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Einführung in die Thematik
Einführung in die Thematik1
Einführung1
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Leben und Widerstehen unter den Bedingungen einer menschenverachtenden Diktatur ist eine der Menschheitsfragen unserer Zeit. Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt gegenwärtig unter derartigen Bedingungen. Da ist es verwunderlich, dass in unserer Gesellschaft das Thema – selbst bei gegebenen Anlässen – wenig reflektiert wird.
Die Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen nahm den 75. Jahrestag des gescheiterten Attentats vom 20. Juli 1944 zum Anlass für drei international besetzte Fachtagungen zum Widerstand gegen das NS-Regime in den damaligen Ostprovinzen und in deutschen Siedlungsgebieten außerhalb der Reichsgrenzen. Der hier vorliegende Band dokumentiert die Vorträge, die bei der Konferenz über »Widerstand im Nordosten – Ostpreußen, Westpreußen und Pommern« im Oktober 2019 in Göttingen gehalten worden sind.
Die Geschichte des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus war zunächst vor allem eine Geschichte des Scheiterns. Auch die Überlebenden der Verschwörung vom 20. Juli 1944 machten die Erfahrung, dass noch in den 1950er Jahren ein Drittel der Bevölkerung das Attentat missbilligte. Eine wesentliche Veränderung brachten erst die in den 1960er Jahren beginnenden Zeitzeugentagungen. Die Öffnung der Widerstandsbetrachtung in der wissenschaftlichen Zeitgeschichtsforschung hin zu einer gesellschafts- und Alltagsgeschichte war verbunden mit einer daraus abgeleiteten Differenzierung des Widerstandsbegriffs. Neben die Erörterung des politisch-militärischen Widerstands trat jetzt die Diskussion um einen nach Stufen differenzierten Begriff. In der Rezeptionsgeschichte veränderte sich – in den beiden deutschen Staaten höchst unterschiedlich – die Beurteilung als Verrat über Mythenbildung und moralische Vorbildfunktion bis zur wissenschaftlichen Differenzierung und konfliktiven geschichtspolitischen Instrumentalisierung.
1 Begrüßung der Teilnehmer der zeithistorischen Fachtagung »Widerstand gegen den Nationalsozialismus im Nordosten – Persönlichkeiten, Konzepte, Schicksale« in Göttingen, Hotel Astoria, 10. Oktober 2019.
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In der Öffentlichkeit ist der Widerstand gegen den Nationalsozialismus zurzeit kein sonderlich beachtetes Thema. Zum 75. Jahrestag des gescheiterten Attentats auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 gab es eine Presse-Erklärung der Bundeskanzlerin, einen Tagesbefehl der Verteidigungsministerin an die Truppe, kurze Erinnerungshinweise in den Fernseh-Nachrichten und in den gedruckten Medien, auf arte gab es zu Anfang Juli die Wiederholung des alten Stauffenberg-Film, und das war es.
Dieses gebremste öffentliche Interesse wird der Bedeutung des Ereignisses für die jüngere deutsche Geschichte nicht gerecht. Denn der 20. Juli 1944 zählt zu den Schlüsselereignissen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Das missglückte Attentat von Claus Schenk Graf von Staufenberg auf Adolf Hitler und der darauf gescheiterte Umsturzversuch sind zum Symbol des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus in Deutschland geworden.
Angesichts dieser Bedeutung verwundert es, dass auch die Wissenschaft sich in Zurückhaltung übt. Möglicherweise hält man die Thematik für ausgeforscht. Immerhin gibt es die neue Stauffenberg-Biographie »Porträt eines Attentäters« von Thomas Karlauf, die sogleich eine heftige Diskussion auslöste2. Es gibt – schon im vergangenen Jahr erschienen – die sehr breit angelegte (über 700 Druckseiten) Untersuchung von Linda von Keyserlingk-Rehbein über das Netzwerk vom 20. Juli 1944, die die Behauptung der NS-Propaganda von der angeblich »ganz kleinen Clique« der Verschwörer widerlegt und materialreich nachweist, dass das Umfeld doch viel größer und weiter verzweigt war, als bisher angenommen. Und es gibt die kleine Schrift der Historikerin und Stauffenberg-Enkelin Sophie von Bechtolsheim »Mein Großvater war kein Attentäter«.
Nun, Oberst Graf Stauffenberg war sehr wohl Attentäter, aber er war kein Terrorist. Das Bemühen der Enkelin, den Großvater von der heute üblich gewordenen Vermengung der Begriffe und unterschiedlicher Erscheinungsformen abzusetzen, zeigt schlaglichtartig, dass eine Debatte in der Gesellschaft über die Begriffe Not tut.
Die Verschworenen gegen Hitler haben diese Debatte damals unter sich geführt. Sie haben sich mit großem Ernst und zum Teil durchaus mit innerer Not mit Fragen der ethischen Rechtfertigung des Tyrannen-Mordes und etwa auch der moralischen Bindekraft des Eides, den die Offiziere ja auf die Person Adolf Hitlers hatten ablegen müssen, auseinandergesetzt.
