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Bezirk Affoltern

Dienstag, 5. April 2016

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«Mit Jugendlichen muss man streng sein» Unruhe an der Stiftung Schule Tägerst: Meinungsverschiedenheiten über den Umgang mit Kindern Bis in die 1970er-Jahre war körperliche Züchtigung an vielen Schweizer Schulen an der Tagesordnung. Mit dem Aufbrechen der autoritären Erziehung, als Folge der 68erBewegung, ist die Aufgabe für Eltern und Schulen zunehmend anspruchsvoller geworden.

ten zu Hause vergleichbare Härte erwarten wie in der Schule. «Heute wird die traditionelle Autorität, die nie hinterfragt wurde, immer mehr aufgebrochen. Die Folge davon ist, dass es keinen einheitlichen Erziehungsstil mehr gibt. Da in der Schule die Selbstständigkeit der Kinder bewusst gefördert wird, kollidieren die Meinungen von autoritären und antiautoritären Erziehungsstilen immer öfter mit der Erziehung in der Schule», erklärt Andrea Lanfranchi.

................................................... von salomon schneider 1978 wurde das elterliche Züchtigungsrecht aus dem Zivilgesetzbuch gestrichen. Explizit gesetzlich verboten ist die Anwendung von Gewalt zu Erziehungszwecken jedoch nicht. Beim Bundesgericht hat sich eine Rechtsprechung etabliert, die körperliche Bestrafung im häuslichen Umfeld nicht als Körperverletzung wertet, solange sie eine gesellschaftlich akzeptierte Härte nicht überschreitet und nicht regelmässig vorkommt. Wie viele Kinder zu Hause heute noch körperlicher Gewalt ausgesetzt sind, lässt sich nicht beziffern. In Schweizer Schulen ist körperliche Gewalt durch Lehrpersonen mittlerweile fast verschwunden. Bis in die 1960er-Jahre galt es durchaus als normal, wenn Lehrkräfte körperliche Züchtigung als Erziehungsinstrument anwendeten. «Damals haben es Kinder meistens verschwiegen, wenn sie in der Schule eine Körperstrafe erhalten hatten, da sie für diesen Mangel an Disziplin zu Hause meistens auch noch Prügel kassierten», erinnert sich Professor Andrea Lanfranchi, der Leiter des Bereichs Forschung und Entwicklung an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich.

Körperliche Züchtigung wird nicht mehr einfach akzeptiert Mit der 1968er-Bewegung und der damit einhergehenden antiautoritären Erziehung, setzte vor allem im städtischen Raum ein Umdenken ein. Eltern befürworteten körperliche Züchtigung durch Lehrkräfte nicht mehr ohne weiteres und kritisierten diese im Laufe der Jahre zunehmend. Da sich auch in der Pädagogik Erziehungsmethoden ohne körperliche Gewalt durchsetzten und die gesellschaftliche Unterstützung für Körperstrafen verschwand, wurden immer weniger Körperstrafen angewendet. 1985 passte der Bildungsrat des Kantons Zürich die Volksschulverordnung an und hob die gesetzli-

Schläge sind beschämend

Nur wenn die Eltern die Arbeit der sonderpädagogischen Tagesschule Tägerst in Affoltern unterstützen, funktioniert die Erziehung zielgemäss. (Bild Salomon Schneider) che Legitimierung von Körperstrafen an Schulen auf. «Was als Gewalt angesehen wird ist einem konstanten gesellschaftlichen Wandel unterworfen und wird zudem individuell extrem unterschiedlich wahrgenommen. Wenn eine Lehrkraft einen verhaltensauffälligen Schüler beispielsweise an der Schulter packt und ihm mit klaren Worten sagt, dass es jetzt reicht, wird dies von manchen Schülern als Gewalt wahrgenommen, von anderen gar nicht», erklärt Martin Wendelspiess, der Amtsleiter des Zürcher Volksschulamtes und ergänzt: «Wenn eine Lehrkraft bei Eltern und Schülern Akzeptanz geniesst, kann sie sich fast alles erlauben. Wenn sie bereits unter Beobachtung steht, kann das kleinste Fehlverhalten zu Anzeigen, Untersuchungen und oft beruflichen Konsequenzen führen.»

