Alexander Polzin - Sounds of Sculptures

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Alexander Polzin

SOUNDS OF SCULPTURES

Requiem (Hommage à Kurtág) 2011, Bronze 170 x 57 x 36 cm © Norbert Banik


Alexander Polzin

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Angels of Desperate Confidence

Engel verzweifelter Zuversicht Vor mehr als 16 Jahren betrat Alexander Polzin zum ersten Mal das Magazingebäude der Staatsoper Unter den Linden. Dort wo sich heute der Pierre Boulez Saal und die Barenboim-Said Akademie befinden, wurden früher Bühnenbilder der Staatsoper gelagert. Ein ungewöhnlicher Ort, der bald auch als zusätzliche Spielstätte genutzt wurde. Die erste Aufführung im „Magazin“ war ­Philemon und Baucis, ein Opernfragment von Haydn, zu dem die griechische Komponistin Konstantia Gourzi eine zeitgenössische Ergänzung geschaffen hatte. Polzin entwarf die Bühne dafür und platzierte dabei das Publikum schräg über dem Orchester. Die Musiker saßen auf einem Boden, der wie ein freundlicher Himmel bemalt war – sie spielten in den Wolken. Nun hat Alexander Polzin das Foyer des Pierre Boulez Saals mit verschiedenen seiner Skulpturen bevölkert. Wieder scheinen Himmelswesen unter ihnen zu sein, engelsgleich. Immer wieder verlässt Polzin die Kühlräume konventioneller Kunstpräsentation und sucht die Nähe zu Literatur, Musik und Wissenschaft. Es ist eine Kunst, die sich einmischen möchte und stets das Haptische betont. In den Widmungen und Titeln der Werke finden wir Hinweise auf die verborgenen Entstehungszusammenhänge. Die Skulptur Requiem etwa ist Ausdruck eines mehr als 20-jährigen Dialogs mit dem Komponisten und Freund György Kurtág. Diese kantig-­ kauzige Engelsfamilie, die nun über einem der Eingänge zum Konzertsaal wacht, ist Polzins bildhauerisches Echo auf verschiedene Kompositionen, die Kurtág ihm gewidmet hat. Polzins Flügelwesen verharren nicht in andächtiger Trauer, sondern blicken uns mit ­ihren maskenhaften Gesichtern herausfordernd an und scheinen

4. Februar – 22. März 2020

zu fragen: Was kommt als Nächstes – wie kann es nach dem ­Unaussprechlichen weiter gehen? Der rumänische Philosoph, Kunsthistoriker und Politiker Andrei Pleșu beschreibt Polzins Ansatz folgendermaßen: „Engel zu ­bildhauern, mit anderen Worten: der Körperlosigkeit Körper zu verleihen, ist eine Geste, die das Utopische streift und ein ketzerisches Risiko birgt […]. In Polzins Version besitzen ihre Antlitze eine archaische Herbheit, eine barbarische Brutalität, die an die Plastik der Kykladenkultur erinnert. Wir haben es hier also mit ­einem Antipoden der Süßlichkeit, der rosigen Sentimentalität zu tun und nähern uns Rilkes Einsicht: ‚Ein jeder Engel ist schrecklich…‘. Kunstliebhaber werden beim Betrachten von Polzins ­Engeln unzählige Anregungen zu Freude und Reflexion finden. Was mich betrifft, bin ich in einer etwas benachteiligten Lage: ganz und gar freuen kann ich mich nicht, weil ich durchaus auch Neid empfinde.“ Verborgen und gespiegelt fragt uns auch die mitten im Foyer platzierte Bronze Parthenope nach den verschiedenen Ebenen ­unserer Wahrnehmung. Nur wenn wir uns nicht mit dem ersten Eindruck zufriedengeben, können wir vielleicht den verborgenen Teil dieser Skulptur entdecken. Ohne Neugier ist diese Reise nicht zu erleben – die sofortige Zugänglichkeit unserer alltäglichen Bildmedien wird hier verweigert. Parthenope ist der Name einer der Sirenen in der griechischen Mythologie, die ihrem ­Leben ein Ende setzten, indem sie sich ins Meer stürzten. Vielleicht war sie des unheilbringenden Wohlklangs ihres Gesanges überdrüssig? Das Vielschichtige und Verborgene in Polzins Arbeit hat der Kunsthistoriker Hans Belting in einem Interview mit dem Künstler

More than 16 years ago, Alexander Polzin first set foot in the depot of Berlin’s Staatsoper Unter den Linden. Where the Pierre Boulez Saal and the Barenboim-Said Akademie are located today, the Staats­oper’s sets used to be stored. An unusual place, which was soon turned into an additional performance venue. The first production at the “Magazin” was Philemon und Baucis, an operatic fragment by Haydn for which the Greek composer Konstantia Gourzi had written a contemporary companion piece. Polzin designed the stage, placing the audience at an angle above the orchestra. The musicians were seated on a platform painted like a friendly sky—playing in the clouds. Now Alexander Polzin has peopled the foyer of the Pierre Boulez Saal with several of his sculptures. Once again, there seem to be celestial, angelic beings among them. Polzin frequently ventures outside the ­refrigerated spaces of conventional art presentation, seeking out literature, music, and science. His is an art that wants to interfere, always emphasizing a haptic element. The dedications and titles of his works offer pointers as to the hidden contexts of their genesis. The sculpture Requiem, for example, reflects a dialogue with the composer György Kurtág, a friend of Polzin’s for more than 20 years. This angular, eccentric family of angels now watching over one of the entrances to the concert hall is Polzin’s sculptural echo of various compositions Kurtág has dedicated to him. Polzin’s winged beings do not remain frozen in contemplative grief but look straight at us, a challenge in their mask-like faces, and seem to ask: what next—how can things continue after the unspeakable? The Romanian philosopher, art historian and politician Andrei Pleșu describes Polzin’s approach as follows: “To sculpt angels, or in other words: to give body to the unembodied, is a gesture that touches upon

so charakterisiert: „Deine Arbeit erinnert mich an das ‚non finito‘ bei Michelangelo. Viele seiner Figuren bleiben im Stein stecken und wollen aus ihm heraus. Seine letztes Werk, die Pietà Rondanini, ist unvollendet, und doch ist sie in gewisser Weise viel eindrucksvoller als der vollendete David, der so vollendet ist, dass man im Grunde alles sieht. Bei den anderen Figuren sieht man das, was man empfindet. Diese Gebärden in der dreidimensionalen Bildproduktion verstehe ich als Pathos-Gebärden im ursprünglichen Sinne: Pathos als Leiden und als Auflehnung. Ich sehe das in ­vielen deiner Werke. Sie zeigen mehr als das, was sie tatsächlich zeigen.“ Es ist sicherlich kein Zufall, dass Polzin gelegentlich auch Räume für große Opernbühnen entwirft und uns so auf ganz unterschiedliche Weise dazu einlädt, Zeuginnen und Zeugen seiner Arbeit am Gesamtkunstwerk zu werden.

utopia and harbors a heretical risk […]. In Polzin’s version, their faces have an archaic acerbity, a barbarian brutality reminiscent of sculptures of the culture of the Cyclades. What we encounter here is the opposite of sugariness, of rosy sentimentality; instead, we are closer to Rilke’s insight: ‘Every angel is terrifying…’. Observing Polzin’s ­angels, art lovers will find innumerable inspirations for joy and reflection. As for myself, I am at a slight disadvantage: I am unable to feel unadulterated joy, ­because I must admit to some jealousy as well.” Hidden and mirrored, the bronze Parthenope, placed at the center of the foyer, questions the various levels of our perception as well. Only by going beyond our first impressions, we may be able to discover the hidden part of this sculpture. It is a journey that can’t be accomplished without curiosity—the work refuses to accede to the immediate accessibility we are accustomed to from our daily visual media. Parthenope is the name of one of the sirens in Greek mythology who ended their lives by throwing themselves into the sea. Perhaps she was tired of the calamitous beauty of her own singing? The art historian Hans Belting characterized the complexity and hidden aspects of Polzin’s work in an interview with the artist: “Your work reminds me of Michelangelo’s ‘non finito.’ Many of his figures remain stuck in the stone and are trying to get out. His last work, the Pietà Rondanini, is unfinished, yet in certain ways it is far more impressive than the completed David, which is so perfect that you can basically see everything. In the other figures, you see what you feel. I consider these gestures in three-dimensional imagery to embody pathos in the original sense: pathos as suffering and revolt. I see that in many of your works. They reveal more than what they actually show.” Surely it is no coincidence that Polzin occasionally designs sets for major operatic stages, inviting us in very different ways to bear witness to his striving for the total work of art.

Manuela Hoelterhoff

Shooting Clouds I – Hommage à András Schiff 2015, Bronze 230 x 40 x 40 cm © Klaus Michalek

Beethoven Study 2017, Bronze, 153 x 20 cm © Klaus Michalek

Translation: Alexa Nieschlag

Parthenope (Hommage à Lachenmann) 2012, Bronze 310 x 120 cm © Barbara Luisi

Fünf skulpturale Skizzen zu Caravaggios David mit dem Kopf des Goliath – Hommage à Antjie Krog 2012, Bronze 36 x 21 x 20 cm (fünf Skulpturen auf Lichttisch) © Klaus Michalek

Shooting Clouds II – Hommage à András Schiff’ 2014, Bronze 80 x 70 x 210 cm © Klaus Michalek

alexanderpolzin.com


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