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Wirtschaftsprognose

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IVS-News

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Wir sind am Anfang des Aufschwungs

Der renommierte Ökonom Klaus Wellershoff spricht im Interview über Lieferengpässe und über Themen, die in der alles dominierenden Corona- und Klimadiskussion zu kurz kommen. Ausserdem geht er davon aus, dass die Nationalbank im nächsten Jahr die Zinsen anheben wird.

INTERVIEW VINCENT FLUCK BILDER ROBERTA FELE

Herr Wellershoff, seit ein paar Monaten liest man von Lieferengpässen, etwa von fehlendem Bauholz oder von einem Mangel an Halbleitern, der die Autoproduktion bremst. Auch Firmen in der Region sind betroffen. Können Sie uns sagen, was da abgeht?

Das lässt sich relativ einfach erklären. Generell ist es in einer Rezession so, dass sich relativ schlagartig Angebot und Nachfrage verändern. Wenn es einem als Produzent schlecht geht, dann verändert man etwas. Und als Nachfrager erleben wir Verschiebungen bei dem, was wir suchen. So ist zum Beispiel in der laufenden Corona-Rezession der Konsum von Dienstleistungen stark zurückgegangen – wir reisten nicht mehr, wir konnten zeitweise nicht mehr in die Gastronomie gehen, wir verzichteten auf den Kinobesuch. Stattdessen konsumierten wir Güter. In vielen Industrienationen liegt der Umsatz im Detailhandel, wo eben Güter umgesetzt werden, 20 Prozent über dem, was vor der Krise war. Und diese Veränderungen von Strukturen auf der Angebots- und auf der Nachfrageseite, die führen dazu, dass die in den letzten Jahren hoch optimierten Lieferkettensysteme überfordert sind. Das ist die Haupterklärung für das, was passiert ist.

Das heisst also, dass im Moment eine zu hohe Nachfrage nach Gütern da ist?

Ja. Bei den Gütern nehmen wir es wahr, wenn etwas nicht da ist – weil wir es gewohnt sind, dass immer alles verfügbar ist. Das ist aber kein guter Indikator dafür, wie es der Konjunktur wirklich geht, weil heutzutage in einem Warenkorb die Dienstleistungen krass überwiegen.

«Wir verzichteten auf den Kinobesuch, stattdessen konsumierten wir Güter.»

Wenn die gestiegene Nachfrage nach Gütern befriedigt worden ist, dann pendelt sich das ganze System wieder ein, oder?

Wir werden weiterhin ziemliche Schwankungen erleben. Zum einen gibt es permanente Veränderungen bezüglich unserer Präferenzen, beziehungsweise dem, was wir wollen. Stichwort: E-Mobilität – sei es mit dem Velo oder dem Personenwagen. Sie wird sich nicht wieder zurückentwickeln. Sie wird dauerhaft hoch bleiben und noch weiter wachsen.

Das wird zu Engpässen führen?

Ja, es wird Engpässe geben. Wir fördern das ja auch noch staatlich, wir tun alles dafür, dass wir eine unnatürliche Entwicklung erleben. Da mitzuhalten ist nicht gerade einfach, weil Güter nicht aus der warmen Luft erzeugt werden. Da braucht es Produktionsprozesse, Maschinen, Anlagen, Fabriken. Da braucht es Schiffe, die transportieren, da braucht es eine ganze Reihe von realen Dingen – man kann jungen Leuten ja kaum noch vermitteln, dass es Reales braucht –, bis sich unsere Nachfrage dann tatsächlich befriedigen lässt. Das sind Prozesse, die uns jetzt jahrelang beschäftigen werden.

Jahrelang?

Ja sicher. Der energetische Umbau unserer Gesellschaft: Wie soll denn das gehen, ohne dass wir unsere Produktionstechnologien anpassen? Und da wird es natürlich Engpässe geben. Aber es gibt auch Elemente in dieser Übernachfrage, die werden erst einmal weggehen. Wenn wir alle neuen Waschmaschinen und Spielkonsolen gekauft haben, dann wird diese Nachfrage, die wir während der Pandemie vorgezogen haben, in den nächsten zwei, drei Jahren fehlen. Also: Es wird ein ziemliches Durcheinander geben in der Güterkonjunktur.

Angebotsseitig hat Corona sicher auch eine Rolle gespielt, etwa indem gewisse Werke stillgelegt wurden.

