10 minute read

Die Samariter fangen wieder von vorne an

Nach zwölf Jahren Hitler-Diktatur und nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Städte in Deutschland zerstört, die Menschen hungerten, Flüchtlinge, Obdachlose und Ausgebombte drängten sich in allen Regionen. InMünchenrücktenam30.April1945ohnenennenswerten Widerstand amerikanische Truppen ins Stadtgebiet ein. Alle verfügbaren Arbeitskräfte wurden eingesetzt, um die Schuttmassen zu beseitigen. Besonders die Großstädte waren durch Luftangriffe schwer zerstört. Es gab Bezirke, in denen kein Haus mehr stand, ganze Straßenzüge lagen flach. Es wird geschätzt, dass in Deutschland eine Schuttmasse in Höhe von 400 Mio. m³ lag. München hatte über 12.000 Gebäude und somit mehr als 76.000 Wohnungen verloren. Zur Beseitigung fehlten Maschinen, Werkzeuge und Arbeitskräfte. Sogenannte »Trümmerfrauen« halfen bei den Aufräumungsarbeiten. In München wurde mit der Schutträumung am 18. März 1946 begonnen. Der Stadtrat appellierteanjedenEinwohner,freiwilligmitzuhelfen.Zur Linderung der Wohnungsnot mussten ehemalige NSDAPMitglieder ihre Wohnungen räumen. Zuerst wurden die Straßen freigeräumt, damit die Versorgungsfahrzeuge passieren konnten. Dann mussten Ruinen eingerissen werden, die eine Gefahr darstellten. Unter den Trümmern lagen noch zahlreiche, nicht explodierte Sprengbomben. Immer wieder stieß man auf Leichen. Es fehlte an Baumaterial aller Art, weshalb die Trümmer sorgfältig sortiert werden mussten. So wurden beispielsweise brauchbare Mauersteine einzeln gereinigt und wiederverwendet.DieBevölkerunghältzusammen,jederhilft seinem Nachbarn, so gut es geht.

Die ersten Krankenwagen sind wieder im Einsatz.

Advertisement

Am 4. Mai 1945 wurde Dr. Karl Scharnagl, der bereits bis 1933 Oberbürgermeister war, erneut mit diesem Amt betraut. Der neugebildete Stadtrat trat am 1. August 1945 zu seiner ersten Sitzung zusammen. Neu im Stadtrat waren zehn ehemalige KZ-Häftlinge aus Dachau. Viele Menschen, die vor 1933 aktiv waren, haben den Krieg nicht überlebt. Der erste Präsident des ASB, Hermann Schaub, schrieb über diese Jahre: »Es waren Jahre des Hungerns und des Fehlens aller materiellen Güter. Es war eine Zeit, in der jeder einzelne von uns über das erträgliche Maß hinaus mit der Sorge um seine eigene Person und seine eigene Familie belastet war. Doch auch damals gab es Menschen, und es waren erfreulich viele Menschen, die noch die Kraft und den Willen hatten, neben der eigenen Not sich die Not der Mitmenschen auf die Schultern zu laden. Zu ihnen gehörten die Arbeiter-Samariter. Ich sehe noch vor mir die von Hunger gezeichneten Gesichter unserer Freunde, die vor den Ruinen des Bauwerks ArbeiterSamariter-Bund standen. Mit Eifer und Hingabe, mit Be-

geisterung und Opfersinn haben sich aus den Trümmern des Dritten Reiches in mühsamer Arbeit wieder Stein auf Stein gefügt zum Neubau unseres Bundes.«

