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Zur Rechtfertigung des Tyrannenmordes

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Vorwort

Vorwort

Gilbert H. Gornig Zur Rechtfertigung des Tyrannenmordes

Einführung

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Adolf Hitler überlebte etwa vierzig Attentate. Das Attentat von Claus Schenk Graf von Stauffenberg vom 20. Juli 1944 war keine kurzfristig geplante Einzelaktion. Vielmehr stand eine ganze Gruppe von Persönlichkeiten dahinter, die wohl aus unterschiedlichen Motiven der tyrannischen Herrschaft Hitlers ein Ende bereiten wollte. Es war für den Fall des Todes Hitlers aber keineswegs garantiert, dass die nationalsozialistische Schreckensherrschaft zu Ende gehen würde. Graf von Stauffenberg war nämlich erst dann zum Widerstand bereit, als er den verbrecherischen Charakter der nationalsozialistischen Diktatur erkannte und die militärische Gesamtlage des Deutschen Reiches nach Stalingrad für aussichtslos betrachtete. Heute erinnert man sich aber seiner und gibt Kasernen1, Schulen2 und Straßen3 seinen Namen. Am 3. April 2000 wurde eine Büste von Stauffenberg in der Bayerischen Ruhmeshalle Walhalla enthüllt. Im »Alten Schloss« in Stuttgart wurde 2006 eine Erinnerungsstätte des Landes Baden-Württemberg eröffnet.

Wie man heute weiß, haben die USA in den frühen Jahrzehnten des Kalten Kriegs Pläne wie die Tötung von die Menschenrechte verletzenden Diktatoren verfolgt, zum Beispiel die Tötung von Kubas Fidel Castro mithilfe vergifteter Zigarren. In den 90er Jahren wurde in den Medien4, aber auch in persönlichen Stellungnahmen von Politikern5 dazu aufgerufen, die Diktatoren Saddam Hussein und Slobodan Milošević zu töten. Bombardierungen der Privatresidenzen von Saddam Hussein zielten darauf ab, den irakischen Staatschef zu treffen und damit den Golfkrieg zu beenden. Bombardie-

1 Zum Beispiel die Kaserne der Bundeswehr in Sigmaringen trägt seit dem 20.7.1961 den Namen

Graf-Stauffenberg-Kaserne. 2 In Osnabrück gibt es ein Graf-Stauffenberg-Gymnasium. 3 Zum Beispiel in Bielefeld, Bonn, Karlsruhe, Marburg, Saarbrücken Speyer, Wesel. 4 Hans Magnus Enzensberger, Hitlers Widergänger, Der Spiegel, 6/1991, S. 26, 28. 5 Vgl. Aufruf des FDP-Politikers Jürgen Möllemann, Hamburger Abendblatt vom 4.5.1999; auch der Umweltminister Jürgen Trittin von Bündnis 90/DIE GRÜNEN hielt in einer Rede vom 3.5.1999 den Tyrannenmord an Milošević für eine Alternative zu Luftschlägen der NATO, vgl.

Süddeutsche Zeitung, 4.5.1999, S. 2.

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rungen der Privatresidenzen und der Parteizentrale des jugoslawischen Staatspräsidenten Slobodan Milošević in Belgrad durch die NATO ließen zumindest einen »Tyrannenmordversuch« vermuten, auch wenn die NATO immer wieder beteuerte, dass Milošević kein Angriffsziel sei. Eine Ermordung der beiden Gewaltherrscher wäre für die Zivilbevölkerung jedenfalls schonender und für die Staatengemeinschaft effizienter und billiger gewesen als ein Krieg. Seit dem Terroranschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 hat die Frage der Rechtfertigung des Tyrannenmordes weitere Aktualität erhalten, zumal der damalige Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, George W. Bush, verlautbarte, dass er den mutmaßlichen Drahtzieher des Anschlags, Osama bin Laden, tot oder lebendig haben wolle. Knapp zehn Jahre später hatte die US-amerikanische Regierung Osama bin Laden in seinem Wohnhaus in Pakistan ausfindig gemacht und töten lassen. Der anfänglichen Pressemitteilung, dass Bin Laden sich gewehrt habe, da Waffen in dem Raum waren, in dem er sich aufhielt und mit denen er sich hätte verteidigen können, folgte alsbald die »Vermutung«, dass die US-amerikanischen Soldaten Bin Laden – statt zu töten – auch lebend hätten festnehmen können. Eventuell hätte man ihn dann vor ein Kriegsverbrechertribunal stellen können.

Aufforderungen zum »Tyrannenmord«6 sind also durchaus nachvollziehbar. Die Geschichte lehrt uns jedoch, dass das Töten eines Tyrannen keineswegs zwangsläufig den klassischen Kriterien eines Mordes entspricht. Als Muammar al-Gadhafi getötet wurde, applaudierte die Presse und die meisten Menschen fanden es offenbar als gut und gerecht, wenn ein Mann, der für den Tod so vieler Menschen verantwortlich war7 , selbst den Tod aus der Hand seiner Gegner empfängt.

Die Frage nach der moralischen Rechtfertigung der Tyrannentötung ist so alt wie die Menschheit selbst. Ob und unter welchen Voraussetzungen die Ermordung von Staatsoberhäuptern durch fremde Mächte gerechtfertigt sein kann, ist in der Völker-

6 Clemens Breuer verwendet die Bezeichnung »Tyrannentötung«, da ein »Mord« niemals ein moralisch legitimes Mittel sein könne. Der »Mord« bezeichne definitionsgemäß die Tötung eines oder mehrerer Menschen aus niedrigen Beweggründen (ein bestialischer, feiger, grausamer, heimtückischer, politischer Mord), wobei die niedrigen Beweggründe dann vorliegen, wenn diese nach allgemeiner sittlicher Anschauung verachtenswert sind und auf der tiefsten Stufe, wie etwa krasser Eigensucht, stehen. So Clemens Breuer, Tyrannentötung, in: Die Tagespost, 25.5.2011, https://www.die-tagespost.de/gesellschaft/feuilleton/Tyrannentoetung;art310,124782 (hier und im Folgenden zuletzt gesichtet: 30.3.2020). 7 Colonel Gaddafi ›ordered Lockerbie bombing‹, BBC News 23.2.2011, https://www.bbc.com/ news/uk-scotland-south-scotland-12552587. Auch eine Beteiligung der DDR ist nicht ausgeschlossen: vgl. z.B.»Lockerbie-Attentat: Justiz prüft Stasi-Verbindung zu Gaddafi, in: Berliner

