Wo sich Gottfried nicht über den Stutz ärgert,bin ich am richtigen Ort.
Olten, Donnerstag, 25. November 2021 | Nr. 47 | 89. Jahrgang | Auflage 34 383 | Post CH AG
Irène Dietschi
Der Fälscher
Irène Dietschi, Journalistin. (Bild: Daniela Friedli)
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Mit Greifer, Fahrrad und Leiterwagen machte sich Marcel Reichen seit letztem Sommer zum Abfallsammeln auf. (Bild: Franz Beidler)
Der für den Müll tanzt «JEDER QUADRATMETER ZÄHLT» Marcel Reichen sammelt Abfall an Gewässern und verkauft ihn im Quadratmeter. «Jeder Quadratmeter zählt» nennt er das gemeinnützige Projekt. Es endet im Dezember mit einer Ausstellung. FRANZ BEIDLER
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arcel Reichen steht in der Tiefgarage hinter der Tankstelle an der Oltnerstrasse in Aarburg. Vor ihm liegt ein Haufen Abfall: PET-Flaschen, Veloreifen, Unterhosen, ein alter Laptop, zerrissene Schnürsenkel, eine Autobatterie, ein Kinderreisebett. Darum schlingen sich zerfledderte Plastikstücke in allen Farben und Grössen. Mit einem Greifer stochert Reichen im Haufen herum und zupft ihn zu einem ebenmässigen Teppich zurecht. Dann misst er mit einem Holzrahmen die Quadratmeter des rechteckig ausgebreiteten Abfalls nach und fotografiert ihn. So entstanden die Abfall-Zertifikate, die der 53-jährige Aarburger seit letztem Sommer verkauft hat. «Jeder Quadratmeter zählt» taufte Reichen das Projekt. Die Idee ist simpel: Reichen säubert Wege an Gewässern und Ufer von Abfall. Dann dokumentiert er das Gesammelte und stellt dafür Zertifikate aus. Diese wiederum verkauft er, jedes Stück Abfall dank dem Zertifikat nur einmal. Mit dem Erlös deckt Reichen die Entsorgungskosten, einen kleinen Teil behält er sich als Aufwandsentschädigung zurück. Der grosse Rest geht an gemeinnützige Organisationen. Im Dezember will er den gesammelten Abfall nun in Aarburg ausstellen. «Momentan ist noch unklar, wo und wann», erklärt Reichen. «Nach der Ausstellung entsorge ich ihn dann.»
135 Quadratmeter an vierzehn Käufer
Seit letztem Sommer verkaufte Reichen 135 Quadratmeter Abfall an vierzehn
Käufer – Private und Firmen. «Sie sind ein wichtiger Part vom Projekt», betont Reichen. Gesammelt hat er aber noch mehr als verkauft. Denn noch bevor er überhaupt die Idee zum Projekt hatte, machte er sich bereits auf, um Abfall einzusammeln. «Anfang 2021 hatte ich einen Bandscheibenvorfall», erzählt Reichen. Zwei Monate sei er flach gelegen, habe sich kaum bewegen können. «Dann musste ich erst einmal alle Glieder wieder strecken», erinnert er sich an die Zeit der Genesung. So unternahm Reichen lange Spaziergänge, am liebsten Gewässern entlang, der Aare oder ihren Zuflüssen, der Wigger und der Pfaffnern. «Ich liebe das Wasser», sagt Reichen. «Aber ich brauchte eine Beschäftigung.» Also begann er den Abfall an Wegrändern und Ufern einzusammeln, «anstatt einfach daran vorbeizugehen.» «Alles, was wir hier einsammeln, landet nicht im Meer», meint Reichen gelassen. Er sei nicht der Typ Mensch, der sich laut über andere ärgere oder gar empöre. «Lieber etwas unternehmen.» Anstatt zu ausgedehnten Spaziergängen machte sich Reichen schon bald mit Abfallsack und Greifer zu Sammeltouren auf. «Warum nicht versuchen, andere ins Boot zu holen?», habe er sich dann plötzlich gefragt. Langsam wuchs die Idee zu «Jeder Quadratmeter zählt» in Reichens Kopf. Ende Mai war sie spruchreif. Über Facebook, LinkedIn und bei Freunden und Bekannten begann Reichen dafür zu werben. Im Juli machte er sich zur ersten Tour mit Greifer, Leiterwagen und Velo auf. Den ersten Quadratmeter verkaufte er im August.