Überlebende Samariter melden sich wieder

In vielen Städten und Gemeinden meldeten sich nun ehemalige Samariter und versuchten in Zeitungsanzeigen auf sich aufmerksam zu machen. Sie fragten nach, ob noch jemand aus dem früheren ASB überlebt hatte, trafen sich zufällig in der Straßenbahn, an der alten Arbeitsstätte und tauschtenAdressenaus,umdanninnichtzerstörtenWohnungen zu beraten, wie es weitergehen sollte. Viele hatten Unterlagen, Schriftverkehr, Protokolle, Lehrbücher, Rundschreiben und sogar alte ASB-Banner, die sie während der Nazizeit versteckt hatten, gerettet. Auch Aufzeichnungen über das 1933 beschlagnahmte ASB-Material, was für spätere Wiedergutmachungsverfahren genutzt werden konnte, war vorhanden. Viele wandten sich darüber hinaus an Gewerkschaften, die SPD und an die Arbeiter-Wohlfahrt. Die Wiedergründung des ASB wird dort jedoch skeptisch gesehen. Dem ASB wurden möglichst wenig Chancen zum Überleben gegeben, so auch in München. In vielen anderen bayerischen Städten und Gemeinden waren die Samariter trotz alledem nicht aufzuhalten. Die Ausrüstung war einfach und notdürftig, zum Teil über die Nazi-Zeit gerettet. Man behalf sich mühsam, brachte eigenesGeldmitundbettelteumSpenden.EinzelneStädte und Gemeinden gaben die ersten Zuwendungen, darunter auch Firmen, die sich an die kompetente Arbeit der Betriebssamariter vom ASB erinnerten. DerAufbaudesASBerfolgteaufdengleichenGrundlagen, die auch vor seiner Auflösung bestanden haben, mit denselben Regularien, Ausbildungs- und Einsatzgrundsätzen und Programmen. Die Samariter wurden wieder zur Sanitätsbetreuung von Sport- und Großveranstaltungen angefordert und begannen sofort wieder mit der Ausbildung der Bevölkerung in Erster Hilfe und Hauskrankenpflege.

Wiedergründung des ASB auf Bundesebene

In Hannover erhielten die Samariter am 15. Juni 1946 von der britischen Militärbehörde die Genehmigung, wieder einen Arbeiter-Samariter-Bund in Deutschland zu gründen. Dies fassten die Hannoveraner Samariter als Aufforderung auf, am 19. Januar 1947 einen Bundesvorstand zu wählen. Waldemar Olsen, der vor dem Krieg als 25-Jähriger bereits Kolonnenvorsitzender in Hannover war, wurde neuer Bundesvorsitzender. Er entging 1933 nur knapp einer Einlieferung ins KZ, da er sich weigerte im ASB unter nationalsozialistischer Leitung mitzuwirken. Der neue ASB-Bundesverband wurde von allen Ämtern und Behörden als Nachfolgeorganisation des 1933 untergegangenen ASB angesehen. Mit Hilfe des Bundesvorstandes gründeten sich dann in allen Teilen der 1949 gegründeten Bundesrepublik zahlreiche ASB-Kolonnen und Landesorganisationen wieder. Diese trafen sich am 13. und 14. Januar 1951 in Alsbach in der Nähe von Frankfurt und besprachendasweiteregemeinsame Vorgehen. Im Vordergrund stand die strikte parteipolitische Neutralität des ASB. Damit trug der ASB den Wünschen des Staates und der Parteien voll Rechnung. Weg von der überwiegend konservativ-autoritären Klassengesellschaft und hin zum pluralistischen liberaldemokratischen Staat.

Waldemar Olsen, der erste Bundesvorsitzende des ASB appelliert auf der ersten Bundeskonferenz 1952, überall in der Bundesrepublik ASB-Kolonnen zu gründen.

Denkschrift schafft Anerkennung

Aufgrund der parteipolitischen Auseinandersetzungen in der Weimarer Republik war es das Ziel der Gründer der Bundesrepublik, eine pluralistische Gesellschaft aufzubauen, in der es keine Klassenunterschiede mehr gibt. Der wichtigste Beschluss der Zusammenkunft war jedoch die Erarbeitung einer Denkschrift. Dort hieß es: »Mit dem Inkrafttreten des Bonner Grundgesetzes 1949 fanden überall in den Ländern des Bundesgebietes Neugründungen von ASB-Kolonnen statt. Diese Kolonnen haben sich wieder in einem Arbeiter-Samariter-Bund zusammengeschlossen, dessen Sitz sich in Hannover befindet. Die soziale Notlage des deutschen Volkes und die ungeheuren Gesundheitsschäden geben heute mehr denn je dem ASB seine volle Existenzberechtigung wieder. In der gleichen uneigennützigen Einsatzbereitschaft verfolgt der ASB in weit größerem Maße seine früher gesteckten Ziele. Es ist auch heute wieder mit dem gleichen Wahlspruch »An jedem Ort, zu jeder Zeit, sind wir zur Ersten Hilf’ bereit« ein Auf- und Ausbau des ASB erforderlich. Dabei ist keineswegs beabsichtigt, die Aufgaben des Roten Kreuzes zu beeinträchtigen oder zu übernehmen. Die Aufgabengebiete beider Organisationen sind zum Teil stark voneinander abwei-

chend, der neu gegründete ASB will mit allen Behörden und Organisationen, die auf demokratischer Grundlage stehen, auf das Engste zusammenarbeiten. Er ist eine politisch und konfessionell neutrale, im Dienste der Menschheit stehende Samariterorganisation. Wir wenden uns mit dieser Denkschrift an alle Abgeordneten des Bundes und der Landtage sowie an alle Gemeindevertreter und erbitten ihre Hilfe.« Diese Denkschrift bewirkte die vollständige Anerkennung des ASB als gleichberechtigte Hilfsorganisation und Wohlfahrtsverband.