Morgenpost, 20.3.2019, https://www.morgenpost.de/berlin/article216708337/Lockerbie-Attentat-Justiz- prueft-Stasi-Verbindung.html.; Khalil I.Matar/Robert W. Thabit, Lockerbie and Libya:

A Study in International Relations, 2003; Karen Spies, Pan Am Flight 103: Terrorism Over Lockerbie, 2003.

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rechtsliteratur kaum erörtert.8 Der Begriff des Tyrannenmordes taucht höchstens im Zusammenhang mit dem Widerstandsrecht auf, das aber nur in wenigen nationalen Rechtsordnungen der Welt anerkannt ist.9

Bereits Thomas von Aquin hatte erkannt, dass »gute Könige wahrscheinlich häufiger getötet werden als Tyrannen«.10 Es kann also längst nicht jede Tötung eines Staatsoberhaupts oder Machtinhabers als Tyrannenmord bezeichnet werden. So sind beispielsweise die Erschießung des israelischen Ministerpräsidenten Rabin und die diversen Attentate auf US-amerikanische Präsidenten nicht als Tyrannenmorde einzustufen. Voraussetzung der Annahme eines Tyrannenmordes ist daher, dass es sich bei dem Getöteten um einen Tyrannen handelt. Als zweites Abgrenzungskriterium vom politischen Mord dient ein subjektives Merkmal, nämlich das Tatmotiv des Täters.

Tyrannenmord

Der Begriff des Tyrannen Der Begriff des Tyrannen taucht zum ersten Mal in einem Gedicht des berühmten und ältesten griechischen Lyrikers Archilochus (um 650 v. Chr.)11 auf. Verwendet wurde der Begriff des Tyrannen in der frühen Antike vor allem, um orientalische Despoten zu beschreiben. Daher spricht viel dafür, dass das Wort Tyran nicht griechischen, sondern asiatischen Ursprungs ist.12 In seiner frühesten Verwendung bedeutete das griechische Wort Týrannos »Herr«, »Gebieter«, »Herrscher«13. In den Gedichten Herodots und bei den attischen Tragikern wurde in der Regel nicht zwischen König und Tyrann

8 Vgl. zum Tyrannenmord auch Gilbert Gornig, Der Tyrannenmord, in: Mahulena Hofmann/

Herbert Küpper (Hrsg.), Kontinuität und Neubeginn. Staat und Recht in Europa zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Festschrift für Georg Brunner, 2001, S. 603ff. 9 Vgl. Art. 20 Abs. 4 GG: »Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.« Gemeint ist unter »diese Ordnung« die verfassungsmäßige Ordnung, wie sie im Grundgesetz ihren Ausdruck findet. Art. 7 Abs. 3 Portugiesische Verfassung lautet: »Portugal anerkennt das Recht auf Widerstand gegen jede Form der Unterdrückung«. 10 Thomas von Aquin, De regimine principum, Buch 1 Kapitel 5, in: G. Engelmann, Meisterwerke der Staatsphilosophie, 1923, S. 68ff. 11 Er lebte und lehrte ca. 650 vor Chr. und ist einer der ältesten lyrischen Dichter der Griechen, vgl. hierzu Hans Georg Schmidt-Lilienberg, Die Lehre vom Tyrannenmord: Ein Kapitel aus der

Rechtsphilosophie, Neudruck der Ausgabe 1901, 1964, S. 1. 12 Franklin Ford, Der politische Mord: Von der Antike bis zur Gegenwart, 1990, S. 65; Der Duden,

Band 7. Etymologie: Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache, 2. Aufl., 1989, Stichwort: Tyrann. 13 Der Duden, Band 7. Etymologie (Anm. 12) Stichwort: Tyrann.

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unterschieden, so dass vermutet werden kann, dass der Begriff des Tyrannen in seiner ursprünglichen Bedeutung keine negative Assoziation hatte, sondern vielmehr Herrscher oder König bedeutete. Ein Werturteil über die Art und Weise des Regierens oder Angaben darüber, wie der Herrscher an die Macht gekommen ist, enthielt der Begriff des Tyrannen im 7. Jahrhundert v. Chr. jedenfalls noch nicht. Zum Teil wird auch vermutet, dass das Wort von dem etruskischen Wort Turan kommt, das so viel wie »Herr« bedeutet.14 Erst zwischen dem 6. und 5. Jahrhundert v. Chr. wurde zwischen den Begriffen »König« und »Tyrann« differenziert.

Die Begriffe Willkür und Grausamkeit waren also in früheren Zeiten allerdings nicht notwendigerweise mit dem Begriff des Tyrannen verbunden, da es zahlreiche Gedichte und Chroniken gibt, in denen von wahrhaft königlichen Tyrannen berichtet wird, die ihren Städten zur kulturellen und wirtschaftlichen Blüte verholfen hätten. Hierzu zählen etwa Periandros (627–585 v. Chr.) in Korinth, Peisistratos (600–528/527 v. Chr.) in Athen, Kleisthenes (570–507 v. Chr.) in Sekion, Gelon (um 540–478 v. Chr.) und Hieron II. (269–215 v. Chr.) in Syrakus.15 Erst in der Spätantike und endgültig ab dem Mittelalter gehörten Gewalt-, Schreckens- und Willkürherrschaft zu den wesentlichen Eigenschaften eines als Tyrannen bezeichneten Herrschers.

