Zwischen den Regalen, ein Geheimnis

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Zwischen den Regalen, ein Geheimnis Herausgegeben von

Nataťa Dragnić

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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1. Auflage März 2014 © 2014

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art&words – verlag für kunst und literatur Zerzabelshofstraße 41, D-90480 Nürnberg Homepage: http://art-and-words.de Twitter: http://twitter.com/#!/art_and_words Facebook: http://www.facebook.com/artandwords Gesamtgestaltung: art&words Umschlaggestaltung: Andreas Pohr Autorenfotos: Andreas Pohr Druck: Schaltungsdienst Lange oHG Zehrensdorfer Straße 11 D-12277 Berlin (Marienfelde)

ISBN 978-3-943140-44-6 Auch als Print erhältlich.


Inhalt Dirk Kruse: Geheimnisse andeutungsweise enthüllt  11 Entstehungsgeschichte Wortwerk Erlangen  17

Biljana Dimitrijević Check-in 21

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Nataša Dragnić Mondgesichter 27

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Valeria Fischer Unter der Haut: Aksana 33 Jahresringe 35 Erinnerungskisten 38

Johannes Frey Gestern war Ragnarökr  43

Roland Halbig was das rauschen ist  53 wir sind  54 um der Möglichkeiten  55 Anschläufungen auf Jakobswegen  56 wir tanzen wie die Sternenwolken um die nächtlichen Dächer  57


Carolin Hensler Scheinriesen 61

Rebekka Knoll Kirschkaugummifäden 69

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Nita Paul … was mit Marshmallows und Honig  77

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Michael Pietrucha Erinnerungen an den Fall von Babel  83 Vergissmeinnicht 87 Nach Saladin  88 Der Wanderer  89 Dann das Kind  90

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Anne D. Plau Die Kraft der Welle  93

Andreas Pohr Das Blümchen und der Rittersmann  105

Johann Roch Zirkeltage 111 Delphinariumsromantik 115 Irrlichter 116 Absinth   117


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Arno Schlick Zugverspätung: Bahnpoetik  121 zebrafischchenembryogedicht 122 Zum ersten Mal chinesisch essen  123 Frühling ohne Bienen  124 Frühling ohne Bienen II  125 Frühling ohne Bienen III  126 im nu  127 YOLO 128 ALT 129 Sauerstoff 130

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Thomas Georg Werner Bewusstsein Erlangen  133

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Marlene Wieczorek Dunkelviolett, fast schwarz  145

Stefan Winter Projekt: Leben  153

Anja Zeltner Wir treffen uns am Fischteich  165

Danksagung 175


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LE Vorwort


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Dirk Kruse

Geheimnisse andeutungsweise enthüllt

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Schreiben ist eine ziemlich einsame und ungewisse Tätigkeit. Besonders wenn man als junger Autor noch am Anfang steht. Erste Gedichte, Erzählungen, Romanfragmente oder Essays sind entstanden, doch haben diese Texte auch literarische Qualität? Können sie sich wirklich sehen und lesen lassen? Sind sie es wert, veröffentlicht und gedruckt zu werden? Zwischen Hybris und Selbstzweifeln hin- und hergerissen, im Ringen um einen originellen Ton und der Angst vorm Epigonentum, mit keinem anderen Vergleich als dem der einschüchternden Weltliteratur im eigenen Bücherregal oder in der Bibliothek ist es schwer, sich Klarheit über seinen Weg als Schriftsteller zu verschaffen. Was hätte ich als junger Mann, der sich immer wieder im Schreiben fiktionaler Texte übte, aber erst mit 43 Jahren seinen ersten Roman veröffentlichte, darum gegeben, wenn es damals schon in der Region eine Autorengruppe wie Wortwerk gegeben hätte. So manchen Irrweg hätte ich mir im Kreise kritischer Kameraden ersparen und so manchen Ansporn erhalten können. Doch so eine Vereinigung existierte Anfang der Neunziger Jahre noch nicht und ich kam auch nicht auf den Gedanken, sie selbst zu gründen. Aber die beiden Germanistik­ studentinnen Carolin Hensler und Rebekka Knoll, nicht nur am Verfassen wissenschaftlicher Prosa, sondern auch am Schreiben literarischer Texte interessiert, kamen darauf. Im Frühjahr 2008, am Rande eines eher langweiligen Germanistikseminars in Erlangen, beschlossen sie, eine offene Textwerk11


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statt für Gleichgesinnte zu gründen. Man traf sich wöchentlich ganz standesgemäß im Kaffeehaus oder noch bohèmehafter im Schlossgarten im Grase sitzend, um Manuskripte vorzustellen, zu beurteilen und zu verbessern – und zwar ohne Vereinsstrukturen, sondern als demokratische Gruppe unter Gleichen. In Absprache mit der im Jahr 2000 von dem preisgekrönten Lyriker Christian Schloyer in Erlangen gegründeten, aber mittlerweile nach Nürnberg umgezogenen Autorenvereinigung Wortwerk Nürnberg, nannte man sich Wortwerk Erlangen und traf sich in wachsendem Kreis fortan in den Gruppenräumen des E-Werks. Die derzeit 17 Autoren umfassende Gemeinschaft ist in zahlreichen Lesungen an die Öffentlichkeit getreten, unter anderem mehrfach auf dem Erlanger Poetenfest, und zu einem festen Bestandteil der fränkischen Literaturszene geworden. Die meisten der jungen Schriftsteller haben mittlerweile eigene Texte veröffentlicht, mit Nataša Dragnić befindet sich sogar eine internationale Bestsellerautorin unter ihnen. Im sechsten Jahr ihres Bestehens, kurz vor dem verflixten siebten Jahr, wird es nun Zeit, die Bandbreite von Wortwerk Erlangen in einer eigenen Anthologie zu präsentieren. Mit „Zwischen den Regalen, ein Geheimnis“ hätte man sich keinen appetitanregenderen Titel einfallen lassen können. Denn Geheimnisse, das weiß ich als Krimiautor und Kritiker genau, besitzen eine ungeheure Anziehungskraft auf neugierige Leser. Dabei müssen es nicht nur finstere Geheimnisse sein, wie sie etwa in Marlene Wieczoreks Verratsgeschichte „Dunkelviolett, fast schwarz“ oder in Rebekka Knolls Mordmutmaßung „Kirschkaugummifäden“ auch mit den Mitteln der Suspense-Literatur beschrieben werden. Geradezu existenziell etwa wird das Geheimnis in der Erzählung „Gestern war Ragnarökr“ des Beowulf-Übersetzers Johannes Frey, bei dem auf 12


