen. Ich will auf dem Wagen fahren.« Die Soldaten bogen sich vor Lachen: Was wünscht sich so ein Jude nicht alles in so einer Zeit! Ein Kind bleibt eben ein Kind. Und sie setzten Itzik Rachmiels Sohn auf den Wagen. Die Unteroffiziere auf dem Wagen sprachen rumänisch und Itziks kleiner Junge verstand moldawisch gut. Nach einiger Zeit fing er wieder an zu weinen: »Ich will zurück zu meinem Opa. Ich will auf seinen Arm. Ich will zurück zu meinem Opa.« Der Kleine wurde dem Großvater zurück auf den Arm gesetzt und der Großvater fragte leise: »Na, was gibt’s? Spann mich nicht auf die Folter! Hast du etwas erfahren?« »Aber ja!«, antwortete 21


der Enkel. »Die bringen uns nicht zum Erschießen, die bringen uns ins Getto nach Berschad.« − »Ist das nun besser oder ist das schlimmer?«, sinnierte der Alte und vergaß dabei völlig, mit wem er sprach. Wieso solch ein winziges Kerlchen ohne Weiteres zwei ihm unbekannte Worte wie »Berschad« und »Getto« behalten konnte, ist hier nicht von Belang: Offensichtlich hatte Itzik Rachmiels nicht ohne Grund angekündigt, dass Rachmiel Schusters Enkel Medizin studieren werde; Raschkew werde das sehen, so wahr er Itzik heiße. Nach so einem Ereignis war es selbst für ein Kind schmachvoll, untätig im Berschader Getto zu sitzen. Hätte man im Berschader Getto gewusst, was sich in aller Stille in der Wohnung des Wertusshener Schusters abspielte, dann hätte man ihn »den heiligen Schuster« genannt. In der kleinen Bleibe, die eher eine Art Kammer als ein richtiges Zimmer war, reparierten die Männer nächtelang Stiefel, indem sie Rubtschikes15 auf durchgelaufenen Sohlen anbrachten. Die Frauen besserten Hosen aus und wuschen Hemden und Unterhosen. Diese geflickten und gewaschenen Sachen holte einmal in der Woche ein Mann ab, der sich entweder nachts, wenn es richtig dunkel war, oder vor Anbruch des Tages, wenn es noch nicht richtig hell war, hereinschlich und in einem Sack andere Sachen mitbrachte, die ausgebessert und gewaschen werden sollten. Zunächst klopfte der Mann einige Male an die Fensterscheibe, dann kam er herein, als ob nichts Besonderes wäre, so wie ein gewöhnlicher Kunde, der dem Wertusshener Schuster Arbeit bringt. Den Weg in den Wald kannte auch Itzik. Manchmal ging er mit dem erwähnten Mann mit und kam dann natürlich nicht am selben Tag nach Hause. Manchmal verschwand er auch alleine 22