Obwohl Sokrates (um 470–390 v. Chr.) keine Schriften hinterließ, berichten zwei seiner Schüler, Xenophon (um 430 v. Chr.) und Platon (427–347 v. Chr.), von Äußerungen ihres Lehrers über den Tyrannen. So erzählt Xenophon, sein alter Lehrer habe gelehrt, dass das Königtum die Staatsform sei, die dem Willen des Volkes und den Gesetzen des Staates entspreche, in der Tyrannis hingegen werde gegen den Willen des Volkes regiert, würden die Gesetze missachtet und gewaltet, wie es dem Herrscher beliebe.16 Sokrates definierte die Tyrannei damit als Staatsform, in der weder der Wille des Volkes noch die Gesetze, sondern vielmehr allein das Belieben des Herrschers bestimmend war. Der Tyrann war die Verkörperung einer willkürlichen, unberechenbaren Autorität. Sokrates bringt somit wahrscheinlich zum ersten Mal ein Element der Willkür in die Definition des Tyrannen.

Platon vergleicht generell Regierungsformen mit Menschen und untersucht, welche Regierungsform der Charakter des Herrschenden zur Folge habe. Er sieht in seiner Schrift Politeia (Der Staat) den Tyrannen nicht nur als Verkörperung einer schlechten Regierung, sondern auch als Menschen, dessen Privatleben nicht geordnet sei. So wie

14 Jacob Grimm/Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, 1. Band, I. Abteilung, II. Teil, 1952,

Stichwort: Tyrann. 15 Stefan Borzsak, Persertum und griechisch-römische Antike: Zur Ausgestaltung des klassischen

Tyrannenbildes, Gymnasium 1987 (Bd. 94), S. 289ff. (292). 16 Xenophon, Erinnerungen an Sokrates, Buch IV, Kapitel 6, 12, übersetzt von Peter Jaerisch, 1962,

S. 311.

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sich der tyrannische Staat in Sklaverei befinde, so sei die Seele des tyrannischen Menschen voll Aufregung und Verwirrung.17 Platon zeichnete den Tyrannen als jene selbstbezogene, maßlose, von Begierden und Ängsten gleichermaßen getriebene Gestalt. Seine Herrschaft umschreibt er wie folgt:

»[…] am Beginn seiner Herrschaft wirft er Allen, wer ihm auch begegnen mag, lächelnde Mienen und Grüße zu, versichert, gar kein Tyrann zu sein, macht einzelnen wie dem ganzen Gemeinwesen Aussichten auf große Verbesserungen, mildert die Schuldenlast, verteilt Land unter das Volk, und unter seine erklärten Anhänger und tut gegen alle huldvoll und sanftmütig. […] Hat er aber, glaube ich, was die emigrierten Feinde anlangt, sich mit einem Teile ausgesöhnt, den anderen vernichtet und Ruhe vor seinen einheimischen Feinden bekommen, so ist dann, denke ich, sein erstes, immer einige Kriege mit dem Ausland zu veranlassen, damit erstlich das Volk eines Anführers benötigt bleibt.«18

Im neunten Buch seiner Schrift Politeia heißt es dann:

»Was ihren Umgang betrifft, so gehen sie entweder nur mit Schmeichlern oder mit Leuten um, die immer bereit sind, auf ihre Winke zu warten, oder sie selbst, wenn sie etwas bedürfen, machen schmeichelnde Bücklinge und nehmen alle möglichen Freundschaftsmienen an, aber nach Durchsetzung ihres Planes stellen sie sich wieder fremd.«19

Und doch ruft Platon nicht explizit zum Tyrannenmord auf. Erst sein Zeitgenosse Xenophon spricht es aus: Keine Treuepflicht gebe es gegenüber dem Tyrannen, wer ihn beseitige, begehe eine Heldentat.

Aristoteles (384–322 v. Chr.) versteht unter Gewaltherrschaft unverantwortliches Regieren, ein Handeln des Herrschers nicht zum Wohl der Untertanen, sondern auf den eigenen Vorteil bedacht.20 Der Gewaltherrscher entstamme meist dem einfachen Volk, mache sich einen Namen als Gegner der sogenannten vornehmen Menschen

17 Platon, Der Staat, VIII. und IX. (543a-582c; c. I.-c.VI., insbes. 576 b-578 e, v. V.), übersetzt von

Constantin Ritter, 1909, S. 110, 129. vgl. auch Gerhard Heinzeler, Das Bild des Tyrannen bei Platon, 1927, passim. 18 Platon (Anm. 17), Der Staat, VIII (566 2a). 19 Platon (Anm. 17), Der Staat, IX (576 2a). 20 Aristoteles, Politik, Buch IV, 10; V, 10, übersetzt von Paul Gohlke, 1959, S. 183; 238f. Vgl. auch

Hella Mandt, Tyrannislehre und Widerstandsrecht. Studien zur deutschen politischen Theorie des 19. Jahrhunderts, 1974, S. 31f.

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und verspreche, dass das Volk nicht weiter unter der Oberschicht leiden solle.21 Der Gewaltherrscher habe drei Ziele, nämlich

»den Untertanen niedrige Denkweise einzuimpfen, weil kein Kleinlichdenkender aufbegehrt, zweitens sie mißtrauisch gegeneinander zu machen, weil eine Gewaltherrschaft nicht eher ihr Ende findet, als bis einige Vertrauen zueinander fassen ..., drittens Schwierigkeiten unmöglich zu machen, weil niemand etwas Unmögliches versuchen wird, also auch eine Gewaltherrschaft nicht aufzulösen sucht, wenn die Macht dazu nicht vorhanden ist«.22

Tyrannis ist also nach Aristoteles der Inbegriff pervertierter politischer Herrschaft.23

Cicero (106–43 v. Chr.) erweiterte den Tyrannenbegriff nach der moralischen Seite hin, als er ihn folgendermaßen definierte:

»Sobald ... der König sich zu einer ungerechten Herrschaft wendet, entsteht der Tyrann; man kann sich kein abscheulicheres, Göttern und Menschen verhaßteres Wesen ausdenken ... . Wer würde füglich denjenigen einen Menschen nennen, der zwischen sich und seinen Mitbürgern, ja dem ganzen Menschengeschlecht, keine Gemeinschaft des Rechtes, kein Band der Menschlichkeit gelten lassen will?« 24

Damit bezeichnete er neben dem Usurpator auch den legalen Herrscher als einen Tyrannen, welcher seine Macht missbraucht. Beide Kategorien des Tyrannenbegriffs sind über Augustinus25 ins Mittelalter getragen worden. In De officiis vertritt Cicero die Überzeugung, dass der Schaden, den die Tyrannis anrichte, einfach zu groß sei, als dass nicht jedes Mittel, sie zu beenden, gerechtfertigt wäre. Für Cicero ist Tyrannis die Negation des geordneten Staatswesens. Wo kein verlässliches Gesetz regiere, sondern Tyrannei herrsche, bestehe immer Chaos, das den Tyrannenmord rechtfertige.26 Er hat dabei offensichtlich Gaius Iulius Caesar im Blick, dessen Ermordung Cicero als gerechten Tyrannenmord bezeichnete, ja als Gebot des Naturrechts.27

21 Aristoteles (Anm. 20), Politik, Buch V, 10, S. 237. 22 Aristoteles (Anm. 20), Politik, Buch V, 11, S. 249. 23 Mandt (Anm. 20), S. 33. 24 De republica II, 48. 25 De bono conjugali, cap. 40; De civitate Dei, I, 17, I, 21. 26 Reinhard Mawick, Kein Tyrannenmord. Was Bush mit Saddam Hussein vorhat, hat mit dem

Konzept von Tyrannenmord und dessen Legitimation nichts zu tun. https://taz.de/Archiv-

Suche/!797728&s=REINHARD%2BMAWICK&SuchRahmen=Print/. 27 Vgl. Cicero, De officiis, liber tertius, S. 82–88.

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Papst Gregor I., der Große (590–604) brachte einen psychologischen Aspekt hinzu, indem er in erster Linie die Gesinnung als ausschlaggebend für den Tyrannenbegriff betrachtete. Demnach sei schon derjenige ein Tyrann, welcher nur in seinem Inneren wünscht, gegen andere ungerecht vorzugehen.28 Im christlichen Mittelalter wurde dann immer wieder betont, dass der gute Herrscher als imago Dei handeln müsse, Stellvertreter Gottes auf Erden sei und Garant dafür, dass Gottes Gesetze auf Erden befolgt würden. Dagegen sei der Tyrann ein princeps iniustus, iniquus, dessen hervorstechende Charaktermerkmale die superbia und inoboedientia seien, einer, der dem Volk seinen Willen aufzwingen wolle.29

Johannes von Salisbury (1115–1180) sah im König den gerechten Diener des öffentlichen Wohls, der zum Tyrannen mutierte, wenn er an die Stelle der Gerechtigkeit seinen eigenen Willen setzte und nach diesem autonom die Gesetze formte.30 In Policraticus sagte er auch, dass ein König einer Gottheit gleichkomme, während ein Tyrann dem Teufel gleiche.31

Die Attribute wie Gewalt-, Schreckens- und Willkürherrschaft sind auch heute noch fester Bestandteil des Tyrannenbegriffs, wobei die Bezeichnung im modernen Sprachgebrauch als antiquiert gilt. Häufiger werden heute die Begriffe des Diktators oder des Despoten verwendet, die zwar keineswegs identisch mit dem Begriff des Tyrannen sind, sich aber doch oft mit diesem überschneiden, da Diktatoren infolge ihrer unumschränkten Machtfülle und des Fehlens von Kontrolinstanzen in der Regel zu ungerechter und grausamer Ausübung der Staatsgewalt neigen. Für den heutigen Sprachgebrauch könnte man als Tyrannen einen Alleinherrscher bezeichnen, der die Menschenrechte grob verletzt und sein Staatsvolk aus eigener Machtgier unterdrückt. Es ist also nicht jedes Staatsoberhaupt, das keine demokratisch legitimierte Herrschaft führt, als Tyrann zu titulieren.

Zwei Typen von Tyrannen sind zu unterschieden: erstens der Usurpator, der mit Gewalt das Amt an sich gerissen hat (tyrannus in titula) und zweitens der auf rechtmäßige Weise an die Macht gelangte Herrscher, der sein Amt missbraucht, sein Volk unterdrückt und die Grundwerte des menschlichen Zusammenlebens missachtet

28 Vgl. Johannes Spörl, Gedanken um Widerstandsrecht und Tyrannenmord im Mittelalter, in:

Bernhard Pfister/Gerhard Hildmann (Hrsg.), Widerstandsrecht und Grenzen der Staatsgewalt, 1956, S. 11ff. (20). 29 Vgl. Spörl (Anm. 28), in: Pfister/Hildmann, S. 20ff. (21). 30 Policraticus IV, 12. Vgl. auch Cary Nedermann, A Duty to Kill: John of Salisbury’s Theory of

Tyrannicide, in: Review of Politics, vol. 50 (1988), S. 365ff.; Spörl (Anm. 25), in: Pfister/Hildmann, S. 23. 31 Policraticus VIII, 17. Vgl. auch Nedermann (Anm. 30), in: Review of Politics, vol. 50, S. 368; Spörl (Anm. 28), in: Pfister/Hildmann, S. 24.

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(tyrannus in regimine).32 Diese Unterscheidung spielt auch heute noch eine wichtige Rolle und führt zu einer unterschiedlichen Bewertung der Rechtmäßigkeit eines Tyrannenmordes. Es ist nämlich entscheidend, ob ein Herrscher mit Gewalt an die Macht gekommen ist, dann aber vorbildlich regiert, oder ob er sein Amt rechtmäßig erlangt hat, diese Position aber missbraucht.