Bestellungen aus der ganzen Schweiz
Den Preis legte Reichen auf 29 Franken pro Quadratmeter fest. «Alle, die sich beteiligen möchten, sollten sich wenigstens einen Quadratmeter leisten können», findet er. Bestellungen bekam er aus der ganzen Schweiz. «Obwohl ich hauptsächlich in und um Aarburg sammelte.» Jener Abfall aber, der sich in Aarburg wiederfindet, stamme meistens nicht aus dem Aarestädtchen, er-
klärt Reichen. «Der Abfall wird über die Aare angeschwemmt.» Wegen dem Hochwasser im Sommer sei das dieses Jahr besonders ausgeprägt gewesen. «Und Plastik wird vom Wind verteilt.» Nur selten habe er Abfall gefunden, den jemand absichtlich in der Natur entsorgt habe. Doch nicht nur Abfall fand Reichen. Eines Tages sammelte er eine Plastikflasche ein, darin ein zusammengerolltes Stück Papier – eine Flaschenpost. «Ein Kinderbrief von der Aarburger Schule Papillon», konnte er in Erfahrung bringen. So nahm er mit der Schule Kontakt auf und beschloss daraufhin, dass ein Teil der Spende an Papillon gehen soll. «Sie arbeiten mit den Kindern viel in der Natur», begründet Reichen. Ein gleich grosser Teil geht an den Aarburger Tierschutzverein «Drei Teams». Die grösste Tranche geht an «Buy Food With Plastic». Die Organisation vergibt warme Mahlzeiten im Tausch für Plastikflaschen. Die werden dann weiterverwertet. «Das überzeugt mich», sagt Reichen.
Vorläufiges Ende
Das Projekt «Jeder Quadratmeter zählt» kommt nun zu einem vorläufigen Ende. «Ab dem Herbst verdeckt Laub zunehmend den Abfall, später dann Schnee», erklärt Reichen. Um das Projekt abzuschliessen, will Reichen den gesamten Abfall ausstellen. «Das soll die Bevölkerung für das Thema sensibilisieren», erklärt er. Ausserdem wolle er den Käufern Gelegenheit bieten, um ihre gute Tat medial umsetzen zu können. Für nächsten Frühling plant Reichen, das Projekt wieder aufzunehmen, allerdings in weiterentwickelter Form. «Ich möchte auch die Wälder dazunehmen», sagt Reichen. Einzelheiten seien aber noch nicht spruchreif. Die Frage, ob denn seinem Projekt eines Tages der Abfall ausgehen könnte, quittiert Reichen mit Schmunzeln. «Schon nur die Schutzmasken alleine», winkt er ab und lässt den Satz in der Luft hängen. Dann fügt er an: «Der Abfall wird auch in Zukunft einfacher zu finden als zu verkaufen sein.»
ollt ihr das Neuste von Wolfgang Beltracchi hören?» frage ich in die abendliche Freundesrunde. Interessiertes Nicken. «Seine Geschichte gibt’s jetzt auch auf der Bühne», beginne ich zu erzählen. «Wir waren da. Es war ausverkauft.» Wolfgang Beltracchi ist ein ehemaliger deutscher Kunstfälscher. Er malte Bilder im Stil grosser Künstler – Max Ernst, Fernand Léger, Camille Pissarro –, wobei er deren Werke nicht einfach kopierte. Vielmehr studierte er ihre Handschrift und schuf «Originale», als ob diese von den Meistern selbst stammten. Seine Frau Helene Beltracchi, nicht minder gerissen, vertickte die Werke für Millionen. 2010 flogen die beiden auf und mussten ins Gefängnis, doch sie sind längst rehabilitiert. «Heute sind die Beltracchis die Darlings der Zürcher Society», sage ich, «als hätte es nie einen Betrug gegeben. Wie kann das sein?» Unsere Runde ist um Erklärungen nicht verlegen: Da ist der Bonnieand-Clyde-Faktor der Beltracchis; die bewegenden Briefe, die sich das Paar im Gefängnis schrieb und die von einer tiefen, innigen Liebe zeugen; die Schadenfreude, die man empfindet, wenn die geschädigte Partei «das System» ist (in diesem Fall der schwer durchschaubare und vielen suspekte Kunstmarkt) und nicht ein armes Individuum; die Tatsache, dass Beltracchis heutige Werke sechsstellige Summen erzielen – «wobei der Kunsthandel an ihm kräftig mitverdient», wie unser Freund M. bemerkt. Am nächsten Morgen fällt uns im OT ein Artikel über ein Gemälde von Ferdinand Hodler auf, «die Kastanienallee bei Biberist», zuletzt für 5,4 Millionen Franken versteigert. «Beltracchi ist ja schon wieder in der Zeitung!», sagt mein Gatte. Ich beginne zu grinsen. Die Geschichte wäre zu gut.