Da sind die gröbsten Sachen schon durch. Dort, wo man etwas herunter- und gleich wieder hochfahren kann, sind wir schon wieder im Bereich, wo sich die Lage wieder einpendelt. Es gibt natürlich Dinge, wo man das nicht kann, zum Beispiel bei der Glasproduktion. Wenn sie einen Glasofen einmal ausgestellt haben, dann ist der kaputt und sie müssen einen neuen bauen. Wir sind nicht nur betroffen, weil das Coronavirus uns unmittelbar in unserem Leben trifft, sondern auch, weil es eine sehr tiefe Rezession bewirkt hat.

Bauholz war zeitweise auch sehr knapp, die Preise sind gestiegen ...

... und mittlerweile haben sich die Preise fast wieder normalisiert: In der Verfügbarkeit bleibt es aber noch eng. Klar, im häuslichen Bereich – Renovation von Wohnungen und Immobilien – gab es eine extrem hohe Nachfrage; noch zusätzlich dadurch unterstützt, dass wir diese unverschämt niedrigen Zinsen haben. Das sind Themen, die uns sicherlich noch eine Zeit lang beschäftigen werden. Aber der Markt reagiert ja darauf; das ist ja der grosse Vorteil, dass Knappheit im Markt angezeigt wird durch hohe Preise und damit den Anreiz liefert, die fehlenden Güter zu produzieren.

Seit Jahren kommen Sie auf Einladung der Ersparniskasse nach Schaffhausen. Jeweils Anfang des Jahres referieren Sie im Rahmen eines Finanz-Apéros vor Kundinnen und Kunden der Bank. Das letzte Mal, im Januar 2020, sagten Sie, die Schweizer Nationalbank übe einen zu starken Einfluss auf den Schweizer Franken aus. Ist das immer noch Ihre Meinung?

Man kann sicher sagen, dass wir mit den aktuellen Wechselkursen im Handel mit unseren Partnern keine Nachteile mehr haben. Wenn wir bei der Euro-Schweizer-Franken-Relation von 1.07 sind und wir trotzdem feststellen, dass wir aktuell einen Handelsbilanz-Rekordüberschuss schreiben, dann kann der Franken real auf diesem Niveau gar nicht mehr so stark sein. Die Zahlen zeigen das eindrücklich. Da stellt sich sofort die Frage: Warum interveniert die Schweizer Nationalbank im Wechselkursbereich immer noch? In den Sommerferien hat sie ja knapp 3 Milliarden Franken Interventionen getätigt. Rein ökonomisch nachvollziehbar ist das jetzt nicht mehr.

Dann hat die Nationalbank also wieder etwas Spielraum und könnte die Zinsen hochfahren.

Wir erwarten, dass die Schweizer Nationalbank diese als ausserordentlich titulierten Massnahmen nicht mehr weiter verfolgt. Dies vor dem Hintergrund der Normalisierung der Konjunktur, so wie wir sie jetzt erleben, und der Normalisierung der Wechselkurse, so wie sie in der Realität heute sind – der Franken ist nicht mehr überbewertet. Das heisst, dass die Zinsen in der Schweiz steigen können und dass die negativen Zinsen abgeschafft werden – das ist keine Forderung, sondern eine Prognose.

Und wird das nächstes Jahr schon der Fall sein?

Wenn sich der Aufschwung fortsetzt, wäre alles andere eine Überraschung. Schaffhausen, selber Handballer und im Zentralvorstand des Schweizer Handballverbandes. Da muss ich oftmals neutral sein, aber dass ich die Schaffhauser auch gerne gewinnen sehe, ist kein Geheimnis.

Die Region Schaffhausen ist wirtschaftlich eng mit Zürich verbunden. Wie sehen Sie in diesem Zusammenhang die wirtschaftliche Zukunft von Schaffhausen?

Das hängt stark mit der Frage zusammen, wie sich die Dienstleistungskonjunktur entwickelt und wie sich gewisse Strukturen im Dienstleistungsbereich entwickeln. So richtig optimistisch bin ich in den nächsten Jahren für Zürich nicht. Wir haben einige standorterschwerende Entwicklungen erlebt. Die Initiative des Bundesrates, die Verhandlungen mit der Europäischen Union über eine Vertiefung der bilateralen Beziehungen abzubrechen, ist ein schwerer Schlag für die Wirtschaftsregion. Das muss man ganz klar so sehen. Davon werden vor allem Dienstleister betroffen sein, für die noch sehr viel Potenzial vorhanden gewesen wäre bei einer Vertiefung der Wirtschaftsbeziehungen mit der Europäischen Union. Das ist für eine Stadt und einen Wirtschaftsraum wie Zürich nicht einfach zu verdauen.