Wir hätten uns sehr gewünscht, dass der 75. Jahrestag des 20. Juli Anlass gewesen wäre, in der Republik eine Debatte zum Thema Widerstand neu in Gang zu bringen. Das ist leider ausgeblieben. Beim 50. Jahrestag 1994 war das noch anders. Es herrschte noch die Aufbruchsstimmung der Wendezeit nach der staatlichen Vereinigung und
2 Siehe Hans-Christof Kraus, Ein zeitgemäßes Bild Stauffenbergs? Bemerkungen zu einer neuen
Biographie, in: Frank-Lothar Kroll/Rüdiger von Voss (Hrsg.), Für Freiheit, Recht, Zivilcourage.
Der 20. Juli 1944, Berlin 2020, S. 133–144.
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zwei unterschiedliche Geschichtsrezeptionen mussten zusammengeführt werden. Ich erinnere mich lebhaft der heftigen Diskussionen, die damals dabei geführt wurden. Wir hatten – damals vom Ostdeutschen Kulturrat – im Sommer 1994 in Leipzig eine ähnliche Fachtagung wie diese heute zum Widerstand gegen Hitler organisiert und wir waren damit bewusst in einen Hörsaal der Universität gegangen. Dementsprechend hatten wir eine große Gruppe von Studenten im Publikum, die ihre Schulbildung noch in der DDR erhalten hatten. Da war nicht die Spur von Wissen über den Widerstand aus bürgerlicher Wurzel vorhanden, über den in den westlichen Bundesländern ja eine ganze Flut von Literatur erschienen ist, von Gesamtdarstellungen über Studien zu Einzelaspekten bis hin zu den zahlreichen Biographien über Beteiligte. Den Studenten in Leipzig war 1994 nicht einmal der Name Carl Goerdeler ein Begriff, der doch von Leipzig aus seinen Weg in den Widerstand gegangen war, dessen zivile Spitze er schließlich wurde. Dafür bestanden sie hartnäckig darauf, dass Gruppierungen wie die »Rote Kapelle« die eigentlichen Träger des Widerstandes gegen Hitler in Deutschland gewesen seien. Das waren nun Aktivitäten, die vornehmlich von deutschen Kommunisten, in Form militärischer Spionage für eine ausländische Macht, nämlich die Sowjetunion, mit der Deutschland sich im Krieg befand, erfolgten, und die nachts geheime Nachrichten nach Moskau gefunkt hatten.
Das war die Diskussion, die vor 25 Jahren geführt werden musste, und die sehr zur Begriffsklärung beigetragen hat, etwa zur Differenzierung zwischen Landesverrat und innerer Opposition, aber etwa auch zur ethisch-moralischen Einordnung des Hochverratsbegriffs in der Diktatur. Heute – heute müsste die Debatte um die Abgrenzung des ethisch-moralisch begründeten Widerstandsbegriffs gegenüber den aktuellen Formen des Terrorismus und politischen Extremismus und gegen seine Vereinnahmung durch totalitäre Ideologien gehen.
Als wir bei der Kulturstiftung mit der Planung für die vorliegende Tagungstrilogie zum Widerstand gegen Hitler in den historischen deutschen Ostprovinzen und Siedlungsgebieten begannen, gingen wir noch von der mutigen Erwartung, zumindest Hoffnung aus, dass der 75. Jahrestag des Stauffenberg-Attentats die Vorgänge vom Juli 1944 wieder ans Licht der Öffentlichkeit heben würde. Dazu wollten wir mit unserer Tagungsreihe eigentlich zusätzlich den speziellen Blick auf den ostdeutschen Anteil einbringen, der von der einschlägigen Forschung bisher etwas vernachlässigt worden ist.
Der Widerstand gegen Hitler ist ganz gewiss eine gesamtdeutsche Erscheinung, doch der ostdeutsche Anteil war beträchtlich. Das ist unter dem regionalen Aspekt wissenschaftlich bislang nicht bearbeitet worden, und die vorliegenden Gesamtdarstellungen weisen es nicht aus. Das Gedächtnis der Beiträge aus den Regionen der heutigen Bundesländer wird vor Ort bewahrt und – hoffentlich – gepflegt. Für die historisch ostdeutschen Regionen besteht diese Möglichkeit nicht. Für die Bewahrung des östlichen Anteils gibt es auch kein öffentliches Interesse.
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In diese Lücke zielte unsere bescheidene Tagungsreihe in der Absicht, den ostdeutschen Beitrag in das Gedächtnis der Nation einzubringen.
