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Erinnerung an Mama Wenn auch Vater und Mutter mich verstoßen, du, Herr, nimmst mich auf. Psalm 27,10 Eleonora Calhoun wusste nicht, warum ihr Papa sie nicht liebte. Oh, es stimmte schon, Papa schien niemanden zu lieben, denn er war immer brummig und unwirsch und fuhr auch immer ihren Bruder Will an. Trotzdem, wenn er sie anschrie, dass die Kekse zu hart waren oder der Kuchen nicht schmeckte, dann tat das weh. Eleonora verbarg den Schmerz tief in ihrem Inneren. Aber er blieb dort und bildete einen kalten, harten Klumpen, der im Laufe der Zeit immer größer zu werden schien. Es gab Tage, an denen Eleonora sich am liebsten zusammengerollt hätte und im Bett geblieben wäre. Aber die Angst vor der Peitsche ihres Vaters brachte sie doch immer dazu aufzustehen. Der große blonde Will sah, was Papas Zorn seiner Schwester antat. Er versuchte sie zu trösten, erzählte ihr, Papa sei nicht immer so gewesen. Will konnte sich noch an die Zeit erinnern, als Papas dunkle Augen noch lächeln konnten. Er hoffte, Papa würde vielleicht irgendwann wieder an die Zeit zurückdenken, als Mama noch am Leben gewesen war. Vielleicht würde er dann auch wieder versuchen zu lächeln. Eleonora konnte sich an Mama nicht mehr erinnern, denn Eleonoras Geburtstag war gleichzeitig der „Todestag“ ihrer Mutter. Und daher, so nahm Eleonora an, war es ihre Ankunft gewesen, die das Lächeln aus Papas Augen verscheucht hatte. Will sagte, Mamas Tod sei doch nicht ihre Schuld. Er riet ihr, es einfach zu vergessen und Papa zu ignorieren. Aber Eleonora konnte nicht vergessen. Und sie konnte auch Papa nicht ignorieren. An einem klaren Frühlingsmorgen, als Eleonora fast sechzehn Jahre alt war, warf Papa einen ganzen Topf mit Keksen gegen die Wand und stürmte fluchend aus der Küche. Will melkte gerade im Stall die Kuh, als es passierte. Er sah nicht, wie Eleonoras Hände zitterten, als sie die Kekse aufsammelte. Er sah auch nicht, wie sie sie vorsichtig auf dem Tisch zurechtlegte, zuerst in einem Kreis, dann übereinander, genau wie einen Kuchen. Will wusste, dass sein Vater zornig war, aber er wagte nicht, Fragen zu stellen. Lieber melkte er die Kuh fertig. Nachdem er sich von dem Melkschemel erhoben hatte, überquerte er den Hof und stellte den Eimer auf die hintere Veranda neben die Tür, dann verabschiedete er sich von Eleonora durch die Fliegengittertür, bevor er zum Stall zurückeilte, um die Pferde anzuspannen. Er würde ohne Frühstück losziehen und hoffte, dass Eleonora ungewöhnlich große Portionen in den Picknickkorb gepackt hatte. Eleonora verabschiedete sich flüsternd von Will. Zitternd nahm sie den Besen aus der Ecke hinter dem Herd und kehrte die Scherben des Tontopfes zusammen, in dem die Kekse aufbewahrt worden waren. Sie biss sich auf die Lippe und unterdrückte die Worte, die sie am liebsten gegen die Küchenwände geschleudert hätte. Wie soll ich denn auch ohne Rezept gute Kekse backen? Es war schwer zu entscheiden, wie viel Backpulver hineinkam. Und so sehr sie sich auch bemühte, manchmal wusste sie nicht, ob sie Backpulver oder Natron nehmen sollte. Bei den einen nimmt man süße Milch, bei den


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