William S. Schlamm (Leseprobe)

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Biographische Studien zum 20. Jahrhundert Herausgegeben von Frank-Lothar Kroll Bd. 2


Susanne Peters

William S. Schlamm Ideologischer Grenzgänger im 20. Jahrhundert


Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Axel-Springer-Stiftung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD-ROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen. © be.bra wissenschaft verlag GmbH Berlin-Brandenburg, 2013 KulturBrauerei Haus 2 Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin post@bebra-wissenschaft.de Lektorat: Ingrid Kirschey-Feix, Berlin Umschlag: typegerecht berlin Satzbild: Friedrich, Berlin Schrift: Minion Pro 10/13pt Printed in Germany ISBN 978-3-95410-007-1 www.bebra-wissenschaft.de


Inhaltsverzeichnis

Einleitung............................................................................................................................................................7

»Es gibt nur den bolschewistischen Weg!« – 1919 bis 1938 ..................................... 23 »Kommunisten waren wir natürlich alle« – Der politische Akteur.................................................34 Von links nach rechts – eine Zwischenbilanz: Die Sozialfaschismustheorie............................... 72 »Emigrationspublizistik – […] Eine Arbeit von geschichtlicher Grösse« – ... Der publizistische Akteur........................................................................................................................... 76 »Wir wollen nicht die Diktatur der Lüge. Wir wollen den Sozialismus« – ... Der Bruch mit dem Kommunismus.......................................................................................................114 Die »Werte, die mit Wien starben, bleiben anderswo leben« – ... Der lange Weg nach Westen....................................................................................................................133

»Intellectual Americanization« – 1938 bis 1959............................................................... 139 »I want to be an American« – Lehrjahre im amerikanischen Exil................................................. 145 »A Story of Weakness and Shame« – Amerikas ängstliche Appeaser...........................................155 »The most potent Reporter of Dreams« – Traum und Wirklichkeit im Hause Time Inc.........172 »Create a new type of Conservative Journalism« – ... Erste Gehversuche konservativer Meinungsmache....................................................................... 237 Von links nach rechts – eine Zwischenbilanz: Der konservative Aufbruch in den USA.........310


»Ich beginne den zweiten Kalten Krieg« – 1959 bis 1978......................................... 319 Die »große prometheische Häresie« – Das Gespenst geht mitten durch Europa....................323 Von links nach rechts – eine Zwischenbilanz: Der konservative Antikommunismus.............347 Mein Werk »darf nicht totgeschwiegen werden« – Wer protegiert Schlamm?........................362 »Es wird die unauslöschliche Schande des Kalten Krieges bleiben, dass der Westen ... ihn nicht zur Kenntnis genommen hat« – Kritik am Westen.....................................................409 »Wir wollen aufrecht untergehen, und nicht auf den Knien« – ... Profilierung oder Isolierung?..................................................................................................................473

Schlussbetrachtung................................................................................................................................. 511 Anhang Bibliografie.........................................................................................................................................................529 Abkürzungsverzeichnis.................................................................................................................................597 Danksagung...................................................................................................................................................... 599 Personenregister..............................................................................................................................................601


Einleitung

Als William S. Schlamm für sein »leidenschaftliches Engagement gegen den Tota­ litarismus von links und rechts«1 im Jahre 1971 den Konrad-Adenauer-Preis der ›Deutschland-Stiftung e. V.‹ entgegennahm, schien dessen Lebenswerk mit dem Vermächtnis des ersten Bundeskanzlers versöhnt. »Wir stehen heute näher denn je vor der Alternative, entweder ein sozialistisches Europa mit einer Friedensordnung Moskauer Prägung oder ein geeintes Europa mit einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaftsordnung im Sinne Konrad Adenauers zu werden.«2 Dem damaligen CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß zufolge kam somit dem Preisträger in jenem Ringen entscheidende Bedeutung zu. Dies verwundert umso mehr, als Schlamm weiland Adenauers Politik eklatantes Versagen vorgeworfen und auch am Westen vor allem dessen Feigheit und Dekadenz vehement gegeißelt hatte. Mehr noch: Schlamms militant-missionarischer Antikommunismus schrie nach unbeirrbarer Stärke gegenüber der Sowjetunion und torpedierte jeden Entspannungsversuch als einseitige Schwäche im Kalten Krieg. Seine provokanten Thesen, formuliert im Bestseller ›Die Grenzen des Wunders‹, kulminierten 1959 schließlich in der Forderung nach einem Präventivkrieg gegen die Sowjetunion. Wer also war jener mit Adenauers Vermächtnis geadelte Schlamm, der sich auf ein »sozialistisches Europa mit einer Friedensordnung Moskauer Prägung« nachgerade einschoss? War er der »Lichtblick in der deutschen Publizistik« oder eher der »nationale Schmutzfink«?3 War er »erfahrener Journalist« und »präziser Denker« oder vielmehr »Streitrufer zum Ritt gen Osten«?4 Hatte man es mit einem »fahrenden Demagogen« oder eben nur mit einem ehrgeizigen »Asphalt-Journalist[en]« zu tun?5 1 So die Deutschland-Stiftung, zit. nach Ehrung: William S. Schlamm. In: Spiegel, 25. Jg., Nr. 14, 29.03.71, S. 190; Dietrich Strothmann: Ein Prophet des Zynismus. In: Zeit, 25. Jg., Nr. 16, 16.04.1971, S. 2. 2 Glückwunschtelegramm abgedruckt in: Festschrift zur Verleihung der Konrad-Adenauer-Preise 1971, hrsg. v. der Deutschland-Stiftung e. V. [o. O. 1971]. 3 Leserbrief von Jürgen Rieger. In: WamS, 21. Jg., Nr. 37, 15.09.1968, S. 4, sowie Leserbrief von Friedrich Passaat. In: Stern, 12. Jg., Nr. 50, 12.12.1959, S. 2. 4 Rudolf Walter Leonhardt: Wer nie ein Buch mit Tränen las … In: Zeit, 14. Jg., Nr. 32, 07.08.1959, S. 3, sowie Jean Améry: Das Elend des Herrn Schlamm. In: Merkur, 20. Jg., Nr. 224, Heft 11, November 1966, S. 1101–1104, hier S. 1101. 5 Fritz Erler im Deutschen Bundestag, 99. Sitzung, 10.02.1960. In: Verhandlungen des Deutschen Bundestags, 3. Wahlperiode, Stenographische Berichte Bd. 45, von der 93. Sitzung am 10. De-

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William S. Schlamm6, geboren am 10. Juni 1904, gerierte sich als aufmerksamer Beobachter deutscher Geschichte des 20. Jahrhunderts: Kaiserreich, Weimarer Republik, Drittes Reich und Bundesrepublik Deutschland – als politischer Publizist war er Chronist eines in der Tat dramatischen Jahrhunderts. Allerdings war er dabei nie unmittelbarer Zeuge: Im österreich-ungarischen Przemyśl geboren, lebte er die letzten Jahre der Habsburger Monarchie sowie die Erste Österreichische Republik in Wien, emigrierte 1933 in die Tschechoslowakei, floh 1938 in die Vereinigten Staaten von Amerika und kehrte 1959 mit Übersiedlung ins schweizerische Tessin nach Europa zurück. Dennoch war Schlamms Denken eng an die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts gebunden: »Deutschland – das ist für mich […] die Essenz meines geistigen Daseins.«7 Seine Aussage, er habe »einundvierzig Jahre, seit 1917, in dringlichster Sorge mit den Problemen des Kommunismus gelebt«8, erweckt allerdings einen falschen Eindruck. Sein Lebensweg im Kampf gegen den Kommunismus verlief keineswegs so geradlinig, wie er glauben machen will. Als Wiener Gymnasiast wurde Schlamm früh Funktionär des Kommunistischen Jugendverbands Österreichs9, 1927 – nach seinem Studium der Staatswissenschaften – gar stimmberechtigtes Mitglied im ZK der KPÖ. Dort war er nach der Linkswendung der KI 1928 Wortführer einer rechten Minderheit. Als ›Rechtsabweichler‹ wurde er qua Parteigerichtsverfahren 1929 aus der Partei ausgeschlossen. Dennoch blieb Schlamm dem Marxismus vorerst treu, verlegte seine Arbeit jedoch auf Publizistik, die intellektuelle Leistung politischer Aktion vorzog. Dies gilt für seinen radikalen Sinneswandel zum Antikommunismus in konservativen US-Organen ebenso wie für Bücher und Kolumnen im Stern und in der Welt am Sonntag, die er nach seiner Rückkehr nach Europa als »Kalter Krieger Nr. 1«10 veröffentlichte. – Schlamm erhob stets Anspruch, dem Westen politische Direktiven für Gegenwart und Zukunft geben zu

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zember 1959 bis zur 112. Sitzung am 5. Mai 1960, Bonn 1960, S. 5379–5425, hier S. 5399, sowie Franz Josef Strauß, zit. nach Alles ich. In: Spiegel, 26. Jg., Nr. 27, 26.06.1972, S. 57f., hier S. 58. Schlamm wurde als polnisch ›Zygmunt Schlamm‹, deutsch ›Sigmund Schlamm‹ geboren. Vgl. Geburtsurkunde vom 06.03.1913 in Polnisch und die deutsche Übersetzung vom 25.02.1914. Sein Eheschein vom 17.11.1927 nennt den Namen ›Sigismund‹. Alle Dokumente befinden sich in Privatbesitz von Stefan Haidenthaller, Wien, der der Verfasserin Einblick in den Nachlass der Familie Schlamm gewährte (fortan »Sammlung Schlamm«). Schlamm zeichnet frühe Schriften mit ›Willi Schlamm‹, zum Teil auch mit Pseudonym Wilhelm Stefan. Private Korrespondenz sig­ niert er mit ›Willi‹. Seit der Emigration in die USA taucht ›William S. Schlamm‹ auf. Amtliche Dokumente ab 1957 sind auf ›William Siegmund Schlamm‹ ausgestellt. William S. Schlamm: Denk’ ich an Deutschland. In: ZB, 5. Jg., Nr. 5, Mai 1976, S. 54. Schlamm: Grenzen, S. 6. Nach Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, hrsg. vom Institut für Zeitgeschichte München und von der Research Foundation for Jewish Immigration, Inc., New York, 3 Bde., Bd. I: Politik, Wirtschaft, Öffentliches Leben, München et al. 1980, S. 649, war Schlamm im November 1918 Mitgründer des KJVÖ. Munzinger-Archiv. Internationales Biographisches Archiv, 40/78.