Das heisst also, dass ein konjunktureller Einbruch die Folge ist?

Nehmen Sie das häufig besprochene Thema der Wissenschaftskooperationen, Horizon. Den Leuten ist nicht klar, dass dies kein Thema ist, das man mit Geld lösen kann. Die Vorstellung, die Schweiz könne die fehlenden EU-Mittel sozusagen selber sprechen, dann wäre alles wieder gut: Das ist ein hanebüchener Unsinn. In diesen Forschungsprojekten geht es um internationale Kollaborationen. Sie kriegen nur die besten Forscher, wenn die wirklich partizipieren können und in diesen Projekten gleichberechtigt sind. Wenn wir da nicht in irgendeiner Form eine kreative Lösung finden, wird das zum Beispiel für Institutionen wie die Eidgenössische Technische Hochschule sehr, sehr schwierig. Und dahinten dran steht eine Gründungsszene von ganz vielen Jungunternehmen, und dahinten dran stehen Ansiedlungen von zum Beispiel Google in Zürich. Da ist vorerst mal die Bremse eingelegt worden. Und das, denke ich, wird auch ausstrahlen bis nach Schaffhausen.

Man kann also damit rechnen, dass es nächstes Jahr höhere Zinsen gibt?

Wir würden erwarten, dass die Schweizer Nationalbank die Zinsen dann tatsächlich anheben wird – unter der Annahme, dass der Aufschwung sich fortsetzt, und danach sieht es jetzt aus – auch wenn das dritte Quartal wegen der angesprochenen Lieferketten in der europäischen Industrie schwierig gewesen ist. Das klingt für Sie so fremd (lacht).

Ja, weil die Zinserhöhung während Jahren auf später verschoben wurde. Deshalb staune ich über Ihre Aussage.

Die überwiegende Mehrheit der Ökonomen hat in den letzten Jahren gesagt, die Zinsen bleiben tief. Und die meisten sagen heute noch, die Zinsen bleiben tief. Da weichen wir in der Tat ab.

Wer ist «wir»?

Wellershoff & Partners und unsere Partnerfirma WPuls AG. Wir weichen davon ab, weil wir die Erwartung haben, dass sich auf Dauer eine so aussergewöhnliche Geldpolitik durch die Nationalbank gar nicht rechtfertigen lässt, wenn die wirtschaftliche Lage und auch die Wechselkurse sich normalisiert haben.

Dann wird 2022 ein spannendes Jahr.

Auf jeden Fall!

Wenn die Zinsen steigen, hat das Auswirkungen. Zum Beispiel auf die Bauwirtschaft.

Da bin ich mir gar nicht so sicher, wie stark das sein wird. Wenn wir an den Wohnbau denken, den Sie jetzt wahrscheinlich im Kopf haben, dann sind wir immer noch mit einer Situation konfrontiert, dass wir eigentlich zu wenig Wohnraum haben in der Schweiz. Und die Situation wird sich weiter verschärfen. Wir müssen damit rechnen, dass wir dauerhaft Zuwanderung haben – zwischen 50 000 und 60 000 Menschen pro Jahr. Unsere Gesellschaft altert, das spricht dafür, dass die Haushaltsgrösse kleiner wird. Und das heisst, selbst wenn wir keine Zuwanderung hätten, würde die Nachfrage nach Wohnungen weiter wachsen. Ich glaube, unsere Bauwirtschaft ist auf Jahre hinaus angesichts dieser demografischen Entwicklungen gut ausgelastet.

Wo liegt die bevölkerungsmässige Obergrenze in der Schweiz? Bei 10 Millionen?

Das entscheidet das Volk – an der Urne und im Bett.

«Die Vorteile, die wir haben, spielen wir im

Augenblick nicht aus.»

Da werden wir uns in Schaffhausen wärmer anziehen müssen.

Na ja, die komparativen Vorteile, die wir haben, spielen wir im Augenblick nicht aus. Sie liegen in einer Mischung von wissensbasierter Wertschöpfung und einer sich daraus ergebenden sophistizierten handwerklichen Umsetzung.

Im Bett ist nicht so viel los …

Das haben Sie gesagt.

... zumindest bezüglich des Nachwuchses. Ein ganz anderes Thema: Was haben Sie eigentlich für einen persönlichen Bezug zu Schaffhausen?