Motiv des Tyrannenmordes Aristoteles bringt zum Ausdruck, dass Tyrannen ihrer ungerechten Regierung, ihrer Schrecken und Ehrverletzungen wegen angegriffen würden; ferner hätten Alleinherrscher Reichtum und Ehre angehäuft, nach denen allen gelüstet. Angriffe gölten also entweder der Stellung oder der Person des Herrschers. Jedenfalls reize jede der vielen Arten von tyrannischer Rücksichtslosigkeit zum Zorn. Die meisten der Erzürnten seien deswegen auf Rache, nicht auf Sieg aus.33 Seit dem späten Mittelalter wurde exakt zwischen dem Tyrannenmord und dem gemeinen politischen Mord unterschieden.34 Hauptabgrenzungskriterium war die Motivation des Täters: Während der Tyrannenmord eine patriotische, selbstaufopfernde Tat war, die in erster Linie dem Gemeinwohl, der gesamten Gemeinschaft dienen sollte und deswegen auch moralisch gerechtfertigt war, ordnete man dem gemeinen politischen Mord die Fälle zu, in denen der Täter aus eigennützigen Motiven handelte. So konnte als Motiv die eigene Machtübernahme oder der Machterhalt dienen. Auch eigene politische Vorteile konnten Grund für die Ermordung sein. Schließlich fiel die Ermordung durch geistig Verwirrte oder Sekten unter den gemeinen politischen Mord.35

Für die Beurteilung aus völkerrechtlicher Sicht bedeutet dies, dass ein Tyrannenmord schon begrifflich nicht gegeben ist, wenn ein dritter Staat den Tyrannen tötet, um seinen Einflussbereich zu erweitern oder zu erhalten. Auch wenn es außerordentlich schwierig ist, Attentate nachzuweisen, die von Geheimdiensten36 durchgeführt worden sind, kann wohl behauptet werden, dass die CIA in die Ermordung des Diktators der Dominikanischen Republik, Rafael Trujillo Molina, am 30. Mai 1961 verwickelt war.37 Der hierzu vom US-amerikanischen Senat eingesetzte Untersuchungsausschuss stellte zumindest eine strategische Unterstützung und Lieferung der

32 Vgl. Norbert Brieskorn, Rechtsphilosophie, 1990, Rdnr. 135, S. 148; Wolfgang Trillhaas, Ethik, 1959, S. 392. 33 Aristoteles (Anm. 20), Politik, Buch V, 10, S. 239f. 34 Vgl. David George, Distinguishing Classical Tyrannicide from Modern Terrorism, in: The Review of Politics, vol. 50 (1988), S. 390ff. (391). 35 Vgl. auch George (Anm. 34), in: The Review of Politics, vol. 50, S. 394. 36 Vgl. dazu Ford (Anm. 12), S. 435ff. 37 Ford (Anm. 12), S. 443f.

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Mordwaffe an die Attentäter durch die CIA fest.38 Der Grund für die Verstrickung der Vereinigten Staaten in die Ermordung des Diktators wie auch für die Intervention der USA in der Dominikanischen Republik und Haiti 1965 war jedenfalls nicht in erster Linie humanitärer Natur, sondern diente der Erhaltung des Einflussbereiches. Dies lässt sich gut in der Äußerung des damaligen US-amerikanischen Präsidenten Lyndon B. Johnson erkennen: »A second Cuba in our lake must be avoided at all costs«39. Nicht als Tyrannenmord wird ferner die Vollziehung der Todesstrafe als Abschluss eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens oder die Tötung eines Diktators durch individuelle Notwehr gegen dessen gewaltsamen Widerstand bei seiner Festnahme zum Zwecke der Amtsenthebung bezeichnet.40

Wenn wir die Geschichte zum Tyrannenmord bis in die Gegenwart hinein betrachten, so wird deutlich, dass Tyrannenmorde zur Rettung der Freiheit und zur Beendigung einer Willkürherrschaft erfolgen. Häufig hat die Geschichte demokratischer Staaten den Menschen ein ehrenvolles Gedächtnis bewahrt, deren Taten auf die Tötung eines Tyrannen zielten und die Tat mit dem eigenen Tod bezahlen mussten.

An diesen Beispielen wird deutlich, wie wichtig es ist, den Begriff des Tyrannen genau zu definieren und die Tatmotive gründlich zu untersuchen, will man einen Tyrannenmord im konkreten Fall überhaupt für gerechtfertigt halten. Der Tyrannenmord und seine Rechtfertigung werden bis in die heutige Zeit diskutiert und waren im Mittelalter und in der Neuzeit nicht nur Gegenstand rechtlicher, sondern auch theologischer und moralischer Auseinandersetzungen.

Der Tyrannenmord in der Rechtslehre und Rechtsphilosophie

Antikes Griechenland Das wohl berühmteste als Tyrannenmord bezeichnete Attentat in der griechischen Geschichte ereignete sich 514 v. Chr. Der Überlieferung nach wurde der Tyrann Hipparchos, einer der drei Söhne des Peisistratos aus dem Geschlecht der Alkeoniden, von zwei heroischen, freiheitsliebenden Freunden, Harmodios und Aristogaiton, erstochen. Die Attentäter wurden, wie es oft das Schicksal von Tyrannenmördern und

38 Vgl. Zwischenbericht vom US-Senat zum Untersuchungsthema: Alleged Assassination Plots Involving Foreign Leaders, Washington: U.S. Government Printing Office, 1975, S. 191. 39 Howard Wiarda, The United States and the Dominican Republic: Intervention, Dependency, and

Tyrannicide, in: Journal of Interamerican Studies and World Affairs, 1980, vol. 22, No. 2, S. 247ff. 40 Vgl. Wilhelm Wertenbruch, Zur Rechtfertigung des Widerstandes, in: Festgabe für Ernst von

Hippel, 1965, S. 318ff. (332).