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können – von Handelsembargo bis Präventivkrieg.11 Er warnte vor Hitlers faschistischer Pratze, die nach den USA zu greifen drohe, ebenso wie vor der kommunistischen Klaue, die den Westen in ihren Machtbereich zu ziehen suche, und legitimierte dies damit, ein »ganzes Menschenalter« mit dem »Forschungsobjekt« Kommunismus und ein »halbes Leben« mit »den Deutschen« verbracht zu haben.12 Schlamm hielt nicht viel auf Expertisen, legte keinen Wert auf akademische Gelehrsamkeit. Weil er die totalitäre Welt des 20. Jahrhunderts selbst erfahren hatte, nahm er für sich in Anspruch, sie auch zu verstehen und zu gestalten: »Deutsche Geschichte macht, wer deutsche Geschichte kommentiert.«13 In der Tat erreichte Schlamm sein Publikum: In den USA bediente er die kleine, aber erlesene Gemeinde des »conservative movement«, in der Bundesrepublik schrieb er medienwirksam für die breite Masse. Stets gab er sich polemisch – und damit streitbar wie kaum ein anderer. Gerade in der jungen Bundesrepublik entzweiten sich die Gemüter an seinen harten Thesen, Schlamm war in Politik und Presse gleichermaßen gefeiert wie verachtet. Vor allem zwischen 1959 und 1963 von Regierung und parteinahen Gruppen protegiert, verging kaum ein Monat, in dem ihm Pressekollegen nicht Rezensionen, Berichte oder Kommentare widmeten; zahllose Leserbriefe beschäftigten sich mit dem wohl umstrittensten Publizisten im Nachkriegsdeutschland. Der Spiegel pflegte eine ›Intimfeindschaft‹ mit ihm. Bei der Opposition stieß er auf harten Widerstand, einzelne forderten gar seine Ausweisung14; Fritz Erler, stellvertretender SPD-Fraktionsvorsitzender, bestand öffentlich auf Maßnahmen der Bundesregierung gegen ihn.15 Eine Bewertung der Person Schlamms ist mithin ein wichtiger Beitrag zur Zeitgeschichte, der zwei synergetische Ziele verfolgt: Zum einen beleuchtet eine biogra­fische Fragehaltung Schlamms Wandlung vom Kommunisten zum »militanten AntiKommunisten«16, die vornehmlich durch Exilerfahrungen in den USA bedingt war. 11 Eine Ausnahme bildete William S. Schlamm: Glanz und Elend eines Jahrhunderts. Europa von 1881 bis 1971, Ravensburg 1971; hier erstellte er eine grob vereinfachende Auflistung politischer, sozialer und wissenschaftlicher Ereignisse in Europa seit 1881. 12 Schlamm: Grenzen, S. 6. 13 Zit. nach Dietrich Strothmann: Viel Feind’, doch wenig viel Ehr’. Auch ein Preisträger: William Siegmund Schlamm. In: Tribüne, 10. Jg., Nr. 38 (1971), S. 4137–4144, hier S. 4141. 14 Schlamm besaß seit 1944 die US-amerikanische Staatsbürgerschaft, so dass Rufe nach einer Ausweisung als einem dem Ansehen der Bundesrepublik schadenden Ausländer laut wurden. Vgl. Heilskünder. In: Spiegel, 14. Jg., Nr. 20, 11.05.1960, S. 28–34, 36–42, hier S. 41; H. G.: Sagen soll er’s. In: Zeit, 14. Jg., Nr. 13.11.1959, S. 1. 15 Fritz Erler im Deutschen Bundestag, 10.02.1960. In: Verhandlungen des Deutschen Bundestags, Bd. 45, S. 5398f.; Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 4. Reihe: Deutschland seit 1945, hrsg. v. Karl Dietrich Bracher, Rudolf Morsey, Hans-Peter Schwarz, Band 8/II: Die SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag, Sitzungsprotokolle 1957–1961, bearbeitet von Wolfgang Hölscher, Düsseldorf 1993, S. 388; AdG, 30. Jg. (1960), S. 8209. 16 So Eberhard Fromm über Schlamm. Ludwig Elm (Hrsg.): Leitbilder des deutschen Konservatis-

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Schlamms späteres Weltbild ist nur über die Überwindung des Kommunismus und seine »intellektuelle Amerikanisierung«17 verstehbar. Freilich war er nur einer unter etlichen Intellektuellen seiner Generation, die glühende Hoffnungen auf einen Kommunismus nach sowjetischem Vorbild setzten18 und sich in den dreißiger Jahren dann doch desillusioniert abwandten. Viele blieben sozialistischen Idealen treu, andere wiederum wurden seit den fünfziger Jahren zu Ideologen antikommunistischer Restauration.19 Schlamms Lebensweg steht stellvertretend für eine mentale Entwicklung des 20. Jahrhunderts, wenngleich er rasch zum Sonderling wurde. Im Grunde vertrat er jene radikale Spielart von Antikommunismus, die die Position des Westens im Kalten Krieg generell zu bestimmen schien: das Verständnis der Sowjetunion als expansionistischer Hegemonialmacht, das gerade in den fünfziger Jahren politische Entspannung als fundamentale Schwächung eigener Stärke ansah. Bei Schlamm interessieren jene Ereignisse, die seine Abwendung vom Kommunismus bewirkten. Zudem sein Weltbild aus der Zeit in den Vereinigten Staaten und wie dieses seine Haltung im Kalten Krieg prägte. Inwieweit also sind Zäsuren und Konstanten im Denken des Publizisten mit jenen Kontinuitäten und Brüchen des Jahrhunderts kongruent? Als unermüdlicher Mahner westlichen Zusammenbruchs wirft Schlamm auch die Frage nach der Dependenz geschichtlicher Prophezeiung und historischer Realität auf. Interessant ist, ob er politische Theoreme aktiv mitgestaltete oder Ideen lediglich verstärkte, indem er sie einem breiten Publikum andiente und so gesellschaftliche Wegmarken setzte. Oder aber wurde er letztlich Opfer einer Ideologie und hinterließ somit gar keine echten Spuren, da die Überbetonung der Idee mit völligem Realitätsverlust einherging? Die Arbeit hat zudem einen pressegeschichtlichen wie -theoretischen Ansatz. Schlamms Wandel ist nicht allein publizistisch festzumachen, auch die Genese seiner Zeitschriftenprojekte dokumentiert politische Positionen im Wandel: Fungierten Mitarbeiter als politische Vorbilder oder Wegweiser? Inwiefern zeugt die Konzeption der Zeitschrift von ideeller Ausrichtung? Was sagt der häufige Eiertanz zwischen Scheimus. Schopenhauer, Nietzsche, Spengler, Heidegger, Schelsky, Rohrmoser, Kaltenbrunner u.a., Köln 1984, S. 211. 17 Schlamm bezeichnete seine ersten Jahre in den USA als »›intellectual Americanization‹«. Zit. nach George H. Nash: The Conservative Intellectual Movement in America since 1945, Wilmington (DE) 1996, S. 133. 18 Vgl. David Caute: The Fellow-Travellers. A Postscript to the Enlightment, New York (NY) 1973, insbes. S. 1–14. 19 Zu den bekannten Intellektuellen, die sich nach ihrer Abkehr vom Kommunismus durch publi­ zistische Aktivitäten als Sozialisten, Sozialdemokraten, Konservative oder ›in-Betweens‹, in jedem Falle aber Antikommunisten hervortaten, gehörten etwa Leo Bauer, Franz Borkenau, Margarete Buber-Neumann, James Burnham, Isaac Deutscher, Ruth Fischer, Ralph Giordano, Arthur Koestler, Wolfgang Leonhard, Ignazio Silone, Alexander Solschenizyn, Manès Sperber oder Gerhard Zwerenz.

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tern und Erfolg einer Zeitschrift über Schlamms Akzeptanz in der Medienwelt aus? Für die Zeit nach seiner Rückkehr nach Europa will die Studie die Rolle des Publizisten in Presse und politischem Diskurs der Bundesrepublik der fünfziger und sechziger Jahre eruieren. Angesichts Schlamms Popularität in der Öffentlichkeit bleibt zu fragen, inwieweit seine offensiven Thesen Ergebnis von Protektion waren und so auch Eigeninteressen zeitgenössischer Politiker dienten. Dabei sind weder politisches Umfeld noch publizistische Theorien außer Acht zu lassen. Schlamm gehöre – so Ludwig Elm – zu jenen Publizisten, »deren antidemokratische und fortschrittsfeindliche Grundpositionen im wesentlichen in den fünfziger und sechziger Jahren ausgebildet und seither zugunsten einer extrem reaktionären Umorientierung des Herrschaftssystems wirksam wurden […], an deren Verbreitung sie in der Folgezeit einen wesentlichen Anteil haben.«20 Wie fügte sich Schlamms Konzept in die Diskussion der Zeit ein und inwiefern galt es auch für die Zukunft? Die Arbeit greift über das rein Politische des Umbruchs der sechziger Jahre hinaus und erfasst maßgebliche Wandlungen der gesellschafts- und kulturpolitischen sowie mentalen Stimmung in der Bundesrepublik. Sie sortiert Elemente des Meinungsbildungsprozesses der großen bundesdeutschen Zeitungen und Zeitschriften im Kalten Krieg und ordnet Reaktionen auf den umstrittenen Publizisten schließlich in das große Ganze ein. Solche Fragestellungen rechtfertigen eine geschichtswissenschaftliche Arbeit über Schlamm, umso mehr, als er in der Forschung bislang wenig Beachtung gefunden hat. Außer einigen Einträgen in Lexika, Biografien oder Handbüchern21 gibt es kaum Werke, die sich mit Schlamm eingehender beschäftigen; auch übergreifende Studien, deren Themen eine Befassung mit ihm nahelegen würden, klammern ihn fast völlig aus.22 Eine Ausnahme bilden Untersuchungen des US-Historikers George H. Nash 20 Elm: Leitbilder, S. 232. 21 Etwa Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Bd. 1, S. 649f.; John M. Spalek/Konrad Feilchenfeldt/Sandra H. Hawrylchak (Hrsg.): Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933, Bd. 4: Bibliographien: Schriftsteller, Publizisten und Literaturwissenschaftler in den USA. Teil 3, N–Z, Bern/München 1994, S. 1649–1661; Peter Boris: Die sich lossagten. Stichworte zu Leben und Werk von 461 Exkommunisten und Dissidenten, Köln 1983, S. 246f.; Deutsches Literatur-Lexikon. Biographisch-bibliographisches Handbuch, begründet v. Wilhelm Kosch, hrsg. v. Carl Ludwig Lang/Heinz Rupp, Bd. 15: Schilling-Schnydrig, Bern 1993, Sp. 76f.; Wer ist Wer? 1974/75. Das deutsche Who‹s Who, hrsg. v. Walter Habel. XVIII. Ausgabe von Degeners Wer ist‹s? Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin, Frankfurt a. Main 1975, S. 920; Deutsche Biographische Enzyklopädie, hrsg. v. Walter Killy/Rudolf Vierhaus, Bd. 8, München 1998, S. 655; Munzinger-Archiv, 40/78; Caspar von Schrenck-Notzing (Hrsg.): Lexikon des Konservatismus, Graz/Stuttgart 1996, S. 481; Wilhelm Sternfeld/Eva Tiedemann: Deutsche Exilliteratur 1933–1945. Eine Bio-Bibliographie, Heidelberg et al. 1962, S. 293f.; Walter Tetzlaff: 2000 Kurzbiographien bedeutender deutscher Juden des 20. Jahrhunderts, Lindhorst 1982, S. 294; Contemporary authors. A bio-bibliographical guide to current writers in fiction, general nonfiction, poetry, journalism, drama, motion pictures, television and other fields, vol. 93–96, ed. by Frances C. Locher, Detroit 1980, S. 472f. 22 So fast alle Studien zu den Forschungsfeldern ›Kommunismus in Österreich‹ (etwa Herbert Stei-