Wir haben lange Zeit im Zürcher Weinland gewohnt – zuerst in Kleinandelfingen, dann in Ossingen. Für uns war Schaffhausen der natürliche Bezug zum Einkaufen und als lokales Zentrum. Aber auch im Sport: Ich bin ein bekennender Fan der Kadetten

Sie haben kürzlich in der «Handelszeitung» geschrieben, dass die Öffentlichkeit in letzter Zeit vor allem über Corona und den Klimawandel geredet hat und dass andere Themen zu kurz gekommen sind. Was sind das für Themen?

Bleiben wir bei der Gesundheit. Das ist ein Thema, wo das Ökonomische nicht so greift, wenn es um Menschenleben geht. Menschenleben sind für uns in der Regel wichtiger als irgendwelche Zahlen. Aber auch hier haben wir vollkommen geschlafen. In den letzten Jahren sind weltweit gleich viele Leute an Tuberkulose gestorben wie an Corona. Aber wir haben nicht annähernd

KLAUS W. WELLERSHOFF

ist Verwaltungsratspräsident von Wellershoff & Partners. Zuvor war er bis 2009 Jahre lang Chefökonom – zunächst des Schweizerischen Bankvereins, dann der UBS. Er unterrichtet Nationalökonomie an der Universität St.Gallen und bekleidet eine Reihe von Stiftungs- und Verwaltungsratsfunktionen in Wissenschaft, Kultur und Sport. Der 57-Jährige stammt aus Norddeutschland, ist verheiratet und Vater von vier Söhnen. Wellershoff & Partners ist eine Unternehmensberatungsfirma mit Sitz in Zürich. Zusammen mit der Partnerfirma WPuls hilft ein zehnköpfiges Team der Kundschaft, aus der Fülle an Wirtschaftsinformationen die für ihr Geschäft relevanten Daten herauszufiltern und nutzbar zu machen.

so viel Aufmerksamkeit auf die Frage der Tuberkulosebekämpfung gesetzt – obwohl 2020 das weltweite Tuberkulosejahr sein sollte.

Das ist von Corona verdrängt worden.

Das ist komplett verdrängt worden. Da haben wir keine gute Falle gemacht. Das Klima ist ein extrem wichtiges Thema, das ist überhaupt keine Frage. Aber auch hier sehe ich Tendenzen, die unser Leben nicht besser machen. Wenn wir Aussagen von führenden Vertretern der Gesundheitspolitik hören, dass jedes Menschenleben zählt und deswegen alle Eingriffe in Gesellschaft und Wirtschaft gerechtfertigt sind, dann ist das natürlich grober Unfug. Da müssten wir zum Beispiel das Autofahren verbieten oder das Fallschirmspringen. Das tun wir aus guten Gründen nicht, weil wir an eine freiheitliche Grundordnung glauben. Das muss jetzt Schritt für Schritt zurückkommen, sonst werden wir grobe Fehler machen, werden wir Ressourcen verschwenden, die wir dringend brauchen, auch im Kampf gegen Pandemien und sicherlich im Kampf gegen den Klimawandel.

Gibt es noch andere Themen ausser die Gesundheit, die im öffentlichen Diskurs zu kurz kommen?

Ein ganz grosses Thema sind unsere Sozialversicherungen. Wir haben wirklich ein ungelöstes Thema in der Rentenfrage. Die Schweiz ist nicht in einer Situation, dass wir davon ausgehen können, dass unsere AHV stabil ist, und ich glaube auch, dass die Annahmen falsch sind, die hinter dem Kapitaldeckungsverfahren unserer Pensionskassen stehen. Sie erweisen sich zumindest im Alltag als unpraktikabel, Stichwort: Umwandlungssatz. Das sind Themen, die das Leben insbesondere unserer jüngeren Generation viel stärker betreffen werden als zum Beispiel der Klimawandel. Den möchte ich überhaupt nicht weg- oder schönreden – das ist ein Riesenproblem, das wir da haben – aber das Leben jedes Einzelnen bei uns ist dazu prädestiniert, dass ein grosser Anteil unserer Bevölkerung in der Altersarmut landet. Und das darf nicht sein. Sorry, wenn ich jetzt so ernst werde.

Das können wir ändern, indem wir den Tonfall am Ende dieses Gesprächs wieder etwas aufhellen. Zumindest für die kurze Frist sind Sie, Herr Wellershoff, ja positiv gestimmt, oder?

Wir sind am Anfang des Aufschwungs. Der harzt zwar noch wegen Corona, aber auch, weil die damit verbundene Rezession sehr tief gewesen ist. Aber es spricht nichts dagegen, dass wir in den nächsten zwei, drei Jahren ganz ordentliche Zuwachsraten erleben und dass wieder mehr Menschen Lohn und Arbeit finden werden. 

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