1951: Gründung der ASB-Landesorganisation Bayern

An Vorgesprächen zur Gründung der ASB-Landesorganisation Bayern nahm der Nürnberger Kolonnentechniker Konrad Kreutzer und der Augsburger ASB-Vorsitzende JosefWengerteil.BeideübernahmendenAuftrag,diebayerischenASB-KolonnenausAugsburg,Regensburg,Nürnberg, Schweinfurt und Ulm zur Gründung einer Landesorganisation für Bayern zusammenzuführen. Der ASB aus Ulm schloss sich zu dieser Zeit Bayern an, weil es in Baden-Württemberg noch keine weiteren ASB-Kolonnen gab. Als Gründungstermin festgelegt wurde der 11. Februar 1951, 11 Uhr im Unterrichtslokal des ASB in Nürnberg. Der amtierende Nürnberger ASB-Vorsitzende Fritz Gigl begrüßte 41 Samariter aus ganz Bayern. Als Versammlungslei-

Auszug aus dem Gründungsprotokoll des ASB-Bayern

ter wurde Josef Wenger aus Augsburg gewählt. Einstimmig sprachen sich alle Anwesenden für die Gründung einer Landesorganisation Bayern mit Sitz in Nürnberg aus. Landesvorsitzender wurde Kaspar Wachter.

Der ASB wird zur Mitwirkung im Bevölkerungsschutz gebeten

Zu Beginn der 50er Jahre wurden alle Verbände und Organisationen benötigt, um einen Luftschutzsanitätsdienst aufzubauen. Der ASB hat sich seit dem Wiederbeginn seiner Arbeit in den Städten und Gemeinden bereits wieder einen guten Ruf aufgebaut. Überall begann er Erste-Hilfe-Kurse durchzuführen und Sanitätsdienste zu leisten, genauso wie vor seiner Auflösung. Die Regierung warb darum, den ASB mit seinem starken Engagement und den hervorragend ausgebildeten Helferinnen und Helfern für die Mitwirkung an einem Programm zum Aufbau des Luft- und Katastrophenschutzes zu gewinnen. Das Programm sah vor, die Bevölkerung fit zu machen und in die Lage zu versetzen, sich im Ernstfall selbst helfen zu können.

Der ASB setzt sich stark für die Erste-Hilfe-Ausbildung in Schulen ein.

Der Aufbau des Luftund Katastrophenschutzes hing zusammen mit dem Beginn des Kalten Krieges im Rahmen der Ost-West-Konfrontation und der Furcht vor einem Dritten Weltkrieg durch den beginnenden Koreakrieg. Die Bundesregierung und die Landesregierung des Freistaates Bayern haben sich zum Ziel gesetzt, dass jeder Bundesbürger Der ASB bereitet sich für den Einsatz im in der Lage sein soll, bei Bevölkerungsschutz vor. einem Katastrophenfall, sich selbst und anderen helfen zu können. In diesem Sinne führten die Samariter seit 1888 Kurse für die Bevölkerung

Übungen im Katastrophenschutz

durch. Dies entspricht dem ursprünglichen Gründungsgrund und Hauptaufgabengebiet des ASB. Ziel der Kurse war, dem Laien mindestens die Grundbegriffe beizubringen, und im Hinblick auf die Gefahren, die dem Bürger in einem Verteidigungsfall drohen, zur Selbsthilfe anzuregen. Jeder sollte in der Lage sein, in einer Notsituation sich selbst und anderen helfen zu können. Der ASB erstellte umfangreiche Unterlagen mit Lehrplänen für die Kurzkurse. Die Ausbildungstätigkeit kommt schnell in Gang, vor allen Dingen, weil sich die Bundesregierung verpflichtet hat, pro auszubildenden Teilnehmer einen Betrag von drei DM zu erstatten. Mit der Durchführung dieser Kurse begann ein weiterer Aufschwung in der ASB-Arbeit. Hunderttausende von Lehrgangsteilnehmern durchliefen nun die ASB-Ausbildung und viele blieben auch im Anschluss als aktive Helfer dabei. Besonders stark engagierten sich die bayerischen ASB-Kolonnen in der Unfallrettung auf den Bundesstraßen.

