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Prolog Schwere Hammerschläge trieben den Nagel immer tiefer. Er drang durch die Haut und zerfetzte Gefäße. Der Hammer traf den Nagel, durchbohrte den Muskel, zersplitterte Knochen und schlug den Arm ans raue Holz. Unablässig, unbarmherzig schlug der Hammer den Nagel ins Holz. Dann war das grausame Werk vollbracht. Der junge Mann hing dort unter der sengenden Mittagsglut, blass vor Schmerz und allein. Er konnte sein Gewicht nicht verlagern, die Knie nicht beugen, nicht einmal den Kopf bewegen, ohne dass ihn rasende Schmerzen durchzuckten. Seine Handgelenke schwollen rund um die Nagelköpfe an. Das Blut trocknete in der Sonne, eine braune Spur blieb auf dem Holz zurück. Seine Schreie verhallten ungehört. Gott antwortete nicht. War es am Ende Gott selbst gewesen, der die Nägel eingeschlagen, den Hammer zur Seite gelegt und ihn mit einem letzten, triumphierenden Lachen angesehen hatte, bevor er ihm für immer den Rücken kehrte? Hatte Gott ihn in der Hitze zurückgelassen, blutend, unfähig, zu stehen oder zu fallen? Fassungslos folgten seine Augen dem quälend langsamen Pfad der Sonne am wolkenlosen Himmel. Der Schmerz machte ihn fast besinnungslos. Er roch seinen Schweiß. Die Haut färbte sich rot, das getrocknete Blut wurde rissig. Alles, was er wahrnahm, war Schmerz. Er schrie, doch in seinem von der brütenden Hitze verwirrten Kopf hörte er nur noch die Stimmen seiner Peiniger. Er würde sie nie vergessen. Sie würden sich mit der Erinnerung an das knirschende Geräusch der Nägel zu dem Motiv vermischen, das fortan seine Alpträume bestimmte. »Teufelsbrut« hatten sie ihn genannt, »eine Ausgeburt der Hölle«. Teufelsbrut? War er ein Kind des Teufels? Er schrie ein letztes Mal. Dieses Mal wurde er erhört. Eine Stimme, ein Geist antwortete und eine Kraft besetzte ihn. Jetzt konnte er den Schmerz ertragen. Schmerz wurde zur Triebkraft seines Willens. Er würde leben, das schwor er sich. Leben und wissen, was er zu tun hatte.

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