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zum Konservatismus in den USA nach 1945, der Aufsatz von Mühle/Kaske sowie die Arbeiten zur Exilforschung von Joachim Radkau und Egbert Krispyn: Während Nash Schlamm als Gründungsvater des konservativen Magazins National Review würdigt, heben Letztere Schlamms Wandlung im Exil als beispielhaft für die innere Entwicklung vieler Emigranten hervor; Mühle/Kaske hingegen werfen ihm Gesinnungswandel zum Faschismus vor.23 Aus historischer Sicht ist die Abkehr intellektueller Anhänger vom Kommunismus als Ergebnis stalinistischer Politik der dreißiger Jahre wenig erforscht. Thematisiert wurden bislang soziologische und psychologische Aspekte der Konversion in den Arbeiten von Ernst-August Roloff und Hermann Kuhn; literaturwissenschaftliche Ansätze verfolgten Gabriele Fritz-Ullmer und Michael Rohrwasser.24 Diese liefern grobe Parameter, die eine Positionierung Schlamms im ›Renegatenner: Die Kommunistische Partei Österreichs von 1918–1933. Bibliographische Bemerkungen, Meisenheim a. Glan 1968; Wolfgang Neugebauer: Bauvolk der kommenden Welt. Geschichte der Sozialistischen Jugendbewegung in Österreich, Wien 1975; Hans Hautmann: Die Anfänge der linksradikalen Bewegung und der Kommunistischen Partei Deutschösterreichs 1916–1919, Wien 1970; Fritz Keller: Gegen den Strom. Fraktionskämpfe in der KPÖ – Trotzkisten und andere Gruppen 1919–1945, Wien 1978; Die Kommunistische Partei Österreichs. Beiträge zu ihrer Geschichte und Politik, hrsg. v. der Historischen Kommission beim Zentralkomitee der KPÖ, Wien 1989), ›Konservatismus in den USA‹ (etwa William A. Rusher: The Rise of the Right, New York (NY) 1984; John B. Judis: William F. Buckley, Jr. Patron Saint of the Conservatives, New York (NY) 1988; Jonathan M. Schoenwald: A Time for Choosing. The Rise of Modern American Conservatism, New York (NY) 2001; Lee Edwards: The Conservative Revolution. The Movement that Remade America, New York (NY) 1999) sowie ›Exilliteratur‹ (in einer Vielzahl von Forschungsarbeiten wird Schlamm genannt, doch geht hier die Beschäftigung mit seiner Person nicht über eine pure Nennung seines Namens hinaus. Noch immer grundlegend das Standardwerk von Hans-Albert Walter: Deutsche Exilliteratur 1933–1950, Bd. 2: Europäisches Appeasement und überseeische Asylpraxis, Stuttgart 1984; Bd. 3: Internierung, Flucht und Lebensbedingungen im Zweiten Weltkrieg, Stuttgart 1988; Bd. 4: Exilpresse, Stuttgart 1978; auch Lieselotte Maas: Handbuch der deutschen Exilpresse 1933–1945, hrsg. v. Eberhard Lämmert, 4 Bde., München et al. 1990; Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933–1945, hrsg. v. Claus-Dieter Krohn et al., Darmstadt 1998). 23 George H. Nash: Forgotten Godfathers: Premature Jewish Conservatives and the Rise of the National Review. In: American Jewish History, 87. Jg, Nr. 2/3, Juni/September 1999, S. 123–157; Ders.: Conservative Intellectual Movement; D. Muhle/Christa Kaske: W. Schlamm – Portrait eines Faschisten. In: Dokumentation der Zeit, 23. Jg., Nr. 13, Berlin (DDR) 1971, S. 6–13 (die Publikation muss freilich vor dem Hintergrund der marxistisch-antifaschistischen Geschichtsforschung in der damaligen DDR gesehen werden); Joachim Radkau: Die deutsche Emigration in den USA. Ihr Einfluß auf die amerikanische Europapolitik 1933–1945, Düsseldorf 1971; Egbert Krispyn: William S. Schlamm und der politische Coriolis-Effekt. In: Österreicher im Exil 1934 bis 1945. Protokoll des Internationalen Symposiums zur Erforschung des österreichischen Exils von 1934 bis 1945, abgehalten vom 3. bis 6. Juni 1975 in Wien, hrsg. v. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes/Dokumentationsstelle für Neuere Österreichische Literatur, Wien 1977, S. 203–212, sowie die Diskussion im Anschluss ebd. S. 215–218. 24 Ernst-August Roloff: Exkommunisten. Abtrünnige des Weltkommunismus. Ihr Leben und ihr Bruch mit der Partei in Selbstdarstellungen, Mainz 1969; Hermann Kuhn: Bruch mit dem Kommunismus. Über autobiographische Schriften von Ex-Kommunisten im geteilten Deutschland, Münster 1990; Gabriele Fritz-Ullmer: Auseinandersetzung antifaschistischer Exil-Schriftsteller

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tum‹ erlauben. Zudem fokussieren Darstellungen zur Totalitarismusforschung meist jene Aspekte, die in der Konversion vom Kommunismus typische Legitimationselemente für den Antitotalitarismus der fünfziger Jahre untermauern; nicht zuletzt traten eben jene Konvertiten häufig als Impulsgeber der wissenschaftlichen Totalitarismus­ theorie auf.25 Während Studien zur Bundesrepublik dieses Jahr­zehnts in der Geschichtswissenschaft Legion sind26, hat sich die Erforschung der sechziger Jahre erst neuerdings von außenpolitischen Schwerpunkten27 zum gesellschaftlichen Wandel verlagert und diesen als maßgebliche zweite Säule der Fundamentierung des neuen Staatswesens verstanden28: So folgte dem Wiederaufbau der fünfziger Jahre die »›Umgründung‹ der Republik«, die ›Ankunft im Westen‹.29 Hier wie anderswo steht weniger die militärisch-politische Verankerung der Bundesrepublik im westlichen Bündnis als deren Integration in die liberale, demokratische Wertegemeinschaft sowie die

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mit den Problemen des Stalinismus in Autobiographien der Nachkriegszeit, Frankfurt a. Main 1989; Michael Rohrwasser: Der Stalinismus und die Renegaten. Die Literatur der Exkommunisten, Stuttgart 1991. Letzterer betont S. 21, dass er Renegaten nicht mit einbezieht. In der frühen Studie Das Ende einer Utopie. Hingabe und Selbstbefreiung früherer Kommunisten. Eine Dokumentation im zweigeteilten Deutschland, hrsg. v. Horst Krüger, Olten/Freiburg i. Briesgau 1963 kommen nur Kommunisten der DDR zu Wort, deren Abkehr sich erst in den fünfziger Jahren vollzog. Einen Überblick gibt Wolfgang Wippermann: Totalitarismustheorien. Die Entwicklung der Diskussion von den Anfängen bis heute, Darmstadt 1997. Den Einfluss der Renegaten behandeln Les K. Adler/Thomas G. Paterson: Red fascism: The Merger of Nazi Germany and Soviet Russia in the American Image of Totalitarism, 1930’s-1950’s. In: American Historical Review, 75. Jg., Nr. 4, April 1970, S. 1046–1064. Vgl. Axel Schildt/Arnold Sywottek (Hrsg.): Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993. Für einen Forschungsüberblick vgl. Anselm von DoeringManteuffel: Deutsche Zeitgeschichte nach 1945. Entwicklung und Problemlagen der historischen Forschung der Nachkriegszeit. In: VfZ, 41. Jg., Nr. 1, 1993, S. 1–29; Axel Schildt: Nachkriegszeit. Möglichkeiten und Probleme einer Periodisierung der westdeutschen Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg und ihre Einordnung in die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts. In: GWU, 44. Jg, Heft 9, September 1993, S. 567–584. Vgl. Peter Bender: Die »Neue Ostpolitik« und ihre Folgen. Vom Mauerbau bis zur Vereinigung, München 1995, S. 326–334. Vgl. Axel Schildt/Detlef Siegfried/Karl Christian Lammers (Hrsg.): Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000; Hanna Schissler (Hrsg.): The Mir­ acle Years. A Cultural History of West Germany, 1949–1968, Princeton (NJ) et al. 2001; Werner Faulstich (Hrsg.): Die Kultur der sechziger Jahre, München 2003; Matthias Frese/Julia Paulus/ Karl Teppe (Hrsg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn 2005 sowie Hermann Glaser: Die 60er Jahre. Deutschland zwischen 1960 und 1970, Hamburg 2007. Einen Überblick gibt Anselm von Doering-Manteuffel: Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999. Vgl. auch Christof Mauch: Im Westen angekommen. Ideengeschichtliche Forschungen zur frühen Bundesrepublik. In: HZ, [o. Jg.] Bd. 272, 2001, S. 107–114; Axel Schildt: Ankunft im Westen. Ein Essay zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik, Frankfurt a. Main 1999. Die Zitate entstammen Manfred Görte­ maker: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart, München 1999, S. 475.

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Übernahme ›westlicher Werte‹ in die politische Kultur im Mittelpunkt.30 Obwohl Schlamm in Darstellungen zur Geschichte der Bundesrepublik in den sechziger Jahren bisher wenig vertreten ist31, sind diese dennoch wichtig, da jener dank wertkonservativer Grundausrichtung den kulturpolitischen Diskurs der Zeit maßgeblich mitbestimmen konnte. Insgesamt ist die Literaturlage zu Schlamm also eher dürftig, obwohl er in diesen Jahren doch beträchtliches Aufsehen in der Öffentlichkeit erregte.32 Zeugt diese Nicht30 Anselm Doering-Manteuffel: Westernisierung. Politisch-ideeller und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik bis zum Ende der 60er Jahre. In: Axel Schildt/Detlef Siegfried/Karl Chris­ tian Lammers (Hrsg.): Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S. 311-341, hier S. 332f. Zur politischen Kultur der Bundesrepublik und zu den Schwierigkeiten des Begriffs vgl. auch Christoph Kleßmann: Zwei Staaten, eine Nation. Deutsche Geschichte 1955–1970, Bonn 1988, S. 58–62. 31 Eine Ausnahme stellt der frühe Ernst Nolte dar, der Schlamms Thesen als radikales Rezept eines nationalen Befreiungskampfes zur Lösung der Deutschlandfrage interpretiert: Ernst Nolte: Deutschland und der Kalte Krieg, Stuttgart 1985, S. 414–417. Dagegen verzichtet Gudrun Kruip: Das »Welt«-»Bild« des Axel Springer Verlags: Journalismus zwischen westlichen Werten und deutschen Denktraditionen, München 1999 auf eine Untersuchung, obwohl Schlamm zu den bekanntesten Springer-Kolumnisten gehörte. Auch andere Forschungsarbeiten zum Axel Springer Verlag kommen oft über eine bloße Namensnennung Schlamms nicht hinaus: Internationale Organisation der Journalisten (Prag) (Hrsg.): Die Macht des Axel Cäsar Springer, Prag 1968; Gerhard Naeher: Axel Springer. Mensch, Macht, Mythos, Erlangen et al. 1991; Henno Lohmeyer: Springer – Ein deutsches Imperium. Geschichte und Geschichten, Berlin 1992; Michael Jürgs: Der Fall Axel Springer, München 1995; Claus Jacobi: Der Verleger Axel Springer. Eine Biographie aus der Nähe, München 2005. Erst jüngst beschäftigt man sich von historischer, konservativer und publizistischer Seite intensiver mit Schlamm: Alexander Gallus liefert in seinen jüngst publizierten Aufsätzen kursorische Abrisse über Schlamms intellektuelle Konversion: Alexander Gallus: Heimatlos links, heimatlos rechts. Intellektuelle Transformationen im Exil – das Beispiel des Publizisten William S. Schlamm. In: Peter Burschel/Alexander Gallus/Markus Völkel (Hrsg.): Intellektuelle im Exil, Göttingen 2011, S. 241–260; Ders.: Der Amüsanteste unter den Renegaten. William Schlamms Wandlungen vom Kommunisten zum Konservativen. In: Michael Hochgeschwender (Hrsg.): Epoche im Widerspruch. Ideelle und kulturelle Umbrüche der Adenauerzeit, Bonn 2011, S. 52–73. In seiner Habilitationsschrift bezieht er sich immer wieder auf das unveröffentlichte Dissertationsmanuskript der Verfasserin: Ders.: Heimat Weltbühne. Eine Intellektuellengeschichte im 20. Jahrhundert, Göttingen 2012. Zudem Marcus M. Payk: Antikommunistische Mobilisierung und konservative Revolte. William S. Schlamm, Winfried Martini und der »Kalte Bürgerkrieg« in der westdeutschen Publizistik der späten 1950er Jahre. In: Thomas Lindenberger (Hrsg.): Massenmedien im Kalten Krieg. Akteure, Bilder, Resonanzen, Köln 2006, S. 111–138; Christiane Botzet: William S. Schlamm. Eine politische Biographie im Kalten Krieg [unveröffentlichte Magisterarbeit 2001, Albert-Ludwigs-Universität zu Freiburg i. Br.]; Ansgar Lange: Eine Kassandra von rechts: William S. Schlamm und seine Fundamentalkritik der frühen Bundesrepublik [Blog-Eintrag ef-online, 10.04.2009]; Hellmuth Fellner: Vom Elend eines Renegaten: William S. Schlamm [Blog-Eintrag kominform.at, 06.01.2004]; Franz Krahberger: Doomsday, Kalter Krieg und eiskalte Publizisten [Electronic Journal Literature Primär ISSN 1026–0293]. 32 Immerhin widmete ihm das Magazin Der Spiegel innerhalb eines Jahres zwei Titelgeschichten: Günter Gaus/Hans Schmelz: Wir könnten Berlin evakuieren. Ein Spiegel-Gespräch mit dem Kalten-Kriegs-Theoretiker William S. Schlamm. In: Spiegel, 13. Jg., Nr. 32, 05.08.1959, S. 16–22, 24; Heilskünder. In: Spiegel, S. 36–42.