für zwei, drei Tage, und zu Hause fragte man niemals, warum und wieso. Man wollte lediglich eins wissen: ob dort alles friedlich verlaufe und ob dadurch, gottbehüte, nicht Unglück über das Haus kommen werde. Itzik wurde bei solchen Gesprächen ärgerlich. Er stauchte Frau und Schwiegereltern ziemlich zusammen. Danach beruhigte er sich wieder und erklärte ihnen die ganze Sache mit gewählten, fast philosophischen Worten: »Wie einfältig ihr seid! Ist denn das, was jetzt mit uns allen passiert, nur ein kleines Missgeschick? Ist ein noch größeres Unglück in der Welt überhaupt vorstellbar? Hört doch auf! Sprecht zumindest nicht mehr davon!« Die Besatzungsmacht löste die in der Umgebung von Berschad vorhandenen Kolchosen nicht auf, sondern ließ sie bestehen, behielt aber die Oberaufsicht. So hatte sie es leichter, das gesamte dort erzeugte Getreide und Fleisch abzuschöpfen. Auf jeder Kolchose setzten sie einen ihrer Leute als Leiter ein. Aber nicht alle waren tatsächlich ihre Leute. Einige waren es nur zum Schein, in Wahrheit standen sie auf unserer Seite. Itzik Rachmiels teilte man im Wald mit, an welchen neuen »Kolchosvorsitzenden« er sich wenden solle. Er pflegte sich aus dem Getto zu schleichen und zu Fuß in das betreffende Dorf zu gehen. Von dort brachte er dann gewöhnlich mit einem Wagen manchmal Kartoffeln, manchmal Mehl in den Wald, manchmal lag auch ein geschlachtetes Schwein auf dem Wagen oder es standen einige Blechkannen Milch darauf. Das war alles, was Itzik bei den Partisanen tat. Er feuerte niemals ein Gewehr ab und unternahm auch keine Sprengstoffanschläge auf Eisenbahnzüge. Aber die Partisanen wussten genau, dass ohne die von Itzik in den Wald gebrachten Fuhren aus keinem einzigen Gewehr ein Schuss hätte abgefeuert werden und kein einziger Zug in die Luft hätte fliegen können. So etwas ist 23


allemal gefährlich und birgt Risiken, aber es ist bestimmt nicht weniger gefährlich und riskant, wenn einer ganz allein so eine Wagenladung auf derartigen Wegen überführt, als wenn zum Beispiel alle gemeinsam einen Trupp Deutsche auf einem Feldweg überfallen oder, sagen wir, nachts mit einem Sack Dynamit unter eine Brücke kriechen. Die Partisanen wussten das nur zu gut und haben es Itzik auch mehrfach gesagt. So ging das zu. Einmal sollte Itzik bei so einem Kolchosvorsitzenden eine Kuh für die Partisanen bekommen. Er sollte früh am folgenden Morgen wegen der Kuh zur Kolchose gehen. Aber nach Einbruch der Dunkelheit am Abend davor kam eine junge Frau zum Wertusshener Schuster gelaufen, die auf der Gemeinde in Berschad als Schreibkraft arbeitete, rief Itziks Frau nach draußen und sagte ihr ganz verstohlen, dass man Itzik morgen vor Tagesanbruch in jener Kolchose verhaften werde: Der Vorsitzende hatte die ganze Geschichte mit der Kuh der Behörde angezeigt. Itzik verschwand noch in der Nacht im Wald und am nächsten Tag zur Frühstückszeit umstellte der Polizeichef von Berschad mit seinen Gendarmen die Unterkunft des Wertusshener Schusters. Man fahndete nach Itzik. Man kehrte im Haus das Unterste nach oben und suchte nach Waffen, Gold und Leder. Und als Itziks Angehörige beteuerten, sie wüssten von nichts und könnten auch nicht sagen, wo Itzik sei, legte man allen Handschellen an und brachte sie auf das Gemeindeamt. Dort sagte man ihnen kurz und bündig, dass man sie dort so lange festhalten werde, bis Itzik sich stelle, und wenn er sich nicht stelle, dann würden sie das bekommen, was Itzik gebühre: Man werde sie allesamt wie tolle Hunde erschießen. Alle ohne Ausnahme. Itziks Frau, seinen kleinen Sohn, die Schwiegereltern und auch seinen jungen Schwager Sanwl. Im Berschader Getto herrschte Bestür24