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Widerstandskämpfern ist, anschließend fürchterlich zugerichtet und getötet.41 Einige Jahre später, nachdem die anderen Herrscher aus dem Geschlecht der Alkmeoniden aus Athen vertrieben worden waren, wurde jedoch den beiden Tyrannenmördern eine Statue errichtet. Dabei handelt es sich vermutlich um die erste antike Darstellung, mit der nicht Götter, sondern Menschen geehrt wurden.42 Betrachtet man jedoch die Gründe für diese Tat und die Rolle des getöteten Hipparchos, wird man die Bezeichnung »Tyrannenmord« für nicht angemessen halten.43 Bereits Herodot bezeichnete das Opfer nicht als wirklichen Tyrannen, sondern lediglich als »Sohn des Peisistratos und Bruder des Tyrannen Hippias«44. Thucydides verstärkt diese These noch dadurch, dass er das Motiv für die Ermordung des Hipparchos weder mit Freiheitsliebe noch Patriotismus, sondern mit einer leidenschaftlichen homosexuellen Dreiecksgeschichte begründet.45 Nicht Hipparchos, sondern Hippias sei der eigentliche Tyrann Athens gewesen.46 Die Literatur ist sich heute weitgehend einig, dass dieser in der europäischen Geschichte wohl erste und bekannteste Tyrannenmord den Namen gar nicht verdient, weil das Opfer kein Tyrann und das Motiv für die Tat persönlicher Natur war.47

Diese erste Tyrannenmordlegende aus der Antike führte zu einer Auseinandersetzung der antiken Philosophen und Geschichtsschreiber über die Rechtmäßigkeit des Tyrannenmordes. Das Ereignis führte geradezu zur »Geburt der Theorie über den Tyrannenmord«48. Auch wenn in der griechischen Antike die Zahl der politischen Morde im Vergleich zu den darauf folgenden Epochen sehr gering war, wurden diese Attentate analysiert und mit dem Ziel erörtert, den Tyrannenmord von weniger zulässigen Gewaltanwendungen zu unterscheiden.

Auch Xenophon beurteilte die Legende von Harmodios und Aristogaiton: »Anstatt sich zu rächen, halten die Städte den Mörder eines Herrschers hoch in Ehren, und anstatt sie von den heiligen Orten auszuschließen, gleich den Mördern gewöhnlicher Bürger, stellen sie im Gegenteil die Bildnisse derer, die eine solche Tat begangen haben,

41 Vgl. auch Aristoteles, Die Verfassung der Athener, Kapitel 18, 3, 4, herausgegeben, übertragen und erläutert von Paul Gohlke, 1958. 42 Die Statue der beiden Attentäter befindet sich heute im Museo Nazionale von Neapel; vgl. Gardner, Arthur, A Handbook of Greek Sculpture, Bd. I, 1914, S. 185. 43 Gleichwohl wurde auf dem Staatsmarkt von Athen 477/6 v. Chr. eine von den Bildhauern Kritios und Nesiotes geschaffene Bronzegruppe aufgestellt, die an die Tötung des Tyrannen Hipparch durch das Freundespaar Harmodios und Aristogeiton erinnern sollte. 44 Herodot, Buch V, Kapitel 55, in: Das Geschichtswerk des Herodotos von Halikarnassos, übertragen von Theodor Braun, 1958, S. 411. 45 Kent Webb, The Athenian Tyrannicides: Icons of a Democratic Society, 1988, S. 3. 46 Thucydides, Buch I, Kap. 20, translated by Smith, Charles Forster, 1962, S. 35. 47 Ford (Anm. 12), S. 49ff., 68. 48 Ford (Anm. 12), S. 64.

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an den heiligen Orten auf«.49 Er hatte offensichtlich wenig Verständnis für den Kult um die beiden bekannten Tyrannenmörder.

Platon äußert sich nicht wertend, sondern eher sachlich über den Tyrannenmord. Er setzt es aber als selbstverständlich voraus, dass das Leben eines Tyrannen verwirkt sei, sobald sich seinen Feinden eine gute Gelegenheit für Rache biete. Laut Platon steht der Tyrann nicht unter dem Schutz der Gesetze, weil er sie selbst nicht achtet.50 Im Gegensatz zu Xenophon stellt er den Tyrannenmörder jedoch nicht dem einfachen Mörder gleich, sondern behauptet, dass der Mord eines Tyrannen nicht so viel Abscheu errege, wie es sonst die Tötung eines Menschen tue.51

Im Gegensatz zu Platon nahm Aristoteles die Tatsache des Tyrannenmordes nicht nur hin, sondern trug als erster Philosoph der Antike die Voraussetzungen zur Rechtfertigung eines Tyrannenmordes zusammen. Aristoteles bemerkte, dass Usurpation oder eine schlechte Regierung grundsätzlich Gründe für den Tyrannenmord sein könnten, er betonte aber auch, dass die Ermordung eines Herrschers ein extremes Mittel sei, das nur ergriffen werden dürfe, wenn kein milderes Mittel zur Verfügung stehe. Aristoteles äußerte sich auch als Erster zu den Berechtigten eines Tyrannenmordes: Da sich bereits in der Antike gezeigt habe, dass Volksaufstände wenig erfolgsversprechend seien, stehe in erster Linie den Adeligen in der Armee, den religiösen Führern und Senatoren das Recht zum Tyrannenmord zu. Aristoteles erkannte zwar, dass diese Personen regelmäßig auch ein eigenes Interesse an der Beseitigung des Tyrannen hätten, ihnen aber die bessere Gelegenheit zur Ermordung zur Verfügung stünde.52 Diese später als melior pars berühmt gewordene Theorie hört sich zwar elitär an, ist aber zu verstehen, wägt man die Gefahren eines Volksaufstandes für das Gemeinwesen als Ganzes mit den Risiken der Elite ab. Insgesamt äußerte sich Aristoteles jedoch zurückhaltend zur Rechtfertigung eines Tyrannenmordes. Er erkannte, dass das griechische Weltreich langsam zerbröckelte und an Stabilität verlor; die Tötung eines Herrschers sollte deshalb ein Ausnahmefall bleiben, gefährdete sie doch den Bestand des Staates. Der Tyrannenmord sei nur zulässig, wenn es kein milderes Mittel gegen bösartige Geschwüre an lebenswichtigen Organen des Gemeinwesens gebe. Er sollte nur von den politisch aktiven Bürgern ausgeführt werden, die angesichts einer rechtlosen Bevölkerung von Freien und einer noch größeren Masse von Sklaven nach moderner Definition eine Elite im antiken Staat darstellten.

In den griechischen Stadtstaaten waren allerdings politische Morde selten. Wahre Tyrannenmorde sind kaum bekannt, gab es doch genügend Mechanismen, einen

49 Xenophon, Scripta Minora, 1. Hiero, Kapitel 4, Rdnr. 5, translated by E.C. Marchant, 1962, S. 27. 50 Vgl. auch Schmidt-Lilienberg (Anm. 11), S. 6. 51 Schmidt-Lilienberg (Anm. 11), S. 10. 52 Vgl. Ford (Anm. 12), S. 68, 69.

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Tyrannen loszuwerden: So konnten gegen den Despoten Prozesse geführt werden, auch war eine Entlassung durch das Votum des Rats oder der Volksversammlung denkbar, schließlich bestand die Möglichkeit eines Scherbengerichts, das jeder Bürger vorschlagen konnte und die Verfassung der Polis sicherte.53 Gleichwohl galt der Tyrannenmord nicht als Verbrechen, sondern als lobenswerte Tat, die im Bürgereid von Athen um 500 v. Chr. sogar jedem Athener vorgeschrieben war.54 »Den Tod will ich durch Wort und Tat und Stimmstein und mit eigener Hand, wenn ich dazu in der Lage bin, dem bereiten, der die Demokratie in Athen stürzt und dem, der ferner noch ein Amt bekleidet, während die Demokratie gestürzt ist und den, der sich zum Tyrannen aufschwingt oder dem Tyrannen zur Macht mitverhilft. Und wenn ein anderer die Tötung ausführt, werde ich ihn Göttern und Dämonen gegenüber für gerechtfertigt halten als einen, der den Staatsfeind der Athener getötet hat und die ganze Habe des Getöteten will ich verkaufen und die Hälfte des Erlöses dem, der ihn getötet hat, auszahlen und ihm nichts vorenthalten.«55

Das Tyrannengesetz von Ilion aus dem Jahr 275 v. Chr. unterstrich diese Ansicht.56 Schon in der Antike galt also hinsichtlich des Tyrannenmordes der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz: Je mehr andere Möglichkeiten zur Beseitigung des Tyrannen zur Verfügung standen, desto schwieriger war es, den Tyrannenmord zu rechtfertigen. Diese Gedanken zum Tyrannenmord legten den Grundstein für alle weiteren Überlegungen in den folgenden Jahrhunderten.

Römisches Reich Die Tyrannenmordlehre im Römischen Reich war wenig ausgeprägt. Die Römer übten sich mehr im Tyrannenmord, als über ihn nachzudenken, wie die Ermordung Cäsars beweist. Eine Ausnahme bildete Cicero, der sich mehrmals mit dem Tyrannenmord auseinandersetzte und ihn die vortrefflichste und großartigste Tat, die ein Mensch begehen könne, nannte.57 Seneca († 65 n. Chr.)58 meinte, dass es kein Opfer gäbe, das den Göttern lieblicher sei als der Tyrannenmord.

53 Ford (Anm. 12), S. 53. 54 Schmidt-Lilienberg (Anm. 11), S. 7f.; Wolf Middendorff, Der politische Mord. Ein Beitrag zur historischen Kriminologie, in: Schriftenreihe des Bundeskriminalamtes 1968, 1968, S. 153;

Joachim Wenzel, Widerstand und Recht. Gewissen und Unrecht, in: Deutsche Richterzeitung 1995, S. 7ff. (8). 55 Hans Friedel, Der Tyrannenmord in Gesetzgebung und Volksmeinung der Griechen, 1937,

S. 41–42. 56 Josef Anton Stüttler, Das Widerstandsrecht und seine Rechtfertigungsversuche im Altertum und im frühen Christentum, in: Arthur Kaufmann/Leonhard E. Backmann, Widerstandsrecht, 1972,

S. 1ff. (20, Fn. 69). 57 George (Anm. 34), in: The Review of Politics, vol. 50, S. 392. 58 De clementia, 1, 12, 2.

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Das Mittelalter Im Mittelalter entwickelte sich die klassische Lehre vom Tyrannenmord, die sich auf zwei Säulen stützte: die Usurpation und die gesetzeslose Herrschaft59. In dieser Zeit herrschte die allgemeine Überzeugung, dass der Herrscher nicht über dem Recht stehe; dem Recht allein galten die Treuepflichten von Herrscher und Volk.60 Grundsätzlich durfte die Person des Herrschers jedoch nicht angetastet werden.