Im Rahmen dieser auf drei Veranstaltungen angelegten Reihe zeitgeschichtlicher Fachtagungen zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus in den historischen deutschen Ostprovinzen und Siedlungsgebieten, wurde in der Göttingen Konferenz vom Oktober 2019 der Widerstand in Ostpreußen, Westpreußen und Pommern untersucht, nachdem im Vorjahr bereits Schlesien und das Sudetenland behandelt worden waren und im Jahr 2020 der Südosten folgte.
Für den Widerstand aus dem Militär standen in der Tagung von 2019 beziehungsweise stehen in unserem Ergebnisband der aus Deutsch-Eylau in Westpreußen stammende Generalmajor Hellmuth Stieff als einer der Hauptbeteiligten des 20. Juli 1944 und mehrere Mitverschworene aus ost- und westpreußischen Adelsfamilien, die nach dem Misslingen des Attentats verhaftet und hingerichtet wurden. Zu dem Kreis aus dem preußischen Bürger- und Beamtentum gehören Carl Goerdeler, der Kopf des zivilen Widerstands in Deutschland, und sein jüngerer Bruder Fritz aus Marienwerder; auch sie wurden verfolgt und hingerichtet. Der Beitrag der Katholischen Kirche wird am Beispiel von Maximilian Kaller, dem letzten deutschen Bischof der ostpreußischen Diözese Ermland, dargestellt. Netzwerke und Einzelpersönlichkeiten des Widerstandes aus protestantischer Wurzel werden am Beispiel der Evangelischen Kirche Pommerns kritisch erörtert. Zusätzlich zu den bei der Göttinger Tagung gehaltenen Vorträgen wurde in dem vorliegenden Band eine Studie über Ulrich Sporleder, »einen evangelischen Pfarrer im Widerstand«, aufgenommen. Der Aufsatz stellt insofern eine bedeutsame Ergänzung zum Thema dar, als er einer schwierigen Ambivalenz in den Lebensgeschichten vieler der Mitverschwörer, insbesondere derer aus dem militärischen Sektor, nachgeht, hier konkret der Frage, wie ein klar entschiedener Gegner des Nationalsozialismus mit aktivem Einsatz im Widerstand gleichzeitig als »tüchtiger« Offizier an der Ostfront handeln konnte. Nach dem Scheitern des Attentats setzte er – zusammen mit weiteren Offizieren – in der Nacht vom 23. auf den 24. Juli 1944 seinem Leben durch Kopfschuss ein Ende.
Die Situation des Schriftstellers im totalitären Staat behandelt am Beispiel von Edzard Schaper, dem Verfolgten in zwei Diktaturen seiner Zeit, der Warschauer Literaturhistoriker und Kulturwissenschaftler Professor Dr. Karl Sauerland. Ergänzt wird für unseren Band der bereits mit Schaper eröffnete Blick auf das Baltikum durch Professor Dr. Frank-Lothar Kroll mit einer Betrachtung zu Werner Bergengruen, dessen moralisch-intellektuelle Einstellung gegenüber dem nationalsozialistischen Herrschaftssystem nach 1933 mit der geläufigen Bezeichnung »Innere Emigration« beschrieben wird.
Im Rahmen der Veranstaltung war zu einem Vortrag in Göttingen öffentlich in den Saal des Collegium Albertinum eingeladen worden. Ausgehend von dem Abschieds-
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brief von Peter Yorck von Wartenburg vor seiner Hinrichtung sprach Professor Dr. Wladimir Gilmanov von der russischen Kant-Universität in Königsberg/Kaliningrad zur »Theologie des Widerstands«. Der Vortrag fand großen Zuspruch und Nachhall, war doch mit dem Namen Yorck von Wartenburg zugleich der Bogen zu dessen berühmtem Vorfahren Ludwig gespannt, der am Jahreswechsel 1812/1813 mit seiner Unterschrift unter die Konvention von Tauroggen das preußisch-russische Zusammengehen besiegelt und damit letztlich das Ende der napoleonischen Herrschaft über Europa eingeleitet hat.
Die Herausgeber dieses Bandes sagen allen Beteiligten/Mitwirkenden ihren Dank. Ein ganz besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Gilbert H. Gornig von der Universität Marburg, der dem Band nicht nur eine erhellende Studie zur Problematik des Tyrannenmordes mitgegeben, sondern während der Tagung auch die wissenschaftlichen Diskussionen geleitet und beflügelt hat.
Ursprünglich war vorgesehen, die Texte in ihrer mündlichen Vortragsform, jeweils nur mit einer kleinen Literaturliste versehen, zu veröffentlichen. Wir danken den Verfassern, die es sich nicht haben nehmen lassen, ihren Manuskripten einen Anmerkungsapparat beizufügen. Wir denken, dass dem interessierten Leser damit ein zusätzlicher Dienst erwiesen wird und bitten um Nachsicht dafür, dass dadurch eine gewisse Uneinheitlichkeit der Beiträge entstanden ist.
Hans-Günther Parplies
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