Kammerakademie Potsdam & Antonello Manacorda

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Kammerakademie Potsdam & Antonello Manacorda EinfĂźhrungstext von / Program Note by Thomas May



Kammerakademie Potsdam & Antonello Manacorda Sonntag

17. Februar 2019 18.00 Uhr

Antonello Manacorda Musikalische Leitung

Richard Wagner (1813–1883) Siegfried-Idyll WWV 103 (1870) Ruhig bewegt – Lebhaft – Sehr ruhig

Arnold Schönberg (1874–1951) Kammersymphonie für 15 Soloinstrumente op. 9 (1906/12) Langsam – Sehr rasch

Pause

Ludwig van Beethoven (1770–1827) Symphonie Nr. 4 B-Dur op. 60 (1806)

I. Adagio – Allegro vivace II. Adagio III. Menuetto – Trio. Allegro vivace – Un poco meno allegro IV. Allegro ma non troppo

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Das Vertraute und das Neue Musik von Wagner, Schönberg und Beethoven

Thomas May

Als sich im Laufe des 19. Jahrhunderts das Erleben von Musik aus den begrenzten Sphären von Kirche, herrschaft­ lichem Palast und häuslicher Umgebung in größere Konzertsäle verlagerte, begannen räumliche Dimensionen eine immer wichtigere Rolle zu spielen. Parallel dazu zog das romantische Verlangen nach neuen, reicheren Klangfarben eine Vergrößerung des Orchesterapparats nach sich. Richard Wagner selbst regte gar die Konstruktion eines Blechblasinstruments an, um seine klanglichen Vorstellungen für den Ring des ­Nibelungen zu verwirklichen. Die von ihm und seinen Anhängern propagierte revolutionäre „Zukunftsmusik“ ließ gleich­zeitig auch die formalen Maßstäbe ins Riesenhafte wachsen, sowohl in Wagners eigenen Opern wie auch in den Symphonien seiner Bewunderer, darunter Bruckner und Mahler. Doch das Klischee von der schwerfälligen Wagnerischen Monumentalität fällt in sich zusammen, betrachtet man die zahllosen Momente berückend feinsinniger, kammermusikalischer Texturen, die sich in seinen Partituren finden. Für ihren ersten Besuch im Pierre Boulez Saal haben ­Antonello Manacorda und die Kammerakademie Potsdam ein Programm aus symphonischen Kammermusikwerken zusammengestellt, das mit Wagners eigener „Umdeutung“ einiger der schönsten Momente aus dem Ring für Kammerorchester beginnt – neu verpackt als Liebesbrief und ganz persönliches Geburtstagsgeschenk für seine Frau Cosima. Arnold Schönberg wusste um den Reiz der noch weiter reichenden orchestralen Ambitionen der Wagner-Nach­ folger wie Richard Strauss, und doch bezog er – zusätzlich zum Einfluss Wagners in seinen frühen Werken – auch die musikalischen Mittel des künstlerischen Gegenpols und ­angeblichen „Widersachers“ Brahms in seine Werke ein. ­Eines der Ergebnisse war die an innovativen wie paradoxen 5


Elementen reiche Kammersymphonie op. 9, die dem Verständnis der Jahrhundertwende, dass alles Große automatisch großartig sein muss, auf radikale Weise den Rücken kehrte. Diese schiefe Perspektive erstreckte sich selbst auf den ­Umgang mit der musikalischen Vergangenheit: Künstler wie Mahler schufen Neuinstrumentierungen von Beethoven-­ Symphonien, um sie dem Zeitgeschmack anzupassen. Doch insbesondere Werke wie seine Vierte Symphonie erscheinen wie von neuem Geist und neuer Brillanz beseelt, wenn sie mit besonderem Gespür für die klassische Trans­parenz von musikalischer Faktur und Farbe zur Aufführung gebracht werden, die die Klangwelt des ­jungen Beethoven bestimmte. Morgenständchen und symphonischer ­Geburtstagsgruß: Wagners Siegfried-Idyll