zung. Wer hätte schon geahnt, dass dieser gar nicht einmal besonders herausragende, man kann sogar sagen eher ungebildete Mann, mit einem Wort, ein Schuster und Sohn eines Schusters, ein so bedeutender Mensch war, ein Partisan, einer der sechsunddreißig verborgenen Gerechten16 und ein Held. Wer hätte geahnt, dass sich in der Wohnung dieses unauffälligen Wertusshener Schusters so etwas tat. Einflussreiche Juden des Gettos zogen achselzuckend zwei unterschiedliche Schlüsse: Entweder man habe in der Unterkunft des Schusters gestohlenes Leder gefunden, denn was hätte man anderes bei einem Schuster finden sollen? Weshalb sonst wohl sehe man sich dazu veranlasst, einen Schuster mit seiner ganzen Familie einzusperren? Oder – noch bemerkenswerter: Heute schnappen sie sich einen Schuster, also einen völlig unbedeutenden Menschen, und morgen einen Menschen von Rang und Namen. Kennen denn diese Räuber und Mörder überhaupt den Unterschied? Doch wie sagt Mendele: »Aber nicht davon wollte ich sprechen.« Zwei Tage lang überlegte man im Wald hin und her und entschied sodann, dass Itzik wieder auftauchen solle. Zum einen dürfe man nicht eine ganze Familie oder gar das ganze Getto aufs Spiel setzen und zum anderen seien die Rumänen nicht die Deutschen. Sie seien bestechlich und man habe lose Verbindungen zu ihnen. Man werde Itzik freikaufen. Außerdem war ungewiss, was Itziks Familie dort alles ausplaudern würde. Dass Itzik standhalten würde, wusste man; auf ihn konnte man sich verlassen. Kurzum: Itzik ging in das Gemeindeamt und gab sich dort zu erkennen. Die Familie ließ man frei und knöpfte sich erst einmal ihn vor. Passanten, die just in jenen Tagen an dem Gebäude vorbeigingen, in dem Gemeinde25


amt und Gendarmerieposten untergebracht waren, berichteten, dass Itziks Schmerzensschreie weithin hörbar gewesen seien. Man erzählte auch, dass man gesehen habe, wie er über den Hof in den Keller gebracht worden sei. Das Gesicht war geschwollen, der Kopf blutig und seine Kleidung zerfetzt. Man konnte beinahe nicht erkennen, dass es Itzik war. *** Wir wollen jetzt erst einmal Itzik im Keller bei den Gendarmen liegen lassen, natürlich nicht lange, und inzwischen eine andere Begebenheit aus dem Getto in Berschad erzählen, die nicht mit seiner Geschichte in Verbindung steht. Vielleicht besteht aber doch ein Zusammenhang. Zum Vorsteher des Berschader Gettos hatte man einen jüngeren Mann aus Raschkew mit Namen Jankl Peker bestellt. Dieser stammte aus wohlhabender Raschkewer Familie. Sein Vater war Moische Peker, ein frommer Jude mit einem langen ehrgebietenden weißen Bart, bei dem hier und da in der Mitte und an den Seiten noch Reste der ursprünglich rötlichen Farbe durchschimmerten. Er besaß an der Hauptstraße ein Schuhgeschäft, in das zwei kleine hölzerne Stufen führten. Er kannte sich im Talmud aus, führte ein großes Haus und besuchte die Höfe chassidischer Rebben. Auf sein Wort konnte man sich verlassen, er war ein Jude, »der vertrauenswürdig ist«, wie es allgemein bei den Moldawiern hieß, die zu Moische Peker in den Laden kamen, um sich etwas für die Füße zu besorgen. Offenbar hat Jankl Peker teilweise das Gymnasium durchlaufen. An den Abenden, wenn Raschkewer Laienschauspieler oben im »Magazin« von Lipe dem Zigeuner »Gott, Mensch und Teufel«17 spielten, war Jankl der Ordner, wies den Leuten ihre 26


