Deutschland in bester Verfassung? (Leseprobe)

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des Grundgesetzes auch im internationalen Vergleich, wo sie nur noch von der Symbolwirkung und Strahlkraft der amerikanischen Bundesverfassung übertroffen wird. Das war freilich 1949 nicht absehbar, zumal das Grundgesetz mit dem Stigma des Provisoriums leben musste. In den 1960er Jahren waren ironisch-distanzierende Bezüge auf das Grundgesetz typisch, im konservativen wie im linken Lager: Der damalige Innenminister Hermann Höcherl meinte im September 1963, die Beamten des Verfassungsschutzes könnten »nicht den ganzen Tag mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlaufen«;42 der Liedermacher Franz Josef Degenhardt dichtete 1972 in der »Befragung eines Kriegsdienstverweigerers«: »Also Sie berufen sich hier pausenlos aufs Grundgesetz sagen Sie mal sind Sie eigentlich Kommunist«. Aber recht besehen bereitete sich damit schon die kulturelle »Inthronisierung« des Grundgesetzes als Identitätsstifterin der westdeutschen und später der gesamtdeutschen Gesellschaft vor, für die der von Dolf Sternberger geprägte, durch Jürgen Habermas bekannt gewordene und durchaus umstrittene Begriff des »Verfassungspatriotismus« ein wichtiges Scharnier bildete.43 Symbolkraft und Erinnerung von Verfassung hatten sich seit dem frühen 19. Jahrhundert radikal gewandelt und mit dem reifen Alter des Grundgesetzes einen neuen Höhepunkt erklommen. Und doch hatte ein Stück Verfassungspatriotismus schon bei den badischen Verfassungsfeiern der 1840er Jahre aufgeblitzt.

Bilanz: Kontinuitäten und Brüche Kontinuitäten oder Brüche? Eine eindeutige Bilanz von zwei Jahrhunderten deutscher Verfassungsgeschichte lässt sich kaum ziehen. Der Gewinn einer historischen Perspektive liegt in der Differenzierung mehr als in der klaren Antwort. Die markanteste Zäsur war wohl der Übergang vom Kaiserreich in die Weimarer Republik: Nicht nur für den Nationalstaat, sondern auch für die Staaten endete ausnahmslos das Zeitalter der konstitutionellen Monarchie, an deren Stelle Republiken traten – »Freistaaten« oder »Volksstaaten«, wie man damals noch häufig sagte. Damit verknüpfte sich die Transformation vom bürokratischen Obrigkeitsstaat zur Demokratie, die weit über den Wechsel der Staatsund Regierungsform hinausging, indem sie die gesellschaftlichen und kulturellen Grundlagen von Politik langfristig umwälzte. Das Recht auf 30


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