Künstlerisches und familiäres Glück

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Als Schöpfer des Ring des Nibelungen war Richard Wagner die große Geste nicht gerade fremd. Doch er verstand es auch, auf ganz persönliche, intime Weise musi­ kalischen ­Eindruck zu machen. Am Weihnachtsmorgen des Jahres 1870 hob er das Siegfried-Idyll auf der Taufe als Ständchen für ­Cosima, seine Gefährtin und frisch angetraute Ehefrau. ­Tatsächlich fiel Cosimas Geburtstag auf den 24. Dezember, doch pflegte sie ihn – ihrem Mann in puncto Sendungsbewusstsein in nichts nachstehend – erst am folgenden Tag zu feiern. Der Anlass war 1870 ein besonders freudiger. Im August hatte Wagner im nahen Luzern Cosima endlich heiraten können und damit ihre skandalumwitterte Beziehung (die zu gefährlichen Spannungen zwischen ihm und seinem Gönner, König Ludwig von Bayern, geführt hatte) legitimiert.Vor allem aber hatte der Komponist, dessen Existenz oft chaotisch und von Krisen geschüttelt war, ein gewisses Gleichgewicht gefunden, nachdem er mit seiner Familie eine am Ufer des Vierwaldstätter Sees gelegene Villa im schweizerischen Tribschen bezogen hatte. Vor diesem friedvollen Hintergrund fand Wagner die ­nötige Ruhe, um sich endlich wieder seinem seit langem unterbrochenen Ring-Projekt zuzuwenden. 1869 vollendete er den dritten und letzten Akt des Siegfried, und in Tribschen kam, ebenfalls im Sommer 1869, auch sein und Cosimas einziger Sohn zur Welt. Die Geburt Siegfried Wagners – für den der jugendliche Held des Rings zum Namenspatron


wurde – leitete für den ruhelosen Komponisten eine neue Periode des Optimismus und der ungewohnten häuslichen Zufrieden­heit ein. All diese glücklichen Assoziationen – Wagners Liebe zu Cosima, die Wiederaufnahme der Arbeit an seinem opus magnum und ein neugeborenes Kind – kommen zusammen im einsätzigen Siegfried-Idyll. So jedenfalls lautet die all­ge­ meine Auffassung. (Der umstrittene Biograph Joachim Köhler stellte dieses Bild familiärer Glückseligkeit mit einer gewissen Boshaftigkeit in Frage, indem er hinter dem Geheimnis ein weiteres Geheimnis vermutete: Wagners Liebe könne hier auch der jungen „Sphinx“ Judith Gautier ge­golten haben, die kurz zuvor in Tribschen zu Gast gewesen war.) Der ursprüngliche Titel des Komponisten, wie er sich in der autographen Partitur findet, lautet „Tribschener Idyll mit Fidi-Vogelgesang und Orange-Sonnenaufgang als symphonischer Geburtstagsgruss seiner Cosima dargebracht von ihrem Richard, 1870“. Fidi war der Spitzname des Jungen, und das Paar hatte gemeinsam das Leuchten des Sonnen­ aufgangs bewundert, das sich in der orangefarbenen Tapete ihres Schlafzimmers spiegelte. In ihrem Tagebuch beschreibt Cosima, wie sie zu den Klängen einer Musik erwachte, die wie aus einem Traum zu kommen schien. Tatsächlich war es das Kammerensemble, das ihr Mann auf der Treppe der Villa zusammengerufen hatte. (Während der folgenden Weihnachtstage wurde das von der Familie auch „Treppenmusik“ genannte Stück weitere zwei Male gespielt.) Als Gelegenheitswerk für einen bestimmten Aufführungsort entstanden, war das Werk gleichzeitig auch als persönliche Liebeserklärung gedacht. Im Jahr 1878, unter der Last der Schulden, die die Uraufführung des Rings verursacht hatte, sah Wagner sich allerdings gezwungen, die Partitur zu veröffentlichen und gab ihr dafür den Titel Siegfried-Idyll. Dieser „symphonische Geburtstagsgruß“ vereinigt musikalische Gedanken, die Wagner im Liebesduett zwischen Siegfried und Brünnhilde im dritten Akt der vorletzten RingOper verwendet hatte. (Die Oper selbst harrte zu diesem Zeitpunkt noch ihrer ersten Aufführung.) Doch in diesem Zusammenhang gewinnt die episch ausladende Musik des Siegfried eine Aura von großer Initimität. Wagner, der Hohepriester der „Programmmusik“, schuf hier eine rein instrumentale Komposition, die ganz ohne Worte auskommt. Sie orientiert sich in groben Zügen sogar an der Sonaten7