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einem Provinzbahnhof der Mythos unbarmherzig in den Alltag einzieht. Selbstironisch dagegen präsentiert sich das Geheimnis in Stefan Winters absurden Kurzdrama „Projekt: Leben“, bei dem der doppelt auftretende Autor Stefan Winter in einer Talkshow des Jahres 2027 sein noch ungeschriebenes Gesamtwerk interpretiert. Und geheimnisvolle Rollenprosa erleben wir in den Kurzgeschichten „Erinnerungen an den Fall von Babel“ von Michael Pietrucha, wo der Ich-Erzähler in die Figur eines Kindes schlüpft, und in „Zirkeltage“ von Johann Roch, der einem empathieunfähigen jugendlichen Gewalttäter die Stimme leiht. Beide Autoren geben auch lyrische Kostproben, die mit versteckten Bezügen zu Poeten wie Hesse und Rilke aufwarten – so wäre etwa ein Gedicht wie Rochs „Delphinariumsromantik“ ohne Rilkes „Der Panther“ kaum denkbar. Rätselhafte Verweise auch bei den anderen drei Wortwerk-Lyrikern dieser Anthologie: Hermetische Heimlichkeiten finden sich bei Roland Halbig, wenn er beispielsweise von „Anschläufungen auf Jakobswegen“ fabuliert. Gereimte Strophen werden in Andreas Pohrs Märchen „Das Blümchen und der Rittersmann“ ausgebreitet. Und entschlüsselbare Enigmen zeigen die der visuellen Poesie verpflichteten Wortbilder von Arno Schlick. Um Geheimnisse geht es letztendlich auch in den Erzählungen der übrigen acht Autoren, sofern man sie im Sinne Anton Tschechows begreift. Der große russische Menschenschilderer schrieb: „Das wahre und interessante Leben eines menschlichen Wesens spielt sich im Verborgenen wie unter dem Schleier der Nacht ab. Jede persönliche Existenz ist ein Geheimnis.“ Geheimnisumwitterte Existenzen sind natürlich die Liebenden, und hier ganz besonders die problematisch Liebenden. So wie der etwas peinliche Mann, der sich in eine fremde Frau verliebt, die gerade den Kot ihres Hundes entsorgt in Anja Zeltners Geschichte „Wir treffen uns am Fischteich“, der, man ahnt 13


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es, kein Happyend beschieden ist. Ebenfalls ihren Schwarm verfehlt die Ich-Erzählerin in Carolin Henslers Kurzgeschichte „Scheinriesen“, die stundenlang einsam am Erlanger Schloss­ platz sitzt und erkennen muss, dass selbst ihr dort errichtetes Trostgebäude nur ein Kartenhaus ist. Und Biljana Dimitrijevićs Protagonistin Alba hat zwar einen Freund, doch trifft sie ihn in der Lovestory mit Hindernissen namens „Check-in“ zwischen Düsseldorf und Madrid einfach nicht an. Ebenfalls eine kriselnde Fernbeziehung beschreibt Valeria Fischer im ersten Teil ihres Triptychons der Gefühle „Unter der Haut“, in dem sie in hochpoetischen Bildern das Gefühl der Einsamkeit variiert. Regelrecht gescheitert sind die Liebesbeziehungen bei Nita Paul in „…was mit Marshmallows und Honig“ und bei Anne D. Plau in „Die Kraft der Welle“. Wie Anja Zeltner schlüpfen die Erzählerinnen in männliche Protagonisten, die hier ihre großen Lieben verloren haben. Bei Nita Paul fühlt sich der verlassene Ich-Erzähler so unbehaust, dass er zu extremen Verhaltensweisen greift. Und bei Anne D. Plau lernt ein wellenerforschender Meereskundler, dass die See auch eine große Metapher sein kann, wie schon von Herman Melville treffend beschrieben: „Das Meer, dessen sanften, furchtgebietenden Wogen von einer darunter verborgenen Seele künden, birgt ein Geheimnis – aber welches?“ Geheimnisse gibt es auch in Nataša Dragnićs Liebesgeschichte „Mondgesichter“ über zwei junge Menschen mit Downsyndrom. Warum versteckt der Vater seine behinderte Tochter? Und mehr den Geheimnissen der fränkischen Seele auf der Spur, gespickt mit viel Lokalkolorit, ist der Student in Thomas Georg Werners Auszug aus seinem noch unveröffentlichten Roman „Bewusstsein Erlangen“. In den Buchdeckeln von „Zwischen den Regalen, ein Geheimnis“ steckt definitiv mehr als ein Geheimnis. Nicht jedem 14


wird jede Geschichte und jedes Gedicht gefallen, aber allen Texten darf man Sprachkraft und Formwillen attestieren. Man merkt ihnen an, dass sie in der kritischen Auseinandersetzung mit Gleichgesinnten gewachsen sind und Verรถffentlichungsreife erlangt haben. Diese Anthologie von Wortwerk Erlangen bietet einen eindrucksvollen Querschnitt durch die junge Literatur in Franken.

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Dirk Kruse, Autor und Kritiker

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Entstehungsgeschichte Wortwerk Erlangen

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Das Wortwerk Erlangen entsteht 2008 durch ein zufälliges Treffen. Auf dem Flur der Philosophischen Fakultät warten zwei Studentinnen, Carolin Hensler und Rebekka Knoll, auf den Beginn ihres Germanistik-Kurses. Sie kommen ins Gespräch und entdecken ihre beiderseitige Leidenschaft für das kreative Schreiben. Das Schreiben, das befinden die Studentinnen einstimmig, kann eine einsame Angelegenheit sein, und es wäre schön, sich ab und zu mit Gleichgesinnten darüber auszutauschen. Die Idee für eine gemeinsame Textwerkstatt entsteht. Nachdem Carolin und Rebekka eine halbe Stunde lang vor der falschen Tür auf den Seminarbeginn gewartet haben, bauen sie ihre Pläne schließlich während eines langweiligen Vortrags zum 125-jährigen Bestehen der Erlanger Germanistik im richtigen Kursraum weiter aus. Über Aushänge an den schwarzen Brettern der Universität findet sich ein Grüppchen aus Schreibinteressierten zusammen, das sich einmal pro Woche im Schlossgarten und der Chocolaterie in der Schuhstraße zum kreativen Austausch trifft. Es wird auf Picknickdecken im Gras liegend oder bei einer Tasse Heißer Schokolade im Café sitzend gelesen, kritisiert und über den Literaturbetrieb gefachsimpelt. Die Gruppe wächst zusammen, Freundschaften entstehen. Rund ein halbes Jahr später erhält die bis dato namenlose Autorenvereinigung ihre bis heute gültige Bezeichnung. Carolin und Rebekka lernen in einem universitären Schreibkurs den Nürnberger Lyriker Christian Schloyer kennen. Christian erfährt von 17


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der noch jungen, aber stetig wachsenden Gruppe. Er bietet den beiden Studentinnen an, ihre Werkstatt nach der Textwerkstatt „Wortwerk Erlangen“ zu benennen, die im Jahr 2000 in Erlangen gegründet wurde, inzwischen aber nach Nürnberg umgezogen ist. Das Angebot wird dankend angenommen, das junge „Wortwerk Erlangen“ vernetzt sich mit „Wortwerk Nürnberg“ und zieht in die Gruppenräume des E-Werks um. In den folgenden Jahren wächst die Autorengruppe stetig weiter. Gut besuchte Lesungen im E-Werk und in der Stadtbibliothek sowie die wiederholte Teilnahme am Erlangener Poetenfest fördern ihren regionalen Bekanntheitsgrad. Heute ist das Wortwerk Erlangen eine feste Institution der mittelfränkischen Kulturlandschaft. Die Kurzgeschichten und Romane seiner Mitglieder erscheinen in Groß- und Kleinverlagen regional, deutschlandweit und darüber hinaus.