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beachtung zwangsweise von einem Scheitern seiner publizistischen Aktion? Sind Schlamms ›Spuren‹ tatsächlich verblasst? Ist sein Lebensweg einer Untersuchung nicht Wert? Oder erzielte, wie Elm es formuliert, sein Oeuvre im Hinblick auf die politische Geisteshaltung in der Bundesrepublik längerfristig doch Wirkung? Schließlich wurde mit dem Konrad-Adenauer-Preis sein Lebenswerk ausgezeichnet, wenngleich sein Rat ab den siebziger Jahren in der westdeutschen Politik und Presse niemanden mehr erreichte: Größte Prominenz hatte Schlamm Anfang der sechziger Jahre – just in einer Zeit, da mit dem Mauerbau 1961 und der Kubakrise 1963 dramatische Höhe­ punkte der Ost-West-Spannungen erreicht waren. Umgekehrt beförderte der droh­ende nukleare Showdown fast zwangsläufig erste Konzepte der Entspannung, die sich auf die starre westdeutsche Haltung zur Wiedervereinigung auswirken mussten.33 Auch in Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur standen die Zeichen der Zeit auf Ver­ änderung – ein Wandel, den die baldige Nichtbeachtung des Hardliners in der Öffentlichkeit nachhaltig dokumentiert.34 Wenngleich die große Aufregung um Schlamm rasch nachließ, blieb er in seiner radikalen Ablehnung der Neuen Ostpolitik bis weit in die siebziger Jahre doch einer der streitbarsten Kolumnisten der bundesdeutschen Presse. Dank dieser lebenslangen publizistischen Tätigkeit stützt sich die Untersuchung auf umfangreiche Quellen. Schlamm schrieb in zahlreichen Presseorganen und veröffentlichte sieben Bücher. Dem 1937 verfassten Werk ›Diktatur der Lüge‹, einer Abrechnung mit Stalin, die den Sozialismus gegen dessen Kommunismus verteidigt und die Pseudo-Verwirklichung kommunistischer Ideen in der UdSSR anprangert, folgte 1940 in der amerikanischen Emigration ›This Second War of Independence‹, eine Analyse des Zusammenbruchs der westlichen Demokratien unter dem Ansturm Hitlers. Nach ›Die Grenzen des Wunders‹, seinem größten Erfolg, erschienen in den sechziger Jahren drei weitere zeitgeschichtliche Bücher: ›Die jungen Herren der alten Erde‹ von 1962 ist eine Kritik der Politik Kennedys und ein heftiger Angriff gegen den »Pragmatismus der Generation um Vierzig«; in ›Wer ist Jude?‹ thematisiert Schlamm das Verhältnis der Juden zum Staat Israel; ›Vom Elend der Literatur‹ schließlich ist ein scharfer Angriff auf die ›Sex-Literatur‹ der Gegenwart und eine Polemik gegen zeitgenössische Literaturkritik. Auch publizierte Schlamm eine Auswahl seiner Kolumnen für die Welt am Sonntag in ›Am Rande des Bürgerkriegs‹, während Artikel aus der Zeitbühne unter dem Titel ›Zorn und Gelächter‹ erschienen. ›Glanz und Elend eines Jahrhunderts‹ war eine Festschrift zum 90-jährigen Bestehen des Pharma-Unterneh33 Zur Notwendigkeit einer Neuorientierung siehe Kleßmann: Zwei Staaten, S. 82–94; Arnulf Baring: Machtwechsel. Die Ära Brandt-Scheel, in Zusammenarbeit mit Manfred Görtemaker, Berlin 1998, S. 233–252. 34 Doering-Manteuffel: Westernisierung, S. 311.

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mens Merckle, die dem primär ärztlichen Kundenkreis die »Krankheitsgeschichte dieses scheinbar irren 20. Jahrhunderts« darlegen sollte.35 Schlamms früheste Pressewerke waren Beiträge in der Internationalen Presse-Korrespondenz der KI, dem KPÖ-Organ Die Rote Fahne sowie jene in dem Organ der KPÖ/O Gegen den Strom. 1931 kam er in Kontakt mit der Berliner Weltbühne, der links-intellektuellen Wochenschrift Carl von Ossietzkys und Kurt Tucholskys, wo er 1932 in die Redaktion eintrat. Im selben Jahr gründete er mit Ossietzky die Wiener Weltbühne, das kurzzeitige Schwesterorgan der Berliner Ausgabe. Nach Ossietzkys Verhaftung 1933 emigrierte Schlamm nach Prag und führte die Weltbühne als Neue Weltbühne fort.36 Im März 1934 schied Schlamm nach heftigem Streit mit Hermann Budzislawski und der Verlegerin Edith Jacobsohn aus der Redaktion aus. Als Gegenorgan gründete er im April 1934 die Europäischen Hefte, in denen er einen ethischen Sozialismus und engagierten Pazifismus vertrat, und leitete die Redaktion bis November 1935.37 Seine Publizistik der dreißiger Jahre zielte auf Erneuerung der Arbeiterbewegung und Sammlung aller ›antifaschistischen Kräfte‹ gegen den Faschismus in Europa. Die Streitschrift ›Diktatur der Lüge‹ von 1937 markierte seine endgültige Abkehr vom Kommunismus. Nach der Emigration in die USA schrieb William S. Schlamm zunächst für Exil-, bald aber für führende Blätter des Landes. Er wurde 1941 Redakteur des Wirtschaftsmagazins Fortune, des konservativ-republikanischen Organs des Pressekonzernchefs Henry R. Luce. Drei Jahre später trat er als 35 Willi Schlamm: Diktatur der Lüge. Eine Abrechnung, Zürich 1937; William S. Schlamm: This Second War of Independence. A Call to Action, New York (NY) 1940. Das Kapitel Hitler’s Conquest of America wurde für eine Sonderveröffentlichung unter gleichem Titel 1941 ausgekoppelt: Ders.: Hitler’s Conquest of America, New York (NY) et al. [1941]. Ders.: Grenzen. Die Deutschland-Studie galt als erste ›rechte‹ Fundamentalkritik und überstieg als Bestseller bald die Auflage von 100.000 Exemplaren. Unter dem Titel Ders.: Germany and the East-West Crisis. The Deci­ sive Challenge to American Policy, New York (NY) 1959 erschien das Buch im selben Jahr in englischer Sprache. Ders.: Die jungen Herren der alten Erde. Vom neuen Stil der Macht, Stuttgart 31962, Zitat S. 248; Ders.: Wer ist Jude? Ein Selbstgespräch, Stuttgart 1964; Ders.: Vom Elend der Literatur. Pornographie und Gesinnung, Stuttgart 1966. Eine Sammlung von 123 Kolumnen aus der Welt am Sonntag (Ders.: Am Rande des Bürgerkriegs, Berlin 1970) sowie eine Auswahl von Aufsätzen aus den ersten fünf Jahrgängen der Zeitbühne (Ders.: Zorn und Gelächter. Zeitgeschichte aus spitzer Feder, ausgewählt von Kristin von Philipp, München 1977) wurden publiziert. Zitat: Ders.: Glanz und Elend, S. 12. Zu seinen frühen Schriften gehört außerdem Ders.: Endstation Hamburg oder 2 + 2 ½ = 2. Ein Wort an die Mitglieder des Verbandes der Sozialistischen Arbeiterjugend Österreichs, Berlin 1923. 36 In Prag erschienen ebenfalls Beiträge Schlamms im liberalen Kulturmagazin Přítomnost. Milena Jesenská, die Freundin Franz Kafkas, übersetzte Schlamms Beiträge ins Tschechische. 37 Schrenck-Notzing: Lexikon, S. 481 gibt fälschlicherweise das Jahr 1937 für die Einstellung der Europäischen Hefte an, indes wurden sie bereits 1935 mit dem Aufruf vereinigt. Daneben engagierte sich Schlamm bis etwa 1938 bei anderen (Exil-)Presseorganen, so bei Aktion (Porto Alegre), Aufruf (Prag), Deutsche Freiheit (Saarbrücken), Gegen den Strom (New York), Das Neue TageBuch (Paris/Amsterdam), Neue Volks-Zeitung (New York), Sozialistische Warte (Paris) und Unser Wort (New York).

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Assistent des Verlegers der Zeitschriftengruppe Time, Life, Fortune in den Dienst des Pressezaren Luce. Nach dem Scheitern des Magazin-Projekts Measure war Schlamm kurzzeitig bei der konservativen Wochenzeitung The Freeman tätig, die jedoch 1953 eingestellt wurde. Ab 1955 war Schlamm maßgeblich an der Gründung der National Review von William F. Buckley beteiligt, der damals meistgelesenen meinungsbildenden Zeitschrift und dem zentralen Organ der konservativen Bewegung in den USA, das in Opposition gegen den als zu pragmatisch angesehenen Kurs des Präsidenten Eisenhower stand. Nach seiner Übersiedlung ins Tessin gab sich Schlamm von 1959 bis 1963 in der Illustrierten Stern, von 1965 bis 1971 in der Welt am Sonntag beißend antikommunistisch.38 Trotz Axel Springers Freundschaft scheiterte sein Projekt einer Wochenzeitschrift Die Republik am Widerstand des Managements im Hause Springer. Als Ersatz dafür erhielt Schlamm finanzielle Starthilfe für seine im Selbstverlag erscheinende Monatszeitschrift Die Zeitbühne, die er ab 1972 bis zum Tod herausgab. Über die Jahrzehnte hinweg summiert sich all dies zu mehreren Hundert Artikeln. Ein solcher Quellenschatz relativiert ein scheinbares Manko: Es existiert wohl kein Nachlass Schlamms – weder in österreichischen, US-amerikanischen, schweizerischen noch in deutschen Archiven. Ausfindig gemacht wurde jedoch der Erbe der Witwe Schlamm, Stefan Haidenthaller, der ein Konvolut aus wenigen wichtigen Dokumenten, einigen Korrespondenzen sowie Fotografien der Eheleute besitzt. Aus dem darin befindlichen Briefwechsel zwischen Stefanie Schlamm und dem Bundesarchiv Koblenz geht hervor, dass sich Letzteres von 1979 bis 1985 vergeblich um den Schlamm-Nachlass bemühte.39 Dem Archiv gegenüber äußerte Stefanie, sie verfüge lediglich über Drucksachen, nicht aber über private Korrespondenz, da Schlamm in der Regel keine Durchschläge angefertigt habe.40 Anzunehmen ist vielmehr, dass Stefanie einen Großteil des Nachlasses vernichtete, wohl aus Furcht vor übler Nachrede, auch plagte sie die Angst vor kommunistischen Geheimdiensten.41 In diese Richtung geht auch ihre Äußerung, auf Anfragen des Bundesarchivs aus »Mißtrauen und Angst vor eventuellem Mißbrauch der Entwicklung, Ansichten und Tätigkeiten meines Mannes« nicht reagiert zu haben.42 An anderer Stelle bekannte sie, »schon seit einiger Zeit« alles, was Schlamm betrifft, »rechtzeitig […] zu liquidieren. […] Unter keinen Umständen möchte ich, daß diese Sachen nach meinem Tod, [sic!] gegen 38 Zwischenzeitlich veröffentlichte Schlamm Kolumnen bei der römischen Zeitung Il Borghese, auch lieferte er Beiträge für die Salzburger Nachrichten und das CSU-Organ Bayernkurier. 39 Vgl. die etwa ein Dutzend Briefe zwischen Stefanie Schlamm und dem BA Koblenz von 1979 bis 1985. Sammlung Schlamm. Allerdings veräußerte die Witwe ein paar Unterlagen – darunter den Briefwechsel mit Winfried Martini –, die das Archiv nun als Kleine Erwerbung William S. Schlamm in seinen Beständen hat. 40 Stefanie Schlamm an Kahlenberg, 07.12.1980, ebd. 41 Interview der Verfasserin mit Stefan Haidenthaller am 16.06.2002. 42 Stefanie Schlamm an Kahlenberg, 07.12.1980. Sammlung Schlamm.