Sitzplätze an und stand danach etwas abseits, um das Publikum daran zu erinnern, dass man im Theater sei und deshalb nicht zu laut lachen möge. Mit einem Wort: Jankl Peker galt in Raschkew als gar nicht so übler junger Bursche. Er war kein Flegel, gottbewahre, auch kein Raufbold, Säufer oder sonst ein Tunichtgut. Nachdem er geheiratet hatte, begann er als Teilhaber seines Vaters das Schuhgeschäft zu leiten. Häufig fuhr Jankl nach Kischinew18, um Ware zu holen. Den Laden baute er aus und betrieb ihn mit Köpfchen und Engagement. Er wusste mit den Kunden umzugehen und wohl kein Kunde verließ bei ihm ohne ein Paar Schuhe das Geschäft. Geheiratet hat er Chajke Schprinz, eine Enkeltochter von Sussje Schächter, ein Mädchen mit schwarzen Augen, die oft fröhlich, oft aber auch traurig dreinblickten. Sie war eine rundum rechtschaffene junge Frau und später eine gute Mutter zweier anmutiger Töchter. Übrigens unter uns gesagt: Chajke kehrte aus dem Berschader Getto nicht zurück, und zwar nicht etwa deshalb, weil sie irgendwo in einer Gaskammer umgekommen wäre oder weil man sie irgendwo in einem Wald umgebracht hätte. Sie starb vielmehr in jungen Jahren aus Kummer und Scham, weil ihr Mann Jankl Vorsteher des Gettos war und im Getto auch Schandtaten verübte. Ihre beiden Töchter wurden später vom Vater getrennt und in einem Kinderheim aufgezogen. Aus ihnen wurden große, gut gesinnte Mädchen mit oft fröhlichen, oft aber auch traurigen schwarzen Augen wie bei der Mutter. Niemand wusste, warum man ausgerechnet Jankl Peker als Vorsteher des Gettos einsetzte. Gerüchteweise hieß es, er habe sich gut mit den Leitern der Gendarmeriestation der Stadt und des Bezirks gestellt und ihnen kleine Vorteile verschafft, wie ein Freund mit ihnen gesoffen und sie mit »Frauenzimmern« zu27


sammengebracht. Andere hingegen meinten, es sei einfach deshalb geschehen, weil man nun einmal irgendjemanden einsetzen musste, und da habe man gleich einen Mann mit Köpfchen eingesetzt, der auch schreibgewandt war, von Geschäften etwas verstand und sich in vielen Dingen auskannte. Was erwarteten die Besatzer vom Gettovorsteher? Sie erwarteten viel. Erstens musste er die Gettobevölkerung im Auge haben und wissen, was sich bei wem tut, was die Menschen beschäftigt, was man so sagt und was man denkt. Zweitens hatte er darauf zu achten, dass ordentlich gearbeitet wurde. Drittens hatte er die Listen mit den Gruppen zusammenzustellen, die man häufig den Deutschen angeblich zu Arbeitseinsätzen über den Bug hinüberschickte. Und natürlich gab es noch viertens, fünftens, sechstens und so weiter. Über Jankl Pekers Untaten damals im Getto von Berschad gibt es allerlei Gerede. Ich will aber nur eine Geschichte wiedergeben, die ich von einem überlebenden Zeugen gehört habe. Diese eine Geschichte reicht aus, um zu verstehen, was sich der angesehene Schuhhändler in jenen schweren Zeiten der Prüfung alles geleistet hat. Ein jüdischer Schneider aus Raschkew namens Jissroel Henechs, ein hilfloser Mann, irrte fast ein Jahr lang mit Frau und Tochter in Dörfern, Feld und Wald umher, erlitt große Strapazen, hatte oft den Tod vor Augen und schaffte es einfach nicht, eine Zuflucht, ein Dach über dem Kopf zu bekommen. In welches Getto er auch immer kam, er wurde abgewiesen. Die Vorsteher sagten, es gebe einen Befehl, keine weiteren Menschen mehr aufzunehmen. In den Monaten, in denen man die Juden in die Gettos gebracht hatte, war Jissroel Henechs irgendwo unterwegs zurückgeblieben. Er hatte es besser machen wollen und hatte es nur noch schlimmer gemacht. 28


Als er etwa nach einem Jahr mit Frau und Kind nach Berschad kam, alle drei eher Skelette als Menschen, rieten ihnen einige Juden auf der Straße: »Wo seid ihr her, sagt ihr? Aus Raschkew? So, so! Warum habt ihr das nicht gleich gesagt? Unser Vorsteher ist doch auch Raschkewer. Geht zu ihm und bittet ihn recht schön. Er kennt euch doch vermutlich aus der Heimat. Geht und zögert nicht lange.« Jankl Peker nahm seine Landsleute ausgesprochen freundlich auf und sagte nicht nein. »Gut, wir werden euch eine Unterkunft beschaffen. Ihr werdet hier wohnen, arbeiten und in Berschad bleiben. Allerdings müsst ihr etwas dafür bezahlen. Man muss diejenigen schmieren, die hier etwas zu sagen haben, nämlich den hiesigen Polizeichef und den Chef des Bezirks.« »Wie das?«, fragte Jissroel Henechs. »Erstens braucht man ein bisschen Gold. Zweitens« − Jankl warf einen Blick auf Jissroel Henechs Tochter − »zweitens möchte ich mit euch Klartext reden. Ihr werdet mir das Mädchen für eine Nacht mit dem Bezirkschef ausleihen müssen. Was soll man machen? So ist es nun mal, meine Freunde.« Jissroel Henechs Frau begann sich die Haare zu raufen: »Um Himmels willen, das ist ja entsetzlich! Was muss ich da hören! Komm, Jissroel, lass uns laufen, so weit die Füße uns tragen. Du siehst doch, das hier ist wie Sodom und Gomorrha!« Jankl Peker lachte schallend los: »Verrücktes Volk, so wahr ich Jude bin. Was für ein Getue. Warum regt ihr euch auf? Glaubt ihr, ihr seid die Ersten? Ihr seid nicht die Ersten und werdet nicht die Letzten sein. Werdet ihr etwa von irgendwem genötigt? Nichts dergleichen. Geht dahin, wo ihr hergekommen seid. Haut ab, ich will euch hier nicht mehr sehen!« Nach der Darstellung Jissroel Henechs verließen damals alle drei langsam das Berschader Getto, um ihre ziellosen Wande29


rungen wieder aufzunehmen. Es ging schon auf die Nacht zu. Sie konnten sich kaum auf den Beinen halten, schleppten sich mühsam so dahin und weinten dabei bitterlich. Als sie einmal aufsahen, saß unverhofft am Weg ein Mann mit einer dunklen Brille, der seine Mütze umgedreht neben sich auf den Boden gelegt hatte. Als der Mann bemerkte, wie sie weinend vorbeischlurften, rief er sie laut an: »He, kommt mal her und erzählt, was ist los und warum heult ihr?« Jissroel Henechs Frau zog ihren Mann am Ärmel: »Komm, weiter! Du wirst doch jetzt nicht stehen bleiben und dich mit irgendeinem blinden Bettler unterhalten wollen.« Aber ihn, Jissroel, zog irgendetwas zu diesem Mann hin. Er erzählte ihm alles, was ihm auf dem Herzen lag, die ganze Geschichte von A bis Z. Der Mann hörte sich alles bis zum Ende an, nahm dann auf einmal seine Brille ab und es erwies sich, dass er gar nicht blind war. Er gab Jissroel mit der Hand ein Zeichen und sagte: »Kehrt um und geht zurück ins Getto und sagt diesem Abschaum von Vorsteher, er soll euch einen Schlafplatz zuweisen und soll euch nie mehr irgendwohin jagen. Und sagt ihm, wenn er nicht spurt, bekommt er es mit uns zu tun. Er wird sich schon denken mit wem. Sagt ihm das genau so.« Allmählich war es Abend geworden. Jissroel ging mit Frau und Tochter zurück nach Berschad, suchte Jankl Peker auf und sagte ihm alles. Jankl erblasste und verschaffte ihnen noch an diesem Abend einen Raum im Getto, wo sie übernachten und wohnen konnten. Jissroel Henechs blieb danach mit seiner Familie bis zum Ende im Getto von Berschad und niemand belästigte sie mehr. Nachdem Raschkew befreit worden war und sie nach Hause zurückgekehrt waren, rief man ihn eines schönen Tages völlig unerwartet in die Bezirksverwaltung nach Kotusshen. Zu seiner 30


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