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Im April 2014, sechs Jahre nach seiner Gründung, feiert das Wortwerk Erlangen mit dieser Anthologie sein erstes Jubiläum.

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Biljana Dimitrijević


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Dr. rer. nat. Biljana Dimitrijević wurde in Kragujevac, Serbien geboren. Nach dem erfolgreich abgeschlossenen Studium absolvierte sie ihre Magisterarbeit und abschließend das Promotionsstudium an der Ruhr-Universität Bochum zum Doktor der Naturwissenschaft. Sie entdeckte ein Protein und die „richtige“ Liebe zum Schreiben – schreibt Romane, Kurzgeschichten und Gedichte. Bis heute veröffentlichte sie zahlreiche wissenschaftliche Texte.

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Check-in

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Die letzten Wochenenden hatte Alba in Barcelona verbracht und tagsüber auf der Plaza Katalonia Tauben gefüttert. An diesem Freitagnachmittag war es sehr warm, feucht, und es roch ganz anders als in Düsseldorf. Irgendwie war alles ganz anders: Er wartete nicht auf sie, hatte nur eine kurze Nachricht geschrieben, dass er schnell nach Madrid musste und nicht erreichbar war. Alba nahm ein Taxi und fuhr zu dem ihr vertrauten Hotel mit den vielen Bildern und Lichtern. Sie war angespannt, flatterig. Es war das erste Mal in ihrer Fernbeziehung, dass sie allein in Barcelona übernachtete. In ihrer Schlaflosigkeit entschied sie sich, am nächsten Tag nach Madrid zu fahren. Alba war noch nie in Madrid gewesen, hatte zwar gehört, dass es da schön sei. Aber ihm in einer Millionenstadt ohne Wegweiser zu begegnen, wäre genauso wahrscheinlich, wie einen billigen Fummel auf der Königsallee zu finden. Am nächsten Morgen saß Alba im Zug, verträumt, und las in ihrem Buch – sie hatte immer ein Buch dabei in ihrer Tasche. Still war es, zu früh für die gewöhnliche Hektik. Sie zog die Schuhe aus und streckte gemütlich die Beine auf den gegenüberliegenden Sitz aus. Ihr Kopf lehnte teilweise am warmen Polster und teilweise am kalten Glas. Sie nahm einen Apfel aus der Tasche und biss hinein, schaute dabei aus dem Fenster, ließ Dörfer und Palmen hinter sich. Das geöffnete Buch lag auf ihrem Schoß. In Zaragossa stieg ein Mann ein und fragte: „Entschuldigung, ist hier noch frei?“ Alba nahm langsam die Füße herunter, fand die Schuhe unter dem Sitz und sagte: „Bitte.“ 21


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Nataša Dragnić


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In Split geboren, Germanistik- und Romanistikstudium und Diplomatenausbildung in Zagreb und Berlin abgeschlossen, lebt Nataša seit 1994 in Erlagen, ist als Fremdsprachendozentin tätig und leitet Schreibwerkstätten. Für ihre Kurzgeschichten und Essays erhielt sie nationale und internationale Stipendien. Ihre Romane „Jeden Tag, jede Stunde“ und „Immer wieder das Meer“ werden in rund 30 Ländern veröffentlicht. Sie bekam 2012 den IHK-Kulturpreis der Stadt Nürnberg, 2013 den August-Graf-von-Platen-Literaturpreis der Stadt Ansbach (Förderpreis) und den italienischen Premio Fondazione Francesco Alziator. Sie spielt leidenschaftlich gern Theater. www.natasa-dragnic.de

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Mondgesichter

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Nur einen Gedanken hatte Paula im Kopf. Sie beobachtete die beiden Kinder. Sie sagte immer noch Kinder, obwohl ihr Sohn schon dreiunddreißig Jahre alt war und das Mädchen neben ihm nur ein Jahr jünger. Die beiden sahen aber so verletzlich und hilflos aus. Sie musste schlucken und machte einen Schritt weg vom Fenster. Als könnten sie sie hören. Ihre Gedanken lesen. Als hätten sie ihre kleinen Ohren und Augen für etwas anderes offen als füreinander. Ihre flachen Vollmondgesichter leuchteten, und Paula musste schmunzeln. Sie sah Jan die Hand heben und das blonde, weiche Haar des Mädchens … Ach was, Mädchen! Auch wenn sie kaum redete, nicht las und nicht rechnen oder irgendetwas anderes Anspruchsvolleres tun konnte, war sie eine Frau, und sie genoss Jans Berührung, sie machte die Augen zu und lehnte den Kopf nach hinten. Wie in einem Film. Ihre Arme legte sie um seinen Hals und lachte laut. Paula wusste, dass sie lachte, auch wenn es sich wie ein tief sitzender Husten anhörte. So trocken und irgendwie verzögert. Stockend. Ihr schmaler Mund verschwand in der Fülle ihres Gesichts, und Jan fing auch an zu lachen. Wie immer legte er dabei die linke Hand vor den Mund, als wäre es ihm unangenehm. Hinter den dicken Brillengläsern machte er auch die Augen zu, und so standen sie auf der Veranda und dachten wahrscheinlich, dass die Welt ihnen gehörte. Paula lehnte die Stirn an die Fensterscheibe. Sie lachte nicht. Sie wusste, die Welt war grausam und würde es nicht erlauben. Genauso wenig wie Andreas Vater, in dessen Autowerkstatt Jan arbeitete. Paula kannte diesen Vater. Er duldete Jan, mehr nicht. Er wollte der Nachbarschaft zeigen, wie großzügig er ist. 27


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Valeria Fischer


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Valeria Fischer, geboren 1985, ist Buchhändlerin und seit 2013 Mitglied in der Autorengruppe Wortwerk Erlangen. Theaterspiel und Regieassistenz am Augsburger Theater von 2000–2003 inspirierten sie schon früh zum Schreiben. Sie verfasst Kurzgeschichten, deren Kern es ist, Lebenssituationen einzufangen und Gefühle sichtbar zu machen.