Volksschulamt will Qualität sichern An der Stiftung Schule Tägerst in Affoltern hat genau diese Frage, was als Gewalt zu werten ist, für viel Unruhe gesorgt. In der Folge wurde eine Untersuchung an der Schule Tägerst durchgeführt, die zum Schluss kam, dass keine strafrechtlich relevanten Verhaltensweisen oder Verletzungen der Berufspflicht vorlagen. Im Strudel der Ereignisse schickten schlussendlich mehrere Eltern ihre Kinder auf andere Schulen und der Stiftungsrat der Schule Tägerst trennte sich von seinem Schulleiter. Der Stiftungsrat hält aber fest, dass der Trennungsgrund «in der unterschiedlichen Interpretation über die strategische und

Die «Neue Autorität» Andrea Lanfranchi von der Hochschule für Heilpädagogik in Zürich vertritt, gestützt auf den Israelischen Psychologen Haim Omer, eine neue Autoritätslehre. Lehrkräfte dürfen sich nicht mehr mit dem Stock durchsetzen und sollen trotzdem streng sein. Mit dieser Herausforderung hat sich die Erziehungswissenschaft und -praxis seit Jahren beschäftigt. Eine Lösung heisst: «Neue Autorität.» In ihrer Grundhaltung sollen Lehrkräfte, aber auch Eltern standhaft und hartnäckig gegenüber machtvoll oder erpresserisch gestellten Forderungen von Kindern auftreten und im Dialog mit den Kindern Lösungen finden, bei denen diese nicht gedemütigt werden.

Strategien der Deeskalation anstatt Gewalt Deeskalation heisst, dass die Erwachsenen aus dem Machtkampf mit den Jugendlichen aussteigen. Den Kin-

dern wird ohne Predigen erklärt, weshalb eine Verhaltensweise nicht akzeptiert werden kann. So wird problematisches Verhalten, das bei keinem der Kinder akzeptiert wird, bekämpft und nicht das Kind selber. Damit diese niederschwellige Autorität ohne Gewalt funktionieren kann, müssen – gerade im sonderpädagogischen Bereich – in der Schule und zu Hause ähnliche Erziehungsmethoden zur Anwendung kommen. Absprachen und Zusammenarbeit zwischen Schule und Familie sind eine Notwendigkeit. Eltern, welche die Lehrperson desavouieren, schwächen sie in ihrer Präsenz und machen sie ohnmächtig. Bei Fehlverhalten wird Öffentlichkeit und Vernetzung hergestellt. Denn, je mehr Menschen aus dem Umfeld vom Fehlverhalten wissen, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Verhalten weiterhin regelmässig auftritt. (sals)

operative Leitung der Schule» lag. Zur Qualitätssicherung hat sich das Volksschulamt entschieden, Massnahmen betreffend Schulführung, pädagogische Arbeit und Aufsicht durch den Stiftungsrat einzuleiten und deren Wirksamkeit zu prüfen.

Vergleichbare Härte zu Hause und in der Schule Das Volksschulamt wollte sich zum konkreten Fall an der Schule Tägerst nicht äussern, Martin Wendelspiess meinte aber allgemein: «Wenn Berufspflichtverletzungen angezeigt werden, anzeige

geht es immer darum abzuschätzen, ob eine Verletzung vorliegt und ob diese verhältnismässig war. Wie allen Menschen können auch Lehrern Fehler passieren. Eine gewisse Fehlertoleranz ist also durchaus angebracht – gerade seitens der Eltern.» Hintergrund der Debatte an der Schule Tägerst könnte eine tiefgreifende, gesellschaftliche Problematik sein. Zu Zeiten der autoritären Erziehung spannten Lehrkräfte und Eltern in der Erziehung meistens zusammen. Dies führte zu einem konsistenten aber auch häufig gewaltbereiten, erniedrigenden Erziehungsstil. Kinder konn-

Während autoritäre Eltern wissen, was für ihr Kind das Beste ist und sich gegen gegenläufige Einflüsse wehren, wollen antiautoritäre Eltern verhindern, dass ihre Kinder erzieherische Leitplanken erhalten. Beide Extreme führen spätestens während der Pubertät zu starken Ablösungsbewegungen oder verhindern die Ablösung vom Elternhaus ganz. Andrea Lanfranchi spricht sich deshalb für eine neue Art von Autorität aus (siehe Kasten): «Schläge – nicht nur in der Schule – sind beschämend und können zu einem Teufelskreis von Gewalt führen. Es würde absolut keinen Sinn machen, wieder zu diesen Methoden zurückzukehren. Trotzdem muss man mit Kindern und vor allem mit Jugendlichen aber auch streng sein. Nur so lernen sie Grenzen kennen und akzeptieren, Kompromisse schliessen und auf Ziele hinzuarbeiten.»


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