330767

Page 1

Prolog Winter 1956 Manchmal fällt es in dieser Jahreszeit im grauen Nebel und Nieselregen schwer, zu sagen, wann der Tag aufhört und die Nacht beginnt. Fast überall klebt der Matsch – an den Rädern des Einspänners, an den Pferdehufen, an den Arbeitsstiefeln. Aber in wenigen kurzen Tagen, wenn der angekündigte Kälteeinbruch Gobbler’s Knob erreicht, wird der ganze Matsch gefrieren und hart werden. Dann findet hoffentlich wieder jeder einen festeren Halt unter den Füßen. Aber schon jetzt ist die lange Nacht der Trennung vorbei. Meine Schwester, Sadie, ist nach Hause zurückgekehrt und von den Amisch mit offenen Armen aufgenommen worden. Mein Herz ist voll schwesterlicher Liebe zu ihr. Die neunjährige Lydiann fragt mich, wenn wir allein sind, warum Sadie uns damals verlassen hat und in den Mittleren Westen gezogen ist. Ein heikles Thema, das ein so junges Mädchen unmöglich begreifen kann. Ich kann nur beten, dass die liebe Lydiann ihre Neugier ablegt und ihre älteste Schwester als den Menschen genießt, der Sadie jetzt ist ... als den Menschen, zu dem sich Sadie immer mehr entwickelt. Nach und nach haben Sadie und ich neue Kleider und Schürzen für sie genäht – alles in Schwarz für die einjährige Trauerzeit –, da die wenigen Sachen, die sie in ihrem Koffer mit nach Hause gebracht hat, unverkennbar dem Stil und Schnitt entsprechen, den sie in Nappanee, Indiana, getragen hat. Selbst die Kopfbedeckungen sind dort im Westen ganz anders als hier in Lancaster County – bei ihnen sind viel mehr Falten zu bügeln als bei unseren Gebetshauben. Wir haben Sadies frühere Kleider alle in eine Kiste gepackt und sie nach Nappanee zurückgeschickt. Hoffentlich kann jemand aus der Familie ihres verstorbenen Mannes sie brauchen. Sadie jedenfalls hat die feste Absicht, diese Sachen nie wieder anzuziehen. 5


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.