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Unter der Haut Aksana

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Aksana zieht ihren Lippenstift nach. Den dunkelroten, mit dem sie sich das Wochenendlächeln ins Gesicht malt und den er so gerne an ihr sieht. Ihre gemeinsame Zeit beginnt jetzt, gleich. In Edward-Hopper-Atmosphäre getaucht steht sie wartend am Bahnsteig und fixiert die Richtung, aus der der Zug sich langsam nähert. Sie beginnt leicht zu zittern und in ihrem Körper verbreitet sich jenes Gefühl, das er damals in sie hineinkomponierte. Es schwingt in ihr, trotz der vielen gemeinsamen Jahre, immer noch. Als Refrain.

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Als er aussteigt, sieht er sie sofort in ihrem roten Mantel und mit den zwei Taschen, die sie fast immer bei sich trägt, als wolle sie jeden Moment verreisen. Es sind die vielen kleinen Eigenheiten, die sie für ihn so einzigartig machen. Ihre Vielschichtigkeit, die ihn anfangs verunsicherte, bis er erkannte, dass jede Facette an ihr echt war. Er zieht sie an sich, und ihr Geruch ist wie ein Nachhausekommen. Geborgenheit. Ab jetzt beginnt das Spiel gegen die Zeit. Stunden, Minuten, Sekunden, die man anhalten möchte, um sie auszudehnen, um sie zudem am Sonntagabend über die Woche verteilen zu können, die zwischen den Wochenenden liegt. Denn Wochenenden sind ihr eigentlicher Wochenanfang.

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Johannes Frey


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Johannes Frey studierte europäische Sprachen & Literaturen an 5 Universitäten und promovierte mit einem Stipendium 2008 über Erzähltechniken (FAU Erlangen). Er war und ist: freier Übersetzer & Lektor sowie Dozent & Lehrer an Universität, Gymnasium und DaF-Sprachenschule. Vorträge u.a. in Antwerpen, Bremen, Budapest, Heidelberg. Neben mehreren wissenschaftlichen Texten veröffentlichte er „Fallstricke. Die häufigsten Denkfehler in Alltag und Wissenschaft“ (C.H.Beck, 2011), das u.a. in FOCUS, GEO, Deutschlandfunk, Universitas besprochen wurde. 2013 erschien seine in der NZZ gelobte Stabreimübersetzung „Beowulf “ beim Reclam Verlag.

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Gestern war Ragnarökr Gestern war Ragnarökr. Gestern wurde schwarz die Sonne; gestern sank ins Meer die Welt. Und heiße Lohe überall. Was dann kam, weiß sie nicht mehr. Aber gestern, gestern war Ragnarökr.

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Irgendwie will ihr das kleine Kind auf der Schaukel am Bahnhofsvorplatz nicht aus dem Sinn. Das Mädchen war so ganz in ihre eigene Welt versunken. Welche nur mochte das gewesen sein? Eine Welt ihrer Phantasie oder doch eine von Erinnerung und Vergessen? Da war etwas Besonderes um sie gewesen, etwas Unbeschreibliches, Unfassbares. Und das ließ Tanja nun nicht mehr los. Gestern war Ragnarökr, der Tag, an dem den Göttern ihr Schicksal zuteil wurde. Ob die Kleine gestern noch ein Gott gewesen war? Ob sie nun beim Schaukeln daran denkt: an Asgard und die Götter, den Met und die röhrenden Gelage schwer von Heldengesängen? Oder ob sie all das nur vergessen will. Wie sich das wohl anfühlt: so ein Neuanfang als Mensch? Hatte ihr Wille entschieden, als wer sie wiedergeboren wurde? Und wie fühlt es sich an, sterblich zu sein? Auf dieser Welt, die sich unter den Rufen der Adler erhob. Zum andern Mal das Land aus den Fluten. Tanja hat lange darüber nachgedacht und weiß nicht so recht, woran das Mädchen auf der Schaukel sie erinnert. Eines jedoch weiß sie genau: Nun, da Tod und Zeit das Leben der Götter bestimmen, nun werden auch sie der Liebe begegnen. Die Kleine hat die Liebe noch vor sich – selbst wenn sie kein Gott gewesen ist. Tanja lächelt. Der Gedanke tut ihr wohl. Wie viel besser ist es doch, geliebt und nicht vergöttert zu werden! 43


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Roland Halbig


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Roland Halbig, Jahrgang 1988, schreibt hauptsächlich Lyrik. Er gewann im Jahr 2011 den 2. Publikumspreis der Nürnberger Kulturläden und ist Mitorganisator von Wohnzimmerlesungen in Nürnberg und Fürth.

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was das rauschen ist momentan wieder du in den gängen meines schädels von sechsundsechzig stöckelschuhen hallt über kopfsteinpflaster der rollwiderstand grummelnder reifen die nasse straße ist ein fluss die straße ein fluss nicht ganz aber

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die reflexion stimmt. manchmal begleitet von vierundvierzig eintagsfliegen ein sirren straßengelb ins dampflicht hinein in den durstigen smog eines verrauchten kellergewölbes hinein so viele menschen nur dort suche ich

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dich sehen ein tosen wie taumeln fallen ein nicht wissen wollen ein wissen ein drehen in tanzflächen glasscherben gelächter und hände verschwinden zweihundertzwanzig hirnhälften platzen vor glück ein tosen wie stürzen

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in kissen es drängt die mittagsminuten ein nicht aufwachen wollen nach dem aufwachen ein moment der wind trägt mich durch die straßen die morgenfrische du bist längst weg etwas fehlt etwas bleibt

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Carolin Hensler


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Carolin Hensler, geboren 1986 in Dachau, promoviert an der Universität Erlangen in Englischer Literatur. Sie schreibt Kurzgeschichten und Romane und gründete 2008 das Wortwerk Erlangen, das sie bis 2013 leitete. Kurzgeschichten veröffentlichte sie bisher unter anderem in den Zeitschriften Wortlaut und etcetera. 2009 war sie Finalistin des Heyne-Roman-Wettbewerbs, 2012 gewann sie den 1. Literaturpreis der Nürnberger Kulturläden und erhielt ein Stipendium des Münchener Literaturhauses im Rahmen der Bayerischen Akademie des Schreibens.

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Scheinriesen

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Heute besitzt die Nacht Schatten. Aber das macht nichts, du kannst sie in den Rinnstein spülen, wenn du nur genug Wein drauf kippst. Und ich proste dir zu, Mann hinter dem Fenster, Prost, der hier ist für dich. Glaub nicht, dass ich es nicht bemerkt hätte, wie du durch das Fensterglas zu mir rüber starrst, zum Brunnen am anderen Ende des Platzes. Du stehst da und starrst für lau auf meine Schenkel unter den Shorts und denkst dir, dass das heute wohl dein Glückstag sein muss, weil da eine sitzt, die wenig anhat und eigentlich Chris damit reizen will. Aber der taucht nicht auf, und deswegen gaffe ich sie jetzt eben an, danke Chris, denkst du, und fasst dir hinter der Scheibe in die Hose dabei. Chris‘ Glückstag ist es bestimmt, das kann ich dir sagen, wenn er im Smoking gleich hier erscheint. Ins Bordell muss er gar nicht erst, um seine Wünsche zu befriedigen. Er hatte schließlich mich und jetzt hat er sie, und sie heißt Amelie und ist seine neue alte große Liebe. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann … Da liegt eine tote Taube auf der Straße. Wohl von einem Fahrrad platt gefahren. In dieser Stadt findet das Sterben nämlich zwischen den Speichen, nicht unter den Rädern statt. Ihr Blut malt ein Gitter zwischen die Pflastersteine, wie der Wein, der auf den Gully zu rinnt. Soll ich dir was sagen, Mann hinter dem Fenster, meine Mama hat mich vor euch gewarnt. Als ich klein war, da hat sie den langen dürren Zeigefinger gereckt, der inzwischen dick ist, und hat mich gewarnt vor euch in euren Autos und vor euch mit den Süßigkeiten in der Hand. Sie verriet mir alles, und wenn ich es nachsagen konnte, dann gab es einen Lutscher dafür. Meine Mama war mein Vorbild, sie hatte 61


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Rebekka Knoll


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Rebekka Knoll, 1988 in Kassel geboren, gründete gemeinsam mit Carolin Hensler Wortwerk Erlangen. Sie studierte Germanistik und Theaterwissenschaft – erst in Erlangen, später in Bern und Berlin. Nun ist sie zurückgekehrt, um in Erlangen zu leben, zu arbeiten und zu wortwerken. 2009 wurde am Theater Erlangen ihr Stück „Einfußinseln“ uraufgeführt. 2010 war sie Nachwuchsautorin der Literaturstiftung Bayern. Beim Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag erscheinen ihr Debütroman „Das Kratzen bunter Kreide“ (2012) und „Splittermädchen“ (2014). 2013 war sie Stadtschreiberin in Gotha. www.rebekkaknoll.de

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Kirschkaugummifäden

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So oft ist Lene einfach vorbeigelaufen an diesem Kiosk. Sie hat ihn nicht mal mit ihren Blicken gestreift, schließlich war er uralt, längst verfallen, das weiße Schild, auf dem „Späti“ stand, war im Regen der vielen Jahre ergraut und die Fenster waren zu matt, als dass Lene von der anderen Straßenseite aus hindurchsehen könnte. Warum hätte sie das auch versuchen sollen? Bis heute hatte es dafür keinen Grund gegeben, doch dann hatte ihre Mutter diesen Blick aufgesetzt. Es ist seit langem das erste Mal gewesen, dass sich ihre Augenbrauen wieder schräg gestellt und ihr Mund sich wieder gekrümmt hatte. Zuerst starrte Karin auf Lenes kaugummikauenden Zähne, dann auf die Raufasertapete hinter ihr. Wie alt sie geworden war, dachte Lene, kaute, spannte den Kaugummi um ihre Zunge und blies ihn auf. In das laute Platzen der Blase hinein fragte sie: „Was ist?“

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Lene fragte mich: „Was ist?“ und gleichzeitig umfing mich ihr Kirschkaugummiatem. Diesen Geruch habe ich lange nicht mehr in der Nase gehabt. Als ich ihn zuletzt gerochen habe, bin ich so alt gewesen, wie Lene heute. Mit verschränkten Armen saß sie mir gegenüber und merkte nicht, dass sich ihr Atem süßlich faul um ihren pubertierenden Körper legte. „Kennst du den alten Späti?“, fragte ich sie und versuchte, ihren Geruch nicht zu tief einzuatmen. „Was ist damit?“ Karin antwortete nicht. Ihre Augenbrauen standen schräg, ihr Mund krümmte sich und die Raufasertapete hinter Lene hielt Karins Blicken trotzdem stand. Die Tochter kaute und wartete. 69


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Nita Paul


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Nita Paul, Kindheit in Leipzig. Freiwilliges Soziales Jahr in der Behinderten- und in der Obdachlosenarbeit in NĂźrnberg. Studium in Erlangen und Valencia (Spanien). Promotion in Erlangen. Dozentin am Goethe-Institut Neu-Delhi und an der Delhi University. Dozentin und Projektmitarbeiterin an der FAU Erlangen. VerĂśffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften, z.B. im Blumenfresser.

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… was mit Marshmallows und Honig Ich kam heim, und sofort wurde mir kalt. Ich konnte die Heizung bis zum Anschlag aufdrehen und zusätzlich den Heizlüfter anmachen; es spielte keine Rolle, die Kälte kroch mir von den Füßen bis hoch in den Rücken.

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Es fing an, als Juli verschwand. Früher hatte sie sich zu mir gesetzt, wenn ich nach Hause kam. Ich streckte mich auf dem Sofa aus und sie setzte sich ans Fußende und malte mit den Fingern Zackenmuster auf meine Socken. „Bist du müde?“, fragte sie meinen Fuß und zog ihn näher zu sich heran, dicht vor ihre grau-grünen Augen. Mein Fuß nickte: „Ein bisschen.“ „Dann ruhen wir uns ein bisschen aus.“ Juli kuschelte sich an mich und drückte mir einen Kuss auf den Mund und noch einen und noch einen – und alles war gut. Irgendwann aber wurden die Küsse seltener. Dann hörten sie ganz auf. Und kurze Zeit später sagte Juli, dass sie mein Schnarchen nicht mehr ertragen könne. Ich hätte den Atem angehalten, bis sie eingeschlafen wäre, ich hätte mir das Gaumensegel kürzen lassen, ich hätte alles für sie getan. Aber Juli nahm ihre Bettdecke und zog ins Wohnzimmer um. Und dann, ein paar Abende später, kam sie gar nicht nach Hause. Ich wartete die ganze Nacht auf sie und auch noch die nächste und die übernächste. Doch sie blieb weg. Die Kälte 77


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Michael Pietrucha


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Geboren in Siemianowice in Polen und 1989 in die BRD übergesiedelt, hat Michael Pietrucha sein Abitur in Forchheim und seinen Magister an der FAU Erlangen-Nürnberg erworben. Er promoviert in der Osteuropäischen Geschichte. Er will Bilder schreiben und u.a. Geschichten von Schlesien und Osteuropa erzählen. 2009 hat er den 1.Preis im Essaywettbewerb des MERKUR für „Wenn ich nur wüsste, was eine Fledermaus ist“ gewonnen. Veröffentlicht hat er in Brentano-Gesellschaft, in der Jokers Gedichtdatenbank und in „Ausgewählte Werke XVI“ der Bibliothek deutschsprachiger Gedichte.

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Erinnerungen an den Fall von Babel

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Ich war eingenickt. Ich war auf Papas Schultern eingenickt. Das merkte ich jedoch erst, als er sich daran machte, mich von dieser harten, aber sicheren Reisegelegenheit hinunter auf meine eigenen Beine zu stellen. Wir waren wieder daheim. Draußen war es schon lange dunkel, so dass das Licht in der Küche meine schläfrigen Augen blendete. Sie blinzelten heftig und ich sah nicht, dass Mama anfing, meine Arme von der dicken, bleichen Jacke zu befreien. Ich spürte ihren Mund auf meiner Wange und den flacher werdenden Atem, als sie ihre Stimme anhob und in den Raum fragte, wie es denn war. Papa ließ mir nicht die geringste Chance zu antworten und verkündete, dass ich immer besser würde, während er sich zu uns herunterbeugte, um Mama auf die Stirn zu küssen und mir dabei gekonnt die Mütze vom Kopf zu ziehen. Er wandte sich ab, um sich selbst zu entkleiden. Dafür verschwand Papa zusammen mit dem Schwimmbeutel im Flur und ein reges Hin- und Herlaufen begann, wobei er vor sich hin plapperte und Wörter und Begriffe gebrauchte, mit denen ich wenig anfangen konnte. Mama widmete sich bereits meinen Schuhen und ich war endlich wach genug, um Oma wahrnehmen zu können, die mit dem Rücken zu uns gewandt am Gasherd beschäftigt war. Meine Eltern redeten und redeten. Es interessierte mich wenig, weil ich nun den Duft von kochender Milch mit Reis wahrnahm. Mama musste endlich meine fehlende Aufmerksamkeit erkannt haben, denn plötzlich hörte ich: „Na, das viele Schwimmen hat dich wohl sehr hungrig gemacht, mein Pummelchen! Wie?“ 83


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Anne D. Plau


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Anne D. Plau wurde 1978 in Jena geboren, sie ist Ärztin und Mutter. In einer Nacht im Dezember 2012 beschloss sie zu schreiben. Mit jedem Tag wuchs ihr Verlangen nach Worten und Sätzen, die sie dann zu Geschichten verband. Seit 6/2013 ist sie Mitglied in WortWerk Erlangen. Seit Oktober 2013 Zusammenarbeit mit Pierre Selio, Vraux (Frankreich). Sie gewann 2012 den 1.Platz beim Poster-Preis der Dorothy L. Sayers Society. Veröffentlichungen: „Prolog“ im „Größenwahn Märchenbuch“, erschienen 11/2013. Aktuell bearbeitet sie die Kurzgeschichtensammlung: „Unterwegs Ankommen“.

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Die Kraft der Welle

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Der Wind streifte die Meeresoberfläche. Er schob das Wasser vor sich her, schuf einen Berg und ein Tal. Eine neue Welle war geboren. Diese wurde in schnellem Tempo zum Festland geschoben. Sie bäumte sich auf zu einem Wellenkamm, der übergewichtig brach und dann langsam auf die Küste zurollte. Parallel zur Uferlinie erreichte sie den Strand. Seine Füße wurden spritzend umspült. Er hatte die Welle nicht bemerkt, gedankenvoll wie er war. Nun blickte er auf. Die Welle hatte ihre Bestimmung erreicht.

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Ich sprang auf. Ärgerlich blickte ich auf meine nassen Hosenbeine. In Betrachtung der rhythmischen Schwingungen der Wellen hatte ich mir, wie üblich, die Formeln der Kelvin-Helmholtz-Instabilität hergeleitet. Ich stoppte nun die Ausreifungszeit des Seegangs. Mir fehlte jedoch eine Person, die zeitgleich die Streichlänge des Windes erfasst hätte. Marie tat dies die letzten fünf Jahre, immer in unserem Urlaub. Vor sechs Monaten hatte sie sich vor mich hingestellt, die Stimme erhoben: „Ich habe es satt! Schau, wie Du allein zurechtkommst!“ Ich hatte danach selber eingekauft und selber die Wäsche gewaschen. Wozu brauchte ich Marie? Jetzt gerade bräuchte ich sie. Sie hätte die Zeit gemessen und in das Notizbuch eingetragen. Für die Berechnung der Wellenentstehung. Verdrießlich beendete ich die Messungen. Mit einem Taschentuch putzte ich den Sand aus den Zehen, zog mir die Schuhe an. Warum klebte Sand zwischen Mittelzehe und vierter Zehe besonders hartnäckig? Mit diesem Gedanken lief ich über die Seepromenade auf die Stadt zu. Die Fischerboote im 93


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Andreas Pohr


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Andreas Pohr studierte Audiovisuelle Medien und Business Administration und arbeitet als Autor, dramaturgischer Berater und Übersetzer. 2010 arbeitete er am Drehbuch für den Spielfilm „Goethe!“. Er schreibt gereimte Kurzgeschichten, nicht-gereimte Romane – und Musik, die sich manchmal reimt, wie auf dem Pop-Rock-Album „Promises“ (2014), wo er sowohl als Komponist als auch als Musiker auftritt.

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Das Blümchen und der Rittersmann

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Auf einer Wiese, frisch und bunt, auf einer Lichtung, weit und rund, auf der Getier und Pflanzen leben, von hohen Bäumen rings umgeben, mit Gräsern, Kräutern und auch Käfern, beliebt bei Schafen und bei Schäfern, stand auf dem Hügel mittiglich ein Blümchen einst und freute sich.

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Nicht schön nur, sondern allezeit geduldig war‘s und hilfsbereit: So half es stets den Maulwurfkinden beim Maulwurfelternwiederfinden, ließ um sich her die Bienlein tanzen, die Käfer krabbeln, und die Wanzen, und selbst ein Igel fand bei ihr ein wonniglich Saisonquartier. Dies Blümchen, selig und apart, war leicht das schönste seiner Art: Mit kunterbuntem Glitzerschein, mit zarten, grünen Blättelein, mit frohem Sinne jeden Tag — kein Wunder, dass es jeder mag. Rundum ein lieblich Exemplar, mit dem man gern befreundet war. 105


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Johann Roch


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Johann Roch, Geboren 1992 in Bayreuth, aufgewachsen in Wunsiedel im Fichtelgebirge. Der Autor studiert derzeit Philosophie und Germanistik in Erlangen und ist seit Herbst 2011 im Wortwerk Erlangen tätig. Hauptsächlich verfasst er Gedichte und kurze Prosastücke. Bisher veröffentlichte er Gedichte in verschiedenen Zeitschriften und Anthologien.

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Zirkeltage

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Dann verstecke ich mich unter meinem Schreibtisch und esse Asia-Nudeln. Die Stäbchen tauchen in die kleine Pappbox und fischen sich quietschende Bambussprossen heraus. Ich habe eigentlich keinen Hunger, aber irgendwann sind die Nudeln trotzdem leer. Und dann werden die Stäbchen ein Stechzirkel, mit dem ich meine Welt vermesse. Besonders groß ist sie im Augenblick nicht, vielleicht zwei oder drei Gedanken.

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Der Höhepunkt meiner Woche findet diesmal auf einem Volleyballtunier statt. Ich weiß nich mehr genau - irgendwer hat gemeint, ich solle mal vorbeischauen. Bier gäbs auch. Also gehe ich hin, hab eh nichts anderes zu tun. Aber gelohnt hats sich; einer der Spieler nimmt den geschmetterten Ball mit seinem Gesicht an und ein paar Zuschauer neben mir springen begeistert jubelnd auf und brüllen: „Jawoll! Voll in die Fresse!“ Der Spieler bekommt Nasenbluten und muss das Spielfeld verlassen. Von da an ist der Rest langweilig; außerdem kostet das Bier drei Euro - also ziehe ich weiter. Ein bisschen tut mir der Mann leid, der vor uns zusammengekrümmt auf dem Boden liegt. „Hey komm, wir wolln dir nich wehtun, gib uns einfach dein Geld, man.“ Richard spielt mit seinem Klappmesser. Jetzt beginnt der Krawattenträger nach seiner Börse zu tasten und hält sie uns hin. „Na also, war doch gar nicht so schwer, oder?“ Ich schnapp mir den Geldbeutel, hole die Scheine raus und werf ihn ihm wieder hin. „Besten Dank und schönen Abend noch.“ Ich mein das ehrlich, ich hab auch nix gegen ihn. Er hat halt einfach Pech gehabt, uns an 111


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Arno Schlick


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Arno Schlick wurde 1970 in Nürnberg geboren & hat in Berlin und Potsdam Philosophie- & Biologie studiert. Danach: Fernsehjournalismus, sowie Büro- und Programmiertätigkeiten. Seit 2007 ist er Quereinsteiger im Bildungsbereich & arbeitet freiberuflich. 1989 bis 2001 Jurypreise der Nürnberger Kulturläden & weitere Preise. 2003 der Gedichtband „Neue Alte Welt - Gedichte“ bei BoD, ISBN 978-3833004063. Danach 10 Jahre Schreibpause & Rosenzucht. 2012 zweiter Preis beim Wettbewerb „Alltagsrassismus“ des Verlags Nürnberger Presse. 2013/2014 Ausstellungen in Nürnberg & Berlin mit Konkreter Poesie & Veröffentlichungen beim Berliner Literaturmagazin „Sachen mit Woertern“. Literarische Gattungen: Lyrik, Prosa und Konkrete Poesie. http://about.me/schlickarno 120


Zugverspätung: Bahnpoetik Ein Japaner beginnt nach 20 Minuten einfach alles zu fotografieren Milchtüten Plastik Tauben Pappe – innerstädtische Steppe natürlich mit Gänsefuß (Der Zug              )

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Da steigt er aus mit mir der Japaner entfernt sich von mir und dem Gleis und in seiner Kamera Müll und ich mit Gänsefuß

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Und ich steige aus mit ihm dem Mann und entferne mich von ihm und dem Gleis – in meinem Laptop ein Gedicht vom Japaner wie er sich entfernt von mir und Gleis mit seiner Kamera samt Müll und mir mit Gänsefuß Von dem Sie hören oder lesen bis Sie sich von mir wieder entfernen samt meinem Gedicht dem Japaner mit seiner Kamera mit Müll und mir mit Gänsefuß Als Gedicht 121


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Thomas Georg Werner


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Thomas Georg Werner (Dipl. Theol.), geboren 1971 in Forchheim/ Ofr, kam nach etwas Germanistik/Romanistik an der FAU, Mitarbeit bei Radio Z und Erlanger Nachrichten via Caen, Würzburg und Grenchen 2009 zum Wortwerk. Lehraufträge für Ethik und katholische Religion, Betreuungsassistent für Menschen mit Demenz. Er veröffentlicht Essays, Gedichte und Prosa und rezensierte u. a. (im reflexmagazin.de): Keith Richards, LIFE; Heinrich von Pierer, Gipfel-Stürme; Simone Weil, Die Verwurzelung. www.xing.com/profile/ThomasGeorg_Werner

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Bewusstsein Erlangen Auszug aus dem gleichnamigen Roman

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„Den – und keinen Satz mehr.“ Andreas stand auf und brach dem Taschenbuch das Rückgrat, indem er es aufgeschlagen auf seinen schwer beladenen Tapeziertisch knallte, der unter der Wucht beinahe in die Knie ging. Reumütig nahm er das Buch wieder auf und schleifte es in die Küche, wo er erneut Kapitel Sieben mit dem Text nach unten auf den Küchentisch knallte. Dann ließ er Wasser in den Wasserkocher laufen, knipste ihn an und schaute aus dem Fenster. Strahlend blauer Himmel über den bunten Getümen von Büchenbach. Andreas murmelte sein Leid in die von allen Bewohnern nur ‚Gagelmann‘ genannte Monstera deliciosa auf dem Fensterbrett: „Steinbeck verschlungen, Protokoll okay, Hemingway – Referat auf Englisch, alles machbar, aber Klausuren nach jeder Lektüre – über das da“ – Andreas hob mutlos das Buch vom Küchentisch auf und zeigte es dem Gagelmann – „wer soll das als Nichtmuttersprachler lesen?“ Andreas ordnete die monströsen Zweige und Blätter, um an die Gießkanne dahinter zu gelangen, langte mit den Fingern in den Topf in trockene Erde, rekapitulierte: Kata, Raphaela und er, alle hatten sie an Pfingsten die Bergflucht ergriffen. „Zu trinken brauchst du auch mal was?“ Der Gagelmann schwieg. Mit der Kanne in der Hand verfolgte Andreas den Schatten einer Taube, die vorbei flog und über den Äußeren Brucker Wohnwürfeln aus seinem Blickfeld verschwand. Mit Pflanzen zu sprechen bekommt ihnen, sagt Alex, und Kata sagt, es bekommt auch den Menschen. Kata weiß alles, was den Menschen bekommt, vom medizinischen Standpunkt aus. 133


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Marlene Wieczorek


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Marlene Wieczorek, geb端rtige M端nchnerin, zog nach ihrem Studium in ihre neue Wahlheimat N端rnberg um sich der Datenauswertung zu widmen. Dort ist sie Stammleserin in der Stadtbibliothek. Sie schreibt seit ihrem neunten Lebensjahr, am liebsten kurze Geschichten, Fantasy und 端ber das antike Rom. 2012 erhielt sie ein Stipendium der Bayerischen Akademie des Schreibens.

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Dunkelviolett, fast schwarz Erdbröckchen hängen an ihren Fingern, mit denen sie das Stiefmütterchen aus dem braunen Plastiktopf hebt. Sie stellt die Pflanze in das Loch im Beet und bedeckt die Wurzeln mit Erde. Der Wasserstrahl, der aus der Gießkanne strömt, glitzert im Sonnenschein in allen Regenbogenfarben. Wassertropfen bleiben auf den Blütenblättern liegen. Die sind dunkelviolett, fast schwarz.

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Das war die Farbe ihrer glatten, schönen Haare, die Ralf so bewundert hatte, bevor sie der an der Heckscheibe klebende Dreck in ein schmutziges, zerzaustes Etwas verwandelte. Das Aufblitzen der Blaulichter, das Ratschen ihrer Hose, als sie hastig in die Hocke ging und an einer scharfen Kante hängen blieb, der Kratzer am Knie, das Blut, das sich mit dem Schmutz zu einem dunklen Rinnsal vermischte, das Hämmern ihres Herzens in der Stille, gefolgt von eiligen Sohlen auf dem Straßenpflaster. Brennend, anklagend, das Walkie-Talkie in ihrer Hosentasche. So langsam dämmerte ihr erst, was sie da eigentlich getan hatte. Das frisch geharkte Beet, vom Unkraut befreit, ein Stiefmütterchen mehr noch als letztes Jahr. Sie muss die Blumen nicht zählen, um zu wissen, dass es nun genau siebzehn Stück sind, hier acht, an verschiedenen anderen Orten neun. Für jeden Jahrestag eines. Das Walkie-Talkie war grau, mit schwarzen Knöpfen und einem schwarzen Rahmen um das Display herum. Und aus. Ausgeschaltet sobald der erste Motor zu hören war. Zur Sicherheit 145


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Stefan Winter


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Stefan Winter lebt und schreibt in Erlangen und München. Festes Mitglied der Autorengruppe „Wortwerk Erlangen“, der Performance­ gruppe „Kastenwesen“ und dem Künstlerkollektiv „Nimeni-Kolleg“, sowie Absolvent der Bayerischen Akademie des Schreibens. Zuletzt erschien seine Erzählung „Vorname; Name: Arbeitstitel” in der Anthologie der Bayerischen Akademie des Schreibens. http://kastenwesen.com

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Projekt: Leben

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Ein Fernsehstudio im Jahr 2027. Eine Menge Kameras, die auf ein gut ausgeleuchtetes Sofa gerichtet sind. Auf dem Sofa zwei dekorativ drapierte Männer, die Rotwein trinken: Der eine im sportlich geschnittenen Sommersakko, grau, mit ebenfalls graumeliertem Haar und einer Brille, die seine Augen größer wirken lässt, als sie sind. Der andere dürr, mit ausgehungertem Kinskiblick, kaum noch Haaren, dafür aber einer Baskenmütze, um diesen Umstand zu vertuschen. Der Dürre heißt Stefan Winter und ist ziemlich berühmt. Das Sakko heißt Paul Schittig und ist der zu vernachlässigende Moderator der wichtigsten Kultursendung.

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Schittig:  Gerade ist Ihr neuestes Buch erschienen – das neunte innerhalb von sechs Jahren, wenn mich nicht alles trügt. Winter:  Das ist ganz richtig. Schittig:  Ich frage mich da natürlich, wie Sie das machen. Es sind ja auch nicht gerade Reclams. Woher kommt dieser unglaubliche, kreative Antrieb? Winter:  Erst einmal muss man wissen, dass ich die Geschichten natürlich nicht in den letzten paar Jahren geschrieben habe. Einzelne Elemente oder Passagen sind dutzende von Jahren alt, viele sogar älter. Mit Geschichten ist es wie mit Wein: Sie müssen erstmal reifen, bevor man sie genießen kann. In meinem Alter hat man dann bereits das eine oder andere Fässchen im Keller. Schittig:  Mein persönlicher Favorit ist ja „Wenn draußen nur noch Sand blüht“, in dem Sie aus erster Hand über den Arabischen Frühling 2011 schreiben. Wie war das damals für Sie, diese Ereignisse direkt vor Ort zu erleben? 153


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Anja Zeltner


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Anja Zeltner, Jahrgang 1987, war Finalteilnehmerin bei diversen Schreibwettbewerben und gewann 2010 den Preis der Nürnberger Kulturläden. 2012/13 war Anja Zeltner Stipendiatin der Bayerischen Akademie des Schreibens. Sie ist Mitorganisatorin der Lesungsreihe „Die Vorleser“. Veröffentlicht hat sie zahlreiche Kurzgeschichten in diversen Literaturzeitschriften.


Wir treffen uns am Fischteich

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„Am Anfang war da die Scheiße“ erzählt ich und halte ein erzähle er/sie/es erzählst ihr erzählen wir erzählt sie Glas Champagner in der Hand, „und ihre Finger, die, von seine unsere eure einer Plastiktüte umwickelt, in die Scheiße griffen.“ Das Lächeln der Hochzeitsgäste wirkt eingefroren wie das Eis in ihrem Drink. „Entschuldigung“, sage ich und beuge mich zu meiner Braut herunter, „Ihre, deine Finger, meine liebe Ali, mein liebes Alichen, aber so beginnt die Geschichte nun mal. Wie ich eines Juniabends bei einem Spaziergang an dir und Hasko vorbeilief und da stand dieses Mädchen mit ihrer Plastiktüte neben einem riesigen Hundehaufen und ich lief vorbei und weil ich mich wunderte, ob sie diesen wirklich aufsammeln würde, drehte ich mich um, sobald ich sie überholt hatte, und so war der erste Eindruck, den ich von Ali, von dir, meiner lieben Frau, gewann, wie deine Finger, von einer Plastiktüte umwickelt, in Hundescheiße griffen. Cheers!“ Die Gäste erheben zögerlich ihre Gläser. „Wirklich, ich sah nicht, wie die anderen Kerle, zuerst ihren Hintern oder ihre Titten, deine wunderschönen blonden Haare oder die blauen Augen, ich folgte meiner 165


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Danksagung

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Die Wortwerk-Autoren, die mit viel Leidenschaft, Enthusiasmus und Engagement dieses Buch geschaffen haben, bedanken sich herzlichst bei dem Kulturzentrum E-Werk, dem Teehaus und der Chocolaterie, die ihren kreativen Auseinandersetzungen ein Dach über dem Kopf angeboten haben; bei der Stadtbibliothek Erlangen, der Kulturstiftung Erlangen und der Kulturförderung der Stadt Erlangen für moralische und finanzielle Unterstützung; und natürlich auch bei Peter Hellinger vom Verlag art&words für seine Abenteuerlust und den Glauben an uns. Auf zu den neuen Geheimnissen!

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