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meinen Mann oder den sonst Betroffenen falsch interpretiert werden könnten, also etwa von ›Politologen‹ verwendet werden könne [sic!]. Lieber vernichte ich alles selbst rechtzeitig oder verfüge in meinem Testament, daß alles vernichtet werden muß.«43 Bevor sie jedoch mit der ›Säuberung‹ begann, vermachte sie wenigen langjährigen Korrespondenzpartnern Unterlagen oder stellte Verlagen Teilbriefwechsel zur Verfügung.44 Wahrscheinlich wurden auch weitere Teile des Nachlasses verstreut, da eine Übergabe an ein Archiv nie geplant war.45 Zumindest war Stefanie weit davon entfernt, persönliche Dinge herauszugeben, hatte doch selbst Freund und SpringerMann Ernst Cramer zu bedenken gegeben: »Bei der fast immer einseitig engagierten Neugier unserer Literaturforscher oder gar Politologen ist es sehr schwer, derartige Dokumente einerseits zu bewahren und andererseits vor Mißbrauch zu schützen.«46 Schlamm selbst hingegen war die Sammlung seines geistigen Hab und Guts am Ende immer wichtiger geworden. Oft sprach er davon, ein letztes Mal in die USA zu reisen, um dort verbliebene Dokumente und Unterlagen zu holen.47 Tatsächlich hatte Stefanie Schlamm vor der Übersiedlung nach Europa Drucksachen aus der Wiener und Prager Zeit, die Briefwechsel mit Friedrich Torberg und Alfred Polgar, Korrespondenzen mit Henry R. und Clare Luce, Fotos, Memos sowie Ideensammlungen und Probedrucke zu projektierten Zeitschriften im Vermonter Farmhaus deponiert und bei ihrem letzten USA-Aufenthalt 1977 postalisch nach Hause geschickt.48 Just jene Dinge also, die heute noch existieren! Womöglich war Schlamms Nachlass, auch dank mehrfachem Exil, niemals größer? Wie nachhaltig dieser hätte ausfallen müssen, bleibt ungewiss. Hatte Stefanie etwa nie mit dem schriftlichen Erbe gezündelt? Vielleicht hatte sie auch nur ihre Privatkorrespondenz mit Schlamm verbrannt, die in ihrer Vielzahl zu einem ausgewogeneren Bild des Protagonisten hätte beitragen können. 43 Stefanie Schlamm an Cramer, 19.04.1981. Sammlung Schlamm. 44 Etwa Alfred Polgar und Friedrich Torberg, deren Briefe später als Alfred Polgar: Lieber Freund! Lebenszeichen aus der Fremde, hrsg. und eingeleitet v. Erich Thanner, Wien/Hamburg 1981 und Friedrich Torberg: Eine tolle, tolle Zeit. Briefe und Dokumente aus den Jahren der Flucht 19381941. Zürich, Frankreich, Portugal, Amerika, hrsg.v. David Axmann/Marietta Torberg, München 1989 veröffentlicht wurden. Vgl. auch Stefanie Schlamm an Kahlenberg, 07.12.1980. Sammlung Schlamm. 45 Auch im Archiv des Axel Springer Verlages liegt kein persönlicher Nachlass, ebenso verneinte Gruner+Jahr die Anfrage der Verfasserin. Über den Verbleib der Unterlagen nach der Auflösung des Zeitbühnen-Verlags konnte Kristin von Philipp, Prokuristin des Verlags, diesbezüglich keine Aussagen machen. 46 Cramer an Stefanie Schlamm, 11.05.1981. Jürgen Real vom BA Koblenz hingegen beschwor die Witwe: »Einer künftigen Generation die Chance zu geben, William Schlamm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, scheint mir im Augenblick nur von Ihnen abzuhängen.« Real an Stefanie Schlamm, 02.07.1984. Sammlung Schlamm. 47 Kristin von Philipp in einem Interview mit der Verfasserin am 18.01.2000. 48 Stefanie Schlamm an Cramer, 19.04.1981. Sammlung Schlamm.

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Gleichwohl lassen sich die umfangreichen veröffentlichten Quellen und wenigen privaten Papiere durch Gegenkorrespondenzen ergänzen. Hervorzuheben ist der in Kalifornien und Massachusetts befindliche Briefwechsel mit Leo Trotzki aus den dreißiger Jahren, der Schlamms Sozialismusverständnis erläutert.49 Weniger ergie­big ist die Kleine Erwerbung William S. Schlamm im Bundesarchiv Koblenz, die Manuskripte aus der Zeit in Prag und Briefe des Publizisten Winfried Martini und seiner Frau Barbara an Schlamm enthält.50 Die Korrespondenz mit Charlotte und William Dieterle, die dem Ehepaar Schlamm die Einreise in die USA ermöglichten, dokumentiert eindringlich die Flucht in die Freiheit.51 Aufschlussreich für Schlamms Situation in den ersten Monaten der Emigration sind ausführliche Schilderungen an Freunde sowie die Briefe Karl Friedingers an Schlamm aus den Jahren 1940/41 im Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes in Wien.52 Von besonderem Interesse ist der in der Wiener Stadt- und Landesbibliothek liegende Nachlass des Schriftstellers und Publizisten Friedrich Torberg, mit dem Schlamm lange befreundet war. Dieser enthält eine ebenso umfangreiche wie lesenswerte Korrespondenz zwischen 1940 und 196353. Einzelne Kontakte, insbesondere Briefwechsel mit den Renegaten Karl A. Wittfogel und Ruth Fischer sowie dem amerikanischen Verleger Henry Regnery belegen Schlamms Aufstieg im Time-Life-Konzern und die heftigen Geburtswehen von Measure.54 Dank der sich in Washington, D. C. befindlichen Nach­ lässe von Raymond L. Buell und Russell W. Davenport ist Schlamms Anteil an der Entstehungsgeschichte von National Review detailliert dokumentiert.55 Unterschied­ lichste Charakterstudien hingegen beinhalten jene Korrespondenz mit Torberg sowie ein intensiver Schriftwechsel mit Clare Boothe Luce, der Gattin Henry R. Luces.56 Für die Zeit nach der Rückkehr nach Europa ist Schlamm in zahlreichen Rezensionen, Berichten, Kommentaren und Leserbriefen57 in überregionalen Tageszeit­ungen, Zeit­ schriften und Magazinen fassbar. Darüber hinaus erlauben diese eine Einschätzung der Resonanz, die er auf Äußerungen in der Öffentlichkeit fand. Wichtige Bemerkungen zu Schlamms politischen Kontakten finden sich im Nachlass des CSU-Politikers Karl Theodor Freiherr von und zu Guttenberg, mit dem er zwischen 1960 und 1962 49 50 51 52 53 54 55 56 57

Trotsky Collection, HIA; Trotzky Archive – Exile Papers, Houghton Library, HU. Kleine Erwerbung 813: William S. Schlamm, BA. Sammlung Schlamm. DÖW, 20.859 und 20.858. NL Torberg, WSLB. Des Weiteren existieren dort einige Briefwechsel aus den Jahren 1968, 1973 und 1977 sowie ein Briefwechsel Torberg-Stefanie Schlamm aus dem Jahr 1979. Vgl. auch die Briefedition Torberg: Tolle Zeit. Ruth Fischer Papers, HL/HU; Karl A. Wittfogel Papers, HIA; Henry Regnery Papers, ebd. Papers of Raymond L. Buell, MD/LOC; Papers of Russell Wheeler Davenport, ebd. Papers of Clare Boothe Luce, ebd. Der Verfasserin war es über das UA-ASV möglich, auch nicht veröffentlichte Leserbriefe an die WamS aus den Jahren 1965 bis 1971 für diese Untersuchung heranzuziehen.

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brieflich verkehrte.58 Auch das Archiv der sozialen Demokratie verfügt über diverse Zeitungsausschnitte von und über Schlamm sowie über vertrauliche Notizen zu dessen Kontakten, insbesondere zur CDU/CSU.59 Einige Briefe lagern verstreut in wei­ teren deutschen, österreichischen und amerikanischen Archiven oder befinden sich in privater Hand.60 Insgesamt kann die Quellen- und Literaturlage als zufriedenstellend gelten, so dass eine Rekonstruktion der politischen Wanderung Schlamms nun möglich scheint. Gleichwohl kann das vorhandene Archivmaterial aus Mangel an privaten Zeugnissen nicht alle Lücken schließen. Aus alledem ergibt sich folgende Einteilung der Untersuchung: Insgesamt drei Lebensabschnitte sollen in unterschiedlicher Gewichtung hinsichtlich Schlamms Bewertung von Geschichte und Politik betrachtet werden. Im ersten Abschnitt konzentriert sich die Arbeit auf die Jahre 1919 bis 1938: Sie zeigt den jungen Schlamm als Parteikommunisten und später als nicht-marxistischen Sozialisten mit pazifistischen Idealen in der Ersten Österreichischen Republik und im Prager Exil. Dabei muss kurz auf das Epochenjahr 1917 vorgegriffen werden: Das Ereignis der Russischen Revolution politisierte den 14-jährigen Wandervogel; er suchte Kontakt zu linksorientierten Strömungen in der Jugendbewegung und wurde durch die Liquidierung der Zarenfamilie 1918 in seiner Faszination für den Kommunismus bestärkt. In den zwanziger Jahren gehörte Schlamm zu jenen gläubigen Intellektuellen, die sich einer Verwirklichung des Traums der klassenlosen Gesellschaft nahe sahen. Der starke Enthusiasmus der Intellektuellen für sozialistische Ideale wie für die Sowjetunion selbst war ein weit verbreitetes Phänomen in Europa; und Schlamm politisch en vogue.61 Dann jedoch distanzierte er sich immer mehr vom Sowjetsystem à la Stalin, das jener seit 1929 dominierte, blieb mittelfristig aber überzeugter Anhänger eines ethischen Sozialismus. 58 NL Karl Theodor Freiherr von und zu Guttenberg, NL 397, Bd. 75: Schriftwechsel mit William S. Schlamm 1960–1962, BA. 59 Personalia 2601: William S. Schlamm, AdsD. 60 Angaben dazu machen Quellen zur deutschen politischen Emigration 1933–1945. Inventar von Nachlässen, nichtstaatlichen Akten und Sammlungen in Archiven und Bibliotheken der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. im Auftrag der Herbert und Elsbeth Weichmann Stiftung von Heinz Boberach, Patrick von zur Mühlen, Werner Röder und Peter Steinbach, München 1994; Zentralkartei der Autographen, Handschriftenabteilung, Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kul­ turbesitz; Die Nachlässe in der Wiener Stadt- und Landesbibliothek. Ein Verzeichnis, hrsg. v. Gerhard Renner, Wien 1993; Verzeichnis der Quellen und Materialien der deutschsprachigen Emi­gration in den USA seit 1933, Bd. 3.1, hrsg. v. John M. Spalek/Sandra H. Hawrylchak, Bern/ München 1997. Darüber hinaus geben auch zahlreiche elektronische Nachlassverzeichnisse Auskunft über den Verwahrort jeweiliger Sammlungen. 61 Untersuchungen, die es ermöglichen würden, Formen, Intensität und politische Auswirkungen dieser Geisteshaltung in verschiedenen Ländern zu vergleichen, liegen bisher kaum vor. Zeitgemäße Auseinandersetzungen mit diesem Problem sind die Studien von Tony Judt: Past Imperfect. French Intellectuals, 1944–1956, Berkeley (CA) 1992 und jetzt Thomas Kroll: Kommunistische Intellektuelle in Westeuropa. Frankreich, Österreich, Italien und Großbritannien im Vergleich (1945–1956), Köln et al. 2009.

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Hier soll nicht nur eine biographische Bestandsaufnahme geleistet, sondern vielmehr Schlamms generelles Verständnis von Politik und Moral untersucht werden. Eine nächste einschneidende Zäsur war die Emigration in die USA im November 1938, kurz nach Hitlers Geheimbefehl zur ›Erledigung der Rest-Tschechei‹. Hier setzte Schlamms intellektuelle Wandlung im Zusammenhang mit dem dort wieder aufkeimenden Konservatismus ein: Seine antikommunistisch eingefärbte Weltsicht festigte sich schließlich in den Jahren 1941 bis 1955. Die Gründe und Umstände dieser bemerkenswerten Umkehrung der politischen Positionen gilt es hier zu beleuchten. Seine Rückkehr nach Europa 1959 leitet den letzten Lebensabschnitt ein. Als Schlüssel zu Schlamms politischer Konzeption dienen seine Ansichten zur Deutsch­ landpolitik, die hinsichtlich Akzeptanz in Bevölkerung, Presse und Politik bewertet werden. Einen Schwerpunkt bildet Schlamms Wirken als Publizist des Kalten Kriegs in der Bundesrepublik der sechziger Jahre. Relevante Schlagworte sind seine Sicht des Kommunismus, sein Plädoyer für eine Politik der Stärke, seine Kritik an der west­ lichen Gesellschaft, seine Haltung zu den Komplexen ›Vergangenheitsbewältigung‹ und ›Entspannungspolitik‹ sowie die Reaktion der Öffentlichkeit seitens seiner Kritiker und Protektoren. Geht es hier immer wieder um in Stern und Welt am Sonntag vertretene Positionen des etablierten Kolumnisten, so beschließt die Arbeit ein Blick auf seine letzten Lebensjahre, die von zunehmender Isolation und sichtlichem Abdriften an den rechten Rand geprägt waren.62 Die abschließende Synthese hat das Ziel, Konstanten und Brüche in Schlamms politischer Haltung an den Komplexen ›Ideologie‹, ›Renegatentum‹63, ›Antikommunis­ mus‹, ›Kalter Krieg‹, ›Entspannung‹ und ›Wertewandel‹ in der Bundesrepublik der sechziger Jahre zu spiegeln. Dabei wird deutlich werden, dass die Biografie Schlamms als exemplarisch für den ideengeschichtlichen Kontext des Kalten Krieges anzusehen ist und das Grundverständnis der Welt des 20. Jahrhunderts transportiert, die sich mehr als einmal am Rande möglicher Selbstvernichtung sah. Schlamm hier adäquat einzuordnen bedeutet somit den Charakter jener Zeit insgesamt besser verstehen zu lernen.

62 Schlamm zog kurz vor seinem Tod nach Salzburg, wo er am 1. September 1978 mit 74 Jahren verstarb. 63 Der Begriff ›Renegat‹ war ursprünglich ein kommunistischer Kampfbegriff für jene, die von der Parteilinie abwichen. Trotz pejorativer Konnotation wird er hier ohne Anführungszeichen verwendet, da seine Benutzung in der Forschung üblich ist. Zur Begrifflichkeit siehe Rohrwasser: Stalinismus und Renegaten, S. 26f.

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»Es gibt nur den bolschewistischen Weg!«1 – 1919 bis 1938

William S. Schlamm wurde am 10. Juni 1904 in Österreich-Ungarn, im galizischen, heute polnischen Przemyśl geboren.2 Nähere Angaben über seine jüdischen Eltern – seine Mutter Sara Marie und seinen Vater, den Kaufmann Elias David3 – sowie über Schlamms Verhältnis zu seinen Eltern fehlen. Dass die Familie wohlhabend gewesen und Willi als neuntes, jüngstes Kind geboren wurde, ist nicht überprüfbar.4 Ebenso, wann, warum und unter welchen Umständen die Schlamms nach Wien zogen. Sicher jedoch absolvierte Willi die erste Klasse der Dorfschule in Purkersdorf bei Wien; später besuchte er das humanistische Wiener Erzherzog-Rainer-Realgymnasium.5 Der Grund des Umzugs nach Wien kann nur vermutet werden: Wenn Schlamm hier bereits mit sechs Jahren die Grundschule besuchte, würde dies bedeuten, dass Familie Schlamm

1 Willi Schlamm: »Der Weg zum Sozialismus.« Die wirtschaftlichen Ergebnisse der russischen und der österreichischen Revolution. In: RF, 8. Jg., Nr. 263, 07.11.1925, S. 6. 2 Die Verfasserin stützt sich auf wenige, zum Teil widersprüchliche Einträge der einleitend genannten Lexika, Biografien und Handbücher, zudem auf vereinzelte Selbstzeugnisse Schlamms, auf Materialien der Sammlung Schlamm sowie auf ein Interview der Verfasserin mit Stefan Haidenthaller, Wien, 16.06.2002. 3 Im Geburtsschein Schlamms als Dawid und Sara Marie, geborene Glasów, im polnischen Original als Sara Marya, geborene Glas; im Schreiben des Magistratischen Bezirksamtes für den II. Bezirk in Wien vom 27.12.1921 als Elias David und Sara, geborene Glohs. Sammlung Schlamm. Vgl. auch Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Bd. 1, S. 649. 4 Als wohlhabend bezeichnen die Familie Schrenck-Notzing: Lexikon, S. 481; Alles ich. In: Spiegel, 26. Jg., Nr. 27, 26.06.1972, S. 57f., hier S. 57, als vermögend Munzinger Archiv, 40/78; Rohrwasser: Stalinismus und Renegaten, S. 358f. mit unkorrekter Angabe des Mittelnamens; William S. Schlamm gestorben. In: FAZ, [o. Jg.] Nr. 192, 04.09.1978, S. 5; Peter Diehl-Thiele: Kolumnist William S. Schlamm gestorben. In: SZ, 34. Jg., Nr. 202, 04.09.1978, S. 5. Das Biographische Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Bd. 1, S. 649 weiß von acht Geschwis­ tern, so auch Kristin von Philipp in einem telephonischen Interview mit der Verfasserin am 18.01.2000. Über deren Schicksal ist kaum etwas bekannt. Vgl. Korrespondenz Klara (Brief vom 04.10.1978) und Malka Schlamm (Briefe vom 28.09.1978, 15.10.1978, 17.12.1978, 26.12.1978) mit Stefanie Schlamm. Sammlung Schlamm. 5 Vgl. etwa Heilskünder. In: Spiegel, S. 30; [William S. Schlamm:] Ein Sprachwitzbold. In: ZB, 2. Jg., Nr. 3, März 1973, S. 42f.; Biografie von William S. Schlamm. In: Festschrift zur Verleihung der Konrad-Adenauer-Preise 1971, o. S., sowie in Mut zur Verantwortung. Eine Dokumentation zur Konrad-Adenauer-Preisverleihung 1971, hrsg. v. der Deutschland-Stiftung e.V., Breitbrunn a. Chiemsee 1971, S. 59f.; Polgar: Lieber Freund, S. 6.

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lange vor Kriegsbeginn in Wien lebte.6 Dies wiederum spricht dafür, dass diese nicht mit dem großen Flüchtlingsstrom, der ab 1914 aus der Frontprovinz Galizien einsetzte, nach Wien kam und so nicht der Verelendung im wirtschaftlich unterentwickelten Galizien sowie politisch-rechtlichen Härten unterlag, die gerade gegen sogenannte ›Ostjuden‹ gerichtet waren. Dies ist entscheidend für das Verständnis der politischen Entwicklung des jungen Schlamm: Seine linken Überzeugungen impfte ihm wohl weder eine klassenbewusste Arbeiterfamilie noch eine traditionelle – häufig unreflektierte – Einstellung einer Proletarierkaste ein; vielmehr umfing die Attraktivität linker Ideologien einen Jugendlichen, der aus gut situiertem, bürgerlichem Hause kam. Die Betrachtung der Schlammschen Vita setzt zu jenem Zeitpunkt ein, der der Klärung seiner sozialen und politischen Entwicklung dient – nämlich in der Zeit nach 1918. Damals gehörte der junge Gymnasiast dem Wiener Jungwandervogel an.7 Nach dem Ersten Weltkrieg waren große Teile der österreichischen Jugend mehr oder weniger vom Geist der Jugendbewegung erfasst, dem sich auch der junge Schlamm nicht entziehen konnte: Für ihn war die Jugendbewegung »ernsthafter« und »rechtschaffener Protest gegen alle unverbindliche Bürgerlichkeit«, Protest gegen »das Alte«, Protest gegen den »idiotische[n] Krieg«. Man rebellierte gegen die alte Generation, der man eine unabhängige Selbsterziehung durch eigenständige ›Jugendkultur‹ entgegenhielt. Nach Schlamm kam die ›Jugendkultur‹-Bewegung gleichzeitig mit der Russischen Revolution nach Wien – ein Umstand, den er für die »totale[…] Verpolitisierung unseres Lebensraumes« verantwortlich machte. Bezeichnend für Schlamm ist seine Zugehörigkeit zu eben dieser Gruppierung: Individualismus, wie er im Wandervogel, und Elitarismus, wie er besonders im Jungwandervogel ausgeprägt war, besaßen für ihn stets große Bedeutung: In der Retrospektive bezeichnete er ›seine‹ Jugendbewegung gar als »intellektuell arrogant«.8 Doch obwohl diese den »Ungeist der toten 6 Erst 1921 erhielt Elias David Schlamm Aufnahme in den Heimatverband der Gemeinde Wien. Dies erstreckte sich auch auf dessen Gattin sowie auf das »noch nicht eigenberechtigte Kind Sigmund«. Vgl. das Schreiben des Magistratischen Bezirksamts für den II. Bezirk in Wien, Abteilung Heimatrecht vom 27.12.1921. Sammlung Schlamm. 7 Schlamm erlebte die Jugendbewegung in ihren Wiener Ausläufern von 1917–1922 im Jungwandervogelheim der Augustinergasse. Schlamm: Junge Herren, S. 57f.; vgl. auch Ders.: Der Vater der »Sex-Revolution«. In: Ders.: Bürgerkrieg, S. 341–348, hier S. 342. Diese Kolumne wurde nicht, wie ebd., S. 348 behauptet, in der WamS, 23. Jg., Nr. 14, 05.04.1970 veröffentlicht. Ohnehin sind die Datumsangaben in diesem Sammelband nicht verlässlich. Die folgenden Ausführungen zur Wandervogelbewegung stützen sich vor allem auf Untersuchungen zur deutschen Jugendbewegung. Da sich ihre Geschichte in der Weimarer und der Ersten Republik nahezu identisch vollzog, sieht es die Verfasserin als legitim an, in Ermangelung österreichischer Untersuchungen diese Forschungsergebnisse auf die Entwicklung in Österreich zu übertragen. Ebenso beziehen verschiedene Untersuchungen Gruppierungen in den deutschsprachigen Ländern mit ein, obwohl sie sich vom Titel auf Deutschland konzentrieren, so etwa Rudolf Kneip: Jugend der Weimarer Zeit. Handbuch der Jugendverbände 1919–1938, Frankfurt a. Main 1974. 8 Schlamm: Junge Herren, S. 57f. Der Jungwandervogel, der auch nach der revolutionären Zeit in

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Unterordnung«9 aus der Kaiserzeit tilgen wollte, trat auch im Jungwandervogel schon bald die Kultivierung der Einzelpersönlichkeit zugunsten einer wachsenden Bindung der Gesamtheit und Geschlossenheit der Gruppe, des Gaues, des Bundes in den Hintergrund. So stellte sich das Jugendbewegungserlebnis 1919 unter dem Einfluss der Pfadfinder10 sowie der Erlebnisse im Ersten Weltkrieg und der nachfolgenden Revolution ganz anders dar als bis zum Ende des 19. Jahrhunderts: Galten in der Jugendbewegung vor dem Krieg Werte wie Freiheit und Autonomie, war nun von Disziplin und Bindung die Rede. Das Individuum verlor an Bedeutung, der Bund wurde zum Maß der Dinge. Es entstand ein neues »Führerprinzip«, das auf Verantwortlichkeit der Führer und gehorsamer Gefolgschaft der Mitglieder beruhte.11 Die Maxime, dass jeder nach seinen individuellen Fähigkeiten gefördert werde, wich nun, unter Zuhilfenahme wesentlicher Ausdrucksformen des Pfadfinder- wie des Soldatenlebens, einer verbindlichen Erfassung sämtlicher Lebensbereiche sowie der Unterordnung aller persönlichen Belange unter das übergeordnete Ziel einer gesellschaftlichen und politischen Neuordnung von Volk und Staat. Dadurch wurde jene geschlossene Gefolgschaft möglich, die das Wesen einer bündischen Gruppe ausmachte, zu welcher der Wandervogel nun übergegangen war.12 Inwieweit die Wandervogelbewegung Schlamm geprägt hat, ist schwer zu sagen. Schlamm gehörte zu den vielen ›Bewegten‹, die ihre Teilnahme an derart hierarchischen Organisationen auch später nie kritisch reflektierten; so nannte er den Jungwandervogel das echte »Liebeserlebnis« seiner Generation. Ebenso wenig analysierte er die Wandervogelbewegung hinsichtlich möglicher geistiger Vorläuferschaft für den Nationalsozialismus. Ganz im Gegenteil zog er die Wandervogeljugend der zwanziger Jahre aus moralischen Gesichtspunkten der Nachkriegsjugend der sechziger Jahre vor,

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Österreich an den alten Traditionen des Gefolgs- und Freundschaftsverhältnisses festhielt, galt als stark elitär. Nachdem sich 1918 die vier großen Wandervogelbünde (‚Wandervogel e.V.‹, ›Altwandervogel‹, ›Jungwandervogel‹ und ›Wandervogel Völkischer Bund‹) mit den ›Wanderscharen‹ zum ›Bund der deutschen Jugendwanderbünde‹ zusammengeschlossen hatten, verhinderte der ›Jungwandervogel‹ ein Zusammenwachsen desselben zum »Bund der Bünde«, wie er nach dem Ersten Weltkrieg als einziger großdeutscher Wandervogelbund entstehen sollte. Schlamm selbst hebt mit seiner Charakterisierung auf die Diskussions- und Leselust des Jungwandervogels ab. Aus dem 1918 von Gustav Wyneken für den Bereich Schule entworfenen Erlass des preußischen Kultusministers, zit. nach Kneip: Jugend der Weimarer Zeit, S. 16. Vgl. dazu Christoph Laue: Der Bund der Wandervögel und Pfadfinder. Tradition und Politik in der Jugendbewegung der Weimarer Republik, Heidenheim 1987. Vgl. Peter D. Stachura: The German Youth Movement 1900–1945. An Interpretative and Documentary History, New York (NY) 1981, S. 47; Felix Raabe: Die bündische Jugend. Ein Beitrag zur Geschichte der Weimarer Republik, Stuttgart 1961, S. 48–53. Zu der zeitlichen Einteilung der Phasen ›Wandervogel‹ und ›Bündische Jugend‹ in der Entwicklung der Jugendbewegung vgl. Bernhard Trefz: Jugendbewegung und Juden in Deutschland. Eine historische Untersuchung mit besonderer Berücksichtigung des Deutsch-Jüdischen Wanderbundes ›Kameraden‹, Frankfurt a. Main et al. 1999, S. 17f.

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wenn er seiner eigenen Generation attestierte, dass sie wenigstens »brannte«, ob­wohl sie »ein großes Stück der Landschaft« verbrannte.13 Dass der Wandervogel in Deutschland wie in Österreich in der Freude über das ›bündische Erwachen‹ einen eigenen Lebensstil ausbildete, der von den Nationalsozialisten genutzt wurde und bald direkt in faschistische Wehr- und Jugendorganisationen mündete, spielte in Schlamms Reflexionen nie eine Rolle.14 Dabei drängten vor allem die Jungwandervögel darauf, in einer Gefolgschaft zu stehen und sich mit ihresgleichen für eine überpersönliche Sache aufzuopfern, für etwas, das über eigenen Nutzen und Gewinn hinausging, einzusetzen. Ihre Sehnsucht galt der sozialen Revolution. In diesem Zusammenhang spielt der Begriff ›Sozialismus‹ innerhalb der Wandervogelbewegung eine wichtige Rolle. Dies umso mehr, als sich Schlamm später – als er mit dem Kommunismus bereits gebrochen hatte, aber noch eng im Sozialismus verhaftet war – eben dieser Definition des ›Sozialismus‹ wieder anschloss. Wenn Schlamm über die Zeit im Wiener Jungwandervogel schrieb, »Kommunisten waren wir natürlich alle«, so handelte es sich hier nicht um marxistischen Parteikommunismus, sondern vielmehr um eine Art »archaische[n] ›Idealkommunismus‹«15, der in den bündischen Gemeinschaften praktiziert wurde. Solch eine Erfahrung war mit ausschlaggebend für die unbekümmerte Übernahme der idealistischen Vision einer homogenen Volksgemeinschaft. Diese sollte einem höheren Gemeinwohl dienen, das sich in der Idee des ›Neuen Reiches‹ manifestierte, als dessen Grundlage der deutsche Sozialismus galt.16 Mit der marxistisch-dialektischen Prägung des Begriffes hatte er allenfalls die Utopie des neuen, besseren Menschen gemein. ›Sozialismus‹ wurde in der Bündischen Jugend vielmehr zu einem Leitbegriff, unter dem Sehnsucht und Utopie dieser Bewegung subsumiert wurden: »Unser Sozialismus ist nicht Eigennutz, sondern uneigennütziger Idealismus.«17 Unter ›Sozialismus‹ verstand man innerhalb der Jugendbewegung »im wesentlichen eine volkhafte, durch die Autorität des Staates 13 Schlamm: Junge Herren, S. 70. 14 Der deutsche Wandervogel wurde mit Hitlers Machtergreifung 1933, der österreichische 1938 aufgelöst. Die Forschung, die sich mit dem Verhältnis von Jugendbewegung und Nationalsozialismus beschäftigt, greift das Kultur prägende Phänomen der Jugendbewegung auf, indem sie der Frage nachgeht, ob und inwieweit diese Bewegung den Nationalismus vorbereitet hat. Vgl. etwa George L. Mosse: Ein Volk, ein Reich, ein Führer. Die völkischen Ursprünge des Nationalsozialismus, Königsstein i. Taunus 1979; Michael Jovy: Jugendbewegung und Nationalsozialismus. Zusammenhänge und Gegensätze. Versuch einer Klärung, Münster 1984, insbes. S. 85–153; Jürgen Reulecke: »Hat die Jugendbewegung den Nationalsozialismus vorbereitet?« Zum Umgang mit einer falschen Frage. In: Wolfgang R. Krabbe (Hrsg.): Politische Jugend in der Weimarer Republik, Bochum 1993, S. 222–243. 15 Peter Schröder: Die Leitbegriffe der deutschen Jugendbewegung in der Weimarer Republik. Eine ideengeschichtliche Studie, Münster 1996, S. 76. 16 Arthur Moeller van den Bruck: Das Dritte Reich, Berlin 1926, S. 96. 17 E. Günther Gründel: Die Sendung der jungen Generation, München 1932, S. 399.

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zusammengehaltene Ordnung, in welcher das Individuum seine egoistischen Interessen aufgibt zugunsten des Dienstes an der Gemeinschaft«.18 Sozialismus wurde als eine Haltung angesehen, die in gerechtem, kameradschaftlichem Verhalten der Einzelnen in der Volksgemeinschaft Geborgenheit schaffen sollte, da die Bündische Jugend in der komplexen, technisierten Welt der Moderne keine Handlungsmuster mehr vorzufinden meinte, an denen es sich auszurichten lohnte. Auch Schlamm sah in der Jugendbewegung ein kathartisches Moment, wenn er, wie er selbst behauptete, »erst im ›Jungwandervogel‹ und dann in der revolutionären Bewegung einen Weg zur Überwindung jener absurden Welt, in der dieser schmutzige Krieg möglich geworden war«, gesucht hatte.19 Er erkannte die Jugendbewegung als Möglichkeit, die alte, ihm zufolge für den Krieg verantwortliche Generation zu umgehen, zudem als Instrument der Selbstgestaltung innerhalb jugendlicher Gemeinschaften. Dabei war die Jugendbewegung der Ersten Republik von Anfang an keinesfalls unpolitisch. Sie lehnte es nur ab, sich parteipolitisch zu engagieren, da sie in ihrer großen Mehrheit das Parteiensystem und den Parlamentarismus, den Interessenpluralismus und den politischen Kompromiss verabscheute: Sie suchte nach einer »Überwindung der Parteien durch die Jugend«.20 Einige Jungwandervögel – darunter auch Willi Schlamm – fanden im Betätigungsfeld Schule den Kontakt zur politisch engagierten Mittelschülerbewegung. Im Mittelpunkt deren Bestrebungen stand der Schulkampf mit dem Ziel, ein Mitspracherecht der Schüler in Form gewählter Schülerparlamente mit Klassen- und Schulsprechern zu erreichen. Der zunehmend politische Schlamm distanzierte sich in Folge immer mehr vom ›bündischen Erwachen‹ des Wandervogels: Schlamm verkehrte nunmehr in der aus den oppositionellen Strömungen der Sozialdemokratie hervorgegangenen linksradikalen Mittelschülerbewegung. Während sich diese in losen Zirkeln bereits seit Winter 1916/17 illegal formierte, löste der Zusammenbruch im November 1918 zunächst in Wien, dann in der Provinz gewaltige Bewegung innerhalb der Gymnasien, Realgymnasien, Realschulen, Lehrerbildungsanstalten, technischen Fachschulen und dergleichen aus, die sich in der Gründung der ›Freien Vereinigung sozialistischer Mittelschüler‹ (FVSM) durch Paul Lazarsfeld, Ludwig Wagner, Richard Schüller, Karl Frank, Leopold Grünwald, Ernst Papanek und andere manifestierte.21 Zu dieser kleinen, sozialistisch eingestellten Schülerverbindung, 18 Kurt Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933. Studienausgabe mit einem Ergänzungsteil: Antidemokratisches Denken in der Bundesrepublik, München 1968, S. 276. 19 William S. Schlamm: Der Vater der »Sex-Revolution«. In: Ders.: Bürgerkrieg, S. 341–348, hier S. 342. Zudem erklärte Schlamm auch, dass ihn die »Anti-Kriegs-Politik« der russischen Revolutionäre angezogen habe. Vgl. die knappe Biografie zum Artikel von Gaus/Schmelz: Berlin evakuieren. In: Spiegel, S. 17. 20 Harald Schultz-Hencke: Die Überwindung der Parteien durch die Jugend, Gotha 1921. 21 Binnen weniger Wochen entstanden – gemäß den weltanschaulich-politischen Lagern – am 10.

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die 1922 rund 200 Mitglieder verzeichnete, stießen später linksbürgerlich-pazifistische Kräfte, unter anderem auch die Jungwandervogel-Bewegung, aus der Schlamm hervorging.22 Mit seiner Aktivität in der FVSM betrat Schlamm jenen politischen Weg, der bald über den ›Verband der kommunistischen Proletarierjugend‹ in die ›Kommunistische Partei Deutschösterreichs‹ führte, wenngleich Ursprünge im Kontext der oppositionellen Strömungen innerhalb des sozialdemokratischen Jugendverbandes liegen. Hierbei sind die Anfänge der sozialdemokratischen revolutionären Bewegung von Bedeutung. Dies gestaltet sich angesichts vieler politischer Gruppierungen, Splittergruppen und -grüppchen sowie wechselnder Verbindungen untereinander als schwierig, zumal in der Forschung An­gaben hierzu stark divergieren. Der Beginn der oppositionellen Bewegung in der Sozialdemokratie stand in engem Zusammenhang mit den revolutionären Ereignissen jener Zeit: Die Ermordung des Ministerpräsidenten Karl Graf Stürgkh23 durch Friedrich Adler, der Thronwechsel im November 1916, die russische Revolution 1917 und die Verteidigungsrede Adlers vor dem Ausnahmegericht im Mai 1917 markierten historische Wendepunkte. Unter dem Druck der zunehmend radikalisierten Bevölkerung kehrte man Ende Mai 1917 zum Parlamentarismus zurück; schließlich wuchsen Einfluss und Stärke der revolutionären nationalen und sozialen Bewegungen derart, dass sie im Oktober und November 1918 über die alten Mächte triumphierten. Auch innerhalb des sozialdemokratischen ›Verbands jugendlicher Arbeiter Österreichs‹ kristallisierten sich oppositionelle Strömungen heraus24: Eine entscheidende Rolle fiel der kleinen, aber entschlossenen Schar der Linksradikalen zu, die nach der Zimmerwalder Konferenz im Winter 1915/16 ein Aktionskomitee bildeten25, aus dem sich später die ›Freie Vereinigung sozialistischer Studenten‹26 als Parallele zum ›Verband der jugendlichen Arbeiter‹ entwi-

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November 1918 der ›Deutsche Mittelschülerbund‹ (DMB) in Wien, am 12. November 1918 die ›Freie Vereinigung sozialistischer Mittelschüler‹ (FVSM) und am 19. Januar 1919 der ›Christlichdeutsche Studentenbund‹ (CDSB). Wortführend und zahlenmäßig am stärksten war zunächst der DMB, in ihm vor allem die Wandervögel mit Karl Ursin an der Spitze. Vgl. Kneip: Jugend der Weimarer Zeit, S. 276. Die genannten Schularten werden in Österreich bis heute als ›Mittelschulen‹ bezeichnet. Dort verstand man zum Teil unter Studenten auch Mittelschüler; sie entsprachen den ehemaligen deutschen höheren Schülern, also auch den Oberschülern und Gymnasiasten. Vgl. Hans Hautmann: Die verlorene Räterepublik. Am Beispiel der KPDÖ, Wien 1971, S. 65f.; Ders.: Anfänge der KPDÖ, S. 33; Neugebauer: Bauvolk, S. 98; Kneip: Jugend der Weimarer Zeit, S. 276, der sich in Schlamms Mittelnamen täuscht. Zahlenangabe ebd. Stürgkh regierte bereits seit März 1914 ohne Parlament und bis zu seiner Ermordung am 24. Oktober 1916 mit brutaler Gewalt; im ganzen Reich herrschte Ausnahmezustand. Hautmann: Räterepublik, S. 23f. berichtet, dass oppositionelle Jugendliche in geheimen Zirkeln die von der deutschen oppositionellen Gruppe ›Internationale‹ beschlossenen Leitsätze studierten. Zu dieser Gruppe gehörten auch Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Vgl. ebd., S. 27f. Diese wurde im Herbst 1918 von Max Adler, Käthe und Otto Leichter, Karl Mark und anderen als ›Verband der sozialdemokratischen Studenten und Akademiker‹ wieder gegründet, nachdem die alte, 1894 von Max Adler gegründete ›Freie Vereinigung sozialistischer Studenten‹ 1917/18 zur

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ckelte. Eng verbunden mit dieser Studentenvereinigung war wiederum die Mit­ telschülerbewegung FVSM, der auch Schlamm angehörte. Zwischen all diesen Organisationen und Gruppen bestand eine Reihe von Querverbindungen. Doch traten die Gegensätze zwischen Linken und Linksradikalen in der Jugendbewegung bald offen zutage. Zudem zeichnete sich auch auf dem sozialdemokratischen Parteitag im Oktober 1917 eine deut­liche Linkswendung der Partei ab – eine Tatsache, die für die weitere Entwicklung in der Jugendbewegung von großer Bedeutung war, denn dadurch brachte man die Mehrheit der Genossen wieder auf Kurs, während den Linksradikalen der Boden für ihre mutmaßliche Spaltertätigkeit entzogen wurde.27 Die Verbandsführung ging nun gegen die isolierten Linksradikalen entschlossen vor, doch setzten diese ihre revolutionäre Tätigkeit innerhalb linksradikaler Gruppierungen fort.28 Wurden nach dem ›Jännerstreik‹ 1918 diese Organisationen ebenso wie die ›Freie Vereinigung sozia­listischer Studenten‹, der linksradikale Verein ›Bildung‹ und der ›Jüdische Verein jugendlicher Arbeiter‹ als ›staatsgefährdend‹ aufgelöst, formierte sich im November 1918 aus den Resten der illegalen Jugendbewegung die kommunistische Bewegung Österreichs mit der Jugendorganisation ›Verband der kommunistischen Proletarierjugend‹ und der ›Kommunistischen Partei Deutschösterreichs‹.29 Freilich hatte diese linksradikale Jugendbewegung ihren Einfluss auf die Arbeiter­ jugend weitgehend verloren30, während die sozialdemokratische Jugendbewegung konsolidiert aus dem Krieg hervorging. Für das künftige Kräfteverhältnis von kommunistischer und sozialdemokratischer Jugendbewegung war diese Entwicklung maßgebend. Die revolutionären Vorgänge in Europa führten auch in Österreich zu starker Radikalisierung und Politisierung großer Teile der Jugend, die in einem gewaltigen Aufschwung der Organisationen ihren Niederschlag fanden. Auch Schlamm musste die russische Oktoberrevolution 1917 mit ihren Begleiterscheinungen als einschneidende Zäsur, als Aufbruch in eine neue Zeit empfinden: »Allen diesen Menschen, die um

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extremen Linken übergegangen und von den k.k. Behörden aufgelöst worden war. 1925 wurde der Name in ›Verband Sozialistischer Studenten Österreichs‹ (VSSTÖ) abgeändert. Der VSSTÖ gehörte der Sozialistischen Internationale an. In der sozialdemokratischen Studentenbewegung, die von Anna Frey-Schlesinger und Elfriede Friedländer-Eisler (i. e. Ruth Fischer) geleitet wurde, wirkten Linke wie Max Adler, Therese Schlesinger und Gerda Brunn und Linksradikale wie Franz Koritschoner und Leopold Kulcsar. Vgl. auch Neugebauer: Bauvolk, S. 97. Julius Deutsch: Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung, Wien 1947, S. 62f. Richard Schüller: 10 Jahre Kommunistischer Jugendverband. In: RF, 11. Jg., Nr. 296, 16.12.1928, S. 5. Der ›Kommunistische Jugendverband‹ (KJV) hieß lange offiziell ›Verband der Proletarierjugend Österreichs‹. Mitunter stimmen die gängigen Bezeichnungen nicht mit den statutarischen überein. Das Gleiche gilt für die KPDÖ, fortan als KPÖ zitiert, die bis 1920 offiziell diesen Namen trug. Das Zentralorgan der KPÖ, der Weckruf, ab 15. Januar 1919 in Die soziale Revolution und ab 26. Juli 1919 in Die Rote Fahne umbenannt, erschien mehrmals in der Woche. Vgl. Hautmann: Räterepublik, S. 74f.

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1918 bewußt zu leben begannen, ist ein organischer Freiheitsanspruch gemeinsam«, dozierte Schlamm, und: »Für meine Generation, um 1919 herum, war der Kommunismus nicht einfach eine Kinderkrankheit. Es war das Koordinatensystem unserer Teilhabe am Geschichtsprozeß.«31 Von den Idealen des Kommunismus fasziniert, die seinem »Verlangen nach einer gerechten Gesellschaftsordnung« entgegenzukommen schienen32, begründete Schlamm wohl im November 1918 mit weiteren radikalisierten sozialdemokratischen Mittelschülern wie Richard Schüller, Max Lazarowitsch, Friedl Fürnberg und Karl Frank sowie dem Angestellten Friedrich Hexmann den ›Kommunistischen Jugend Verband‹ (KJV). Unter ihrer Leitung verfolgte der aus der Oppositionsbewegung der Kriegsjahre hervorgegangene kommunistische Verband einen ultralinken Kurs. Innerhalb der revolutionären Bewegung allerdings erreichte der KJV selbst während der Revolutionsphase keinen allzu großen Einfluss, verlor vielmehr in den zwanziger Jahren seine Bedeutung als Konkurrenz zum ›Verband der Sozialistischen Arbeiterjugend Deutschösterreichs‹ (SAJ)33, besonders nachdem ihr von der Wiener SAJ-Führung letzte Bastionen in der Schülerrätebewegung entrissen worden waren.34 Nach eigenen, nicht zu bescheidenen Angaben zählte der KJV damals weniger als 1000 Mitglieder in rund 20 Gruppen.35 Schlamms Rolle innerhalb der KJV wird in der Forschung unterschiedlich bewertet: Während Wolfgang Neugebauer ihn als Mitbegründer und Führer der KJV vorstellt, weisen andere Schlamm als Funktionär des KJV aus oder sprechen von einem bloßen Mitglied, das sich aus pazifistischen und sozialistischen Idealen dem KJV anschloss.36 Zumindest ist klar, dass 31 Schlamm: Junge Herren, S. 59f. 32 Zit. nach der knappen Biografie zum Artikel von Gaus/Schmelz: Berlin evakuieren. In: Spiegel, S. 17. 33 Der ›Verband jugendlicher Arbeiter Österreichs‹ wurde im November 1919 in ›Verband der Sozialistischen Arbeiterjugend Deutschösterreichs‹ (SAJ) umbenannt und vertrat die politischideologische Linie des marxistischen Zentrums, als deren führende Exponenten in Österreich Otto Bauer und Friedrich Adler galten. Wesentliches Kennzeichen dieses ›Austromarxismus‹ war die revolutionär-marxistische Terminologie, mit der die weitgehend pragmatisch-reformistische Politik der Partei untermauert wurde. Dadurch wurde der Einfluss der Kommunisten trotz der für sie günstigen Voraussetzungen auf ein Minimum reduziert. 34 Die Schülerrätebewegung entstand 1919/20 auf Initiative des KJV. Da ihr die damalige SAJ-Führung wenig Aufmerksamkeit schenkte, konnten die Kommunisten sie vorerst in ihre politischen Bahnen lenken. Die entscheidende Auseinandersetzung mit den Kommunisten um die Vorherrschaft erfolgte auf dem 2. Wiener Schülerrätekongress im Dezember 1921, auf dem unter anderem Schlamm ins Komitee berufen wurde. Dort wurde den Kommunisten ihre wichtigste organisatorische Basis in der Arbeiterjugend entzogen und ihr Einfluss für viele Jahre beschnitten. Vgl. Erwin Zucker: Aus der Geschichte der Schülerräte. In: RF, 11. Jg., Nr. 296, 16.12.1928, S. 5, 9. 35 Vgl. Unter dem roten Banner. Bericht über den ersten Kongress der Kommunistischen Jugendinternationale, hrsg. vom Exekutiv-Komitee der Kommunistischen Jugendinternationale, Berlin [1920], S. 22. 36 Neugebauer: Bauvolk, S. 121 sowie S. 342, Anm. 34 spricht von Führer; das Biographische Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Bd. 1, S. 649, von einem angeblichen Mitbegründer; von einer Mitgliedschaft ab 1919 wissen Schrenck-Notzing: Lexikon, S. 481; Deutsches Literatur-Lexikon, Bd. 15, Sp. 76; Munzinger-Archiv, 40/78. Hautmann: Anfänge der

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