form – einem Relikt der Vergangenheit, das Brahms und die Verfechter der „absoluten Musik“ so hoch schätzten und das durch Wagners Zukunftsmusik angeblich obsolet geworden war. Eine wiegenliedähnliche Stimmung bildet den Hintergrund, vor dem die Streicher das Hauptthema intonieren. Wagner assoziierte diese sanfte, warme Melodie mit Cosima und verewigte sie später in dem Teil des Siegfried-Duetts, das mit Brünnhildes Worten an den jungen Helden beginnt, der sie aus dem Schlaf erweckt hat: „Ewig war ich, ewig bin ich.“ Teil des musikalischen Materials sind auch ein volkstümliches Wiegenlied und andere Motive aus Siegfried, darunter der Gesang des Waldvogels aus dem „Waldweben“ im zweiten Akt, der Szene, in der Siegfried Zwiesprache mit der Natur hält, und das hypnotische Schlafmotiv – musikalischer Ausdruck des Zustands, in den Brünnhilde für ihren Un­gehorsam gegenüber ihrem Vater Wotan versetzt worden ist. Ambivalenz und Durchsichtigkeit: Schönbergs Kammersymphonie Arnold Schönbergs Kammersymphonie op. 9 stellt sich den gigantomanischen Tendenzen der Spätromantik entgegen – Tendenzen, denen der Komponist selbst in seiner (damals noch unvollendeten) Kantate Gurre-Lieder folgte und die aus Wagners Erweiterung des Orchesters und des musikalischen Zeitempfindens hervorgegangen waren. Diese Partitur, im Jahr 1906 innerhalb weniger Monate wie in ­fieberhafter Eile komponiert, zeigt, dass der junge Schönberg die spätromantische Perspektive, wie sie sein älterer Kollege Richard Strauss repräsentierte, nach einigem Herumexpe­ rimentieren bereits hinter sich gelassen hatte. Unmittelbar nach Voll­endung der Kammersymphonie widmete sich Schönberg über einen Zeitraum von mehreren Jahren der Aufgabe, der schönen neuen Welt der freien Atonalität – ein Begriff, den er freilich wenig schätzte und für irreführend hielt – den Weg zu bahnen. Doch auch ungeachtet dieser Entwicklungen stellt die Kammersymphonie für sich selbst betrachtet ein heraus­ ragendes, bahnbrechendes Werk dar, das gleichzeitig Aspekte früherer musikalischer Einflüsse, die zum künstlerischen Erbe des jungen Komponisten gehörten, neu durchdenkt. Die paradoxen Elemente, die dem Werk innewohnen, 8


Ein klanglicher RohrschachTest

haben eine Vielzahl späterer Komponisten beeinflusst – von Schönbergs eigenen Schülern Berg und Webern bis hin zu John Adams und anderen Post-Post-Minimalisten. Das Stück ist ein faszinierender klanglicher RorschachTest. Mancher vernimmt in dieser Partitur den letzten Atemzug romantischer Hypersensibilität; für andere stehen die neoklassizistische, an Brahms erinnernde Ökonomie der Mittel und die objektive, fast herbe Klanglichkeit im Mittelpunkt. Für diejenigen, die vor allem in Analogien zur bildenden Kunst denken, mag die Kammersymphonie den Eindruck einer Leinwand voll expressionistischer Eruption evozieren; wieder andere sehen darin ein Werk, das sich an der geo­metrischen Ordnung kubistischer Ver­ formungen orientiert. Schönberg geht es hier um Verknappung und Verdichtung. Aus diesem Impuls heraus erklärt sich seine Entscheidung, das Werk für ein kleines Ensemble aus 15 Solisten zu schreiben. (In der Folge schuf er verschiedene Fassungen der Kammersymphonie, darunter viel später in seiner Laufbahn auch eine für großes Orchester.) Der Komponist verdichtet das Erlebnis einer vollständigen Symphonie auf rund 20 Minuten. Strukturell lässt sich das Stück entweder als einsätzige Sonatenform mit mehreren Zwischenteilen deuten oder als ununterbrochene Symphonie mit einem ersten Satz (die auf eine kurze Einleitung folgende Exposition), einem Scherzo und Trio, einem langsamen Satz und einem Finale (Reprise). Doch das bedeutendste Moment des Neuen in der Kammersymphonie liegt in ihrer harmonischen Sprache und in der Art und Weise, mit der musikalische Gedanken entwickelt werden. Das Stück ist nicht per se ein „atonales“ Werk, doch stellt Schönberg Elemente in den Vordergrund, die tonale Mehrdeutigkeit hervorrufen: das Intervall der Quarte (sowohl aufsteigend als auch absteigend) und die Ganztonleiter. Nach einer kurzen Einleitung – die hier erklingende Kadenz auf einem F-Dur-Akkord, einen Halbton über der Grundtonart E-Dur, ist von rätselhafter Schönheit – schichtet Schönberg mehrere Quarten übereinander zu einer aufwärtsstürmenden Fanfare. Hierauf folgt das Hauptthema, das die Ganztonleiter mit Triolen und einem punktierten Rhythmus kombiniert. Diese klanglichen Gesten stellen die charakteristische harmonische Sprache des Werks vor und sorgen gleichzeitig für ein Gefühl von ungestümer Vorwärtsbewegung. 9


Die Musik ist von intensiver, sich überlagernder Aktivität. Sie scheint den Prozess der Entwicklung selbst zu reflek­ tieren. Das hypnotische zweite Thema, eine raffiniert gebaute Fortsetzung des auf den Kopf gestellten extrovertierten ­ersten Themas, verwandelt sich seinerseits wiederum in die lebhafte rhythmische Figur, die sich durch das entfernt an Mahler erinnernde Scherzo zieht. Schönbergs Kunst in der Kammersymphonie ist eine Kunst der Verschmelzung und der neuen Kombinationen. Dies zeigt sich vor allem in den abenteuerlich polyphonen Abschnitten, die abwechselnd mit den Zwischenteilen im „Scherzo“ und „langsamen Satz“ auftreten; an diesen Stellen löst die musikalische Hyperaktivität (sowohl vertikal wie auch horizontal) gleichermaßen Erschöpfung und Glücksgefühle aus – und vermittelt auf ihre Weise sogar einen ­Anflug von Humor. Der Komponist selbst sprach von den „zentrifugalen“ Tendenzen dieses thematischen Materials. Im Schlussabschnitt lässt Schönberg die Themen aus dem ersten Teil des Werks noch einmal zurückkehren, allerdings in umgekehrter Reihenfolge, so dass das heitere, „extrovertierte“ Triolen-Thema nun dem zweiten Thema folgt. Die abschließende, in ihrer Endgültigkeit fast brutal wirkende Kadenz nach E-Dur lässt die schroffe Energie der Kammersymphonie sich triumphal entladen. Zugleich bestätigt sie ironisch eine Grundtonart, in der Schönberg uns bis zu ­diesem Punkt nie hat heimisch werden lassen. Durchbrechen von Stereotypen: Beethovens Vierte Symphonie Dem Versuch Robert Schumanns, die unverwechselbare Aura der Vierten Symphonie Ludwig van Beethovens greifbar zu machen, verdanken wir einen berühmt-be­ rüchtigten Fall von Geschlechter-Stereotypisierung in der ­Musikkritik der Vergangenheit. Was unterscheidet die Vierte von den beiden sehr viel bekannteren kraftstrotzenden Symphonien, die rechts und links von ihr stehen? Schumann ­beschrieb die Vierte als „griechische schlanke Maid zwischen zwei Nordlandriesen“. Es ist bemerkenswert, dass er diese geschlechtsspezifische Metapher mit Anspielungen auf zwei unterschiedliche vorchristliche Glaubenssysteme verbindet – die griechische Antike und den nordischen Mythos – und diese zur Charakterisierung sowohl der epischen Kraft der 10


Subtile Dramatik, verblüffende Kontraste

Dritten Symphonie (der „Eroica“) als auch der verdichteten Dramatik der Fünften verwendet. So anschaulich es ist, hat das Bild von der Vierten als griechischer Maid zu einer beklagenswerten „Entweder-­ Oder“-Dichotomie in der Wertschätzung der Beethovenschen Symphonien beigetragen. Sie beförderte die Neigung, die als radikal, bahnbrechend oder „prometheisch“ angesehenen Werke (die Symphonien mit ungeraden Nummern) den als eher konservativ oder gar reaktionär geltenden ­vorzuziehen (was insbesondere für die Zweite,Vierte und Achte Symphonie gilt, die in der Gunst des Publikums tatsächlich im Schatten ihrer Schwesterwerke stehen). Tatsächlich war Beethoven – wie es Schumann selbst in seinen Schriften über seinen Vorgänger sehr wohl zum Ausdruck brachte – unermüdlich auf der Suche nach neuen, andersartigen Lösungen für kompositorische Herausforderungen. Dieser Drang bedarf zu seiner Erklärung keineswegs des Rückgriffs auf ein anderes Stereotyp: das von ­Beethoven als angriffslustigem Regelbrecher. Dem Stereotyp zufolge vollzieht die Vierte Symphonie eine Rückkehr zu ver­trau­teren, klassischen Modellen und repräsentiert ein „Nach­lassen“ der dramatischen Spannung, die die Triebfeder von Beethovens heroischen Stil bildet (und deshalb bedarf sie keiner „zusätzlichen“ Instrumente, im Gegensatz zur „Eroica“ und zur Fünften). Eine solche Interpretation lässt jedoch die erstaunliche Originalität der Vierten außer acht. Die Art und Weise, in der Beethoven hier innovative Wege beschreitet, mag ­weniger offensichtlich und aggressiv sein als etwa im Fall der „Eroica“ – doch macht sie das keinesfalls weniger stichhaltig. Die I­ nstrumentation der Vierten zum Beispiel (die nur eine einzige Flöte verlangt) ist transparenter, „kammermusikalischer“ als die ihrer unmittelbaren Nachbarn; doch erlaubt dieses „neoklassische“ Moment ihres Klangs gleichzeitig verblüffende Kontrasteffekte zwischen Solopassagen und Unisono-­Ausbrüchen. Aus Musikersicht können Teile dieser Partitur durchaus zum technisch Anspruchsvollsten im Werk Beethovens überhaupt gerechnet werden. In der Vierten Symphonie entwickelt Beethoven die von seinen Vorbildern – insbesondere Haydn – artikulierte expressive Sprache weiter. Die ausgedehnte Adagio-Eröffnung mag auf den ersten Blick eine Rückkehr zur langsamen Einleitung signalisieren, wie Beethoven sie in seinen ersten beiden Symphonien komponiert hatte – und damit eine 11


Schatten und Licht

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Rückkehr zu dem, worin das zeitgenössische Publikum als offensichtliches Vorbild Haydns „Londoner“ Symphonien erkennen musste. Doch Beethoven arbeitet diese langsame Einleitung zu einem fesselnden Drama von anhaltender, ­geheimnisvoller Spannung aus – ein klangliches Tasten hin zum Licht, von dem noch Mahler einiges lernen sollte. Die dunkel getönten Harmonien dieses Adagios werfen gleichsam einen Schatten, der das unmissverständlich strahlende B-Dur, mit dem das Allegro vivace anhebt, nur noch intensiver erscheinen lassen. Was für ein packender Moment der Befreiung – gleich zu Beginn der Symphonie! Der ­britische Musikwissenschaftlers Robert Simpson hat es so formuliert: „Die Musik tritt aus undurchdringlicher Dunkelheit hinaus ins gleißende Sonnenlicht, dessen Klarheit in der Folge durch vorbeiziehende Wolkenschleier stets gewahrt bleibt.“ In der Vierten, so wird deutlich, treffen wir auf „ebenso viele dramatische und heroische Momente wie in der Dritten und Fünften Symphonie – nur sind sie schwerer zu fassen.“ Diese dramatischen Momente treten zutage in Beethovens Umgang mit dem musikalischen Material – wie etwa das langgezogene Crescendo im Hinleiten auf die Reprise (wobei der Pauker eine zentrale Rolle spielt). Jeder Satz besitzt ein ausgeprägtes rhythmisches Profil. In dieser Hinsicht weist die Vierte zudem auf die Siebte voraus – die einzige der späten Symphonien Beethovens mit einer langsamen Einleitung vergleichbaren Umfangs. Das Adagio etwa baut auf einem mechanisch-repetitiven rhythmischen Gedanken auf (Tonika gegen Dominante), der von einer der bezauberndsten Melodien kontrapunktiert wird, die Beethoven je geschrieben hat. Ihre fließenden Verzierungen wiederum nehmen die Stimmung vorweg, der wir später in der Szene am Bach aus der Sechsten Symphonie (der „Pastorale“) ­begegnen. Das überschwänglich-wilde Scherzo fällt durch geschickten Einsatz von Synkopierungen, dynamischen Kontrasten und harmonischen Überraschungen auf. Die Regelmäßigkeit des Metrums im Trio-Mittelteil, für den Beethoven eine Wiederholung vorschreibt, erweckt den Eindruck komischer Naivität, die gleichsam als Folie für die vertrackten Rhythmen des Scherzos dient. Die ohrenfälligste Hommage Beethovens an Haydn bildet das auf einem wirbelnden Perpetuum-Mobile-Thema ­basierende Finale. Doch Beethovenscher Humor verbreitet


sich hier nahezu ungezügelt, und die von Schumann beschworene grazile, „feminine“ Anmut der klassischen griechischen Maid scheint meilenweit entfernt.Vielmehr begegnen uns in der Vierten Symphonie Ying und Yang, Schatten und Licht – bevor das Werk mit einem letzten musikalischen Scherz schließt. Übersetzung: Philipp Brieler

Thomas May ist freiberuflicher Autor, Kritiker, Dozent und Übersetzer; seine Artikel erschienen in der New York Times und in Musical America. Er schreibt regelmäßig ­Einführungstexte für das Lucerne Festival, die Metropolitan Opera und die Juilliard School und hat die Bücher Decoding Wagner und The John Adams Reader veröffentlicht.

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Intimacy and Innovation Music by Wagner, Schoenberg, and Beethoven

Thomas May

Size began to matter in some striking ways during the course of the 19th century, as the experience of music moved beyond the confines of churches, privileged palaces, and domestic settings into larger concert halls. Meanwhile, the Romantic hunger for novel, enriched sonorities fostered an expansion of the orchestra. Wagner himself even called for the invention of a brass instrument so as to realize the soundscape he imagined for his Ring cycle. The revolutionary “music of the future” he and his followers promoted similarly pressured formal dimensions to inflate, both in Wagner’s own operas and in the symphonies of such admirers as Bruckner and Mahler. Yet the clichés of ponderous Wagnerian grandiosity are belied by the countless moments of exquisitely sensitive, chamber-like textures that grace his scores. For their first trip to the Pierre Boulez Saal, Antonello Manacorda and the Kammerakademie Potsdam have put together a program of chamber-symphonic works beginning with Wagner’s own chamber orchestra “rethink” of some of his most beautiful music from the Ring—transformed into an intimate love letter/birthday present for his wife Cosima. Arnold Schoenberg knew the appeal of the even-moregigantic orchestral ambitions of such Wagnerian successors as Richard Strauss, yet he integrated the allegedly “enemy” counterpart of Brahmsian musical methodology alongside the Wagner influences of his early period. One result was the innovative, paradox-rich Chamber Symphony Op. 9, which radically renounces fin-de-siècle implications that what is Big must be Great. That bias meanwhile had infiltrated even the appreciation of music from the past, with such figures as Mahler rescoring and beefing up Beethoven symphonies. But works like the Fourth Symphony in particular shine with renewed wit and brilliance when performed with a 15


sensitivity to the Classical transparency of texture and color that informed the sound world in which young Beethoven came of age. A Tender Aubade and Symphonic Birthday Greeting: Wagner’s Siegfried Idyll

Joyful associations

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As the artist who conceived the Ring, Richard Wagner knew something about making grand impressions. But he was also capable of doing so in a tenderly personal, intimate way. On Christmas morning in 1870, he unveiled the ­Siegfried Idyll as a serenade (or, more precisely, “aubade”—an aubade being associated with morning) for Cosima, his life companion and new wife. Cosima’s birthday was actually December 24, yet—her sense of messianic entitlement fully matching that of her new husband—she was in the habit of celebrating on the following day. The occasion proved particularly joyful in 1870. In August, Wagner had at last been able to marry Cosima in one of nearby Lucerne’s churches, legitimizing their scandal-causing relationship (a source of dangerous friction with his patron, King Ludwig of Bavaria). What’s more, the composer had achieved a sense of relative equilibrium in his otherwise chaotic, crisis-ridden existence, resettling the family in a beautiful lakeside villa in Tribschen, Switzerland. With this tranquil setting as a backdrop, Wagner found the calm he required to concentrate once again on his longinterrupted Ring project. In 1869 he completed the third and final act of Siegfried there, and Tribschen was where his only son with Cosima was born (also in the summer of 1869). The birth of Siegfried Wagner, named after the Ring’s young hero, heralded a new period of optimism and unwonted domestic contentment for the restless composer. All of these joyful associations—Wagner’s love of Cosima, a fresh lease on life for his magnum opus, and the new baby— mingle together in the single-movement Siegfried Idyll. That’s the consensus image, at any rate. (With a bit of gleeful malice, the controversial biographer Joachim Köhler questioned this picture of domestic bliss by intimating a ­secret hidden within the secret: Wagner’s love here may also be directed at the young “sphinx” Judith Gautier, a recent visitor to Tribschen). The composer’s initial title, inscribed on the autograph score, was “Tribschen Idyll with Fidi-Birdsong and Orange


A musical love letter

Sunrise, presented as a symphonic birthday greeting to his Cosima by her Richard, 1870.” The boy’s nickname was Fidi, and the couple privately marveled at the brilliantly glowing sunrise as it reflected off the orange wallpaper of their bedroom. In her diary, Cosima reports awakening to the strains of music she believed was coming from a dream. What she heard was the chamber ensemble her husband had put ­together to play on the villa’s staircase. (Christmas proceeded with two more performances of what they sometimes ­referred to as the “Treppenmusik,” or “Staircase Music.”) Created as a kind of site-specific, occasional composition, the piece also served as a private love letter. But in 1878, overshadowed by the crushing debts accumulated during the debut of the Ring, Wagner was forced to publish the score to generate i­ncome, renaming it Siegfried Idyll. This “symphonic birthday greeting” draws together musical ideas Wagner used for the third-act love duet between Siegfried and Brünnhilde in the penultimate Ring opera. (At the time, the opera had not yet been performed.) But in this context, the epic Siegfried music acquires an aura of intimacy. Wagner, the archpriest of “programmatic” music, here pens a wordless, purely instrumental composition. It even loosely adheres to sonata form—a relic of the past so revered by Brahms and the advocates of “absolute music” that allegedly had been rendered obsolete by Wagner’s music of the future. Against a lullaby-like atmosphere, the strings intone the main theme. This warm melody in E major was one Wagner associated with Cosima and subsequently immortalized in the section of the Siegfried duet that starts with Brünnhilde’s words to the young hero who has awakened her from her slumber: “Ewig war ich, ewig bin ich” (“I was, I am, eternally [yours]”). Also part of the motivic fabric are a folk lullaby and other Siegfried motifs, such as the birdsong from the “Forest Murmurs” scene in the second act, in which Siegfried communes with nature, and the hypnotic sleep motif ­indicating the state to which Brünnhilde has been consigned for disobeying her father, Wotan.

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Clarity, Paradox, and Novelty: Schoenberg’s Chamber Symphony

A sonic Rohrschach test

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Arnold Schoenberg’s Chamber Symphony Op. 9 r­ epudiates the gigantizing tendencies of late Romanticism—tendencies that the composer himself followed in his (at this time still incomplete) cantata Gurre-Lieder and that grew from the Wagnerian expansion of the orchestra and of the sense of musical time. This score, composed at fever pitch within a few months in 1906, shows that the young Schoenberg had already reached a point of trying out and then renouncing the late/post-Romantic outlook represented by his older colleague Richard Strauss. Immediately after Op. 9, over a period of several years, Schoenberg would pioneer the brave new world of free atonality (a term he ­always disdained, deeming it a misguided misnomer). Even notwithstanding those developments, the Chamber Symphony on its own stands out as an extraordinarily innovative work that, at the same time, reconsiders aspects of the earlier musical impetus the young composer had inherited. The work’s paradoxes have influenced a rich variety of later composers—from Schoenberg’s own students, Berg and ­Webern, to John Adams and other post-post-Minimalists. It’s an intriguing sonic Rorschach test. Some hear this score as a last gasp of Romantic hypersensitivity; some focus on its neoclassical, Brahmsian economies and its objective, almost astringent sonorities. For those inclined to analogies from the visual arts, the Chamber Symphony evokes perhaps a canvas splashed with white-hot Expressionist outbursts; still others perceive a work arranged geometrically into Cubist dislocations. Schoenberg’s emphasis here is on concision and compression. This impulse explains his decision to score the work for a small ensemble of 15 soloists. (He would go on to re-orchestrate several versions of the Chamber Symphony, including one for full orchestra much later in his career.) The composer compresses the experience of a full-scale symphony into 20-some minutes. Formally, the piece can be parsed ­either as a single-movement sonata with several interludes or as a seamless symphony encompassing a first movement (the exposition, following a brief introduction), a scherzo and trio, a slow movement, and a finale (the recapitulation). But the Chamber Symphony’s most profound novelty lies in its harmonic language as well as in its method of


d­ eveloping musical ideas. This isn’t an “atonal” piece per se, but Schoenberg gives prominence to elements that introduce tonal ambiguity: the interval of the fourth (both ­ascending and descending) and the whole-tone scale. Following a short introduction, with its mysteriously beautiful ­cadence on an F-major chord (a half-step from the Chamber Symphony’s home key of E major), Schoenberg stacks a ­series of ascending fourths on top of each other to create a rousing fanfare. The first main theme follows, combining the whole-tone scale with triplets and a dotted rhythm. These gestures introduce both the piece’s characteristic ­harmonic language and a sense of impetuous, forward-driving motion. This is music of intense, overlapping activity. It seems to mirror the process of evolution itself. The hypnotic second theme, a subtly arranged extension of the extroverted first theme turned upside-down, in turn metamorphoses into the jaunty rhythmic figure that threads through the scherzo, which hints at touches of Mahler. Schoenberg’s art in the Chamber Symphony is one of ­fusion and new combinations. This is evident above all in the polyphonic adventures that occur between the “scherzo” and “slow movement” interludes, where the musical hyperactivity (vertical and horizontal) is as exhausting as it is ­exhilarating—and even humorous, in its way. The composer himself referred to the “centrifugal” tendencies of his thematic material. In the final section, Schoenberg summons back the themes from the first part of the work, though in reverse order, with the jaunty, “extroverted” triplet theme now following the second theme. The final, almost violently conclusive ­cadence into E major gives the Chamber Symphony’s jagged energies a triumphant resolution. At the same time, it’s an ironic affirmation of a home key in which Schoenberg has hitherto never allowed us to settle comfortably. Subverting Stereotypes: Beethoven’s Genius of Invention in the Fourth A notorious instance of gender stereotypes from the music criticism of the past can be found in Robert Schumann’s attempt to come to terms with the unique aura of Ludwig van Beethoven’s Symphony No. 4. What differentiates the Fourth from the two far-more-famous 19


Astonishing originality

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powerhouse symphonies surrounding it? Schumann characterized the Fourth as “a slender Greek maiden between two Norse giants.” It’s curious that he interlaces his genderbased metaphor with allusions to two separate paganisms— Greek antiquity versus Nordic myth—and uses the latter to account both for the epic energy of the Third Symphony (“Eroica”) and for the condensed drama of the Fifth. Colorful as this is, the Fourth-as-Greek-maiden image has helped reinforce an unfortunate either/or dichotomy as to the value of Beethoven’s symphonies. A bias has resulted that tends to favor the works perceived as radical, trail-­ blazing, or “Promethean” (the odd-numbered symphonies) over those often assumed to be more conservative or even reactionary (especially the Second, Fourth, and Eighth, whose reputation with the general public indeed remains overshadowed by that of their companions). Yet, as Schumann himself articulated in his writings on his predecessor, Beethoven was tirelessly driven by the search for new and different solutions to compositional challenges. That drive need not be predicated on another stereotype: Beethoven as feisty rule-breaker. According to the stereotype, the Fourth Symphony enacts a return to more-familiar Classical patterns, representing a “relaxation” of the dramatic tension that is the engine of Beethoven’s heroic style (and necessitating no “extra” instruments, in contrast to the ­“Eroica” and Fifth). Such an interpretation, however, overlooks the Fourth’s own astonishing originality. Beethoven’s ways of achieving innovation here may be less obviously aggressive than what we encounter, say, in the “Eroica”—but that does not make them any less robust. The instrumentation, for example, is more transparent, more “chamber-like,” in the Fourth (which calls for a single flute) than in its neighbors; yet this “neoclassical” aspect of its sound world allows for startling effects of contrast between solo passages and full-on unison outbursts. From the players’ perspective, parts of this score might well rank among the most technically difficult in all Beethoven. In the Fourth Symphony, Beethoven transforms the expressive language articulated by his models—Haydn above all. At first, the long Adagio opening might seem to signal a return to the use of a slow introduction, which Beethoven had employed in his first two symphonies—and, by extension, a return to what for contemporary audiences was


the obvious model of Haydn’s “London” Symphonies. But ­Beethoven elaborates this slow introduction into an arresting drama of sustained suspense and mystery—a sonic groping toward the light from which Mahler would learn much. The dark harmonies of this Adagio cast a shadow that only intensifies the unequivocal blaze of B-flat major with which the Allegro vivace is launched. What a thrilling sense of release—and so early in the symphony! Observes the British musicologist Robert Simpson: “The music emerges from an impenetrable blackness into gleaming sunlight whose vividness is thereafter constantly preserved by passing patches of cloud.” The Fourth, it turns out, does contain “as much drama as the heroics of the Third and Fifth symphonies, albeit of a more elusive kind.” That drama comes to the fore in Beethoven’s treatment of this material—for example, the stretched-out crescendo in the build-up to the reprise (in which the timpanist plays a leading role). Each movement is given a striking rhythmic profile. In this regard, the Fourth also looks ahead to the Seventh—Beethoven’s only later symphony with a similarly prolonged slow introduction. The Adagio, for ­example, exploits a mechanically repetitive rhythmic idea (tonic against dominant), which is counterpointed against one of the b­ ellishments, meanwhile, anticipate the flavor we later encounter in the brookside scene from the Sixth (“Pastoral”) Symphony. The rambunctious scherzo makes deft use of syncopation, dynamic contrast, and harmonic surprise. The regularity of meter in the central trio, which Beethoven asks to be played twice, has an effect of comic naïvete, serving as a foil to the tricksterish rhythms of the scherzo itself. It is in the finale, based on a churning, perpetual-motion theme, that Beethoven pays most overt homage to Haydn. Beethovenian humor, though, becomes nearly unbridled, a far cry from the delicately “feminine” charms posited by Schumann’s classical Greek maiden. Instead, the Fourth ­encompasses yin and yang, shadow and light—all delightfully capped by a final, resounding joke.

Thomas May is a freelance writer, critic, educator, and translator whose work has ­appeared in The New York Times and Musical America. He regularly contributes to the programs of the Lucerne Festival, Metropolitan Opera, and Juilliard School, and his books include Decoding Wagner and The John Adams Reader.

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