1962: Die Wiedergründung des ASB in München

Bestrebungen in München, den ASB wiederzugründen, gab es direkt nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Angeblich wurden diese jedoch vom damaligen Münchner Polizeipräsidenten Franz-Xaver Pirzer, der von 1945 bis 1949 im Amt war, verweigert. Die Bemühungen unterschiedlicher Akteure

Der bayerische ASB-Präsident Erwin Essl setzt die entscheidenden Weichen für die Wiedergründung des ASB in München.

Dem späteren Vorsitzenden Rudolf Solfrank (im Bild ganz links) gelingt es, den ASB in München im hauptamtlichen Rettungsdienst zu etablieren.

für eine Wiedergründung zogen sich in die Länge. Wiederbelebt wurden die Aktivitäten durch den Schweinfurter LandtagsabgeordnetenErwinEssl(1910-2001).ErwarBezirksleiterfürdieIG-MetallinBayernundGründungsmitglied der Akademie für Arbeitsmedizin in Erlangen. Am 20. Mai 1961 wurde er zum Präsidenten des ASB in Bayern gewählt. EinJahrzuvorwurdeEkhardWenger,SohnvonJosefWenger, Vorsitzender des ASB Augsburg zum LandesjungendleitervonBayerngewähltundzusammenmitdemLandesjugendleiter von Baden-Württemberg, Wilhelm Müller, in den ASJ-Bundesjugendvorstand gewählt. Ekhard Wenger hat in München ein Ingenieur-Studium begonnen und mit UnterstützungdesBundesverbandsundmitErwinEssldie Gründungsarbeiten wiederaufgenommen. Mit Hilfe von Erwin Essl gelang es schließlich, zur Wiedergründung der ASB-Kolonnen in München einzuladen. Die Gründungsversammlung fand am 21. Mai 1962 um 19 Uhr in München, in der Gaststätte Tannengarten statt.

Folgender Vorstand wurde gewählt: Organisatorischer Leiter Ekhard Wenger, Ingenieur Technischer Leiter Dr. Hilmar Haag, Regierungsmedizinalrat Kassiererin Renate Sieber, Bankangestellte Schriftführerin Margot Rexhausen, Verwaltungsangestellte

Kurz nach der Gründung übergab Dr. Hilmar Haag sein Amt an Hans Frank. Als Ausbildungsleiter wurden Rudolf Solfrank und Marie-Anne Clauss gewählt. Rudolf Solfrank wurde später Vorsitzender. ASB-Ärztin wurde Dr. Elfriede Ahnelt. Marie-Anne Clauss war über Jahrzehnte im Vorstand und Münchner Stadträtin. Nach ihr ist ein ASB-Pflegeheim benannt, das »ASB-Seniorenzentrum Marie-Anne Clauss«inMünchen-Fürstenried,indemsieauchihrenAltersruhesitz hat und die Bewohner jeden Nachmittag mit einem kurzen Klavierkonzert unterhält. Nach der Gründung begann der ASB in München mit drei

Hans-Jochen Vogel war von 1960 – 1972 Oberbürgermeister in München. 1972 übergibt er das Amt an Georg Kronawitter. Die ASB- Vorstandsmitglieder Erika Bauer und MarieAnne Claus gratulieren und bedanken sich bei der Stadt München für die Unterstützung bei der Wiedergründung.

Wintereinsatz in München

ÄrztenundzweiAusbildernwiedermitErste-Hilfe-Kursen und Sanitätsdiensten und beschaffte drei Krankenwagen. 1963 beantragte der ASB in München beim Münchner Betriebs- und Krankhausreferat an den Wochenenden den Krankentransport von den Wohnungen zu den Krankenhäusern durchzuführen. Das Krankenhausreferat lehnte das unter Verweis auf ein Gutachten des BRK vom 30.09.1963 ab. Das BRK bezeichnete den ASB als »politisch oder weltanschauliche Organisation« und drohte damit, den Rettungsdienst einzustellen. Ende der 60er Jahre befürwortete die Stadtverwaltung die Beteiligung des ASB im Krankentransport und am 17. Januar 1971 wurde mit der Einstellung eines damals sogenannten »Transportsanitäters« offiziell mit dem Krankentransport begonnen. DerASBinMünchenbauteseineAngebotevondaankontinuierlich aus und entwickelte sich über 100 Jahre nach seiner Gründung zu einer modernen Hilfsorganisation und einem Wohlfahrtsverband.

This article is from: