Edward W. Said Days - Culture and Power

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„Chaos statt Musik“ Zum Konzertprogramm

„Wir sind gute Revolutionäre, aber wir fühlen uns verpflichtet zu beweisen, daß wir auf ‚der Höhe zeitgenössischer Kultur‘ stehen. Ich habe den Mut, mich als ‚Barbar‘ zu zeigen. Ich kann die Werke des Expressionismus, Futurismus, Kubismus und anderer Ismen nicht als höchste Offenbarungen des künstlerischen Genies preisen. Ich verstehe sie nicht. Ich habe keine Freude an ihnen. … Man soll Schönes erhalten, zum Muster nehmen, daran anknüpfen, auch wenn es ‚alt‘ ist. … Warum das Neue als Gott anbeten, dem man gehorchen soll, nur weil es ‚das Neue‘ ist?“1 Diese Worte Wladimir Lenins, die von Clara Zetkin in ihren ­Erinnerungen an Lenin überliefert wurden, stellen eine Essenz des späteren Sozialistischen Realismus dar, des idealisierten Kunststils, der die moderne Abstraktion zugunsten des „Realistischen“ – das heißt des „Realistischen“, wie es vom sowjetischen Staat gutgeheißen wurde – verwarf. Lenins Worte legen dem Traditionalismus das Gewand der Revolution an, und die Durchsetzung dieser ästhetischen Philosophie mithilfe eines Apparats totalitärer Überwachung und Propaganda hat die Biografie des meistaufgeführten Komponisten der Sowjetunion, Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch, geformt und geprägt. Für diesen einzigen Komponisten der Sowjetunion, der zu Lebzeiten international eine unumstritten führende Position in der Musik einnahm,2 begannen die Schwierigkeiten mit den sowjetischen Behörden, nachdem Joseph Stalin und seine Gefolgsleute 1936 bei einem Festival sowjetischer Musik in Moskau eine Aufführung ­seiner Oper Lady Macbeth von Mzensk gesehen hatten. Die Oper ­beruht auf einer Novelle von Nikolai Leskow aus dem 19. Jahr­ hundert und stellt die Protagonistin der Handlung als emanzipierte Heldin der sowjetischen Gesellschaft dar. Stalin sah das anders.

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Donnerstag 30. September


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