Three Six O | Ausgabe 3 | Mai 2018

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Das Weiszheithaus mit Fußgängerbrücke 1919, Ansicht Sonnenburger Straße, Großdemonstration nach den Januar-Unruhen und der Ermordung der revolutionären Sozialisten Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, Quelle: Landesarchiv, (vom Autor bearbeitet)

Familie Weiszheit vor dem Kirchlein in Schieß, 1911, untere Reihe v.ln.r.: Elise, Tante Lawrentija, Oma Saige, Saiges Schwester, Onkel Freddy; oben links Ludwig, gen. Lumo, (vom Autor bearbeitet)

Einmal rief ihn die Leiterin einer Bibliothek an. Eine kleine

manchmal Generationen, manchmal wohnen sie zeitgleich

Stadtbibliothek in Schleswig-Holstein. Es ging um letzte

in diesem Weiszheithaus, nur in verschiedenen Flügeln und

Absprachen vor einer Lesung, Unterbringung, Karten-Vor-

Etagen, nehmen Notiz voneinander, lieben oder hassen sich.

verkauf etc. Und dann fragte sie ihn, wo sie die Bücher von

Manche Figuren sind Zentralgestirne, an ihnen lassen sich

diesem Kurt Weiszheit herbekommen könnte, der Schriftstel-

die Zeiten messen. An manche erinnert man sich lange. Viele

ler, der in dem Buch eine so überbordende Rolle spiele. Seine

laufen in kurzen Episoden einfach vorbei.

Werke seien ja auch auszugweise abgedruckt und müssten doch irgendwie zu beschaffen seien. Für den Büchertisch

Nur: Es ist alles erfunden. Alles reine Fantasie. Keinen Men-

am Lesungsabend. Und außerdem sei ihr auch noch nicht

schen in dieser adipösen Doku-Prosa gab es wirklich. Auch

ganz klar, in welches Regal sie das Buch einordnen sollte.

das Haus nicht. Alle Fotografien in dem Buch, geografische

Abteilung Reiseführer oder Sachbuch Berlin, Hauptstadt,

Karten,

Kategorie Mietshäuser? Und der Autor Holger Siemann, der,

schnitte, Tagebuchaufzeichnungen – alles ist ausgespon-

während dieses fernmündlichen Gesprächs, auf der Wiese

nen, kaschiert, gefälscht, verändert zusammengestückelt.

hinter seinem uckermärkischen und sehr abgelegenen

Auch die Bitterfelder Rede, aus der Siemann sich sozusagen

Forsthaus gerade das sehr expressionistische Porträt seines

selbst zitiert.

Grundrisse,

Familienstammbäume,

Romanaus-

Lieblingsschafes signierte, offensichtlich eine konzeptionelle Matisse-Kopie, antwortete ohne zu zögern. „Also ich schlage

Sigrid Löffler hatte einmal vor vielen Jahren in einer Runde

vor: Unter Romane! Steht doch vorne drauf.“ Und ein wenig

des literarischen Quartetts gesagt, der auktoriale Erzähler sei

fahrig, denn sie hatte nicht richtig zugehört, weil Bibliotheka-

tot! Das hat Holger Siemann widerlegt. Der Erzähler in seiner

rinnen im öffentlichen Dienst manchmal zu viel gleichzeitig

Rahmenhandlung ist allwissend. Als Sven Gabbert sitzt er

im Kopf haben, sagte sie, dass ihr das jetzt auch nicht wei-

in dem Haus, Anfang der 1990er Jahre, während der Nach-

terhelfen würde. Schließlich sei es ja keiner.

wende-Sanierung. Als der heruntergekommene Prenzlauer Berg gerade zu einem begehrten Pflaster für internationale

Holger Siemanns Jahrhundertroman handelt von einem Miet-

Investoren geworden war. Er erbt ein Haus von seinem Onkel

shaus und seinen Bewohnerinnen in Berlin, Prenzlauer Berg,

Kurt Weiszheit und findet in einer Kammer des Dachbodens

Kopenhagener Straße, Ecke Sonnenberger, direkt an der

ein Konvolut aus unzähligen Zetteln, Zettelkästen, Notizbü-

Fußgängerbrücke über die Ringbahn. Seit seiner Erbauung

chern und Zeitungsausschnitten – ein Familienarchiv und die

im schnörkeligen Jugendstil bis heute. Es ist aber auch eine

Geschichte des Weiszheithauses. Deshalb kann er das Buch

Saga über die in alle Welt verstreute Familie Weiszheit, deren

schreiben. Er erinnert sich an alles, schlägt nach, sucht, fin-

Ursprünge zurückreichen in das 14. Jahrhundert, zu einem

det neue Details und Zusammenhänge heraus. Angetrieben

abgelegenen Flößerhof in Schieß im Kreis Heydekrug an der

von einer gigantischen Neugier: „Ich versuchte ja nur, die

ostpreußisch-litauischen Grenze.

Vergangenheit wiederauferstehen zu lassen, weil ich dabei sein wollte.“ Sagt Sven Gabbert irgendwann und schreibt

Hunderte Menschen laufen durch die Seiten zwischen den beiden Buchdeckeln. Alle haben Namen, Gesichter, Gerüche, Eigenschaften. Alle hängen mit allen zusammen. Sind um ein paar Ecken verwandt. Wohnen im gleichen Haus. Manchmal liegen Jahrhunderte zwischen ihren Existenzen,

alles auf.


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