Johannes von Salisbury (1115–1180) hat als erster den Tyrannenmord in einer an moderne Gedankengänge erinnernden Weise befürwortet: »Einen Tyrannen zu töten, ist nicht bloß erlaubt, sondern recht und billig.«61 In seinem 1159 erschienenen Hauptwerk Policraticus bezeichnete er einen Tyrannen als denjenigen, der gegen die gottgewollte Ordnung verstößt. Seine Rechtfertigung des Tyrannenmordes erfolgte zum einen von der theokratischen Rechtsauffassung her.62 Ein Verstoß gegen gottgegebene Rechte und Freiheiten müsse bestraft werden. Zum anderen maß Johannes der Idee der aequitas, dem allen Sein immanenten Ordnungsprinzip, große Bedeutung bei, gegen das ein Tyrann durch den Missbrauch der Macht verstieß. Die Tötung war seiner Überzeugung nach eine zur Wiederherstellung der göttlichen auctoritas ausgeführte Tat, die als eine Art Gottesgericht gewertet wurde. Erlaubt war jedoch nur die Ermordung eines tyrannuspublicus, nicht die eines tyrannusprivatus, weil dieser leicht durch die öffentlichen Gesetze, die das Leben der Menschen regelten, zurecht gewiesen werden konnte.63 Bei der Tötung durften jedoch keine sittlichen und religiösen Gebote verletzt werden.64 Ein wichtiger Grund, weshalb Johannes von Salisbury den tyrannischen Herrscher in seinen Schriften so verabscheute, lag sicherlich darin, dass Heinrich II. die Ermordung seines Mentors Thomas Becket (1118–1170) anordnete, der als Erzbischof von Canterbury seit 1162 die kirchlichen Machtansprüche gegen den König durchzusetzen versuchte. Salisbury plädiert aber auch dafür, dass es das beste

59 Vgl. auch Ford (Anm. 12), S. 67; Arthur Kaufmann, Vom Ungehorsam gegen die Obrigkeit. Aspekte des Widerstandsrechts von der antiken Tyrannis bis zum Unrechtsstaat unserer Zeit, vom leidenden Gehorsam bis zum zivilen Ungehorsam im modernen Rechtsstaat, 1991, S. 40f. 60 Vgl. insgesamt Johannes Messner, Das Naturrecht. Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik, 7. Aufl. 1984, S. 801; Spörl (Anm. 28), in: Pfister/Hildmann, S. 11ff. 61 Policraticus, II, 15. 62 Vgl. auch Andreas Kraß, Tyrannenmord als Christenpflicht. Statement zum ›Policraticus‹ des Johannes von Salisbury, http://www.uni-konstanz.de/kulturtheorie/Texte/TyrannenKrass02.pdf. 63 Peter Meinhold, Revolution im Namen Christi. Ein Beitrag zur Frage von Kirche und Widerstandsrecht, in: Arthur Kaufmann/Leonhard E. Backmann (Hrsg.), Widerstandsrecht 1972,

S. 235ff. (253ff.); Spörl (Anm. 28), in: Pfister/Hildmann, S. 25f. 64 Spörl (Anm. 28), in: Pfister/Hildmann, S. 24.

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und wirksamste Mittel sei, einen ungerechten Herrscher zu entledigen, unbefleckte Hände zum Gebet zu Gott zu erheben.65

Thomas von Aquin (1225–1274) entwickelte in der Mitte des 13. Jahrhunderts eine Lehre, die den Gesichtspunkt der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Rechtssicherheit in den Mittelpunkt stellte.66 Nach ihr dürfe der tyrannus ursurpatius, der ein ihm nicht zustehendes Amt gewaltsam zu erlangen versuchte, vor der möglichen Machtübernahme von jedermann getötet werden. Diese Tat sei eine Maßnahme zum Schutz der herrschenden Autorität. Der tyrannus regiminis dagegen, der die Herrschaft bereits ausübe und vom Volk anerkannt sei, dürfe nur durch Gerichtsurteil abgesetzt oder zum Tode verurteilt werden. Wenn eine solche Verurteilung nicht möglich sein sollte, sollten allein die superiores potestates, also die Kurfürsten und Stände, aktiven Widerstand leisten dürfen, nicht aber jedermann, soweit er nicht unmittelbar durch einen Gewaltakt bedroht sei.67 In Anlehnung an die Lehre des Aristoteles68 war der Widerstand gegen einen schlechten Herrscher also die Aufgabe einer bestimmten Gruppe, die die Pflicht und das Recht habe, ungerechte Fürsten abzusetzen.69 Diese von Thomas von Aquin als melior pars bezeichnete und auf Aristoteles zurückgehende Lehre rief also die Besitzer von Ämtern, Reichtum und Privilegien auf, die Verantwortung für den Sturz eines Tyrannen zu übernehmen. Thomas von Aquin hatte dabei vor allem mittelalterliche Körperschaften, wie Kirchensynoden, Gerichte und Ständeversammlungen im Sinne. Leitender Gesichtspunkt bei der Tötung des Tyrannen sollte das Gemeinwohl sein.70 Er sah in dem tyrannus regiminis eine Gottesgeisel, deren sich Gott zur Bestrafung eines Volkes für seine Sünden bedienen könne.71 Thomas ließ daher das Recht des Untertanen, einen Tyrannen zu ermorden, nur in äußersten Fällen zu. Er war ferner grundsätzlich der Ansicht, es sei besser, einen Tyrannen eine Zeit lang in Geduld zu ertragen, als sich durch Auflehnung gegen ihn in Gefahr zu bringen, die schlimmer sein könnte als die Tyrannei selbst.72 Er verteidigte jedoch eine Revolution, die auch zum Tode des Tyrannen führen dürfe.73 In seinen späteren Schriften, vor allem in seiner Schrift De regimine principum, äußerte Thomas von Aquin aber zuneh-

65 Vgl. Anne J. Duggan, Johannes von Salisbury, in: Theologische Realenzyklopädie (TRE), Bd. 17, 1988, S. 153ff. (154). 66 Vgl. Summa theologica II, 2; De regimine principum I, 6. 67 Vgl. hierzu Kaufmann (Anm. 59), S. 41; Ford (Anm. 12), S. 163; Wenzel (Anm. 54), Deutsche

Richterzeitung, 1995, S. 8. 68 Vgl. oben C.I. 69 Ford (Anm. 12), S. 163. 70 Meinhold (Anm. 63), in: Kaufmann/Backmann, S. 257. 71 Meinhold (Anm. 63), in: Kaufmann/Backmann, S. 255. 72 Vgl. auch Theodor Blank, Die strafrechtliche Bedeutung des Art. 20 IV GG (Widerstandsrecht), 1982, S. 72. 73 Vgl. Schmidt-Lilienberg (Anm. 11), S. 33.

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